Puppengrab
Thriller
Psychopath Chevy Banks sammelt Todesschreie - und die Krönung seiner Sammlung soll Beth Denison werden: Am Telefon spielt er ihr die Schreie seiner bisherigen Opfer vor. Kann der smarte Ex-FBI-Mann Neil Sheridan Beth und ihre kleine Tochter Abby beschützen?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Puppengrab “
Psychopath Chevy Banks sammelt Todesschreie - und die Krönung seiner Sammlung soll Beth Denison werden: Am Telefon spielt er ihr die Schreie seiner bisherigen Opfer vor. Kann der smarte Ex-FBI-Mann Neil Sheridan Beth und ihre kleine Tochter Abby beschützen?
Klappentext zu „Puppengrab “
"Sein Puls ging schneller.Das Spiel konnte beginnen."
Chevy Bankes ist Sammler. Er sammelt Frauenschreie, um die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Jedes Mal, wenn der Psychopath den letzten Schrei seiner Opfer auf Tonband aufgenommen hat, ruft er die attraktive Beth an, der er ewige Rache geschworen hat. Wird FBI-Agent Sheridan die junge Frau vor dem Wahnsinnigen beschützen können?
Die Zeit ist knapp, der Killer so nah
"Eine fesselnde Story, Herzklopfen bis zum Hals, Spannung vom Feinsten."
Publishers Weekly
Lese-Probe zu „Puppengrab “
Puppengrab von Kate Brady1
Big Horn Butte, Washington
2780 Meilen entfernt
... mehr
Die Nacht war kühl, der Mond nur eine schmale Sichel. Nebelschwaden waberten über das Wasser und erstarrten in den Gräben zu Eis. Seattle glitzterte im Dunstschleier zweitausend Meter in der Tiefe, doch oben auf dem Berg war die Luft dünn und klar, und es war gespenstisch still. Die Dunkelheit wurde nur von dem bläulich weißen Strahl einer Halogentaschenlampe durchschnitten, und nichts bewegte sich, bis auf die Spulen eines alten Kassettenrecorders, die sich unablässig drehten. Es war kaum etwas zu hören, nur das gedämpfte Schluchzen der Frau, die bald sterben würde.
Chevy Bankes blickte auf die Gestalt vor ihm, deren Führerschein sie als Lila Beckenridge auswies. Das Foto zeigte messerscharf geschnittene Wangenknochen und einen streng zusammengerafften Dutt. Eine Tänzerin, dachte er, während er sie an den Fußknöcheln fesselte. Geschundene Füße und dünn wie eine Bohnenstange. Der schwache Geruch von Schweiß unterlag ihrem Parfüm.
Und sie konnte laut schreien, besaß gut entwickelte Atemorgane. War es wert, ihre Rolle in der Inszenierung zu spielen, die heute Nacht ihren Anfang nahm.
Chevy verharrte in der Bewegung, als ihm die Bedeutung des Augenblicks bewusst wurde. Er hatte schon Frauen gehabt, hatte schon getötet, aber nie zuvor mit solch einer Bestimmung. Noch nie hatte er eine Frau getötet, noch nie ein Leben für etwas anderes als die unmittelbare Befriedigung seines Drangs ausgelöscht. Insofern war die Tänzerin einzigartig. Eine Premiere.
Perverse Dankbarkeit überrollte ihn, und er beugte sich vor, um ihr über die Wange zu streicheln. Sie spuckte ihn an. »Schlampe!«, knurrte er wütend und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemds ab. Wut flammte in ihm auf. Wie konnte sie es wagen? Das war nicht in seinem Plan vorgesehen ... Who killed Cock Robin? I, said the Sparrow, with my bow and arrow, I killed Cock Robin ...
Chevy hielt sich die Ohren zu. »Nein«, sagte er, aber das Lied wollte nicht aufhören - die Melodie verfolgte ihn hartnäckig wie das Surren einer Stechmücke am Ohr. Er schlug um sich, als könne er das Insekt vertreiben, holte dann mit dem Fuß aus und verpasste der am Boden liegenden Frau einen Tritt. Das Geräusch ihres brechenden Kiefers erinnerte an das Zerbersten eines brennenden Zweigs im Feuer. Ein schmerzvolles Aufstöhnen entrang sich ihrer Kehle.
Die Melodie des Kinderlieds verflüchtigte sich.
Chevy wartete einen Augenblick lang und zwang sich zu atmen. Kontrolle. Stille. Heute Nacht durfte es nicht in seinem Kopf singen, nicht, wenn er seinen Plan, an dem er sieben Jahre lang gefeilt hatte, endlich umsetzen wollte.
Bebend nahm er die Hände von den Ohren und sah sich mit weit geöffneten Augen um, als könne er den Ursprung der Stimme sehen und verscheuchen, falls sie wiederkam. Er warf einen Blick auf die Kassette - es waren noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten Spielzeit übrig -, dann auf seine Armbanduhr. Es war schon spät, und er hatte noch einen Anruf zu erledigen. Außerdem wartete seine kleine Schwester auf ihn, sie war nicht gern allein. Die arme Jenny hatte schon genug Zeit ihres jungen Lebens damit verbracht, auf Chevy zu warten.
»Nicht mehr lange, Jen«, flüsterte er, als könnte sie ihn hören. Er schaltete den Recorder aus und griff nach dem Karton, den er den Berghang hinaufgeschleppt hatte. Er war ungefähr sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit, zwar nicht sonderlich schwer, aber unhandlich. Er stellte ihn neben die Tänzerin und öffnete die Laschen. Styroporflocken stoben auf, als er den zerbrechlichen Inhalt heraushob und die Stoffhülle Schicht um Schicht abwickelte, bis ...
»Mein Gott.« Chevy stockte der Atem, obwohl er das Gesicht schon einmal gesehen hatte: dunkle, seelenvolle Augen, ein breites Lächeln und dicke Locken aus echtem Haar. Er schluckte und durchwühlte den Stapel Versicherungsscheine in dem Karton, um sicherzugehen, dass es sich um das älteste Puppenmodell der Serie handelte. 1862 Benoit. Kopf und Brust aus Biskuitporzellan, Holzkörper. Seltenheit: Schlafaugen. Geschätzter Wert: 40 000 bis 50 000 $.
