Puppengrab
Thriller
Chevy Bankes ist Sammler. Er sammelt Frauenschreie, um die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Als Krönung für seine Sammlung hat er sich die attraktive Beth Denison ausgesucht, der er nach jedem Mord die Todesschreie seiner Opfer am...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Puppengrab “
Chevy Bankes ist Sammler. Er sammelt Frauenschreie, um die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Als Krönung für seine Sammlung hat er sich die attraktive Beth Denison ausgesucht, der er nach jedem Mord die Todesschreie seiner Opfer am Telefon vorspielt. Beth ist verzweifelt und sucht nach einem Ausweg für sich und ihre kleine Tochter Abby. Wird FBI-Agent Neil Sheridan die junge Frau vor dem Wahnsinnigen schützen können? Die Zeit ist knapp, der Killer so nah ...
Klappentext zu „Puppengrab “
Chevy Bankes ist Sammler. Er sammelt Frauenschreie, um die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Als Krönung für seine Sammlung hat er sich die attraktive Beth Denison ausgesucht, der er nach jedem Mord die Todesschreie seiner Opfer am Telefon vorspielt. Beth ist verzweifelt und sucht nach einem Ausweg für sich und ihre kleine Tochter Abby. Wird FBI-Agent Neil Sheridan die junge Frau vor dem Wahnsinnigen schützen können? Die Zeit ist knapp, der Killer so nah ...
Lese-Probe zu „Puppengrab “
Puppengrab von Kate BradyAus dem Amerikanischen von Antje Nissen
1
Big Horn Butte, Washington 2780 Meilen entfernt
Die Nacht war kühl, der Mond nur eine schmale Sichel. Nebelschwaden waberten über das Wasser und erstarrten in den Gräben zu Eis. Seattle glitzterte im Dunstschleier zweitausend Meter in der Tiefe, doch oben auf dem Berg war die Luft dünn und klar, und es war gespenstisch still. Die Dunkelheit wurde nur von dem bläulich weißen Strahl einer Halogentaschenlampe durchschnitten, und nichts bewegte sich, bis auf die Spulen eines alten Kassettenrecorders, die sich unablässig drehten. Es war kaum etwas zu hören, nur das gedämpfte Schluchzen der Frau, die bald sterben würde.
Chevy Bankes blickte auf die Gestalt vor ihm, deren Führerschein sie als Lila Beckenridge auswies. Das Foto zeigte messerscharf geschnittene Wangenknochen und einen streng zusammengerafften Dutt. Eine Tänzerin, dachte er, während er sie an den Fußknöcheln fesselte. Geschundene Füße und dünn wie eine Bohnenstange. Der schwache Geruch von Schweiß unterlag ihrem Parfüm.
Und sie konnte laut schreien, besaß gut entwickelte Atemorgane. War es wert, ihre Rolle in der Inszenierung zu spielen, die heute Nacht ihren Anfang nahm.
... mehr
Chevy verharrte in der Bewegung, als ihm die Bedeutung des Augenblicks bewusst wurde. Er hatte schon Frauen gehabt, hatte schon getötet, aber nie zuvor mit solch einer Bestimmung. Noch nie hatte er eine Frau getötet, noch nie ein Leben für etwas anderes als die unmittelbare Befriedigung seines Drangs ausgelöscht. Insofern war die Tänzerin einzigartig. Eine Premiere. Perverse Dankbarkeit überrollte ihn, und er beugte sich vor, um ihr über die Wange zu streicheln. Sie spuckte ihn an. »Schlampe!«, knurrte er wütend und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemds ab. Wut flammte in ihm auf. Wie konnte sie es wagen? Das war nicht in seinem Plan vorgesehen ...
Who killed Cock Robin? I, said the Sparrow, with my bow and arrow, I killed Cock Robin ...
Chevy hielt sich die Ohren zu. »Nein«, sagte er, aber das Lied wollte nicht aufhören - die Melodie verfolgte ihn hartnäckig wie das Surren einer Stechmücke am Ohr. Er schlug um sich, als könne er das Insekt vertreiben, holte dann mit dem Fuß aus und verpasste der am Boden liegenden Frau einen Tritt. Das Geräusch ihres brechenden Kiefers erinnerte an das Zerbersten eines brennenden Zweigs im Feuer. Ein schmerzvolles Aufstöhnen entrang sich ihrer Kehle. Die Melodie des Kinderlieds verflüchtigte sich. Chevy wartete einen Augenblick lang und zwang sich zu atmen. Kontrolle. Stille. Heute Nacht durfte es nicht in seinem Kopf singen, nicht, wenn er seinen Plan, an dem er sieben Jahre lang gefeilt hatte, endlich umsetzen wollte. Bebend nahm er die Hände von den Ohren und sah sich mit weit geöffneten Augen um, als könne er den Ursprung der Stimme sehen und verscheuchen, falls sie wiederkam. Er warf einen Blick auf die Kassette - es waren noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten Spielzeit übrig -, dann auf seine Armbanduhr. Es war schon spät, und er hatte noch einen Anruf zu erledigen. Außerdem wartete seine kleine Schwester auf ihn, sie war nicht gern allein. Die arme Jenny hatte schon genug Zeit ihres jungen Lebens damit verbracht, auf Chevy zu warten.
»Nicht mehr lange, Jen«, flüsterte er, als könnte sie ihn hören. Er schaltete den Recorder aus und griff nach dem Karton, den er den Berghang hinaufgeschleppt hatte. Er war ungefähr sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit, zwar nicht sonderlich schwer, aber unhandlich. Er stellte ihn neben die Tänzerin und öffnete die Laschen. Styroporflocken stoben auf, als er den zerbrechlichen Inhalt heraushob und die Stoffhülle Schicht um Schicht abwickelte, bis ... »Mein Gott.« Chevy stockte der Atem, obwohl er das Gesicht schon einmal gesehen hatte: dunkle, seelenvolle Augen, ein breites Lächeln und dicke Locken aus echtem Haar. Er schluckte und durchwühlte den Stapel Versicherungsscheine in dem Karton, um sicherzugehen, dass es sich um das älteste Puppenmodell der Serie handelte. 1862 Benoit. Kopf und Brust aus Biskuitporzellan, Holzkörper. Seltenheit: Schlafaugen. Geschätzter Wert: 40 000 bis 50 000 $.
Chevy brachte die Puppe in eine aufrechte Haltung und ließ sie wieder nach hinten kippen - vor und zurück, vor und zurück -, während er ihre Augen betrachtete. Der Angabe des Versicherungsgutachtens zum Trotz schlossen sich die Augen der Puppe nicht. Sie blieben offen, beobachteten jedes Detail der Umgebung. Who saw him die? I, said the Fly, with my little eye ... »Aufhören«, raunzte Chevy mit knirschenden Zähnen. Fünf Herzschläge lang lauschte er bloß, dann atmete er aus. Mach weiter, die Frau wartet. Er legte die Puppe mit ein paar Metern Abstand auf den Boden, damit sie keine Spritzer abbekam. Dann holte er ein Cuttermesser aus der Tasche und bewegte sich wieder auf die Tänzerin zu. Ihr Kreischen ließ ihn in der Bewegung verharren. Mist, fast hätte er etwas vergessen. Chevy drückte gleichzeitig die Tasten »Play« und »Record«, dann hockte er sich neben die Schulter der Tänzerin. Ihr Wimmern, nun von dem Band aufgenommen, klang zwar wegen des gebrochenen Kiefers verzerrt, aber doch atemberaubend. Es wurde schriller, als er sich über sie beugte. Nun würden nicht mehr viele Geräusche folgen. Mit rasendem Puls machte sich Chevy an die Arbeit und sah dabei immer wieder zu der Puppe hinüber. Er konzentrierte sich darauf, seine Hand ruhig zu führen. Als er fertig war, ließ er sich zurückfallen und wurde von dem Drang zu weinen übermannt. Wenige Minuten später machte es »klick«. Das Band war zu Ende. Er öffnete die Augen und betrachtete sein Werk. Ein wenig unordentlich, aber trotzdem gelungen. Dann nahm er seine .38er Ruger aus der Sporttasche und wischte die Schläfe der Frau ab. Sie bekam davon nichts mehr mit, ihre Schluchzer waren kaum noch zu hören, als wüsste sie, dass es vorbei war. Chevy maß einen Abstand von knapp drei Zentimetern nach oben und markierte die Stelle mit einem Augenbrauenstift. Dann legte er die Mündung genau dort an. Und drückte ab. Eine herrliche Stille trat nach dem Schuss ein. Chevy hielt den Atem an, doch er wusste, dass das Singen jetzt nicht mehr zurückkommen würde. Es kam nie zurück, wenn die Schreie zuvor gut gewesen waren. Er befreite die Tänzerin von ihren Fesseln und legte ihren Körper so zurecht, wie es ihm gerade gefiel. Dann gab er sich zehn Minuten Zeit, um alles zusammenzusuchen, wonach die Spurensicherung stundenlang das Gelände durchkämmen würde: das Cuttermesser, die Waffe und die Patronenhülse, den Kassettenrecorder, die Seile und Zeltstangen. Er legte alles in seine Sporttasche zurück, achtete darauf, auch die letzte Styroporfl ocke mitzunehmen. Als er eine davon in seine Hosentasche schob und die Hand zurückzog, flog ein Stück Schokoverpackung aus der Tasche. Er bemerkte es und hob es auf. Vor Erleichterung klopfte sein Herz schneller. Der Trick bestand darin, schlau zu sein und sich keine Fehler zu erlauben.
Außerdem konnte ein wenig Glück nicht schaden. Chevy sah sich noch einmal um und machte sich dann an den Abstieg, seine Tasche und den Karton tragend. Er hielt alle zwanzig Meter an und sah auf das Handy der Tänzerin. Als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, erklang eine kleine Trance- Melodie: Das Handy war mit einem Netz verbunden. Sein Puls ging schneller. Auf diesen Moment hatte er gewartet, sich den Augenblick dieses Telefonats sieben lange Jahre in seinen Träumen ausgemalt. Das Spiel konnte beginnen.
Arlington, Virginia
Mitternacht. Im Haus war es ruhig, das Kind schlief schon lange. Eine Hundert-Watt-Birne schien grell auf die gelbe Matte hinunter, im Keller war die Luft von dem Geruch nach Schweiß und Leder getränkt. Die Stille wurde von widersinnigen Geräuschen der Gewalt durchbrochen. Grunzen, Schläge und atemloses Keuchen. Gelegentlich ein Quietschen von Gummisohlen. Das Telefon. Beth Denison verzog das Gesicht. Sie atmete tief ein und spürte, dass sich die Luft wie nasser Sand auf ihre Lungen legte. Dann trat sie einen Schritt zurück. Einatmen, konzentrieren, im Gleichgewicht bleiben. Zuschlagen. Ihre Faust traf auf einen Hundertfünfzig-Kilo-Sandsack. Dann ein kräftiger linker Haken, gefolgt von einem Roundhouse-Kick, der einem Angreifer die Luftröhre zertrümmert hätte. Sie duckte sich, als der Sandsack zurückschwang, drehte sich und trat an die Stelle, wo bei einem normal gewachsenen Mann die Eier saßen. Das Klingeln hatte aufgehört. Keuchend stützte sie die Hände auf den Knien ab. Diesmal war keine seltsame Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen worden, kein Stöhnen oder Keuchen. Vielleicht begann sich der Anrufer allmählich zu langweilen. Sie richtete sich auf und machte die Finger lang. Der Schmerz in jedem einzelnen ließ sie zusammenzucken. Morgen würde sie dafür bezahlen müssen, dass sie keine Schutzkleidung angelegt hatte, doch heute Nacht brauchte sie nur die völlige körperliche Erschöpfung, um ihre Gedanken zu verdrängen - Gedanken an die Zukunft des Antiquitätengeschäfts, an Evan und die Anrufe irgendeines Idioten, der in seiner Abendfreizeit anscheinend Freude daran fand, das Telefonbuch aufzuschlagen und seine perver...
Klingeling.
