Riemenschneider
Marienkapelle. Und er findet seine Eva. Doch Riemenschneider überschreitet...
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Marienkapelle. Und er findet seine Eva. Doch Riemenschneider überschreitet Grenzen: Eine Bäuerin steht ihm nackt Modell ein Skandal! Jahre später erschüttern ganz andere
Erhebungen die Grundfesten der Gesellschaft: Die Bauern erheben sich und die Predigten Martin Luthers rufen Aufruhr hervor. Dies bringt auch Meister Riemenschneider in höchste Gefahr. Er muss um sein Leben bangen...
Riemenschneider von Tilman Röhrig
LESEPROBE
1
Wind kamauf. Er trieb eine Wolke vor sich her, eine Wolke aus Staub und Dornen Lauterwurde das Brausen Im Innern entstand Glut, sie wucherte, jetzt flimmerte derStaub, kleine Flammen sprangen aus den Dornenspitzen Ein Arm wuchs hinaus,die Hand öffnete sich, streckte den Zeigefinger Da brannte die Wolke,verbrannte der Arm, verglühte der Finger; ein Tropfen blieb und fiel.
Meister Tilwischte sich über die Stirn, er hielt die Augen geschlossen. Stickig und schwerwar die Luft in der Schlafstube. Das Traumbild verließ ihn nicht. Wieder sah erdas Flirren in der Wolke, hörte das Brausen. »Bescheide dich«, flüsterte er.»Kein himmlischer Bote, der Rat hat dir den Auftrag gegeben. Nur die Herren vomStadtrat « Neben ihm seufzte seine Frau Anna im Schlaf, drehte sich schwer zurSeite. Wie ertappt schwieg Til, erst als sie den Atem wieder geräuschvoll undgleichmäßig durch die Lippen blies, öffnete er die Lider. Durch die Ritzen derSchlagläden schimmerte grau der Morgen. Was für ein Tag! Durfte er das Wagniseingehen?
»Nackt?«»Ja, nackt sollen sie sein!« Unvermittelt war Tumult inder Ratssitzung entstanden. »Nackte vor dem Eingang?«,ereiferten sich einige fromme Gemüter und erhitzten sich: »Unsere Marienkapelleist kein Frauenhaus!« Hohngelächter der anderen Stadtväter antwortete: »Nackt.Wie denn sonst?«
Miterhobenen Händen versuchte der oberste Bürgermeister zu beschwichtigen, erstdie Glocke verschaffte ihm Gehör: »Freunde! Werte Herren! Auch wenn das Worterneut einige von uns erschreckt. Es muss so sein. Denkt doch ans Paradies, ansFeigenblatt.« Geschickt nutzte er die Erleichterung.»Außerdem will ich ihn ohne Bart. Nicht nur der Meister, auch ich will es! SeinVorschlag ist gut. Ja, jung sollen die beiden sein.«Keine Proteste mehr, die Abstimmung brachte den Beweis, der Fortschritt hattein Würzburg gesiegt. Und nur einer konnte das erste Menschenpaar erschaffen,darin waren sich die Herren nach wie vor einig.
Ohne seineFrau zu wecken, befreite sich Meister Til von der dünnen Zudecke, fand mit denFüßen die Maulschuhe, blieb aber auf der Bettkante sitzen. »Jetzt haben wirAnfang Mai«, rechnete er. »Vier Monate sind s her. Keine lange Zeit für denAdam.« Sicher, es wäre leicht gewesen, eine Figur angetan mit Gewändern aus demSandstein zu hauen, und noch leichter, wenn er Holz statt Stein bearbeitethätte. Aber den bloßen jungen Leib? »Und für einen Moment glaubte ich « Erschüttelte über sich selbst den Kopf und schmunzelte. Damals war er noch abendsspät, nur bekleidet mit dem Hausmantel, hinüber in die Werkstatt gegangen,hatte Lampen rechts und links des Spiegels gehängt und das Kleidungsstückabgelegt. Wähnt sich ein Mann von gut dreißig Jahren auch immer noch jung, derBlick des Künstlers entschuldigt keinen Makel. Til tätschelte seinen Bauch undlachte vor sich hin. »Nein, als Adam war ich mir zu unansehnlich.«
In seinemRücken raschelte Stoff, die Matratze bebte. »Schäm dich!«Mit dem Vorwurf reinigte sich die Stimme seiner Frau vom Schlaf, wurde spitzer:»Du freust dich wohl, kannst es erst gar nicht abwarten?«Ein Aufstöhnen folgte. »O Heilige Mutter, wäre ich doch Witwe geblieben. Warumhast du es zugelassen, dass ich diesen Mann geheiratet habe?«
Meister Tilbewegte sich nicht, er schwieg und wartete ab. Ihre Anklage war noch nichtbeendet. Seit Tagen schon kannte er Satz für Satz und musste jeden über sichergehen lassen, um nicht neue Sätze heraufzubeschwören.