Chevy brachte die Puppe in eine aufrechte Haltung und ließ sie wieder nach hinten kippen - vor und zurück, vor und zurück -, während er ihre Augen betrachtete. Der Angabe des Versicherungsgutachtens zum Trotz schlossen sich die Augen der Puppe nicht. Sie blieben offen, beobachteten jedes Detail der Umgebung. Who saw him die? I, said the Fly, with my little eye ...
»Aufhören«, raunzte Chevy mit knirschenden Zähnen.
Fünf Herzschläge lang lauschte er bloß, dann atmete er aus. Mach weiter, die Frau wartet. Er legte die Puppe mit ein paar Metern Abstand auf den Boden, damit sie keine Spritzer abbekam. Dann holte er ein Cuttermesser aus der Tasche und bewegte sich wieder auf die Tänzerin zu.
Ihr Kreischen ließ ihn in der Bewegung verharren. Mist, fast hätte er etwas vergessen.
Chevy drückte gleichzeitig die Tasten »Play« und »Record«, dann hockte er sich neben die Schulter der Tänzerin. Ihr Wimmern, nun von dem Band aufgenommen, klang zwar wegen des gebrochenen Kiefers verzerrt, aber doch atemberaubend. Es wurde schriller, als er sich über sie beugte.
Nun würden nicht mehr viele Geräusche folgen.
Mit rasendem Puls machte sich Chevy an die Arbeit und sah dabei immer wieder zu der Puppe hinüber. Er konzentrierte sich darauf, seine Hand ruhig zu führen. Als er fertig war, ließ er sich zurückfallen und wurde von dem Drang zu weinen übermannt. Wenige Minuten später machte es »klick«.
Das Band war zu Ende.
Er öffnete die Augen und betrachtete sein Werk. Ein wenig unordentlich, aber trotzdem gelungen. Dann nahm er seine .38er Ruger aus der Sporttasche und wischte die Schläfe der Frau ab. Sie bekam davon nichts mehr mit, ihre Schluchzer waren kaum noch zu hören, als wüsste sie, dass es vorbei war. Chevy maß einen Abstand von knapp drei Zentimetern nach oben und markierte die Stelle mit einem Augenbrauenstift. Dann legte er die Mündung genau dort an. Und drückte ab.
Eine herrliche Stille trat nach dem Schuss ein. Chevy hielt den Atem an, doch er wusste, dass das Singen jetzt nicht mehr zurückkommen würde. Es kam nie zurück, wenn die Schreie zuvor gut gewesen waren.
Er befreite die Tänzerin von ihren Fesseln und legte ihren Körper so zurecht, wie es ihm gerade gefiel. Dann gab er sich zehn Minuten Zeit, um alles zusammenzusuchen, wonach die Spurensicherung stundenlang das Gelände durchkämmen würde: das Cuttermesser, die Waffe und die Patronenhülse, den Kassettenrecorder, die Seile und Zeltstangen. Er legte alles in seine Sporttasche zurück, achtete darauf, auch die letzte Styroporflocke mitzunehmen. Als er eine davon in seine Hosentasche schob und die Hand zurückzog, flog ein Stück Schokoverpackung aus der Tasche. Er bemerkte es und hob es auf. Vor Erleichterung klopfte sein Herz schneller. Der Trick bestand darin, schlau zu sein und sich keine Fehler zu erlauben.
Außerdem konnte ein wenig Glück nicht schaden.
Chevy sah sich noch einmal um und machte sich dann an den Abstieg, seine Tasche und den Karton tragend. Er hielt alle zwanzig Meter an und sah auf das Handy der Tänzerin. Als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, erklang eine kleine Trance- Melodie: Das Handy war mit einem Netz verbunden. Sein Puls ging schneller. Auf diesen Moment hatte er gewartet, sich den Augenblick dieses Telefonats sieben lange Jahre in seinen Träumen ausgemalt.
Das Spiel konnte beginnen.
Arlington, Virginia
Mitternacht. Im Haus war es ruhig, das Kind schlief schon lange. Eine Hundert-Watt-Birne schien grell auf die gelbe Matte hinunter, im Keller war die Luft von dem Geruch nach Schweiß und Leder getränkt. Die Stille wurde von widersinnigen Geräuschen der Gewalt durchbrochen. Grunzen, Schläge und atemloses Keuchen. Gelegentlich ein Quietschen von Gummisohlen. Das Telefon.
Beth Denison verzog das Gesicht. Sie atmete tief ein und spürte, dass sich die Luft wie nasser Sand auf ihre Lungen legte. Dann trat sie einen Schritt zurück. Einatmen, konzentrieren, im Gleichgewicht bleiben. Zuschlagen. Ihre Faust traf auf einen Hundertfünfzig-Kilo-Sandsack. Dann ein kräftiger linker Haken, gefolgt von einem Roundhouse-Kick, der einem Angreifer die Luftröhre zertrümmert hätte. Sie duckte sich, als der Sandsack zurückschwang, drehte sich und trat an die Stelle, wo bei einem normal gewachsenen Mann die Eier saßen.
Das Klingeln hatte aufgehört.
Keuchend stützte sie die Hände auf den Knien ab. Diesmal war keine seltsame Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen worden, kein Stöhnen oder Keuchen. Vielleicht begann sich der Anrufer allmählich zu langweilen. Sie richtete sich auf und machte die Finger lang. Der Schmerz in jedem einzelnen ließ sie zusammenzucken. Morgen würde sie dafür bezahlen müssen, dass sie keine Schutzkleidung angelegt hatte, doch heute Nacht brauchte sie nur die völlige körperliche Erschöpfung, um ihre Gedanken zu verdrängen - Gedanken an die Zukunft des Antiquitätengeschäfts, an Evan und die Anrufe irgendeines Idioten, der in seiner Abendfreizeit anscheinend Freude daran fand, das Telefonbuch aufzuschlagen und seine perver...
Klingeling.
Sie wirbelte herum und brachte einen weiteren Sandsack zum Schwingen. Das sirrende Geräusch dröhnte ihr in den Ohren, aber es war nicht laut genug, sondern wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. Vier Mal klingelte es, dann ein fünftes Mal. Diesmal würde er nicht auflegen.