Sie wirbelte herum und brachte einen weiteren Sandsack zum Schwingen. Das sirrende Geräusch dröhnte ihr in den Ohren, aber es war nicht laut genug, sondern wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. Vier Mal klingelte es, dann ein fünftes Mal. Diesmal würde er nicht aufl egen. »Verdammt.« Sie hob kapitulierend die Hände und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, um ... was zu tun? Den Hörer abzunehmen und dem Anrufer mitzuteilen, was sie gerade anhatte? Oder ihn zum Teufel zu schicken? Stirnrunzelnd blickte sie auf das Display des Küchentelefons. Area Code 206. Schon wieder die Vorwahl von Seattle, aber die nachfolgende Nummer kannte sie nicht. Ein sechstes Klingeln, dann ein siebtes. Der Anrufbeantworter sprang an, und Beth hörte ihre eigene, fröhliche Stimme: »Hi, hier sind die Denisons, oder vielmehr der AB. Ihr wisst, was ihr jetzt tun müsst.« Piiep. »Hallo, Schätzchen.« Die Stimme war leise und klar. Angst regte sich in Beth. »Beth, ich weiß, dass du da bist. Geh ans Telefon.« Beth? Die Angst ballte sich wie eine Faust zusammen. Besorgt warf sie einen Blick hoch zu Abbys Zimmertür. Kein Geräusch, kein Rascheln der Bettdecke. Zum Glück war Abby in jenen Tiefschlaf gesunken, den die Natur der Jugend vorbehielt. »Be-heth. Es ist sieben lange Jahre her. Willst du nicht mit mir reden?« Ihre Lungen zogen sich zusammen. Nein. Bitte nicht. Das durfte nicht wahr sein. »Genau, Beth.« Er senkte die Stimme. »Überraschung.« Die Vergangenheit holte sie ein, mit Erinnerungen, die ihr wie eiskalte Schauer über den Rücken liefen. »Ich wette, du hast gedacht, ich würde dich nie fi nden«, sagte der Anrufer. »Aber ich bin ein cleverer Mann. So clever sogar, dass ich mir ein paar besonders hübsche Geschenke für dich ausgedacht habe. Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu überreichen. « Er unterbrach sich kurz, als wüsste er, dass sie sich an die Rückenlehne eines Küchenstuhls festklammern musste, um nicht zu Boden zu sinken. Und dass ihre Welt soeben aus den Fugen geraten war. Dummkopf, schalt sich Beth. Natürlich wusste er Bescheid. Antworte ihm nicht. Beachte ihn nicht und nimm vor allem nicht ... »Übrigens, Beth, wie geht es deiner Tochter?« Sie riss den Hörer von der Basis. »Scheißkerl!« »Ah, da bist du ja. Fast hätte ich mir Sorgen gemacht.« Rote Funken tanzten vor ihren Augen. »W-wie ...?« »Wie, was? Oh, du hast es noch nicht gewusst? Kein Wunder. Von wem hättest du die Neuigkeiten auch erfahren sollen.« »Wovon sprichst du?« »Freiheit. Davon, endlich das zu bekommen, was mir die ganzen Jahre zugestanden hätte.« Der Raum schien sich zu drehen. Beth konnte nicht einmal beschwören, dass sie noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Sie schloss die Augen. Denk nach. Nachdenken! Warum, nein, wie war es möglich, dass er sie anrufen konnte? »Ich verstehe nicht«, sagte sie.
»Ich bin mir sicher, dass du die ganze Geschichte mit ein paar Mausklicks im Internet nachlesen kannst. Für heute genügt es zu sagen, dass ich frei bin. Und das schon seit ein paar Wochen. Ich habe die Zeit genutzt, um unser Wiedersehen vorzubereiten.« Beth spürte, wie Übelkeit in ihr hochkroch. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie bekam kaum noch Luft. Frei? Moment. Jetzt ganz ruhig bleiben. Wenn er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen worden war, konnte es nur einen Grund geben, weshalb er sie anrief. Doch er würde es bestimmt nicht riskieren, die Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht zu bringen, nur um zu bekommen, was er wollte. »Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen all...« Er lachte glucksend. »Nein, das tust du nicht. Du glaubst wohl, du kannst jeden mit deinem Bilderbuchdasein und deiner niedlichen kleinen Tochter zum Narren halten. Dabei scheinst du vergessen zu haben, dass ich deine Geheimnisse kenne.« Beth umklammerte den Hörer so fest, dass sich ihr Arm schmerzhaft verkrampfte. »Du weißt überhaupt nichts.« »Ach, wirklich?«, entgegnete er. Etwas klickte am anderen Ende der Leitung, und einen Moment lang dachte Beth, er hätte aufgelegt. Doch dann drang sein Atem erneut wie ein entferntes Schnarren an ihr Ohr. »Lass uns einmal gemeinsam überlegen: Ich weiß, was mit Anne Chaney geschehen ist. Ich weiß, warum du von Seattle quer über den Kontinent nach Arlington in Virginia gezogen bist.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß von deiner kleinen Toch...« Bevor sie sich zusammenreißen konnte, keuchte Beth kurz auf. Zu spät. »Oh, wie schön, Beth. Kann ich das noch einmal hören?« »Sofort aufhören!« Sie spuckte die Worte förmlich aus, doch dann gewann sie die Fassung zurück. Ruhe bewahren. Und kein falsches Geräusch. Sie erinnerte sich, wie sehr er den Klang der Qual liebte. Schrei, du Schlampe. Schrei für mich.
»Lass mich noch einmal deine Stimme hören, Beth«, bat er. »Du musst dich jetzt noch nicht verausgaben. Nur ein paar kleine Seufzer, damit das Werk beginn...« Beth feuerte das Telefon quer durch den Raum. Ihre Angst und ihr Zorn waren wie Schlangen, die sich in ihrem Magen wanden. Sie zwang sich, kontrolliert zu atmen, um ihren Wutanfall in den Griff zu bekommen. Verdammt noch mal, sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Selbst als freier Mann war er für sie nicht halb so bedrohlich wie sie für ihn. Er war derjenige, der Angst haben sollte. Abgesehen davon hatte er sie aus einem entfernten Bundesstaat angerufen.
Vorwahl 206 ... Seattle.
Die Gewissheit traf sie wie ein Faustschlag. Es war kein Traum. Es war keine böse Erinnerung aus der Distanz eines anderen Lebens. Er war nicht irgendein Typ, der mit einem Sixpack Bier zu Hause hockte, das Telefonbuch aufschlug, sich eine Nummer aussuchte, die ihm gefiel, und immer wieder die Wahlwiederholung drückte. Er war Chevy Bankes. Mit einem Stich im Herzen wusste Beth, dass sie sofort nach Abby sehen musste. Sie raste nach oben und blickte ins Kinderzimmer. Das Mondlicht schien auf Abbys Bett, in dem sie ausgestreckt lag, eine Spielzeugkatze an den Bauch gedrückt. Zu ihren Füßen kauerte der Hund. Er wedelte mit dem Schwanz und rollte sich hoffnungsvoll auf den Rücken, ohne das Frösteln zu bemerken, das Beth durch die Adern kroch, während sie Abbys Atemzüge verfolgte: ein, aus, ein, aus, ein, aus. Drei war die magische Zahl. Beth wartete immer drei Atemzüge ab, bevor sie schlafen ging. Diesmal zählte sie bis zehn. Lautlos glitt sie in den Flur zurück und presste sich die Handballen auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Jetzt bloß nicht heulen. Du weißt ganz genau, dass es nicht hilft. Das eben hätte nie passieren dürfen. Doch Beth hatte immer damit gerechnet, dass es passieren könnte. Bankes war schließlich nicht der Einzige, der einen Plan hatte. Atme ein, konzentriere dich, und finde deine Mitte. Das jahrelange Thai-Boxtraining half ihr, wieder zur Ruhe zu kommen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wo sie einen Schaukelstuhl quer durch den Raum zog und ihn neben eine riesige Chippendale- Kommode stellte. Sie war aus New England, ein frühes Stück seiner Epoche, in einer kräftigen, dunklen Holzfärbung mit üppig geschnitzter Verzierung und original belassenen Metallbeschlägen. Doch Beth hatte die antike Kommode nicht wegen ihrer Schönheit oder ihres Alters gekauft. Es war wegen des geschnitzten Aufsatzes gewesen. Sie stieg auf den wackeligen Schaukelstuhl und zog kräftig an der oberen rechten Kante des Aufsatzes. Mit einem Knarren gab das Holz nach, und aus der Öffnung dahinter segelte Beth ein zusammengefalteter Zettel entgegen. Sie steckte ihn unter ihr Schweißband am Handgelenk und griff ins Innere des Geheimfachs. Ihre Finger umschlossen den Griff einer 9-mm- Glock - nützlich und durchsetzungsstark wartete sie dort unberührt, aber unvergessen auf sie. Beth nahm die Glock in beide Hände, streckte die Ellbogen durch und blickte in Richtung des kleinen roten Lichts am Telefon, das am anderen Ende des Raums stand. Sie konnte es tun. Und wenn sie dazu gezwungen wurde, würde sie es auch tun - allein Abby zuliebe. Beth ließ die Pistole sinken, kletterte vom Stuhl, zog den Zettel wieder hervor und faltete ihn auf. Eine Namensliste. Cheryl Stallings, ihre Schwägerin. Zwei Anwälte, von denen einer Beths Testament verfasst hatte und der andere dafür berüchtigt war, seine Fälle um jeden Preis zu gewinnen. Drei Möbelhändler mit Interesse an frühen amerikanischen Antiquitäten, die Beth für einige ihrer besonderen Stücke Bargeld angeboten hatten und mit ihr ins Geschäft kommen würden, ohne Fragen zu stellen. Sie merkte, wie es sie beruhigte, die Liste durchzugehen. Diese war der handfeste Beweis dafür, dass Beth einen Plan hatte und die Möglichkeiten besaß, ihn in die Tat umzusetzen. Sie holte tief Luft. Obwohl es schon spät war, griff sie nach dem Telefonhörer. Sie zögerte kurz. Die Ziffern 9 und 1 schienen heller als der Rest zu leuchten. Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen alles. Doch das war nur ein Bluff gewesen, und Bankes hatte ihn durchschaut. Sie durfte die Polizei nicht anrufen. Das konnte sie Abby nicht antun. Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, murmelte sie ein Gebet, in dem sie um Vergebung bat - falls es überhaupt einen Gott gab. Sie räusperte sich und übte sich in jenem ruhigen und beherrschten Tonfall, den sie mit den Jahren perfektioniert hatte. Dann wählte sie die oberste Nummer auf der Liste. Die erste Lüge war die schwerste.
2
New York, im Staat New York
Ein Donnern ließ Neil Sheridan aus dem Vollrausch erwachen, den er sich seit Wochen mit vollem Einsatz erarbeitet hatte. Ein Presslufthammer bebte in seinem Schädel, und er fuhr mit der Hand nach oben, um zu prüfen, ob der Kopf noch ganz war. Seine Finger umschlossen etwas Warmes, Weiches.
Sein Gehirn? Nein, eine Brust. Er bewegte die Hand. Eine Zweite. Ah, richtig, gewöhnlich gab es die paarweise. Das Donnern wurde heftiger. »Neil! Himmel noch mal, mach endlich die Tür auf!«
Er blinzelte, und das Sonnenlicht fühlte sich in seinen Augen wie eine ätzende Flüssigkeit an. Er drehte sich um, und die Brüste bewegten sich, begleitet von einem sanften Stöhnen.
»Neil, ich warne dich, mein Freund. Ich lasse die Tür gleich vom Zimmermädchen öffnen.«
»Hör auf zu schreien«, murmelte er, während er sich aufrappelte. Am Fußende des Bettes fand er seine Jeans. Er musste sich mit der Schulter an der Wand abstützen, während er ungelenk hineinstieg.
