Scheintot
Eine namenlose junge Tote schlägt plötzlich die Augen auf, als Gerichtsmedizinerin Maura Isles den Leichensack öffnet. Als Maura sie ins Krankenhaus bringt, erschießt die Unbekannte einen Wachmann und nimmt Geiseln - darunter Mauras Freundin, die...
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Eine namenlose junge Tote schlägt plötzlich die Augen auf, als Gerichtsmedizinerin Maura Isles den Leichensack öffnet. Als Maura sie ins Krankenhaus bringt, erschießt die Unbekannte einen Wachmann und nimmt Geiseln - darunter Mauras Freundin, die schwangere Polizistin Jane Rizzoli. Doch die Geiselnehmerin wird überwältigt und getötet. Bald aber wird Jane klar, dass mehr hinter dem Fall steckt und die Scheintote der Schlüssel zu einer skrupellosen Verbrecherorganisation ist.
Bevor Tess Gerritsen zu schreiben begann, war sie Ärztin. Medizinische Detailgenauigkeit und erzählerische Raffinesse sind ihre Markenzeichen.
''Tess Gerritsen schreibt besser und spannender als Kathy Reichs.''
Brigitte
"Tess Gerritsen ist gnadenlos. Scheintot beginnt mit enorm hohem Tempo - und hält es bis zum Ende. Ein unerhört spannendes, psychologisch perfekt ausgefeiltes Buch. Gerritsen steht für Psychothriller de Luxe!" -- Alex Dengler (Bild am Sonntag)
"Was aus Tess Gerritsens Feder fließt, ist nichts für schwache Nerven, hochspannend und unvorhersehbar. Das gilt auch für ihren neuesten Thriller 'Scheintot'." -- Nordsee Zeitung
Scheintot vonTess Gerritsen
LESEPROBE
Ich heiße Mila, und dies ist meineGeschichte.
Es gibt so viele Orte, an denen ichdie Erzählung beginnen
könnte. Ich könnte in der Stadtanfangen, in der ich
aufgewachsen bin, in Kryvichy am Ufer des Servach, imBezirk
Myadzyel. Ich könnte beginnen, als ich achtJahre alt
war, an dem Tag, als meine Mutterstarb, oder als ich zwölf
war und mein Vater vom Lastwagen desNachbarn überrollt
wurde. Aber ich glaube, ich solltemit meiner Geschichte
hier anfangen, in der Wüste Mexikos,so weit weg
von meiner weißrussischen Heimat.Hier habe ich meine
Unschuld verloren. Hier musste ichmeine Träume begraben.
Es ist ein wolkenloser Novembertag,und große schwarze
Vögel kreisen an einem Himmel, derblauer ist als alles,
was ich im Leben je gesehen habe.Ich sitze in einem weißen
Kleinbus. Der Fahrer und derBeifahrer kennen meinen
richtigen Namen nicht, und siescheinen sich auch nicht
dafür zu interessieren. Sie lachennur und nennen mich Red
Sonja - den Namen haben sie mir indem Moment gegeben,
als sie mich in Mexiko City aus demFlugzeug steigen sahen.
Anja sagt, es sei wegen meinerHaare. Red Sonja ist der
Titel eines Films, den ich niegesehen habe, aber Anja kennt
ihn. Sie flüstert mir zu, dass ervon einer schönen Kriegerin
handelt, die ihre Feinde mit demSchwert fällt. Jetzt glaube
ich, dass die Männer sich mit diesemNamen über mich
lustig machen, denn ich bin nichtschön. Ich bin keine Kriegerin.
Ich bin erst siebzehn, und ich habeAngst, weil ich
nicht weiß, was als Nächstespassieren wird.
Wir halten uns an den Händen, Anjaund ich, während
der Bus uns und fünf andere Mädchendurch eine wüsten-
artige, mit dürren Sträuchernbestandene Landschaft fährt.