»Verdammt.« Sie hob kapitulierend die Hände und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, um ... was zu tun? Den Hörer abzunehmen und dem Anrufer mitzuteilen, was sie gerade anhatte? Oder ihn zum Teufel zu schicken? Stirnrunzelnd blickte sie auf das Display des Küchentelefons. Area Code 206. Schon wieder die Vorwahl von Seattle, aber die nachfolgende Nummer kannte sie nicht.
Ein sechstes Klingeln, dann ein siebtes. Der Anrufbeantworter sprang an, und Beth hörte ihre eigene, fröhliche Stimme: »Hi, hier sind die Denisons, oder vielmehr der AB. Ihr wisst, was ihr jetzt tun müsst.« Piiep.
»Hallo, Schätzchen.«
Die Stimme war leise und klar. Angst regte sich in Beth. »Beth, ich weiß, dass du da bist. Geh ans Telefon.«
Beth? Die Angst ballte sich wie eine Faust zusammen. Besorgt warf sie einen Blick hoch zu Abbys Zimmertür. Kein Geräusch, kein Rascheln der Bettdecke. Zum Glück war Abby in jenen Tiefschlaf gesunken, den die Natur der Jugend vorbehielt. »Be-heth. Es ist sieben lange Jahre her. Willst du nicht mit mir reden?«
Ihre Lungen zogen sich zusammen. Nein. Bitte nicht. Das durfte nicht wahr sein.
»Genau, Beth.« Er senkte die Stimme. »Überraschung.«
Die Vergangenheit holte sie ein, mit Erinnerungen, die ihr wie eiskalte Schauer über den Rücken liefen.
»Ich wette, du hast gedacht, ich würde dich nie finden«, sagte der Anrufer. »Aber ich bin ein cleverer Mann. So clever sogar, dass ich mir ein paar besonders hübsche Geschenke für dich ausgedacht habe. Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu überreichen.« Er unterbrach sich kurz, als wüsste er, dass sie sich an die Rückenlehne eines Küchenstuhls festklammern musste, um nicht zu Boden zu sinken. Und dass ihre Welt soeben aus den Fugen geraten war.
Dummkopf, schalt sich Beth. Natürlich wusste er Bescheid. Antworte ihm nicht. Beachte ihn nicht und nimm vor allem nicht... »Übrigens, Beth, wie geht es deiner Tochter?«
Sie riss den Hörer von der Basis. »Scheißkerl!«
»Ah, da bist du ja. Fast hätte ich mir Sorgen gemacht.« Rote Funken tanzten vor ihren Augen. »W-wie ...?«
»Wie, was? Oh, du hast es noch nicht gewusst? Kein Wunder. Von wem hättest du die Neuigkeiten auch erfahren sollen.« »Wovon sprichst du?«
»Freiheit. Davon, endlich das zu bekommen, was mir die ganzen Jahre zugestanden hätte.«
Der Raum schien sich zu drehen. Beth konnte nicht einmal beschwören, dass sie noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Sie schloss die Augen. Denk nach. Nachdenken! Warum, nein, wie war es möglich, dass er sie anrufen konnte? »Ich verstehe nicht«, sagte sie.
»Ich bin mir sicher, dass du die ganze Geschichte mit ein paar Mausklicks im Internet nachlesen kannst. Für heute genügt es zu sagen, dass ich frei bin. Und das schon seit ein paar Wochen. Ich habe die Zeit genutzt, um unser Wiedersehen vorzubereiten.« Beth spürte, wie Übelkeit in ihr hochkroch. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie bekam kaum noch Luft. Frei? Moment. Jetzt ganz ruhig bleiben. Wenn er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen worden war, konnte es nur einen Grund geben, weshalb er sie anrief. Doch er würde es bestimmt nicht riskieren, die Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht zu bringen, nur um zu bekommen, was er wollte. »Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen all...«
Er lachte glucksend. »Nein, das tust du nicht. Du glaubst wohl, du kannst jeden mit deinem Bilderbuchdasein und deiner niedlichen kleinen Tochter zum Narren halten. Dabei scheinst du vergessen zu haben, dass ich deine Geheimnisse kenne.«
Beth umklammerte den Hörer so fest, dass sich ihr Arm schmerzhaft verkrampfte. »Du weißt überhaupt nichts.«
»Ach, wirklich?«, entgegnete er. Etwas klickte am anderen Ende der Leitung, und einen Moment lang dachte Beth, er hätte aufgelegt. Doch dann drang sein Atem erneut wie ein entferntes Schnarren an ihr Ohr. »Lass uns einmal gemeinsam überlegen: Ich weiß, was mit Anne Chaney geschehen ist. Ich weiß, warum du von Seattle quer über den Kontinent nach Arlington in Virginia gezogen bist.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß von deiner kleinen Toch ... «
Bevor sie sich zusammenreißen konnte, keuchte Beth kurz auf. Zu spät.
»Oh, wie schön, Beth. Kann ich das noch einmal hören?« »Sofort aufhören!« Sie spuckte die Worte förmlich aus, doch dann gewann sie die Fassung zurück. Ruhe bewahren. Und kein falsches Geräusch. Sie erinnerte sich, wie sehr er den Klang der Qual liebte. Schrei, du Schlampe. Schrei für mich.
»Lass mich noch einmal deine Stimme hören, Beth«, bat er. »Du musst dich jetzt noch nicht verausgaben. Nur ein paar kleine Seufzer, damit das Werk beginn ... «
Beth feuerte das Telefon quer durch den Raum. Ihre Angst und ihr Zorn waren wie Schlangen, die sich in ihrem Magen wanden. Sie zwang sich, kontrolliert zu atmen, um ihren Wutanfall in den Griff zu bekommen. Verdammt noch mal, sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Selbst als freier Mann war er für sie nicht halb so bedrohlich wie sie für ihn. Er war derjenige, der Angst haben sollte. Abgesehen davon hatte er sie aus einem entfernten Bundesstaat angerufen.
Vorwahl 206 ... Seattle.