»Sperren Sie die Tür auf«, hörte er die Stimme im Flur sagen. Rick? Verdammt noch mal. Das Donnern hatte aufgehört, doch der Schmerz in seinem Schädel fühlte sich immer noch wie eine Maschinengewehrsalve an. Draußen hörte er eine Frau in schnellem Spanisch auf Rick einreden, der sie abrupt unterbrach. »Ich bin Polizeibeamter, Lady. Und jetzt sperren Sie endlich die verdammte Tür auf.« »Moment«, sagte Neil, doch seine Stimme war nur ein Krächzen. Er fummelte an dem Schloss herum und öffnete dann. Ein Zimmermädchen starrte ihn an. »Wow, du siehst ja beschissen aus«, sagte Rick, während er dem Zimmermädchen einen Zwanziger in die Hand drückte. Er blickte ihr nach, als sie den Gang hinuntereilte, und marschierte anschließend in Neils Zimmer. »Ich habe schon mehrfach bei dir angerufen. Wie ich höre, hast du deinen Job bei Sentry geschmissen und bist schon seit mehr als einem Monat zurück in den Staaten.« »Wie doch die Zeit vergeht.« Rick hob eine leere Whiskeyflasche vom Boden auf, bückte sich noch einmal und griff nach einem Spitzenkorsett, das er zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln ließ. Dann legte er beides auf einen Tisch, der über und über mit Essenskartons eines chinesischen Lieferservices bedeckt war. Er warf einen Blick in einen der Kartons und schnüffelte daran. »Huhn à la General Dao«, stellte er fest. »Mit Whiskey?« »Ein Getränk, das einfach zu allem passt.« Rick stupste eine zweite Flasche mit dem Fuß an. Sie rollte über eine aufgerissene Kondomverpackung. Während er zur Schlafzimmertür blickte, schüttelte Rick kaum wahrnehmbar den Kopf, so dass Neil schon dachte, er hätte es sich eingebildet. »Ich möchte, dass du mich nach Arlington begleitest. Du hast jetzt lange genug in Selbstmitleid gebadet.« »Das Einzige, worin ich gebadet habe, sind Jack und Jill. Und beide warten im Schlafzimmer auf mich.« »Jack Daniel's und Jill wer? Weißt du nicht einmal ihren Nachnamen? « »Ich habe sie nicht danach gefragt«, antwortete Neil, ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich über die Stirn. Sein Hirn schmerzte, und das sollte eigentlich gar nicht mehr möglich sein, denn mittlerweile musste er es in Alkohol ertränkt haben. Das erzählte man zumindest den Jungs in der Highschool: Wenn du zu viel trinkst und zu viel mit Frauen rummachst, geht dein Verstand den Bach runter, deine Seele stumpft ab, und alles, was bleibt, ist die Hülle eines Mannes, der weder vernünftig denken noch fühlen kann. Versprechen, alles leere Versprechen. »Weißt du, warum ich hier bin?«, fragte Rick. »Ich weiß. Du glaubst, dass ich mir vor den Augen deiner Frau und Kinder nicht so schnell eine Kugel in den Kopf jage wie hier.« Schweigen. »Stimmt doch, oder?« Neil schloss die Augen, doch die Bilder ließen ihm keine Ruhe: Videoaufnahmen seines Bruders beim Besuch eines Flüchtlingscamps. Wie er rannte und rannte, doch der Boden unter ihm explodierte, und Mitch flog durch die Luft. Neil blinzelte, um die Bilder loszuwerden. »Es wäre ein Leichtes, mir die Birne wegzuschießen.« »Aber es war nicht dein Job, die Angriffe zu beenden, Neil. Sentry ist eine Sicherheitsorganisation.« »Stimmt. Und ich habe mich um die Sicherheit des Mistkerls gekümmert, der ein Flüchtlingscamp in die Luft gesprengt hat und dabei fast meinen Bruder umgebracht hätte.« Rick verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wo ist Mitch jetzt?« »In der Schweiz. Er versucht dort, wieder gesund zu werden. Mit zwei Sätzen hat er schon große Fortschritte gemacht: Meine Schuld und Verpiss dich.« »Oh, und ich dachte, auf die hättest du allein das Urheberrecht«, murmelte Rick, während er drei Tabletten gegen Sodbrennen aus einer Verpackung drückte. »Flieg mit mir nach Washington D. C. Ich bin gerade an einem interessanten Mordfall dran.«
Neil betrachtete ihn, als sei er ein Außerirdischer. »Mordfälle interessieren mich schon seit neun Jahren nicht mehr.« »Vor drei Tagen wurde eine Frau in der Nähe von Seattle umgebracht. « »Interessiert mich nicht.« »Heute Morgen wurde ihr Leichnam von Wanderern gefunden.« »Interessiert mich nicht.« »Sie war eine Tänzerin, sechsundzwanzig Jahre alt und hatte eine Tochter im Kindergartenalter.« Neil schloss die Augen. »Es könnte derselbe Mörder sein wie ...« »Es. Interessiert. Mich. Nicht.« Neil zischte die Worte hervor und presste dabei die Kiefer so fest zusammen, dass er sich für einen Moment fragte, ob man sich die eigenen Backenzähne brechen konnte. Er griff nach der nächstbesten Flasche, doch Rick war schneller und warf sie quer durchs Zimmer. Die letzten kostbaren Tropfen des Vergessens spritzten gegen die Tapete. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast«, maulte Neil, als er aufstand. »Das war die letzte Flasch...« Rick sprang auf ihn zu und hatte Neil innerhalb von zwei Sekunden rücklings gegen die Wand gepresst. »Alles deutet auf Anthony Russell hin, du dämliches, selbstverliebtes Arschloch! «, sagte Rick, während er Neils Arme in schmerzhaftem Griff umklammert hielt. »Es kann sein, dass dieser Mord von Anthony Russell verübt wurde!« Neil bekam keine Luft mehr. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Lungen wieder füllten, und als er zu Atem gekommen war, stieß er Rick heftig von sich. »Verpiss dich!«, rief er, doch nach zwei Schritten wirbelte er zu Rick herum. »Außerdem ist Anthony Russell tot. Ich habe ihn erschossen.« »Nachdem er einen Gerichtsdiener überwältigt und aus seiner eigenen Gerichtsverhandlung geflohen war. Ich weiß.« Eine Ader pulsierte an Ricks Schläfe. »Aber trotzdem waren wir uns nie ganz sicher, oder? Ich meine, dass er die Studentin umgebracht hat.« »Er hatte gestanden. Wie sicher willst du denn noch gehen?« »Ich meine ...« »Was? Was meinst du?«, drängte Neil. »Anthony Russell hat Gloria Michaels nach einer Verbindungsparty entführt. Dann hätte er sie fast erstochen, um ihr anschließend sicherheitshalber eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und als der Kerl aus der Untersuchungshaft geflohen ist, habe ich ihn getötet. Es ist also ganz egal, wie diese Frau aus Seattle aussehen mag - es ist vollkommen unmöglich, dass sie ein Opfer von Anthony Russell ist.« »Glorias Leiche war nicht dort, wo sie seinen Angaben nach hätte liegen müssen.« Ein Funken Zweifel versetzte Neil in Unruhe. Es war nicht das erste Mal. »Aber dieses Schwein hat den Mord gestanden.« »Nachdem der Staatsanwalt im Gegenzug das Strafmaß für drei andere Delikte verringert hatte.« Der pochende Schmerz in Neils Schädel regte sich erneut. Die Beweggründe für Anthony Russells Geständnis waren eigentlich nie hinterfragt worden. Sie hatten ein Geständnis gehabt, mehr hatte niemanden interessiert. »Und warum kommst du mit dieser ganzen Sache überhaupt zu mir?« »Als ich den Mordbericht über die Frau in Seattle las, kam mir einiges bekannt vor.« »Und was war das?« Rick zählte die Punkte an den Fingern ab. »Eine Frau verschwindet mit ihrem Auto. Das Auto wird abgestellt aufgefunden und ist blitzsauber. Ein paar Tage später wird der Leichnam in einem bewaldeten Gebiet entdeckt. Der Täter hat vorher ein bisschen an ihr herumgeschnitzt, um ihr dann ein Hohlspitzgeschoss Kaliber 38 in den Schädel zu jagen. Am Tatort finden wir eine Snackverpackung.« Er hielt inne. »Reese's Erdnuss- butter-Cup.« Der alte Zweifel grub sich tief in Neils Herz. Das hörte sich in der Tat so an wie damals bei Gloria. Sogar bis zu jenem Detail, dass der Killer damals ein Snackpapier im Auto hinterlassen hatte. Neil schluckte. »Wurde sie vergewaltigt?« »Wissen wir noch nicht, aber«, Rick fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, »es sieht ganz danach aus.« Ein angstvoller Schauer lief Neil über den Rücken. Er ging auf und ab, während er versuchte, sich einzureden, dass an der Sache nichts dran war, doch die Möglichkeiten nahmen wie Gespenster vor seinem inneren Auge Gestalt an: die Möglichkeit, dass Anthony Russell in Bezug auf den Mord an Gloria gelogen hatte, um einen Deal mit der Staatsanwaltschaft zu schließen. Die Möglichkeit, dass die Geschworenen ihn freigesprochen hätten, wenn es tatsächlich zu einem Verfahren gekommen wäre. Die Möglichkeit, dass Neil, als er seine Familie im Stich ließ, um einen Mörder zu fassen, den falschen Mann erwischt hatte. Und der richtige Mann hatte vor drei Tagen in Seattle eine Frau umgebracht. »Neil, du kanntest den Gloria-Michaels-Fall besser als jeder andere. Bitte komm mit, und sieh dir die Sache an. Wir können den nächsten Flieger nach Virginia nehmen.« Neil verengte die Augen zu Schlitzen. »Wie kommt ein Lieutenant in Arlington eigentlich dazu, in einem Mordfall zu ermitteln, der sich dreitausend Meilen entfernt ereignet hat?« »Die Polizei von Seattle hat mich gebeten, jemanden zu überprüfen. Das Handy der Toten wurde in der Mordnacht benutzt, um eine Frau in meinem Revier anzurufen.« »Wen?« »Ihr Name ist Elizabeth Denison.«
Neil ging im Gedächtnis die Namen durch, von denen er wusste, dass sie in Verbindung zu Anthony Russell gestanden hatten. Ihm fiel niemand mit dem Namen Elizabeth Denison ein, doch das überraschte ihn nicht. Denn Anthony hatte nichts damit zu tun. »Hast du mit ihr gesprochen?« »Es war niemand zu Hause. Wir haben ein Auto vor ihrem Haus postiert. Als mir dann die Parallelen zu dem Gloria- Michaels-Fall auffielen, habe ich beschlossen, dich zu fragen, ob du einen Blick auf die Sache werfen kannst.« Neil stieß einen Fluch aus. Verdammt, natürlich hatte er nicht die geringste Lust, sich die Sache anzusehen. Neun Jahre lang hatte er sich nicht mit derart nutzlosen Dingen wie richtig und falsch, gut und böse herumgeschlagen. Er war nichts weiter als ein exorbitant gut bezahlter Wachhund gewesen - gleichgültig, ob im Dschungel, in den Bergen oder in der Wüste. Er war an Orten unterwegs, an denen er sich nicht die Mühe gemacht hatte zu fragen, ob er die guten oder die bösen Jungs bewachte. Alles was zählte, war, nicht die erste Kugel abzubekommen. Ihr könnt mich alle mal - so lautete sein Lebensmotto jetzt, und es war meilenweit von jenem entfernt, das einst auf seiner Polizeimarke gestanden hatte. Neil presste die Stirn gegen seinen Arm, mit dem er sich an der Wand abstützte. »Wenn du recht hast«, sagte er schließlich, »habe ich einen unschuldigen Mann getötet.« »Unschuldig? Anthony Russell hat auf dich geschossen. Er hat einen Gerichtsdiener so zugerichtet, dass dieser für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzt.« »Er war in Gewahrsam, weil ich ihn wegen des Mordes an Gloria festgenommen hatte.« Rick kam näher. »Er war ein Mörder mit einem Vorstrafenregister länger als dein bestes Stück, mein Freund. Der einzige Grund, weshalb überhaupt für uns von Interesse ist, ob du dich in ihm getäuscht hast, ist, dass Glorias tatsächlicher Mörder gestern Abend in Seattle zugeschlagen haben könnte. Verstanden? « Schon klar, dachte Neil, doch er hatte Angst, tief durchzuatmen. Denn wenn er es täte, konnte so etwas wie neue Energie durch seine Adern strömen, und am Ende gäbe es vielleicht wieder etwas, das ihm tatsächlich wichtig war. Und dem hatte er doch vor neun Jahren abgeschworen. Selbst mit dieser Warnung im Kopf ließ er die Hand in die Hosentasche gleiten und drückte das ramponierte Stück Plastik mit der Schleife. Während er die Augen schloss, um die schrecklichste aller Möglichkeiten nicht sehen zu müssen, hielt er es fest umklammert. Wenn er sich in Anthony Russell getäuscht hatte, war Mackenzie umsonst gestorben. Bei diesem Gedanken gaben seine Knie beinahe nach. Bei diesem Gedanken und dem dumpfen Geräusch von etwas, das heftig in seinem Bewusstsein aufschlug. Es war der Körper der toten Tänzerin aus Seattle. Neil zog die Hand aus der Hosentasche, ließ die Haarspange aber dort, wo sie war. Er atmete tief ein und blickte auf die Schlafzimmertür. Er wusste, dass er sich nicht für die Frau entscheiden und Jill Wie-auch-immer allein aufwachen würde. Ein besserer Mensch als er hätte sich schuldig gefühlt - die Sorte Mann, die für Schuldgefühle Platz in ihrem Gewissen hatte. Doch Neil hatte keinen Platz. Es lagen bereits zu viele Leichen dort.