Einen »Pauschalurlaub in Mexiko« -das hat die Frau in
Minsk uns versprochen, aber wirwussten, was das in Wirklichkeit
hieß: eine Möglichkeit zu entkommen.Eine Chance.
Ihr nehmt ein Flugzeug nach Mexiko,erklärte sie uns,
und am Flughafen werdet ihr vonLeuten abgeholt, die euch
über die Grenze bringen und euchhelfen, euer neues Leben
zu beginnen. »Was habt ihr denn hierfür eine Zukunft?«,
hat sie uns gefragt. »Hier gibt eskeine guten Jobs für Mädchen
wie euch, keine Wohnungen, keineanständigen Männer.
Ihr habt keine Eltern, die euchunterstützen. Und du,
Mila - du sprichst so gut Englisch«,sagte sie zu mir. »Du
wirst dich in Amerika imHandumdrehen zurechtfinden.
Nur keine Angst! Lasst euch dieGelegenheit nicht entgehen.
Eure künftigen Arbeitgeberübernehmen alle Kosten -
also, worauf wartet ihr beiden noch?«
Nicht auf das hier, denke ich,während die endlose Wüste
an unseren Fenstern vorüberzieht.Während Anja sich eng
an mich schmiegt und die anderenMädchen im Wagen
ganz still sind. Allmählich drängtsich uns allen dieselbe
Frage auf: Worauf habe ich michda bloß eingelassen?
Wir fahren schon den ganzen Morgen.Die zwei Männer
auf den Vordersitzen reden nicht mit uns, aber der Beifahrer
dreht sich immer wieder zu uns umund wirft uns merkwürdige
Blicke zu. Immer wieder heften sichseine Augen
auf Anja, und die Art und Weise, wieer sie anstarrt, gefällt
mir ganz und gar nicht. Sie bekommtnichts davon mit,
weil sie an meiner Schultereingeschlafen ist. Das Mäuschen
- so haben wir sie in der Schuleimmer genannt, weil
sie so schüchtern ist. Sobald einJunge sie auch nur anschaut,
wird sie knallrot. Sie ist so altwie ich, aber wenn
ich in Anjas schlafendes Gesichtschaue, dann sehe ich ein
Kind. Und ich denke: Ich hätte sienicht mitnehmen sollen.
Ich hätte ihr sagen müssen, dass siein Kryvichy bleiben
soll.
Endlich biegt der Bus von derSchnellstraße ab und rumpelt
weiter über eine ungeteerte Piste.Die anderen Mädchen
wachen auf und starren aus denFenstern auf braune
Hügel, übersät mit Felsbrocken, diewie ausgebleichte Knochen
aussehen. In meiner Heimatstadt istschon der erste
Schnee gefallen, aber hier in diesemwinterlosen Land gibt
es nur Staub und blauen Himmel unddürre Sträucher. Wir
halten an, und die beiden Männerdrehen sich zu uns um.
Der Fahrer sagt auf Russisch: »Jetztheißts raus aus dem
Auto und zu Fuß weitergehen. Das istder einzige Weg über
die Grenze.«
Sie öffnen die Schiebetür, und einenach der anderen steigen
wir aus, sieben Mädchen, dieblinzeln und sich nach der
langen Autofahrt recken und strecken. Trotz desstrahlenden
Sonnenscheins ist es kühl hier, vielkälter, als ich gedacht
hatte. Anja birgt ihre Hand inmeiner, und sie zittert.
»Hier entlang«, befiehlt der Fahrerund geht voran. Er
biegt von der Schotterstraße ab undfolgt einem Pfad, der hinauf
in die Berge führt. Wir klettern umFelsbrocken herum,
vorbei an Dornbüschen, die nachunseren Beinen krallen.
Anja trägt offene Schuhe, und siemuss oft stehen
bleiben, um die spitzen Steinchenhinauszuschütteln. Wir
sind alle durstig, aber die Männerlassen uns nur einmal anhalten,
um Wasser zu trinken. Dann geht esweiter; wie unbeholfene
Ziegen klettern wir den steinigenPfad hinauf.