Die Gewissheit traf sie wie ein Faustschlag. Es war kein Traum. Es war keine böse Erinnerung aus der Distanz eines anderen Lebens. Er war nicht irgendein Typ, der mit einem Sixpack Bier zu Hause hockte, das Telefonbuch aufschlug, sich eine Nummer aussuchte, die ihm gefiel, und immer wieder die Wahlwiederholung drückte.
Er war Chevy Bankes.
Mit einem Stich im Herzen wusste Beth, dass sie sofort nach Abby sehen musste. Sie raste nach oben und blickte ins Kinderzimmer. Das Mondlicht schien auf Abbys Bett, in dem sie ausgestreckt lag, eine Spielzeugkatze an den Bauch gedrückt. Zu ihren Füßen kauerte der Hund. Er wedelte mit dem Schwanz und rollte sich hoffnungsvoll auf den Rücken, ohne das Frösteln zu bemerken, das Beth durch die Adern kroch, während sie Abbys Atemzüge verfolgte: ein, aus, ein, aus, ein, aus. Drei war die magische Zahl. Beth wartete immer drei Atemzüge ab, bevor sie schlafen ging.
Diesmal zählte sie bis zehn.
Lautlos glitt sie in den Flur zurück und presste sich die Hand-
ballen auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Jetzt bloß nicht heulen. Du weißt ganz genau, dass es nicht hilft. Das eben hätte nie passieren dürfen. Doch Beth hatte immer damit gerechnet, dass es passieren könnte. Bankes war schließlich nicht der Einzige, der einen Plan hatte.
Atme ein, konzentriere dich, und finde deine Mitte. Das jahrelange Thai-Boxtraining half ihr, wieder zur Ruhe zu kommen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wo sie einen Schaukelstuhl quer durch den Raum zog und ihn neben eine riesige Chippendale-Kommode stellte. Sie war aus New England, ein frühes Stück seiner Epoche, in einer kräftigen, dunklen Holzfärbung mit üppig geschnitzter Verzierung und original belassenen Metallbeschlägen. Doch Beth hatte die antike Kommode nicht wegen ihrer Schönheit oder ihres Alters gekauft. Es war wegen des geschnitzten Aufsatzes gewesen.
Sie stieg auf den wackeligen Schaukelstuhl und zog kräftig an der oberen rechten Kante des Aufsatzes. Mit einem Knarren gab das Holz nach, und aus der Öffnung dahinter segelte Beth ein zusammengefalteter Zettel entgegen. Sie steckte ihn unter ihr Schweißband am Handgelenk und griff ins Innere des Geheimfachs. Ihre Finger umschlossen den Griff einer 9-mmGlock - nützlich und durchsetzungsstark wartete sie dort unberührt, aber unvergessen auf sie. Beth nahm die Glock in beide Hände, streckte die Ellbogen durch und blickte in Richtung des kleinen roten Lichts am Telefon, das am anderen Ende des Raums stand.
Sie konnte es tun. Und wenn sie dazu gezwungen wurde, würde sie es auch tun - allein Abby zuliebe.
Beth ließ die Pistole sinken, kletterte vom Stuhl, zog den Zettel wieder hervor und faltete ihn auf. Eine Namensliste. Cheryl Stallings, ihre Schwägerin. Zwei Anwälte, von denen einer Beths Testament verfasst hatte und der andere dafür berüchtigt war, seine Fälle um jeden Preis zu gewinnen. Drei Möbelhändler mit Interesse an frühen amerikanischen Antiquitäten, die Beth für einige ihrer besonderen Stücke Bargeld angeboten hatten und mit ihr ins Geschäft kommen würden, ohne Fragen zu stellen.
Sie merkte, wie es sie beruhigte, die Liste durchzugehen. Diese war der handfeste Beweis dafür, dass Beth einen Plan hatte und die Möglichkeiten besaß, ihn in die Tat umzusetzen. Sie holte tief Luft. Obwohl es schon spät war, griff sie nach dem Telefonhörer. Sie zögerte kurz. Die Ziffern 9 und 1 schienen heller als der Rest zu leuchten.
Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen alles. Doch das war nur ein Bluff gewesen, und Bankes hatte ihn durchschaut. Sie durfte die Polizei nicht anrufen. Das konnte sie Abby nicht antun.
Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, murmelte sie ein Gebet, in dem sie um Vergebung bat - falls es überhaupt einen Gott gab. Sie räusperte sich und übte sich in jenem ruhigen und beherrschten Tonfall, den sie mit den Jahren perfektioniert hatte. Dann wählte sie die oberste Nummer auf der Liste.
Die erste Lüge war die schwerste.
Übersetzung: Antje Nissen
© 2011 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Die Nacht war kühl, der Mond nur eine schmale Sichel. Nebelschwaden waberten über das Wasser und erstarrten in den Gräben zu Eis. Seattle glitzterte im Dunstschleier zweitausend Meter in der Tiefe, doch oben auf dem Berg war die Luft dünn und klar, und es war gespenstisch still. Die Dunkelheit wurde nur von dem bläulich weißen Strahl einer Halogentaschenlampe durchschnitten, und nichts bewegte sich, bis auf die Spulen eines alten Kassettenrecorders, die sich unablässig drehten. Es war kaum etwas zu hören, nur das gedämpfte Schluchzen der Frau, die bald sterben würde.
Chevy Bankes blickte auf die Gestalt vor ihm, deren Führerschein sie als Lila Beckenridge auswies. Das Foto zeigte messerscharf geschnittene Wangenknochen und einen streng zusammengerafften Dutt. Eine Tänzerin, dachte er, während er sie an den Fußknöcheln fesselte. Geschundene Füße und dünn wie eine Bohnenstange. Der schwache Geruch von Schweiß unterlag ihrem Parfüm.
Und sie konnte laut schreien, besaß gut entwickelte Atemorgane. War es wert, ihre Rolle in der Inszenierung zu spielen, die heute Nacht ihren Anfang nahm.
Chevy verharrte in der Bewegung, als ihm die Bedeutung des Augenblicks bewusst wurde. Er hatte schon Frauen gehabt, hatte schon getötet, aber nie zuvor mit solch einer Bestimmung. Noch nie hatte er eine Frau getötet, noch nie ein Leben für etwas anderes als die unmittelbare Befriedigung seines Drangs ausgelöscht. Insofern war die Tänzerin einzigartig. Eine Premiere.