3
Lila Beckenridge aus Bellevue, Washington«, flüsterte Rick im Flugzeug, nachdem sie auf ihren Sitzen Platz genommen hatten. Er zog zwei Ordner hervor und gab sie Neil. »Sie hat nach ihrer Probe an einem kleinen Supermarkt gehalten und ist danach nicht zu Hause angekommen.«
Neil öffnete die Akte mit den Fotos vom Tatort. »Puh«, sagte er, und der bittere Geschmack von Galle breitete sich in seinem Mund aus. Ein grausiges Augenpaar starrte ihn an. »Er hat an ihr herumgeschnitzt?«
»Er hat ihr die Augenlider abgeschnitten. Die liegen dort am Boden.«
Angewidert blätterte Neil weiter. »Lieber Himmel«, murmelte er, während er die Fotos durchsah. Er hatte alle Mühe, sich nicht von Lila Beckenridges dreckigem und blutverschmiertem Gesicht irritieren zu lassen, das ihm Bild für Bild zu folgen schien.
Er zwang sich, die nüchternen Details zu betrachten. Ein paar Zentimeter über ihrer Schläfe lag die Eintrittswunde. Sie war klein, schwarz und ironischerweise so präzise geformt wie der Schlusspunkt einer Geschichte, die bislang niemand kannte. Auf der rechten Seite ihres Kiefers befand sich ein dunkler blauer Fleck, doch abgesehen von ihrem Gesicht sah sie fast unversehrt aus: Sie hatte die Arme seitlich ausgestreckt, wie eine in Positur erstarrte Ballerina, ihre Bluse war ordentlich in den Bund ihres knielangen Rocks gesteckt worden, der sauber und faltenfrei da lag. Sie war dürr, und erst in der Großaufnahme konnte man erkennen, dass die Male an ihren Handgelenken Schürfwunden waren, die durch Fesseln entstanden sein durften. Auf einigen Aufnahmen waren Löcher in der Erde zu sehen, als sei die Tänzerin vor ihrem Tod an Pfählen festgebunden worden. Neil musste schlucken und öffnete den zweiten Ordner, der mit »E. DENISON« beschriftet war. »Ist das alles, was wir über die Frau am anderen Ende der Telefonleitung haben? Ihren Führerschein und die Besitzurkunde ihres Hauses?« »Hey, ich bin nicht vom FBI. Und außerdem gibt es über diese Frau sonst nichts. Ich habe keine Ahnung, warum irgendjemand sie anrufen sollte.« »Irgendjemand? Du meinst: der Mörder.« »Oder Beckenridge.« Neil blätterte durch den Bericht. »Der Anruf fand kurz nach Mitternacht statt. Der geschätzte Todeszeitpunkt des Opfers liegt zwischen achtzehn und vierundzwanzig Uhr.« »Der geschätzte. Wie oft hast du schon erlebt, dass Gerichtsmediziner ihre Meinung ändern, sobald die Autopsie-Ergebnisse vorliegen? Besonders, wenn die Leiche nicht mehr frisch ist.« Einige Male, dachte Neil, doch nicht so häufig, dass man zwangsläufig von einem Irrtum ausgehen konnte. Neil war zwar schon seit einiger Zeit nicht mehr im Geschäft, aber er konnte sich noch sehr gut an die drei Hauptregeln der Ermittlung erinnern: Regel Nummer zwei besagte, dass jeder in der Kette der Beteiligten genauso viel Dreck am Stecken hatte wie die kriminellste Person unter ihnen. Elizabeth Denison tauchte in einer Kette von Menschen auf, die zu einem Mörder führte. Das machte sie nicht notwendigerweise selbst zu einer Kriminellen, doch es konnte sein, dass sie lange genug in einer Verbindung zu ihm stand, um etwas über ihn zu wissen. Irgendetwas, das zu ihm führen würde. Neil rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und spürte, wie die aufkeimende Spannung sein Herz schneller schlagen ließ. Nichts von alldem bedeutete, dass sich etwas an Gloria Michaels' Tod ändern würde. Es gab Übereinstimmungen zwischen ihrem Fall und dem Mord an Lila Beckenridge - genügend, um aufzuhorchen, doch es gab auch Unterschiede. Der größte betrug neun Jahre und dreitausend Meilen. Wenn Glorias Mörder tatsächlich die ganze Zeit auf freiem Fuß gewesen war, wo hatte er dann gesteckt? Natürlich wusste Neil darauf keine Antwort. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich hinter einer M16 und einem bequemen Lebensmotto zu verschanzen. Mit einem Holpern setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf, die Räder quietschten auf dem Asphalt. Während die Maschine zum Ankunftsgate fuhr, steckte Rick die Akten fort. »Bereit?«, fragte er. Neil spürte ein plötzliches Verlangen nach Jack und Jill. »Komm schon«, sagte Rick. »Wir besorgen dir erst mal einen Rasierer, einen Anzug und eine Krawatte. Und dann sehen wir zu, dass wir etwas herausbekommen. Wir sprechen mit Denison. Finden heraus, warum sie einen Anruf von einer Toten bekommen hat.«
Über dem Viertel, in dem Elizabeth Denison wohnte, lag die entspannte Atmosphäre eines Samstagabends - lange Schatten zogen sich über die gepflegten Rasen, ein Geruch von Grillkohle hing in der Luft, und ein paar Kinder spielten auf der Straße. Als sie Ricks Auto sahen, kamen sie zum Bürgersteig gelaufen, doch als er an ihnen vorbeigefahren war, kehrten sie mit ihrem Ball und einem Eimer Straßenkreide zu ihrem Spiel zurück. Einen halben Block weiter sah Neil, wie eine Dame, die gerade ihre Post aus dem Briefkasten holte, ihnen zuwinkte - als seien sie alte Freunde, nur weil sie durch ihre Straße fuhren. In einer Einfahrt auf der rechten Seite wartete ein Mann darauf, dass sein Beagle sein Geschäft in irgendjemandes Tulpenbeet erledigte. Der Mann erwiderte Ricks Gruß hinter dem Steuer mit einem Nicken. »Willkommen in Smallville«, murmelte Neil und warf sich eine Handvoll Aspirin in den Rachen, die er mit einem Schluck tiefschwarzem Kaffee hinunterspülte. »Ich möchte mal wissen, was Ms. Denisons Nachbarn denken würden, wenn sie von ihrem Kumpel aus Seattle wüssten.« »Du darfst nicht vergessen, dass sie vielleicht keine Ahnung hat, von wem der Anruf kam. Kein Grund also, da drinnen die BadCop- Nummer abzuziehen.« »Ich musste mich rasieren und einen Anzug anziehen«, erwiderte Neil. »Wie soll ich bitte als böser Bulle rüberkommen, wenn mir mein gutes Aussehen im Wege steht?« Rick schnaubte. »Es liegt an der Narbe, oder?« Neil fuhr sich mit dem Finger über den bleichen, schartigen Grat, der sich von seinem linken Ohrläppchen entlang des Kieferknochens zum Kinn hinunterzog. Es sah aus, als wäre ihm seine Wange vom Knochen gerissen worden. Was tatsächlich auch geschehen war. »Es liegt nicht an der Narbe, du Idiot«, antwortete Rick. »Es ist deine ewig gleiche Wirkung. Eindringlich und gefährlich. Als wäre dir die ganze Welt scheißegal.« »Frauen stehen auf diese dunkle Seite.« »Du bist nicht hier, um eine Frau ins Bett zu bekommen. Du bist hier, um sie zum Reden zu bewegen. Und falls du vorhast, ihr mit den Fotos von Lila Beckenridge vor der Nase herumzuwedeln, vergiss es. Wir werden den Mord so lange nicht erwähnen, bis wir sicher sein können, dass Denison etwas damit zu tun hat.« »Du machst wohl Witze.« »Hey, Lila Beckenridges Handy kann genauso gut von irgendjemandem gefunden worden sein, der es zum Telefonieren benutzte.«
»Weichei«, sagte Neil nur, doch Rick ging nicht darauf ein. Er parkte längsseits des Bordsteins und holte ein neues Röhrchen mit Tabletten gegen Sodbrennen hervor, von denen er sich drei oder vier auf einmal in den Mund warf. Zum ersten Mal bemerkte Neil, wie viele Jahre vergangen waren: Auf Ricks hoher Stirn waren Falten zu sehen, und um seinen Mund lagen tiefe Furchen. Mit seinen zweiundvierzig Jahren sah er bereits wie fünfzig aus, und er schmiss Säureblocker ein wie die täglich empfohlene Dosis Vitamine. Jetzt, wo Neil darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Rick Maggie bisher mit keinem Wort erwähnt hatte. Er hatte zwar mit seinen drei Jungs angegeben und voller Stolz Fotos von seiner jüngsten Tochter gezeigt, die noch ein Baby war, doch er hatte kein einziges Mal von Maggie gesprochen. Hm. Neil sah Rick an und wartete darauf, dass er seine Tabletten aufgekaut hatte. »Alles klar, Mann?« »Hör zu«, sagte Rick und drehte sich zu ihm um. »Unsere Abteilung hat gerade einen Rechtsstreit am Laufen. Wir haben im letzten Jahr bei einem Fall etwas überstürzt gehandelt und mit einem Typen richtig Mist gebaut. Wie bei dem Hauptverdächtigen des Bombenanschlags bei den Olypmischen Spielen in Atlanta, weißt du noch? Wie auch immer, dieser Kerl beging Selbstmord, nachdem wir angefangen hatten, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen.« Rick hielt inne und legte die Stirn über etwas in Falten, das er nicht aussprach. »Er war unschuldig.« »Oh, verdammt.« »Wir stehen deswegen gerade vor Gericht. Es spielt also keine Rolle, wie sehr du dir wünschst, dass diese Elizabeth Denison unseren Mörder kennt. Ich kann sie auf keinen Fall beschuldigen, dass sie da irgendwie mit drinhängt, bis ich mir nicht absolut sicher bin. Und außerdem«, ergänzte Rick und warf einen Blick die Straße hinunter, »sieh dich doch nur um. Ich wette zehn Mäuse, dass keine Frau hier in Heilewelthausen auch nur den Schimmer einer Ahnung hat, was Mord überhaupt ist.« »Wette angenommen«, antwortete Neil und folgte Ricks Blick zu Elizabeth Denisons Haus. Mit seiner buttergelben Fassadenverkleidung wirkte es anheimelnd. Im Garten blühten Azaleensträucher, und auf der Veranda hingen drei Farntöpfe. Das Haus passte gut zu der zierlichen, hübschen Frau auf dem Foto ihres Führerscheins. Doch all das rief Neil nur Regel Nummer drei ins Gedächtnis:
Die Dinge sind nie so hübsch und ordentlich, wie sie scheinen.
© 2011 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Chevy verharrte in der Bewegung, als ihm die Bedeutung des Augenblicks bewusst wurde. Er hatte schon Frauen gehabt, hatte schon getötet, aber nie zuvor mit solch einer Bestimmung. Noch nie hatte er eine Frau getötet, noch nie ein Leben für etwas anderes als die unmittelbare Befriedigung seines Drangs ausgelöscht. Insofern war die Tänzerin einzigartig. Eine Premiere. Perverse Dankbarkeit überrollte ihn, und er beugte sich vor, um ihr über die Wange zu streicheln. Sie spuckte ihn an. »Schlampe!«, knurrte er wütend und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemds ab. Wut flammte in ihm auf. Wie konnte sie es wagen? Das war nicht in seinem Plan vorgesehen ...
Who killed Cock Robin? I, said the Sparrow, with my bow and arrow, I killed Cock Robin ...
Chevy hielt sich die Ohren zu. »Nein«, sagte er, aber das Lied wollte nicht aufhören - die Melodie verfolgte ihn hartnäckig wie das Surren einer Stechmücke am Ohr. Er schlug um sich, als könne er das Insekt vertreiben, holte dann mit dem Fuß aus und verpasste der am Boden liegenden Frau einen Tritt. Das Geräusch ihres brechenden Kiefers erinnerte an das Zerbersten eines brennenden Zweigs im Feuer. Ein schmerzvolles Aufstöhnen entrang sich ihrer Kehle. Die Melodie des Kinderlieds verflüchtigte sich. Chevy wartete einen Augenblick lang und zwang sich zu atmen. Kontrolle. Stille. Heute Nacht durfte es nicht in seinem Kopf singen, nicht, wenn er seinen Plan, an dem er sieben Jahre lang gefeilt hatte, endlich umsetzen wollte. Bebend nahm er die Hände von den Ohren und sah sich mit weit geöffneten Augen um, als könne er den Ursprung der Stimme sehen und verscheuchen, falls sie wiederkam. Er warf einen Blick auf die Kassette - es waren noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten Spielzeit übrig -, dann auf seine Armbanduhr. Es war schon spät, und er hatte noch einen Anruf zu erledigen. Außerdem wartete seine kleine Schwester auf ihn, sie war nicht gern allein. Die arme Jenny hatte schon genug Zeit ihres jungen Lebens damit verbracht, auf Chevy zu warten.