Wir erreichen den Hügelkamm undschlittern auf der anderen
Seite bergab, auf eine Baumgruppezu. Erst als wir
unten ankommen, sehen wir, dass wirvor einem ausgetrockneten
Flussbett stehen. Am Ufer verstreutliegen die
Hinterlassenschaften derjenigen, dievor uns die Grenze
überquert haben:Plastikwasserflaschen, eine schmutzige
Windel und ein alter Schuh, derKunststoff rissig vom Liegen
in der prallen Sonne. An einem Astflattert ein Fetzen
einer blauen Zeltplane. So vieleTräumer sind schon hier
entlanggekommen, und wir sind siebenweitere, die ihren
Fußstapfen in Richtung Amerikafolgen. Plötzlich verfliegt
meine Angst, denn der Müll, der hierherumliegt, ist der Beweis
dafür, dass es nicht mehr weit seinkann.
Die Männer winken uns weiter, undwir machen uns daran,
das gegenüberliegende Ufer zuerklimmen.
Anja zieht an meinem Arm. »Mila, ichkann nicht
weitergehen«, flüstert sie.
»Du musst.«
»Aber mein Fuß blutet.«
Ich blicke auf ihre wunden Zehenhinunter, sehe das Blut,
das aus der zarten Haut quillt, undrufe den Männern zu:
»Meine Freundin hat sich den Fußaufgeschnitten!«
»Ist mir egal«, sagt der Fahrer.»Los, weitergehen.«
»Wir können nicht weitergehen. Siebraucht einen Verband.«
»Entweder geht ihr jetzt weiter,oder wir lassen euch
beide zurück.«
»Geben Sie ihr wenigstens Zeit, sichandere Schuhe anzuziehen!«
Der Mann dreht sich um. In diesemAugenblick geht eine
Verwandlung mit ihm vor. Sein Blicklässt Anja ängstlich
zurückweichen. Die anderen Mädchenstehen stocksteif
und mit weit aufgerissenen Augen da,wie Schafe, die sich
furchtsam zusammendrängen. Er kommtlangsam auf mich
zu.
Der Schlag trifft mich so plötzlich,dass ich ihn nicht
kommen sehe. Plötzlich knie ich aufder Erde, und ein paar
Sekunden lang ist alles dunkel. Dannregistriere ich den
Schmerz, das Pochen in meinemKiefer. Ich schmecke Blut.
Ich sehe es in leuchtend rotenSpritzern auf die Steine im
Flussbett tropfen.
»Steh auf. Los, steh auf! Wir habenschon genug Zeit verloren.«
Ich rappele mich schwankend auf.Anja starrt mich entsetzt
an. »Mila, gib einfach Ruhe!«, flüstert sie. »Wir müs-
sen tun, was sie uns sagen! Meine Füßetun auch gar nicht
mehr weh, ehrlich. Ich kann gehen.«
»Habt ihrs jetzt endlich kapiert?«, sagt der Mann zu mir.
Er dreht sich um und mustert dieanderen Mädchen mit finsterem
Blick. »Habt ihr gesehen, waspassiert, wenn ihr mich
auf die Palme bringt? Wenn ihr mirso frech kommt? Jetzt
geht endlich weiter!«
Und plötzlich haben es alle Mädchensehr eilig, das Flussbett
zu durchqueren. Anja packt meineHand und zerrt
mich weiter. Ich bin zu benommen, ummich zu wehren,
und so stolpere ich hinter ihr her,schlucke das Blut hinunter.
Ich kann den Pfad vor uns kaumsehen. ()
© Limes Verlag
Übersetzung: Andreas Jäger
- Autor: Tess Gerritsen
- 2005, 412 Seiten, Maße: 14,5 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Andreas Jäger
- Verlag: Limes
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000016160
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