Perverse Dankbarkeit überrollte ihn, und er beugte sich vor, um ihr über die Wange zu streicheln. Sie spuckte ihn an. »Schlampe!«, knurrte er wütend und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemds ab. Wut flammte in ihm auf. Wie konnte sie es wagen? Das war nicht in seinem Plan vorgesehen ... Who killed Cock Robin? I, said the Sparrow, with my bow and arrow, I killed Cock Robin ...
Chevy hielt sich die Ohren zu. »Nein«, sagte er, aber das Lied wollte nicht aufhören - die Melodie verfolgte ihn hartnäckig wie das Surren einer Stechmücke am Ohr. Er schlug um sich, als könne er das Insekt vertreiben, holte dann mit dem Fuß aus und verpasste der am Boden liegenden Frau einen Tritt. Das Geräusch ihres brechenden Kiefers erinnerte an das Zerbersten eines brennenden Zweigs im Feuer. Ein schmerzvolles Aufstöhnen entrang sich ihrer Kehle.
Die Melodie des Kinderlieds verflüchtigte sich.
Chevy wartete einen Augenblick lang und zwang sich zu atmen. Kontrolle. Stille. Heute Nacht durfte es nicht in seinem Kopf singen, nicht, wenn er seinen Plan, an dem er sieben Jahre lang gefeilt hatte, endlich umsetzen wollte.
Bebend nahm er die Hände von den Ohren und sah sich mit weit geöffneten Augen um, als könne er den Ursprung der Stimme sehen und verscheuchen, falls sie wiederkam. Er warf einen Blick auf die Kassette - es waren noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten Spielzeit übrig -, dann auf seine Armbanduhr. Es war schon spät, und er hatte noch einen Anruf zu erledigen. Außerdem wartete seine kleine Schwester auf ihn, sie war nicht gern allein. Die arme Jenny hatte schon genug Zeit ihres jungen Lebens damit verbracht, auf Chevy zu warten.
»Nicht mehr lange, Jen«, flüsterte er, als könnte sie ihn hören. Er schaltete den Recorder aus und griff nach dem Karton, den er den Berghang hinaufgeschleppt hatte. Er war ungefähr sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit, zwar nicht sonderlich schwer, aber unhandlich. Er stellte ihn neben die Tänzerin und öffnete die Laschen. Styroporflocken stoben auf, als er den zerbrechlichen Inhalt heraushob und die Stoffhülle Schicht um Schicht abwickelte, bis ...
»Mein Gott.« Chevy stockte der Atem, obwohl er das Gesicht schon einmal gesehen hatte: dunkle, seelenvolle Augen, ein breites Lächeln und dicke Locken aus echtem Haar. Er schluckte und durchwühlte den Stapel Versicherungsscheine in dem Karton, um sicherzugehen, dass es sich um das älteste Puppenmodell der Serie handelte. 1862 Benoit. Kopf und Brust aus Biskuitporzellan, Holzkörper. Seltenheit: Schlafaugen. Geschätzter Wert: 40 000 bis 50 000 $.
Chevy brachte die Puppe in eine aufrechte Haltung und ließ sie wieder nach hinten kippen - vor und zurück, vor und zurück -, während er ihre Augen betrachtete. Der Angabe des Versicherungsgutachtens zum Trotz schlossen sich die Augen der Puppe nicht. Sie blieben offen, beobachteten jedes Detail der Umgebung. Who saw him die? I, said the Fly, with my little eye ...
»Aufhören«, raunzte Chevy mit knirschenden Zähnen.
Fünf Herzschläge lang lauschte er bloß, dann atmete er aus. Mach weiter, die Frau wartet. Er legte die Puppe mit ein paar Metern Abstand auf den Boden, damit sie keine Spritzer abbekam. Dann holte er ein Cuttermesser aus der Tasche und bewegte sich wieder auf die Tänzerin zu.
Ihr Kreischen ließ ihn in der Bewegung verharren. Mist, fast hätte er etwas vergessen.
Chevy drückte gleichzeitig die Tasten »Play« und »Record«, dann hockte er sich neben die Schulter der Tänzerin. Ihr Wimmern, nun von dem Band aufgenommen, klang zwar wegen des gebrochenen Kiefers verzerrt, aber doch atemberaubend. Es wurde schriller, als er sich über sie beugte.
Nun würden nicht mehr viele Geräusche folgen.
Mit rasendem Puls machte sich Chevy an die Arbeit und sah dabei immer wieder zu der Puppe hinüber. Er konzentrierte sich darauf, seine Hand ruhig zu führen. Als er fertig war, ließ er sich zurückfallen und wurde von dem Drang zu weinen übermannt. Wenige Minuten später machte es »klick«.
Das Band war zu Ende.
Er öffnete die Augen und betrachtete sein Werk. Ein wenig unordentlich, aber trotzdem gelungen. Dann nahm er seine .38er Ruger aus der Sporttasche und wischte die Schläfe der Frau ab. Sie bekam davon nichts mehr mit, ihre Schluchzer waren kaum noch zu hören, als wüsste sie, dass es vorbei war. Chevy maß einen Abstand von knapp drei Zentimetern nach oben und markierte die Stelle mit einem Augenbrauenstift. Dann legte er die Mündung genau dort an. Und drückte ab.
Eine herrliche Stille trat nach dem Schuss ein. Chevy hielt den Atem an, doch er wusste, dass das Singen jetzt nicht mehr zurückkommen würde. Es kam nie zurück, wenn die Schreie zuvor gut gewesen waren.
Er befreite die Tänzerin von ihren Fesseln und legte ihren Körper so zurecht, wie es ihm gerade gefiel. Dann gab er sich zehn Minuten Zeit, um alles zusammenzusuchen, wonach die Spurensicherung stundenlang das Gelände durchkämmen würde: das Cuttermesser, die Waffe und die Patronenhülse, den Kassettenrecorder, die Seile und Zeltstangen. Er legte alles in seine Sporttasche zurück, achtete darauf, auch die letzte Styroporflocke mitzunehmen. Als er eine davon in seine Hosentasche schob und die Hand zurückzog, flog ein Stück Schokoverpackung aus der Tasche. Er bemerkte es und hob es auf. Vor Erleichterung klopfte sein Herz schneller. Der Trick bestand darin, schlau zu sein und sich keine Fehler zu erlauben.