»Nicht mehr lange, Jen«, flüsterte er, als könnte sie ihn hören. Er schaltete den Recorder aus und griff nach dem Karton, den er den Berghang hinaufgeschleppt hatte. Er war ungefähr sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit, zwar nicht sonderlich schwer, aber unhandlich. Er stellte ihn neben die Tänzerin und öffnete die Laschen. Styroporflocken stoben auf, als er den zerbrechlichen Inhalt heraushob und die Stoffhülle Schicht um Schicht abwickelte, bis ... »Mein Gott.« Chevy stockte der Atem, obwohl er das Gesicht schon einmal gesehen hatte: dunkle, seelenvolle Augen, ein breites Lächeln und dicke Locken aus echtem Haar. Er schluckte und durchwühlte den Stapel Versicherungsscheine in dem Karton, um sicherzugehen, dass es sich um das älteste Puppenmodell der Serie handelte. 1862 Benoit. Kopf und Brust aus Biskuitporzellan, Holzkörper. Seltenheit: Schlafaugen. Geschätzter Wert: 40 000 bis 50 000 $.
Chevy brachte die Puppe in eine aufrechte Haltung und ließ sie wieder nach hinten kippen - vor und zurück, vor und zurück -, während er ihre Augen betrachtete. Der Angabe des Versicherungsgutachtens zum Trotz schlossen sich die Augen der Puppe nicht. Sie blieben offen, beobachteten jedes Detail der Umgebung. Who saw him die? I, said the Fly, with my little eye ... »Aufhören«, raunzte Chevy mit knirschenden Zähnen. Fünf Herzschläge lang lauschte er bloß, dann atmete er aus. Mach weiter, die Frau wartet. Er legte die Puppe mit ein paar Metern Abstand auf den Boden, damit sie keine Spritzer abbekam. Dann holte er ein Cuttermesser aus der Tasche und bewegte sich wieder auf die Tänzerin zu. Ihr Kreischen ließ ihn in der Bewegung verharren. Mist, fast hätte er etwas vergessen. Chevy drückte gleichzeitig die Tasten »Play« und »Record«, dann hockte er sich neben die Schulter der Tänzerin. Ihr Wimmern, nun von dem Band aufgenommen, klang zwar wegen des gebrochenen Kiefers verzerrt, aber doch atemberaubend. Es wurde schriller, als er sich über sie beugte. Nun würden nicht mehr viele Geräusche folgen. Mit rasendem Puls machte sich Chevy an die Arbeit und sah dabei immer wieder zu der Puppe hinüber. Er konzentrierte sich darauf, seine Hand ruhig zu führen. Als er fertig war, ließ er sich zurückfallen und wurde von dem Drang zu weinen übermannt. Wenige Minuten später machte es »klick«. Das Band war zu Ende. Er öffnete die Augen und betrachtete sein Werk. Ein wenig unordentlich, aber trotzdem gelungen. Dann nahm er seine .38er Ruger aus der Sporttasche und wischte die Schläfe der Frau ab. Sie bekam davon nichts mehr mit, ihre Schluchzer waren kaum noch zu hören, als wüsste sie, dass es vorbei war. Chevy maß einen Abstand von knapp drei Zentimetern nach oben und markierte die Stelle mit einem Augenbrauenstift. Dann legte er die Mündung genau dort an. Und drückte ab. Eine herrliche Stille trat nach dem Schuss ein. Chevy hielt den Atem an, doch er wusste, dass das Singen jetzt nicht mehr zurückkommen würde. Es kam nie zurück, wenn die Schreie zuvor gut gewesen waren. Er befreite die Tänzerin von ihren Fesseln und legte ihren Körper so zurecht, wie es ihm gerade gefiel. Dann gab er sich zehn Minuten Zeit, um alles zusammenzusuchen, wonach die Spurensicherung stundenlang das Gelände durchkämmen würde: das Cuttermesser, die Waffe und die Patronenhülse, den Kassettenrecorder, die Seile und Zeltstangen. Er legte alles in seine Sporttasche zurück, achtete darauf, auch die letzte Styroporfl ocke mitzunehmen. Als er eine davon in seine Hosentasche schob und die Hand zurückzog, flog ein Stück Schokoverpackung aus der Tasche. Er bemerkte es und hob es auf. Vor Erleichterung klopfte sein Herz schneller. Der Trick bestand darin, schlau zu sein und sich keine Fehler zu erlauben.
Außerdem konnte ein wenig Glück nicht schaden. Chevy sah sich noch einmal um und machte sich dann an den Abstieg, seine Tasche und den Karton tragend. Er hielt alle zwanzig Meter an und sah auf das Handy der Tänzerin. Als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, erklang eine kleine Trance- Melodie: Das Handy war mit einem Netz verbunden. Sein Puls ging schneller. Auf diesen Moment hatte er gewartet, sich den Augenblick dieses Telefonats sieben lange Jahre in seinen Träumen ausgemalt. Das Spiel konnte beginnen.
Arlington, Virginia
Mitternacht. Im Haus war es ruhig, das Kind schlief schon lange. Eine Hundert-Watt-Birne schien grell auf die gelbe Matte hinunter, im Keller war die Luft von dem Geruch nach Schweiß und Leder getränkt. Die Stille wurde von widersinnigen Geräuschen der Gewalt durchbrochen. Grunzen, Schläge und atemloses Keuchen. Gelegentlich ein Quietschen von Gummisohlen. Das Telefon. Beth Denison verzog das Gesicht. Sie atmete tief ein und spürte, dass sich die Luft wie nasser Sand auf ihre Lungen legte. Dann trat sie einen Schritt zurück. Einatmen, konzentrieren, im Gleichgewicht bleiben. Zuschlagen. Ihre Faust traf auf einen Hundertfünfzig-Kilo-Sandsack. Dann ein kräftiger linker Haken, gefolgt von einem Roundhouse-Kick, der einem Angreifer die Luftröhre zertrümmert hätte. Sie duckte sich, als der Sandsack zurückschwang, drehte sich und trat an die Stelle, wo bei einem normal gewachsenen Mann die Eier saßen. Das Klingeln hatte aufgehört. Keuchend stützte sie die Hände auf den Knien ab. Diesmal war keine seltsame Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen worden, kein Stöhnen oder Keuchen. Vielleicht begann sich der Anrufer allmählich zu langweilen. Sie richtete sich auf und machte die Finger lang. Der Schmerz in jedem einzelnen ließ sie zusammenzucken. Morgen würde sie dafür bezahlen müssen, dass sie keine Schutzkleidung angelegt hatte, doch heute Nacht brauchte sie nur die völlige körperliche Erschöpfung, um ihre Gedanken zu verdrängen - Gedanken an die Zukunft des Antiquitätengeschäfts, an Evan und die Anrufe irgendeines Idioten, der in seiner Abendfreizeit anscheinend Freude daran fand, das Telefonbuch aufzuschlagen und seine perver...
Klingeling.
Sie wirbelte herum und brachte einen weiteren Sandsack zum Schwingen. Das sirrende Geräusch dröhnte ihr in den Ohren, aber es war nicht laut genug, sondern wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. Vier Mal klingelte es, dann ein fünftes Mal. Diesmal würde er nicht aufl egen. »Verdammt.« Sie hob kapitulierend die Hände und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, um ... was zu tun? Den Hörer abzunehmen und dem Anrufer mitzuteilen, was sie gerade anhatte? Oder ihn zum Teufel zu schicken? Stirnrunzelnd blickte sie auf das Display des Küchentelefons. Area Code 206. Schon wieder die Vorwahl von Seattle, aber die nachfolgende Nummer kannte sie nicht. Ein sechstes Klingeln, dann ein siebtes. Der Anrufbeantworter sprang an, und Beth hörte ihre eigene, fröhliche Stimme: »Hi, hier sind die Denisons, oder vielmehr der AB. Ihr wisst, was ihr jetzt tun müsst.« Piiep. »Hallo, Schätzchen.« Die Stimme war leise und klar. Angst regte sich in Beth. »Beth, ich weiß, dass du da bist. Geh ans Telefon.« Beth? Die Angst ballte sich wie eine Faust zusammen. Besorgt warf sie einen Blick hoch zu Abbys Zimmertür. Kein Geräusch, kein Rascheln der Bettdecke. Zum Glück war Abby in jenen Tiefschlaf gesunken, den die Natur der Jugend vorbehielt. »Be-heth. Es ist sieben lange Jahre her. Willst du nicht mit mir reden?« Ihre Lungen zogen sich zusammen. Nein. Bitte nicht. Das durfte nicht wahr sein. »Genau, Beth.« Er senkte die Stimme. »Überraschung.« Die Vergangenheit holte sie ein, mit Erinnerungen, die ihr wie eiskalte Schauer über den Rücken liefen. »Ich wette, du hast gedacht, ich würde dich nie fi nden«, sagte der Anrufer. »Aber ich bin ein cleverer Mann. So clever sogar, dass ich mir ein paar besonders hübsche Geschenke für dich ausgedacht habe. Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu überreichen. « Er unterbrach sich kurz, als wüsste er, dass sie sich an die Rückenlehne eines Küchenstuhls festklammern musste, um nicht zu Boden zu sinken. Und dass ihre Welt soeben aus den Fugen geraten war. Dummkopf, schalt sich Beth. Natürlich wusste er Bescheid. Antworte ihm nicht. Beachte ihn nicht und nimm vor allem nicht ... »Übrigens, Beth, wie geht es deiner Tochter?« Sie riss den Hörer von der Basis. »Scheißkerl!« »Ah, da bist du ja. Fast hätte ich mir Sorgen gemacht.« Rote Funken tanzten vor ihren Augen. »W-wie ...?« »Wie, was? Oh, du hast es noch nicht gewusst? Kein Wunder. Von wem hättest du die Neuigkeiten auch erfahren sollen.« »Wovon sprichst du?« »Freiheit. Davon, endlich das zu bekommen, was mir die ganzen Jahre zugestanden hätte.« Der Raum schien sich zu drehen. Beth konnte nicht einmal beschwören, dass sie noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Sie schloss die Augen. Denk nach. Nachdenken! Warum, nein, wie war es möglich, dass er sie anrufen konnte? »Ich verstehe nicht«, sagte sie.
»Ich bin mir sicher, dass du die ganze Geschichte mit ein paar Mausklicks im Internet nachlesen kannst. Für heute genügt es zu sagen, dass ich frei bin. Und das schon seit ein paar Wochen. Ich habe die Zeit genutzt, um unser Wiedersehen vorzubereiten.« Beth spürte, wie Übelkeit in ihr hochkroch. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie bekam kaum noch Luft. Frei? Moment. Jetzt ganz ruhig bleiben. Wenn er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen worden war, konnte es nur einen Grund geben, weshalb er sie anrief. Doch er würde es bestimmt nicht riskieren, die Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht zu bringen, nur um zu bekommen, was er wollte. »Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen all...« Er lachte glucksend. »Nein, das tust du nicht. Du glaubst wohl, du kannst jeden mit deinem Bilderbuchdasein und deiner niedlichen kleinen Tochter zum Narren halten. Dabei scheinst du vergessen zu haben, dass ich deine Geheimnisse kenne.« Beth umklammerte den Hörer so fest, dass sich ihr Arm schmerzhaft verkrampfte. »Du weißt überhaupt nichts.« »Ach, wirklich?«, entgegnete er. Etwas klickte am anderen Ende der Leitung, und einen Moment lang dachte Beth, er hätte aufgelegt. Doch dann drang sein Atem erneut wie ein entferntes Schnarren an ihr Ohr. »Lass uns einmal gemeinsam überlegen: Ich weiß, was mit Anne Chaney geschehen ist. Ich weiß, warum du von Seattle quer über den Kontinent nach Arlington in Virginia gezogen bist.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß von deiner kleinen Toch...« Bevor sie sich zusammenreißen konnte, keuchte Beth kurz auf. Zu spät. »Oh, wie schön, Beth. Kann ich das noch einmal hören?« »Sofort aufhören!« Sie spuckte die Worte förmlich aus, doch dann gewann sie die Fassung zurück. Ruhe bewahren. Und kein falsches Geräusch. Sie erinnerte sich, wie sehr er den Klang der Qual liebte. Schrei, du Schlampe. Schrei für mich.