»Holt sichein Weib in die Werkstatt. Ein Bauernweib. Ich hoffe nur, dass meinGoldschmied, Gott hab ihn selig, dass mein Ewald heute nicht von oben zusieht,wie das Laster in unser Haus einzieht. Du willst ein ehrbarer Schnitzer sein?Alle hast du getäuscht mit deinen Heiligenfiguren, mit der schönenMuttergottes für die Prozession.« Ein Aufschluchzen,die Stimme sank von der Anklage zur Klage. »Und ich hab so fest an dichgeglaubt, war stolz stolz auf meinen Tilman Riemenschneider. Heute aber legter die Maske ab. Und drunter steckt ein Lüstling « Der Satz erstickte imnächsten Schluchzer. Stille.
Immer nochhütete er sich, etwas zu erwidern.
Frau Annaschlug mit den flachen Händen auf die Matratze, ihr Ton fand zur Schärfezurück: »Wohin soll das führen? Erst müssen sich die Söhne meines Ewald vor dir ausziehen, meine drei Buben. Einer nach demanderen. Aber sie waren dir nicht gut genug «
»Zu dünn«,verbesserte er.
»Was?«
»Gut sindsie schon, aber sie sind mir zu dünn.« Meister Tilwandte den Kopf und sprach ins Halbdunkel zu dem hellen Fleck des Nachthemdes.»Nur deshalb hab ich den Gesellen genommen. Der Tobias, der ist so ein Adam, sowollte ich den Körper haben.«
»Und wasist an diesem Weib besser? Was hat sie, was du nicht auch bei mir sehen kannst?Sag es mir.«
»Du bist «Gerade noch rechtzeitig stockte er. »Weißt du, so eine Eva. Also, ich glaubenicht, dass der Schöpfer bei der Erschaffung der Menschen gleich solch einereife Frau Ich will sagen, dass du mir eine gute Frau bist, aber für die Eva «
»Sag esdoch! Ich bin zu fett.« Sie rutschte zur unterenBettkante, der Nachttopf schepperte, es kümmerte Anna nicht, mit bloßen Füßenstampfte sie um das Lager herum, neben Til hielt die mächtige Gestalt an.»Ausreden! Mal zu dünn, dann wieder zu alt und zu dick. Ich sag dir was, Mann:Schlecht ist es, was du heute vorhast, und eine Sünde.«Sie stieß die Tür auf und schlug sie hinter sich zu. Von draußen hörte Tilnoch: »Jawohl, eine Sünde.«
Dasmorgendliche Unwetter war vorüber. »Besser jetzt als nachher, wenn Magdalena daist.«
Er standauf, in wenigen Schritten war er am Fenster, schob es hoch und öffnete mitbeiden Händen langsam die Schlagläden. Licht flutete. »Willkommen.« Tief einatmendbegrüßte er den klaren Morgen und kämmte mit den Fingern seine vollekupferfarbene Lockenmähne hinter die Ohren zurück. Unter ihm lag dieFranziskanergasse noch im Schatten; auf den niedrigen Dächern gegenüber aberließ die frühe Sonne den Tau funkeln. »Willkommen.« Dieser Gruß galt nicht demTag. Als es ihm auffiel, stahl sich wieder ein Lächeln in die Mundwinkel. »Ichgestehe es ja: Ich freue mich wirklich.«
Magdalena.Letzte Woche hatte er wieder das Pferd gesattelt, zum dritten Mal nun schon imApril. »Will nach unserm Weinberg sehen«, so hatte er sich von Annaverabschiedet, »und danach auf dem Land ein wenig freie Luft atmen.«