Außerdem konnte ein wenig Glück nicht schaden.
Chevy sah sich noch einmal um und machte sich dann an den Abstieg, seine Tasche und den Karton tragend. Er hielt alle zwanzig Meter an und sah auf das Handy der Tänzerin. Als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, erklang eine kleine Trance- Melodie: Das Handy war mit einem Netz verbunden. Sein Puls ging schneller. Auf diesen Moment hatte er gewartet, sich den Augenblick dieses Telefonats sieben lange Jahre in seinen Träumen ausgemalt.
Das Spiel konnte beginnen.
Arlington, Virginia
Mitternacht. Im Haus war es ruhig, das Kind schlief schon lange. Eine Hundert-Watt-Birne schien grell auf die gelbe Matte hinunter, im Keller war die Luft von dem Geruch nach Schweiß und Leder getränkt. Die Stille wurde von widersinnigen Geräuschen der Gewalt durchbrochen. Grunzen, Schläge und atemloses Keuchen. Gelegentlich ein Quietschen von Gummisohlen. Das Telefon.
Beth Denison verzog das Gesicht. Sie atmete tief ein und spürte, dass sich die Luft wie nasser Sand auf ihre Lungen legte. Dann trat sie einen Schritt zurück. Einatmen, konzentrieren, im Gleichgewicht bleiben. Zuschlagen. Ihre Faust traf auf einen Hundertfünfzig-Kilo-Sandsack. Dann ein kräftiger linker Haken, gefolgt von einem Roundhouse-Kick, der einem Angreifer die Luftröhre zertrümmert hätte. Sie duckte sich, als der Sandsack zurückschwang, drehte sich und trat an die Stelle, wo bei einem normal gewachsenen Mann die Eier saßen.
Das Klingeln hatte aufgehört.
Keuchend stützte sie die Hände auf den Knien ab. Diesmal war keine seltsame Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen worden, kein Stöhnen oder Keuchen. Vielleicht begann sich der Anrufer allmählich zu langweilen. Sie richtete sich auf und machte die Finger lang. Der Schmerz in jedem einzelnen ließ sie zusammenzucken. Morgen würde sie dafür bezahlen müssen, dass sie keine Schutzkleidung angelegt hatte, doch heute Nacht brauchte sie nur die völlige körperliche Erschöpfung, um ihre Gedanken zu verdrängen - Gedanken an die Zukunft des Antiquitätengeschäfts, an Evan und die Anrufe irgendeines Idioten, der in seiner Abendfreizeit anscheinend Freude daran fand, das Telefonbuch aufzuschlagen und seine perver...
Klingeling.
Sie wirbelte herum und brachte einen weiteren Sandsack zum Schwingen. Das sirrende Geräusch dröhnte ihr in den Ohren, aber es war nicht laut genug, sondern wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. Vier Mal klingelte es, dann ein fünftes Mal. Diesmal würde er nicht auflegen.
»Verdammt.« Sie hob kapitulierend die Hände und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, um ... was zu tun? Den Hörer abzunehmen und dem Anrufer mitzuteilen, was sie gerade anhatte? Oder ihn zum Teufel zu schicken? Stirnrunzelnd blickte sie auf das Display des Küchentelefons. Area Code 206. Schon wieder die Vorwahl von Seattle, aber die nachfolgende Nummer kannte sie nicht.
Ein sechstes Klingeln, dann ein siebtes. Der Anrufbeantworter sprang an, und Beth hörte ihre eigene, fröhliche Stimme: »Hi, hier sind die Denisons, oder vielmehr der AB. Ihr wisst, was ihr jetzt tun müsst.« Piiep.
»Hallo, Schätzchen.«
Die Stimme war leise und klar. Angst regte sich in Beth. »Beth, ich weiß, dass du da bist. Geh ans Telefon.«
Beth? Die Angst ballte sich wie eine Faust zusammen. Besorgt warf sie einen Blick hoch zu Abbys Zimmertür. Kein Geräusch, kein Rascheln der Bettdecke. Zum Glück war Abby in jenen Tiefschlaf gesunken, den die Natur der Jugend vorbehielt. »Be-heth. Es ist sieben lange Jahre her. Willst du nicht mit mir reden?«
Ihre Lungen zogen sich zusammen. Nein. Bitte nicht. Das durfte nicht wahr sein.
»Genau, Beth.« Er senkte die Stimme. »Überraschung.«
Die Vergangenheit holte sie ein, mit Erinnerungen, die ihr wie eiskalte Schauer über den Rücken liefen.
»Ich wette, du hast gedacht, ich würde dich nie finden«, sagte der Anrufer. »Aber ich bin ein cleverer Mann. So clever sogar, dass ich mir ein paar besonders hübsche Geschenke für dich ausgedacht habe. Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu überreichen.« Er unterbrach sich kurz, als wüsste er, dass sie sich an die Rückenlehne eines Küchenstuhls festklammern musste, um nicht zu Boden zu sinken. Und dass ihre Welt soeben aus den Fugen geraten war.
Dummkopf, schalt sich Beth. Natürlich wusste er Bescheid. Antworte ihm nicht. Beachte ihn nicht und nimm vor allem nicht... »Übrigens, Beth, wie geht es deiner Tochter?«
Sie riss den Hörer von der Basis. »Scheißkerl!«
»Ah, da bist du ja. Fast hätte ich mir Sorgen gemacht.« Rote Funken tanzten vor ihren Augen. »W-wie ...?«
»Wie, was? Oh, du hast es noch nicht gewusst? Kein Wunder. Von wem hättest du die Neuigkeiten auch erfahren sollen.« »Wovon sprichst du?«
»Freiheit. Davon, endlich das zu bekommen, was mir die ganzen Jahre zugestanden hätte.«
Der Raum schien sich zu drehen. Beth konnte nicht einmal beschwören, dass sie noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Sie schloss die Augen. Denk nach. Nachdenken! Warum, nein, wie war es möglich, dass er sie anrufen konnte? »Ich verstehe nicht«, sagte sie.