»Lass mich noch einmal deine Stimme hören, Beth«, bat er. »Du musst dich jetzt noch nicht verausgaben. Nur ein paar kleine Seufzer, damit das Werk beginn...« Beth feuerte das Telefon quer durch den Raum. Ihre Angst und ihr Zorn waren wie Schlangen, die sich in ihrem Magen wanden. Sie zwang sich, kontrolliert zu atmen, um ihren Wutanfall in den Griff zu bekommen. Verdammt noch mal, sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Selbst als freier Mann war er für sie nicht halb so bedrohlich wie sie für ihn. Er war derjenige, der Angst haben sollte. Abgesehen davon hatte er sie aus einem entfernten Bundesstaat angerufen.
Vorwahl 206 ... Seattle.
Die Gewissheit traf sie wie ein Faustschlag. Es war kein Traum. Es war keine böse Erinnerung aus der Distanz eines anderen Lebens. Er war nicht irgendein Typ, der mit einem Sixpack Bier zu Hause hockte, das Telefonbuch aufschlug, sich eine Nummer aussuchte, die ihm gefiel, und immer wieder die Wahlwiederholung drückte. Er war Chevy Bankes. Mit einem Stich im Herzen wusste Beth, dass sie sofort nach Abby sehen musste. Sie raste nach oben und blickte ins Kinderzimmer. Das Mondlicht schien auf Abbys Bett, in dem sie ausgestreckt lag, eine Spielzeugkatze an den Bauch gedrückt. Zu ihren Füßen kauerte der Hund. Er wedelte mit dem Schwanz und rollte sich hoffnungsvoll auf den Rücken, ohne das Frösteln zu bemerken, das Beth durch die Adern kroch, während sie Abbys Atemzüge verfolgte: ein, aus, ein, aus, ein, aus. Drei war die magische Zahl. Beth wartete immer drei Atemzüge ab, bevor sie schlafen ging. Diesmal zählte sie bis zehn. Lautlos glitt sie in den Flur zurück und presste sich die Handballen auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Jetzt bloß nicht heulen. Du weißt ganz genau, dass es nicht hilft. Das eben hätte nie passieren dürfen. Doch Beth hatte immer damit gerechnet, dass es passieren könnte. Bankes war schließlich nicht der Einzige, der einen Plan hatte. Atme ein, konzentriere dich, und finde deine Mitte. Das jahrelange Thai-Boxtraining half ihr, wieder zur Ruhe zu kommen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wo sie einen Schaukelstuhl quer durch den Raum zog und ihn neben eine riesige Chippendale- Kommode stellte. Sie war aus New England, ein frühes Stück seiner Epoche, in einer kräftigen, dunklen Holzfärbung mit üppig geschnitzter Verzierung und original belassenen Metallbeschlägen. Doch Beth hatte die antike Kommode nicht wegen ihrer Schönheit oder ihres Alters gekauft. Es war wegen des geschnitzten Aufsatzes gewesen. Sie stieg auf den wackeligen Schaukelstuhl und zog kräftig an der oberen rechten Kante des Aufsatzes. Mit einem Knarren gab das Holz nach, und aus der Öffnung dahinter segelte Beth ein zusammengefalteter Zettel entgegen. Sie steckte ihn unter ihr Schweißband am Handgelenk und griff ins Innere des Geheimfachs. Ihre Finger umschlossen den Griff einer 9-mm- Glock - nützlich und durchsetzungsstark wartete sie dort unberührt, aber unvergessen auf sie. Beth nahm die Glock in beide Hände, streckte die Ellbogen durch und blickte in Richtung des kleinen roten Lichts am Telefon, das am anderen Ende des Raums stand. Sie konnte es tun. Und wenn sie dazu gezwungen wurde, würde sie es auch tun - allein Abby zuliebe. Beth ließ die Pistole sinken, kletterte vom Stuhl, zog den Zettel wieder hervor und faltete ihn auf. Eine Namensliste. Cheryl Stallings, ihre Schwägerin. Zwei Anwälte, von denen einer Beths Testament verfasst hatte und der andere dafür berüchtigt war, seine Fälle um jeden Preis zu gewinnen. Drei Möbelhändler mit Interesse an frühen amerikanischen Antiquitäten, die Beth für einige ihrer besonderen Stücke Bargeld angeboten hatten und mit ihr ins Geschäft kommen würden, ohne Fragen zu stellen. Sie merkte, wie es sie beruhigte, die Liste durchzugehen. Diese war der handfeste Beweis dafür, dass Beth einen Plan hatte und die Möglichkeiten besaß, ihn in die Tat umzusetzen. Sie holte tief Luft. Obwohl es schon spät war, griff sie nach dem Telefonhörer. Sie zögerte kurz. Die Ziffern 9 und 1 schienen heller als der Rest zu leuchten. Ich rufe die Polizei an und erzähle ihnen alles. Doch das war nur ein Bluff gewesen, und Bankes hatte ihn durchschaut. Sie durfte die Polizei nicht anrufen. Das konnte sie Abby nicht antun. Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, murmelte sie ein Gebet, in dem sie um Vergebung bat - falls es überhaupt einen Gott gab. Sie räusperte sich und übte sich in jenem ruhigen und beherrschten Tonfall, den sie mit den Jahren perfektioniert hatte. Dann wählte sie die oberste Nummer auf der Liste. Die erste Lüge war die schwerste.
2
New York, im Staat New York
Ein Donnern ließ Neil Sheridan aus dem Vollrausch erwachen, den er sich seit Wochen mit vollem Einsatz erarbeitet hatte. Ein Presslufthammer bebte in seinem Schädel, und er fuhr mit der Hand nach oben, um zu prüfen, ob der Kopf noch ganz war. Seine Finger umschlossen etwas Warmes, Weiches.
Sein Gehirn? Nein, eine Brust. Er bewegte die Hand. Eine Zweite. Ah, richtig, gewöhnlich gab es die paarweise. Das Donnern wurde heftiger. »Neil! Himmel noch mal, mach endlich die Tür auf!«
Er blinzelte, und das Sonnenlicht fühlte sich in seinen Augen wie eine ätzende Flüssigkeit an. Er drehte sich um, und die Brüste bewegten sich, begleitet von einem sanften Stöhnen.
»Neil, ich warne dich, mein Freund. Ich lasse die Tür gleich vom Zimmermädchen öffnen.«
»Hör auf zu schreien«, murmelte er, während er sich aufrappelte. Am Fußende des Bettes fand er seine Jeans. Er musste sich mit der Schulter an der Wand abstützen, während er ungelenk hineinstieg.
»Sperren Sie die Tür auf«, hörte er die Stimme im Flur sagen. Rick? Verdammt noch mal. Das Donnern hatte aufgehört, doch der Schmerz in seinem Schädel fühlte sich immer noch wie eine Maschinengewehrsalve an. Draußen hörte er eine Frau in schnellem Spanisch auf Rick einreden, der sie abrupt unterbrach. »Ich bin Polizeibeamter, Lady. Und jetzt sperren Sie endlich die verdammte Tür auf.« »Moment«, sagte Neil, doch seine Stimme war nur ein Krächzen. Er fummelte an dem Schloss herum und öffnete dann. Ein Zimmermädchen starrte ihn an. »Wow, du siehst ja beschissen aus«, sagte Rick, während er dem Zimmermädchen einen Zwanziger in die Hand drückte. Er blickte ihr nach, als sie den Gang hinuntereilte, und marschierte anschließend in Neils Zimmer. »Ich habe schon mehrfach bei dir angerufen. Wie ich höre, hast du deinen Job bei Sentry geschmissen und bist schon seit mehr als einem Monat zurück in den Staaten.« »Wie doch die Zeit vergeht.« Rick hob eine leere Whiskeyflasche vom Boden auf, bückte sich noch einmal und griff nach einem Spitzenkorsett, das er zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln ließ. Dann legte er beides auf einen Tisch, der über und über mit Essenskartons eines chinesischen Lieferservices bedeckt war. Er warf einen Blick in einen der Kartons und schnüffelte daran. »Huhn à la General Dao«, stellte er fest. »Mit Whiskey?« »Ein Getränk, das einfach zu allem passt.« Rick stupste eine zweite Flasche mit dem Fuß an. Sie rollte über eine aufgerissene Kondomverpackung. Während er zur Schlafzimmertür blickte, schüttelte Rick kaum wahrnehmbar den Kopf, so dass Neil schon dachte, er hätte es sich eingebildet. »Ich möchte, dass du mich nach Arlington begleitest. Du hast jetzt lange genug in Selbstmitleid gebadet.« »Das Einzige, worin ich gebadet habe, sind Jack und Jill. Und beide warten im Schlafzimmer auf mich.« »Jack Daniel's und Jill wer? Weißt du nicht einmal ihren Nachnamen? « »Ich habe sie nicht danach gefragt«, antwortete Neil, ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich über die Stirn. Sein Hirn schmerzte, und das sollte eigentlich gar nicht mehr möglich sein, denn mittlerweile musste er es in Alkohol ertränkt haben. Das erzählte man zumindest den Jungs in der Highschool: Wenn du zu viel trinkst und zu viel mit Frauen rummachst, geht dein Verstand den Bach runter, deine Seele stumpft ab, und alles, was bleibt, ist die Hülle eines Mannes, der weder vernünftig denken noch fühlen kann. Versprechen, alles leere Versprechen. »Weißt du, warum ich hier bin?«, fragte Rick. »Ich weiß. Du glaubst, dass ich mir vor den Augen deiner Frau und Kinder nicht so schnell eine Kugel in den Kopf jage wie hier.« Schweigen. »Stimmt doch, oder?« Neil schloss die Augen, doch die Bilder ließen ihm keine Ruhe: Videoaufnahmen seines Bruders beim Besuch eines Flüchtlingscamps. Wie er rannte und rannte, doch der Boden unter ihm explodierte, und Mitch flog durch die Luft. Neil blinzelte, um die Bilder loszuwerden. »Es wäre ein Leichtes, mir die Birne wegzuschießen.« »Aber es war nicht dein Job, die Angriffe zu beenden, Neil. Sentry ist eine Sicherheitsorganisation.« »Stimmt. Und ich habe mich um die Sicherheit des Mistkerls gekümmert, der ein Flüchtlingscamp in die Luft gesprengt hat und dabei fast meinen Bruder umgebracht hätte.« Rick verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wo ist Mitch jetzt?« »In der Schweiz. Er versucht dort, wieder gesund zu werden. Mit zwei Sätzen hat er schon große Fortschritte gemacht: Meine Schuld und Verpiss dich.« »Oh, und ich dachte, auf die hättest du allein das Urheberrecht«, murmelte Rick, während er drei Tabletten gegen Sodbrennen aus einer Verpackung drückte. »Flieg mit mir nach Washington D. C. Ich bin gerade an einem interessanten Mordfall dran.«