Erneut eineAusrede, doch wie die beiden Male zuvor bemerkte es seine Frau nicht. Zu sehrwar sie mit Haus und Kindern beschäftigt. Kurzatmig flocht sie der gemeinsamensiebenjährigen Tochter Gertrud die Zöpfe und sah nur flüchtig über dieSchulter. »Der Ritt wird dir guttun. Bei all demStaub in der Werkstatt wirst du noch krank.« Und weilsie niemanden, ob nun Mann, Kind oder Geselle vom Hof Wolfmannsziechleinfortlassen konnte, ohne ihm einen Auftrag zu erteilen, setzte sie hinzu: »Aberbring uns einen Korb frisches Gras für die Hasen mit. Das vom Weinberg, dasfressen sie so gern.«
Er war zum Hauger Tor in den Tag hinaus geritten. An den Rebstöckenbrachen die Knospen auf, zeigten ihr Hellgrün der Sonne. »Ich hoffe auf einenguten Sommer. Für den Wein und auch für mich.« Keinen Blick verschwendete erfürs Hasenfutter und lenkte das Pferd weiter. »Bis zur Lese muss ich meinenAuftrag erfüllt haben.«
Heute nahmer sich vor, dem großen Lehnshof nahe Unterpleichfeldeinen Besuch abzustatten. Oben auf der Höhe ließ er das Pferd traben. Seine Evawollte er finden; eine, die unschuldig war oder wenigstens so aussah. »Unterden heiratsfähigen Jungfrauen in der Bürgerschaft gibt s bestimmt die eine oderandere.« Er rundete die vollen Lippen und schüttelteden Kopf. Allein schon die Frage wäre ein unsittlicher Antrag und hätte inWürzburg einen Skandal ausgelöst.
»Welch eineEhre. Der berühmte Bildschnitzer in meinem Haus.« Freundlich wurde er vomVerwalter begrüßt und bewirtet. Nur zu gern ließ sich Meister Til herumführen,lobte die Sauberkeit von Küche und Stallungen, während er unauffällig die Mägdebetrachtete. Keine jedoch entsprach seiner Vorstellung.
Auf demRückweg durchs benachbarte Tal nagte Zweifel an ihm. »Du willst zu viel. DerFehler liegt bei dir. Eva ist nicht unschuldig. Das ist es.«Gleich kamen ihm die Dirnen in Paulsen Wolfs Haus in den Sinn. »Für Geld stelltsich mir jede von denen zur Verfügung.« Nein, Gottbewahre, so eine darf ich meinem Adam nicht geben.
Ratlos, inGedanken versunken, ritt er an einem ärmlichen Gehöft vorbei. Hühnerflüchteten, ein Hund kläffte den Reiter an. Kaum nahm er es wahr. Hinter demkleinen Haus führte der Weg wieder dichter am Bach entlang. Das klatschendeGeräusch ganz in der Nähe schreckte ihn auf. Mit dem Rücken zu ihm stand eineFrau im seichten Wasser und schlug die Wäsche. »Gott zum Gruß.«
Sie wandtesich um und schaute auf. Ihr Blick war der Anfang gewesen.
Meister Tilstützte beide Hände auf den Fenstersims und beugte sich vor. Niemand standunten in der Gasse. »Es ist noch zu früh«, ermahnte er sich. Erst nach demMorgenläuten werden die Stadttore geöffnet. »Der Bauer wird Wort halten, erwird seine Frau schon herbringen.«
Weil ernicht mehr gefragt hatte, wusste er nicht viel von Magdalena, nur dass sie erstim vergangenen Winter geheiratet hatte, dass sie die zweite Frau des Bauern warund dass trotz harter Arbeit kaum genug zum Leben übrig blieb. Angesehen hatteer sie. Keine strahlende Schönheit, aber Frau in jeder Geste, dennoch nichterfahren. »Willst du mir Modell stehen?« ( )
© PiperVerlag
2005 erhielt er den 6. Voerder Jugendbuchpreis für sein Lebenswerk.
- Autor: Tilman Röhrig
- 2008, 5. Aufl., 620 Seiten, Maße: 14,7 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492050557
- ISBN-13: 9783492050555
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