»Ich bin mir sicher, dass du die ganze Geschichte mit ein paar Mausklicks im Internet nachlesen kannst. Für heute genügt es zu sagen, dass ich frei bin. Und das schon seit ein paar Wochen. Ich habe die Zeit genutzt, um unser Wiedersehen vorzubereiten.« Beth spürte, wie Übelkeit in ihr hochkroch. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie bekam kaum noch Luft. Frei? Moment. Jetzt ganz ruhig bleiben. Wenn er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen worden war, konnte es nur einen Grund geben, weshalb er sie anrief. Doch er würde es bestimmt nicht riskieren, die Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht zu bringen, nur um zu bekommen, was er wollte. »Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen all...«
Er lachte glucksend. »Nein, das tust du nicht. Du glaubst wohl, du kannst jeden mit deinem Bilderbuchdasein und deiner niedlichen kleinen Tochter zum Narren halten. Dabei scheinst du vergessen zu haben, dass ich deine Geheimnisse kenne.«
Beth umklammerte den Hörer so fest, dass sich ihr Arm schmerzhaft verkrampfte. »Du weißt überhaupt nichts.«
»Ach, wirklich?«, entgegnete er. Etwas klickte am anderen Ende der Leitung, und einen Moment lang dachte Beth, er hätte aufgelegt. Doch dann drang sein Atem erneut wie ein entferntes Schnarren an ihr Ohr. »Lass uns einmal gemeinsam überlegen: Ich weiß, was mit Anne Chaney geschehen ist. Ich weiß, warum du von Seattle quer über den Kontinent nach Arlington in Virginia gezogen bist.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß von deiner kleinen Toch ... «
Bevor sie sich zusammenreißen konnte, keuchte Beth kurz auf. Zu spät.
»Oh, wie schön, Beth. Kann ich das noch einmal hören?« »Sofort aufhören!« Sie spuckte die Worte förmlich aus, doch dann gewann sie die Fassung zurück. Ruhe bewahren. Und kein falsches Geräusch. Sie erinnerte sich, wie sehr er den Klang der Qual liebte. Schrei, du Schlampe. Schrei für mich.
»Lass mich noch einmal deine Stimme hören, Beth«, bat er. »Du musst dich jetzt noch nicht verausgaben. Nur ein paar kleine Seufzer, damit das Werk beginn ... «
Beth feuerte das Telefon quer durch den Raum. Ihre Angst und ihr Zorn waren wie Schlangen, die sich in ihrem Magen wanden. Sie zwang sich, kontrolliert zu atmen, um ihren Wutanfall in den Griff zu bekommen. Verdammt noch mal, sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Selbst als freier Mann war er für sie nicht halb so bedrohlich wie sie für ihn. Er war derjenige, der Angst haben sollte. Abgesehen davon hatte er sie aus einem entfernten Bundesstaat angerufen.
Vorwahl 206 ... Seattle.
Die Gewissheit traf sie wie ein Faustschlag. Es war kein Traum. Es war keine böse Erinnerung aus der Distanz eines anderen Lebens. Er war nicht irgendein Typ, der mit einem Sixpack Bier zu Hause hockte, das Telefonbuch aufschlug, sich eine Nummer aussuchte, die ihm gefiel, und immer wieder die Wahlwiederholung drückte.
Er war Chevy Bankes.
Mit einem Stich im Herzen wusste Beth, dass sie sofort nach Abby sehen musste. Sie raste nach oben und blickte ins Kinderzimmer. Das Mondlicht schien auf Abbys Bett, in dem sie ausgestreckt lag, eine Spielzeugkatze an den Bauch gedrückt. Zu ihren Füßen kauerte der Hund. Er wedelte mit dem Schwanz und rollte sich hoffnungsvoll auf den Rücken, ohne das Frösteln zu bemerken, das Beth durch die Adern kroch, während sie Abbys Atemzüge verfolgte: ein, aus, ein, aus, ein, aus. Drei war die magische Zahl. Beth wartete immer drei Atemzüge ab, bevor sie schlafen ging.
Diesmal zählte sie bis zehn.
Lautlos glitt sie in den Flur zurück und presste sich die Hand-
ballen auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Jetzt bloß nicht heulen. Du weißt ganz genau, dass es nicht hilft. Das eben hätte nie passieren dürfen. Doch Beth hatte immer damit gerechnet, dass es passieren könnte. Bankes war schließlich nicht der Einzige, der einen Plan hatte.
Atme ein, konzentriere dich, und finde deine Mitte. Das jahrelange Thai-Boxtraining half ihr, wieder zur Ruhe zu kommen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wo sie einen Schaukelstuhl quer durch den Raum zog und ihn neben eine riesige Chippendale-Kommode stellte. Sie war aus New England, ein frühes Stück seiner Epoche, in einer kräftigen, dunklen Holzfärbung mit üppig geschnitzter Verzierung und original belassenen Metallbeschlägen. Doch Beth hatte die antike Kommode nicht wegen ihrer Schönheit oder ihres Alters gekauft. Es war wegen des geschnitzten Aufsatzes gewesen.
Sie stieg auf den wackeligen Schaukelstuhl und zog kräftig an der oberen rechten Kante des Aufsatzes. Mit einem Knarren gab das Holz nach, und aus der Öffnung dahinter segelte Beth ein zusammengefalteter Zettel entgegen. Sie steckte ihn unter ihr Schweißband am Handgelenk und griff ins Innere des Geheimfachs. Ihre Finger umschlossen den Griff einer 9-mmGlock - nützlich und durchsetzungsstark wartete sie dort unberührt, aber unvergessen auf sie. Beth nahm die Glock in beide Hände, streckte die Ellbogen durch und blickte in Richtung des kleinen roten Lichts am Telefon, das am anderen Ende des Raums stand.
Sie konnte es tun. Und wenn sie dazu gezwungen wurde, würde sie es auch tun - allein Abby zuliebe.