Neil betrachtete ihn, als sei er ein Außerirdischer. »Mordfälle interessieren mich schon seit neun Jahren nicht mehr.« »Vor drei Tagen wurde eine Frau in der Nähe von Seattle umgebracht. « »Interessiert mich nicht.« »Heute Morgen wurde ihr Leichnam von Wanderern gefunden.« »Interessiert mich nicht.« »Sie war eine Tänzerin, sechsundzwanzig Jahre alt und hatte eine Tochter im Kindergartenalter.« Neil schloss die Augen. »Es könnte derselbe Mörder sein wie ...« »Es. Interessiert. Mich. Nicht.« Neil zischte die Worte hervor und presste dabei die Kiefer so fest zusammen, dass er sich für einen Moment fragte, ob man sich die eigenen Backenzähne brechen konnte. Er griff nach der nächstbesten Flasche, doch Rick war schneller und warf sie quer durchs Zimmer. Die letzten kostbaren Tropfen des Vergessens spritzten gegen die Tapete. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast«, maulte Neil, als er aufstand. »Das war die letzte Flasch...« Rick sprang auf ihn zu und hatte Neil innerhalb von zwei Sekunden rücklings gegen die Wand gepresst. »Alles deutet auf Anthony Russell hin, du dämliches, selbstverliebtes Arschloch! «, sagte Rick, während er Neils Arme in schmerzhaftem Griff umklammert hielt. »Es kann sein, dass dieser Mord von Anthony Russell verübt wurde!« Neil bekam keine Luft mehr. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Lungen wieder füllten, und als er zu Atem gekommen war, stieß er Rick heftig von sich. »Verpiss dich!«, rief er, doch nach zwei Schritten wirbelte er zu Rick herum. »Außerdem ist Anthony Russell tot. Ich habe ihn erschossen.« »Nachdem er einen Gerichtsdiener überwältigt und aus seiner eigenen Gerichtsverhandlung geflohen war. Ich weiß.« Eine Ader pulsierte an Ricks Schläfe. »Aber trotzdem waren wir uns nie ganz sicher, oder? Ich meine, dass er die Studentin umgebracht hat.« »Er hatte gestanden. Wie sicher willst du denn noch gehen?« »Ich meine ...« »Was? Was meinst du?«, drängte Neil. »Anthony Russell hat Gloria Michaels nach einer Verbindungsparty entführt. Dann hätte er sie fast erstochen, um ihr anschließend sicherheitshalber eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und als der Kerl aus der Untersuchungshaft geflohen ist, habe ich ihn getötet. Es ist also ganz egal, wie diese Frau aus Seattle aussehen mag - es ist vollkommen unmöglich, dass sie ein Opfer von Anthony Russell ist.« »Glorias Leiche war nicht dort, wo sie seinen Angaben nach hätte liegen müssen.« Ein Funken Zweifel versetzte Neil in Unruhe. Es war nicht das erste Mal. »Aber dieses Schwein hat den Mord gestanden.« »Nachdem der Staatsanwalt im Gegenzug das Strafmaß für drei andere Delikte verringert hatte.« Der pochende Schmerz in Neils Schädel regte sich erneut. Die Beweggründe für Anthony Russells Geständnis waren eigentlich nie hinterfragt worden. Sie hatten ein Geständnis gehabt, mehr hatte niemanden interessiert. »Und warum kommst du mit dieser ganzen Sache überhaupt zu mir?« »Als ich den Mordbericht über die Frau in Seattle las, kam mir einiges bekannt vor.« »Und was war das?« Rick zählte die Punkte an den Fingern ab. »Eine Frau verschwindet mit ihrem Auto. Das Auto wird abgestellt aufgefunden und ist blitzsauber. Ein paar Tage später wird der Leichnam in einem bewaldeten Gebiet entdeckt. Der Täter hat vorher ein bisschen an ihr herumgeschnitzt, um ihr dann ein Hohlspitzgeschoss Kaliber 38 in den Schädel zu jagen. Am Tatort finden wir eine Snackverpackung.« Er hielt inne. »Reese's Erdnuss- butter-Cup.« Der alte Zweifel grub sich tief in Neils Herz. Das hörte sich in der Tat so an wie damals bei Gloria. Sogar bis zu jenem Detail, dass der Killer damals ein Snackpapier im Auto hinterlassen hatte. Neil schluckte. »Wurde sie vergewaltigt?« »Wissen wir noch nicht, aber«, Rick fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, »es sieht ganz danach aus.« Ein angstvoller Schauer lief Neil über den Rücken. Er ging auf und ab, während er versuchte, sich einzureden, dass an der Sache nichts dran war, doch die Möglichkeiten nahmen wie Gespenster vor seinem inneren Auge Gestalt an: die Möglichkeit, dass Anthony Russell in Bezug auf den Mord an Gloria gelogen hatte, um einen Deal mit der Staatsanwaltschaft zu schließen. Die Möglichkeit, dass die Geschworenen ihn freigesprochen hätten, wenn es tatsächlich zu einem Verfahren gekommen wäre. Die Möglichkeit, dass Neil, als er seine Familie im Stich ließ, um einen Mörder zu fassen, den falschen Mann erwischt hatte. Und der richtige Mann hatte vor drei Tagen in Seattle eine Frau umgebracht. »Neil, du kanntest den Gloria-Michaels-Fall besser als jeder andere. Bitte komm mit, und sieh dir die Sache an. Wir können den nächsten Flieger nach Virginia nehmen.« Neil verengte die Augen zu Schlitzen. »Wie kommt ein Lieutenant in Arlington eigentlich dazu, in einem Mordfall zu ermitteln, der sich dreitausend Meilen entfernt ereignet hat?« »Die Polizei von Seattle hat mich gebeten, jemanden zu überprüfen. Das Handy der Toten wurde in der Mordnacht benutzt, um eine Frau in meinem Revier anzurufen.« »Wen?« »Ihr Name ist Elizabeth Denison.«
Neil ging im Gedächtnis die Namen durch, von denen er wusste, dass sie in Verbindung zu Anthony Russell gestanden hatten. Ihm fiel niemand mit dem Namen Elizabeth Denison ein, doch das überraschte ihn nicht. Denn Anthony hatte nichts damit zu tun. »Hast du mit ihr gesprochen?« »Es war niemand zu Hause. Wir haben ein Auto vor ihrem Haus postiert. Als mir dann die Parallelen zu dem Gloria- Michaels-Fall auffielen, habe ich beschlossen, dich zu fragen, ob du einen Blick auf die Sache werfen kannst.« Neil stieß einen Fluch aus. Verdammt, natürlich hatte er nicht die geringste Lust, sich die Sache anzusehen. Neun Jahre lang hatte er sich nicht mit derart nutzlosen Dingen wie richtig und falsch, gut und böse herumgeschlagen. Er war nichts weiter als ein exorbitant gut bezahlter Wachhund gewesen - gleichgültig, ob im Dschungel, in den Bergen oder in der Wüste. Er war an Orten unterwegs, an denen er sich nicht die Mühe gemacht hatte zu fragen, ob er die guten oder die bösen Jungs bewachte. Alles was zählte, war, nicht die erste Kugel abzubekommen. Ihr könnt mich alle mal - so lautete sein Lebensmotto jetzt, und es war meilenweit von jenem entfernt, das einst auf seiner Polizeimarke gestanden hatte. Neil presste die Stirn gegen seinen Arm, mit dem er sich an der Wand abstützte. »Wenn du recht hast«, sagte er schließlich, »habe ich einen unschuldigen Mann getötet.« »Unschuldig? Anthony Russell hat auf dich geschossen. Er hat einen Gerichtsdiener so zugerichtet, dass dieser für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzt.« »Er war in Gewahrsam, weil ich ihn wegen des Mordes an Gloria festgenommen hatte.« Rick kam näher. »Er war ein Mörder mit einem Vorstrafenregister länger als dein bestes Stück, mein Freund. Der einzige Grund, weshalb überhaupt für uns von Interesse ist, ob du dich in ihm getäuscht hast, ist, dass Glorias tatsächlicher Mörder gestern Abend in Seattle zugeschlagen haben könnte. Verstanden? « Schon klar, dachte Neil, doch er hatte Angst, tief durchzuatmen. Denn wenn er es täte, konnte so etwas wie neue Energie durch seine Adern strömen, und am Ende gäbe es vielleicht wieder etwas, das ihm tatsächlich wichtig war. Und dem hatte er doch vor neun Jahren abgeschworen. Selbst mit dieser Warnung im Kopf ließ er die Hand in die Hosentasche gleiten und drückte das ramponierte Stück Plastik mit der Schleife. Während er die Augen schloss, um die schrecklichste aller Möglichkeiten nicht sehen zu müssen, hielt er es fest umklammert. Wenn er sich in Anthony Russell getäuscht hatte, war Mackenzie umsonst gestorben. Bei diesem Gedanken gaben seine Knie beinahe nach. Bei diesem Gedanken und dem dumpfen Geräusch von etwas, das heftig in seinem Bewusstsein aufschlug. Es war der Körper der toten Tänzerin aus Seattle. Neil zog die Hand aus der Hosentasche, ließ die Haarspange aber dort, wo sie war. Er atmete tief ein und blickte auf die Schlafzimmertür. Er wusste, dass er sich nicht für die Frau entscheiden und Jill Wie-auch-immer allein aufwachen würde. Ein besserer Mensch als er hätte sich schuldig gefühlt - die Sorte Mann, die für Schuldgefühle Platz in ihrem Gewissen hatte. Doch Neil hatte keinen Platz. Es lagen bereits zu viele Leichen dort.
3
Lila Beckenridge aus Bellevue, Washington«, flüsterte Rick im Flugzeug, nachdem sie auf ihren Sitzen Platz genommen hatten. Er zog zwei Ordner hervor und gab sie Neil. »Sie hat nach ihrer Probe an einem kleinen Supermarkt gehalten und ist danach nicht zu Hause angekommen.«
Neil öffnete die Akte mit den Fotos vom Tatort. »Puh«, sagte er, und der bittere Geschmack von Galle breitete sich in seinem Mund aus. Ein grausiges Augenpaar starrte ihn an. »Er hat an ihr herumgeschnitzt?«
»Er hat ihr die Augenlider abgeschnitten. Die liegen dort am Boden.«
Angewidert blätterte Neil weiter. »Lieber Himmel«, murmelte er, während er die Fotos durchsah. Er hatte alle Mühe, sich nicht von Lila Beckenridges dreckigem und blutverschmiertem Gesicht irritieren zu lassen, das ihm Bild für Bild zu folgen schien.