Beth ließ die Pistole sinken, kletterte vom Stuhl, zog den Zettel wieder hervor und faltete ihn auf. Eine Namensliste. Cheryl Stallings, ihre Schwägerin. Zwei Anwälte, von denen einer Beths Testament verfasst hatte und der andere dafür berüchtigt war, seine Fälle um jeden Preis zu gewinnen. Drei Möbelhändler mit Interesse an frühen amerikanischen Antiquitäten, die Beth für einige ihrer besonderen Stücke Bargeld angeboten hatten und mit ihr ins Geschäft kommen würden, ohne Fragen zu stellen.
Sie merkte, wie es sie beruhigte, die Liste durchzugehen. Diese war der handfeste Beweis dafür, dass Beth einen Plan hatte und die Möglichkeiten besaß, ihn in die Tat umzusetzen. Sie holte tief Luft. Obwohl es schon spät war, griff sie nach dem Telefonhörer. Sie zögerte kurz. Die Ziffern 9 und 1 schienen heller als der Rest zu leuchten.
Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen alles. Doch das war nur ein Bluff gewesen, und Bankes hatte ihn durchschaut. Sie durfte die Polizei nicht anrufen. Das konnte sie Abby nicht antun.
Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, murmelte sie ein Gebet, in dem sie um Vergebung bat - falls es überhaupt einen Gott gab. Sie räusperte sich und übte sich in jenem ruhigen und beherrschten Tonfall, den sie mit den Jahren perfektioniert hatte. Dann wählte sie die oberste Nummer auf der Liste.
Die erste Lüge war die schwerste.
Übersetzung: Antje Nissen
© 2011 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Kate Brady
Kate Brady ist Chorleiterin und Dozentin für Musik. Führ ihren Debütroman "Puppengrab" wurde sie mit dem begehrten RITA-Award ausgezeichnet Sie lebt mit ihrer Familie in Atlanta.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Brady
- 2011, 455 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Antje Nissen
- Übersetzer: Antje Nissen
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426652153
- ISBN-13: 9783426652152
Rezension zu „Puppengrab “
"Chorleiterin Brady hat hier einen Wahnsinns-Thriller vorgelegt! Drastisch, intensiv, überraschend! Diese absolut fesselnde Story wird Ihnen Gänsehaut und schlaflose Nächte bereiten." -- Kölner Express Online, 16.11.2011"Höllisch spannender Psycho-Schocker für Frauen!" -- Happy-End-Buecher.de, 06.10.2011
"Fesselnd, gefährlich, intelligent und voller Gefühl!" -- Liebesromanforum.com, 04.10.2011
"Die Story ist fesselnd bis zum Schluss, und manchmal möchte man die Augen zumachen beim Lesen, weil die Spannung unerträglich scheint." -- Krimi-Forum.net, 02.08.2013
"Von der ersten Seite an sehr fesselnd." -- Blog Connychaos-testet.de, 18.03.2012
"Bradys Schreibe überzeugt durch gut recherchierte Details, bissige Dialoge und durchgehende Spannung." -- Cellesche Zeitung, 17.12.2011
"Der Leser fiebert mit Beth und Neil Sheridan mit, weiß immer etwas mehr als das potentielle Opfer und der Ermittler. Und das macht auch den Reiz aus." -- Münstersche Zeitung, 21.11.2011
"Chorleiterin Brady hat hier einen Wahnsinnsthriller vorgelegt. Drastisch, intensiv, überraschend. Diese absolut fesselnde Story wird Ihnen Gänsehaut und schlaflose Nächte bereiten." -- Express Online, 16.11.2011
"Ein gut strukturierter und grandios ausgearbeiteter Thriller" -- Leser-Welt.de, 24.10.2011
"Ein spannender Thriller, dessen grausam erdachtes Spiel um Leben und Tod aufmerksam verfolgt werden sollte." -- Media-mania.de, 21.10.2011
"Eine wirklich spannende und fesselnde Geschichte, die zwar einige Klischees bedient, aber trotzdem nicht langweilt, im Gegenteil. Thrillerfans werden nicht enttäuscht!" -- Lies-und-lausch.de, 07.10.2011
"PUPPENGRAB ist der Stoff, aus dem Alpträume gemacht werden. David Fincher sollte sich am besten umgehend die Filmrechte sichern, denn Bradys Thriller auf der Kinoleinwand könnte zu einem echten Schocker und damit Renner werden." -- Literaturmarkt.info, 04.10.2011
"PUPPENGRAB ist der Debütroman von Kate Brady und so überrascht es umso mehr,
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dass man von Anfang an direkt gefesselt ist vom Geschehen um die Antiquitätenhändlerin Beth und ihren Verfolger. (...) Mein Überraschungswerk des Jahres von einer neuen Autorin, von der wir sicher noch mehr hören werden und welche hoffentlich ihr Schreibtempo und Limit in Zukunft weiter aufrecht erhalten wird. Sie überzeugt einfach mit ihrem klaren Stil und der fesselnden Handlung." -- DGF Magazin, 30.09.2011
"Eine wirklich durchdachte Story, die gut einen Kriminalfall mit einer sich entwickelnden Liebesbeziehung verbinden konnte." -- Buchrezicenter.de, 28.09.2011
"Mit diesem Buch ist Kate Brady ein super spannendes Debüt gelungen. (...) Für alle Fans von Karen Rose und Lisa Jackson ein absolutes Muss." -- Krimi-Fan.de, 22.09.2011
"Man kann diesen Thriller keine Sekunde aus den Händen legen. Und ist man gezwungen, dies zu tun, sehnt man sich nach eben diesem Buch. Besser kann ein Debüt nicht sein." -- Com-on-online.de, November 2011
"Eine wirklich durchdachte Story, die gut einen Kriminalfall mit einer sich entwickelnden Liebesbeziehung verbinden konnte." -- Buchrezicenter.de, 28.09.2011
"Mit diesem Buch ist Kate Brady ein super spannendes Debüt gelungen. (...) Für alle Fans von Karen Rose und Lisa Jackson ein absolutes Muss." -- Krimi-Fan.de, 22.09.2011
"Man kann diesen Thriller keine Sekunde aus den Händen legen. Und ist man gezwungen, dies zu tun, sehnt man sich nach eben diesem Buch. Besser kann ein Debüt nicht sein." -- Com-on-online.de, November 2011
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