Er zwang sich, die nüchternen Details zu betrachten. Ein paar Zentimeter über ihrer Schläfe lag die Eintrittswunde. Sie war klein, schwarz und ironischerweise so präzise geformt wie der Schlusspunkt einer Geschichte, die bislang niemand kannte. Auf der rechten Seite ihres Kiefers befand sich ein dunkler blauer Fleck, doch abgesehen von ihrem Gesicht sah sie fast unversehrt aus: Sie hatte die Arme seitlich ausgestreckt, wie eine in Positur erstarrte Ballerina, ihre Bluse war ordentlich in den Bund ihres knielangen Rocks gesteckt worden, der sauber und faltenfrei da lag. Sie war dürr, und erst in der Großaufnahme konnte man erkennen, dass die Male an ihren Handgelenken Schürfwunden waren, die durch Fesseln entstanden sein durften. Auf einigen Aufnahmen waren Löcher in der Erde zu sehen, als sei die Tänzerin vor ihrem Tod an Pfählen festgebunden worden. Neil musste schlucken und öffnete den zweiten Ordner, der mit »E. DENISON« beschriftet war. »Ist das alles, was wir über die Frau am anderen Ende der Telefonleitung haben? Ihren Führerschein und die Besitzurkunde ihres Hauses?« »Hey, ich bin nicht vom FBI. Und außerdem gibt es über diese Frau sonst nichts. Ich habe keine Ahnung, warum irgendjemand sie anrufen sollte.« »Irgendjemand? Du meinst: der Mörder.« »Oder Beckenridge.« Neil blätterte durch den Bericht. »Der Anruf fand kurz nach Mitternacht statt. Der geschätzte Todeszeitpunkt des Opfers liegt zwischen achtzehn und vierundzwanzig Uhr.« »Der geschätzte. Wie oft hast du schon erlebt, dass Gerichtsmediziner ihre Meinung ändern, sobald die Autopsie-Ergebnisse vorliegen? Besonders, wenn die Leiche nicht mehr frisch ist.« Einige Male, dachte Neil, doch nicht so häufig, dass man zwangsläufig von einem Irrtum ausgehen konnte. Neil war zwar schon seit einiger Zeit nicht mehr im Geschäft, aber er konnte sich noch sehr gut an die drei Hauptregeln der Ermittlung erinnern: Regel Nummer zwei besagte, dass jeder in der Kette der Beteiligten genauso viel Dreck am Stecken hatte wie die kriminellste Person unter ihnen. Elizabeth Denison tauchte in einer Kette von Menschen auf, die zu einem Mörder führte. Das machte sie nicht notwendigerweise selbst zu einer Kriminellen, doch es konnte sein, dass sie lange genug in einer Verbindung zu ihm stand, um etwas über ihn zu wissen. Irgendetwas, das zu ihm führen würde. Neil rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und spürte, wie die aufkeimende Spannung sein Herz schneller schlagen ließ. Nichts von alldem bedeutete, dass sich etwas an Gloria Michaels' Tod ändern würde. Es gab Übereinstimmungen zwischen ihrem Fall und dem Mord an Lila Beckenridge - genügend, um aufzuhorchen, doch es gab auch Unterschiede. Der größte betrug neun Jahre und dreitausend Meilen. Wenn Glorias Mörder tatsächlich die ganze Zeit auf freiem Fuß gewesen war, wo hatte er dann gesteckt? Natürlich wusste Neil darauf keine Antwort. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich hinter einer M16 und einem bequemen Lebensmotto zu verschanzen. Mit einem Holpern setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf, die Räder quietschten auf dem Asphalt. Während die Maschine zum Ankunftsgate fuhr, steckte Rick die Akten fort. »Bereit?«, fragte er. Neil spürte ein plötzliches Verlangen nach Jack und Jill. »Komm schon«, sagte Rick. »Wir besorgen dir erst mal einen Rasierer, einen Anzug und eine Krawatte. Und dann sehen wir zu, dass wir etwas herausbekommen. Wir sprechen mit Denison. Finden heraus, warum sie einen Anruf von einer Toten bekommen hat.«
Über dem Viertel, in dem Elizabeth Denison wohnte, lag die entspannte Atmosphäre eines Samstagabends - lange Schatten zogen sich über die gepflegten Rasen, ein Geruch von Grillkohle hing in der Luft, und ein paar Kinder spielten auf der Straße. Als sie Ricks Auto sahen, kamen sie zum Bürgersteig gelaufen, doch als er an ihnen vorbeigefahren war, kehrten sie mit ihrem Ball und einem Eimer Straßenkreide zu ihrem Spiel zurück. Einen halben Block weiter sah Neil, wie eine Dame, die gerade ihre Post aus dem Briefkasten holte, ihnen zuwinkte - als seien sie alte Freunde, nur weil sie durch ihre Straße fuhren. In einer Einfahrt auf der rechten Seite wartete ein Mann darauf, dass sein Beagle sein Geschäft in irgendjemandes Tulpenbeet erledigte. Der Mann erwiderte Ricks Gruß hinter dem Steuer mit einem Nicken. »Willkommen in Smallville«, murmelte Neil und warf sich eine Handvoll Aspirin in den Rachen, die er mit einem Schluck tiefschwarzem Kaffee hinunterspülte. »Ich möchte mal wissen, was Ms. Denisons Nachbarn denken würden, wenn sie von ihrem Kumpel aus Seattle wüssten.« »Du darfst nicht vergessen, dass sie vielleicht keine Ahnung hat, von wem der Anruf kam. Kein Grund also, da drinnen die BadCop- Nummer abzuziehen.« »Ich musste mich rasieren und einen Anzug anziehen«, erwiderte Neil. »Wie soll ich bitte als böser Bulle rüberkommen, wenn mir mein gutes Aussehen im Wege steht?« Rick schnaubte. »Es liegt an der Narbe, oder?« Neil fuhr sich mit dem Finger über den bleichen, schartigen Grat, der sich von seinem linken Ohrläppchen entlang des Kieferknochens zum Kinn hinunterzog. Es sah aus, als wäre ihm seine Wange vom Knochen gerissen worden. Was tatsächlich auch geschehen war. »Es liegt nicht an der Narbe, du Idiot«, antwortete Rick. »Es ist deine ewig gleiche Wirkung. Eindringlich und gefährlich. Als wäre dir die ganze Welt scheißegal.« »Frauen stehen auf diese dunkle Seite.« »Du bist nicht hier, um eine Frau ins Bett zu bekommen. Du bist hier, um sie zum Reden zu bewegen. Und falls du vorhast, ihr mit den Fotos von Lila Beckenridge vor der Nase herumzuwedeln, vergiss es. Wir werden den Mord so lange nicht erwähnen, bis wir sicher sein können, dass Denison etwas damit zu tun hat.« »Du machst wohl Witze.« »Hey, Lila Beckenridges Handy kann genauso gut von irgendjemandem gefunden worden sein, der es zum Telefonieren benutzte.«
»Weichei«, sagte Neil nur, doch Rick ging nicht darauf ein. Er parkte längsseits des Bordsteins und holte ein neues Röhrchen mit Tabletten gegen Sodbrennen hervor, von denen er sich drei oder vier auf einmal in den Mund warf. Zum ersten Mal bemerkte Neil, wie viele Jahre vergangen waren: Auf Ricks hoher Stirn waren Falten zu sehen, und um seinen Mund lagen tiefe Furchen. Mit seinen zweiundvierzig Jahren sah er bereits wie fünfzig aus, und er schmiss Säureblocker ein wie die täglich empfohlene Dosis Vitamine. Jetzt, wo Neil darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Rick Maggie bisher mit keinem Wort erwähnt hatte. Er hatte zwar mit seinen drei Jungs angegeben und voller Stolz Fotos von seiner jüngsten Tochter gezeigt, die noch ein Baby war, doch er hatte kein einziges Mal von Maggie gesprochen. Hm. Neil sah Rick an und wartete darauf, dass er seine Tabletten aufgekaut hatte. »Alles klar, Mann?« »Hör zu«, sagte Rick und drehte sich zu ihm um. »Unsere Abteilung hat gerade einen Rechtsstreit am Laufen. Wir haben im letzten Jahr bei einem Fall etwas überstürzt gehandelt und mit einem Typen richtig Mist gebaut. Wie bei dem Hauptverdächtigen des Bombenanschlags bei den Olypmischen Spielen in Atlanta, weißt du noch? Wie auch immer, dieser Kerl beging Selbstmord, nachdem wir angefangen hatten, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen.« Rick hielt inne und legte die Stirn über etwas in Falten, das er nicht aussprach. »Er war unschuldig.« »Oh, verdammt.« »Wir stehen deswegen gerade vor Gericht. Es spielt also keine Rolle, wie sehr du dir wünschst, dass diese Elizabeth Denison unseren Mörder kennt. Ich kann sie auf keinen Fall beschuldigen, dass sie da irgendwie mit drinhängt, bis ich mir nicht absolut sicher bin. Und außerdem«, ergänzte Rick und warf einen Blick die Straße hinunter, »sieh dich doch nur um. Ich wette zehn Mäuse, dass keine Frau hier in Heilewelthausen auch nur den Schimmer einer Ahnung hat, was Mord überhaupt ist.« »Wette angenommen«, antwortete Neil und folgte Ricks Blick zu Elizabeth Denisons Haus. Mit seiner buttergelben Fassadenverkleidung wirkte es anheimelnd. Im Garten blühten Azaleensträucher, und auf der Veranda hingen drei Farntöpfe. Das Haus passte gut zu der zierlichen, hübschen Frau auf dem Foto ihres Führerscheins. Doch all das rief Neil nur Regel Nummer drei ins Gedächtnis:
Die Dinge sind nie so hübsch und ordentlich, wie sie scheinen.
© 2011 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Kate Brady
Brady, KateKate Brady ist Chorleiterin und Dozentin für Musik. Für ihren Debütroman "Puppengrab" wurde sie mit dem begehrten RITA-Award ausgezeichnet. "Mädchen Nr. 6" ist ihr zweiter Roman bei Knaur. Sie lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Nissen, Antje
Antje Nissen, geboren in Hamburg, hat Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Medienkultur studiert und jahrelang im Buchhandel gearbeitet. Ihre Liebe zu Büchern hat sie nach München geführt, wo sie sich unter anderem verschiedenen Projekten innerhalb einer großen Verlagsgruppe widmete. Seit 2003 ist sie freiberufliche Lektorin, Herausgeberin und Übersetzerin in ihrer Wahlheimat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Brady
- 464 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Nissen, Antje
- Übersetzer: Antje Nissen
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426505843
- ISBN-13: 9783426505847
- Erscheinungsdatum: 25.06.2013
Rezension zu „Puppengrab “
"Chorleiterin Brady hat hier einen Wahnsinns-Thriller vorgelegt! Drastisch, intensiv, überraschend! Diese absolut fesselnde Story wird Ihnen Gänsehaut und schlaflose Nächte bereiten." -- Kölner Express Online, 16.11.2011"Höllisch spannender Psycho-Schocker für Frauen!" -- Happy-End-Buecher.de, 06.10.2011
"Fesselnd, gefährlich, intelligent und voller Gefühl!" -- Liebesromanforum.com, 04.10.2011
"Ein spannender Thriller, dessen grausam erdachtes Spiel um Leben und Tod die volle Aufmerksamkeit des Lesers verlangt." -- Buchlemmi.de, 23.01.2014
"Ein nervenzerreißender Thriller, der die Abgründe der menschlichen Psyche widerspiegelt." -- Auszeit-Magazin.com, 04.09.2013
"Die Story ist fesselnd bis zum Schluss, und manchmal möchte man die Augen zumachen beim Lesen, weil die Spannung unerträglich scheint." -- Krimi-Forum.net, 02.08.2013
"Von der ersten Seite an sehr fesselnd." -- Blog Connychaos-testet.de, 18.03.2012
"Bradys Schreibe überzeugt durch gut recherchierte Details, bissige Dialoge und durchgehende Spannung." -- Cellesche Zeitung, 17.12.2011
"Der Leser fiebert mit Beth und Neil Sheridan mit, weiß immer etwas mehr als das potentielle Opfer und der Ermittler. Und das macht auch den Reiz aus." -- Münstersche Zeitung, 21.11.2011
"Chorleiterin Brady hat hier einen Wahnsinnsthriller vorgelegt. Drastisch, intensiv, überraschend. Diese absolut fesselnde Story wird Ihnen Gänsehaut und schlaflose Nächte bereiten." -- Express Online, 16.11.2011
"Ein gut strukturierter und grandios ausgearbeiteter Thriller" -- Leser-Welt.de, 24.10.2011
"Ein spannender Thriller, dessen grausam erdachtes Spiel um Leben und Tod aufmerksam verfolgt werden sollte." -- Media-mania.de, 21.10.2011
"Eine wirklich spannende und fesselnde Geschichte, die zwar einige Klischees bedient, aber trotzdem nicht langweilt, im Gegenteil. Thrillerfans werden nicht enttäuscht!" -- Lies-und-lausch.de, 07.10.2011
"PUPPENGRAB ist der Stoff, aus dem Alpträume gemacht werden.
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David Fincher sollte sich am besten umgehend die Filmrechte sichern, denn Bradys Thriller auf der Kinoleinwand könnte zu einem echten Schocker und damit Renner werden." -- Literaturmarkt.info, 04.10.2011
"PUPPENGRAB ist der Debütroman von Kate Brady und so überrascht es umso mehr, dass man von Anfang an direkt gefesselt ist vom Geschehen um die Antiquitätenhändlerin Beth und ihren Verfolger. (...) Mein Überraschungswerk des Jahres von einer neuen Autorin, von der wir sicher noch mehr hören werden und welche hoffentlich ihr Schreibtempo und Limit in Zukunft weiter aufrecht erhalten wird. Sie überzeugt einfach mit ihrem klaren Stil und der fesselnden Handlung." -- DGF Magazin, 30.09.2011
"Eine wirklich durchdachte Story, die gut einen Kriminalfall mit einer sich entwickelnden Liebesbeziehung verbinden konnte." -- Buchrezicenter.de, 28.09.2011
"Mit diesem Buch ist Kate Brady ein super spannendes Debüt gelungen. (...) Für alle Fans von Karen Rose und Lisa Jackson ein absolutes Muss." -- Krimi-Fan.de, 22.09.2011
"Man kann diesen Thriller keine Sekunde aus den Händen legen. Und ist man gezwungen, dies zu tun, sehnt man sich nach eben diesem Buch. Besser kann ein Debüt nicht sein." -- Com-on-online.de, November 2011
"PUPPENGRAB ist der Debütroman von Kate Brady und so überrascht es umso mehr, dass man von Anfang an direkt gefesselt ist vom Geschehen um die Antiquitätenhändlerin Beth und ihren Verfolger. (...) Mein Überraschungswerk des Jahres von einer neuen Autorin, von der wir sicher noch mehr hören werden und welche hoffentlich ihr Schreibtempo und Limit in Zukunft weiter aufrecht erhalten wird. Sie überzeugt einfach mit ihrem klaren Stil und der fesselnden Handlung." -- DGF Magazin, 30.09.2011
"Eine wirklich durchdachte Story, die gut einen Kriminalfall mit einer sich entwickelnden Liebesbeziehung verbinden konnte." -- Buchrezicenter.de, 28.09.2011
"Mit diesem Buch ist Kate Brady ein super spannendes Debüt gelungen. (...) Für alle Fans von Karen Rose und Lisa Jackson ein absolutes Muss." -- Krimi-Fan.de, 22.09.2011
"Man kann diesen Thriller keine Sekunde aus den Händen legen. Und ist man gezwungen, dies zu tun, sehnt man sich nach eben diesem Buch. Besser kann ein Debüt nicht sein." -- Com-on-online.de, November 2011
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