Schiff der tausend Träume
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die reiche Celeste und die mittellose May sind an Bord der Titanic. Als das Schiff sinkt, wird May von Celeste gerettet. Und mit ihr ein Kind. Diese Nacht wird die beiden Frauen für immer aneinander binden. Ebenso wie das Geheimnis des geretteten Kindes.
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Produktinformationen zu „Schiff der tausend Träume “
Die reiche Celeste und die mittellose May sind an Bord der Titanic. Als das Schiff sinkt, wird May von Celeste gerettet. Und mit ihr ein Kind. Diese Nacht wird die beiden Frauen für immer aneinander binden. Ebenso wie das Geheimnis des geretteten Kindes.
Klappentext zu „Schiff der tausend Träume “
Zwei ungewöhnliche Frauen. Eine schicksalshafte Nacht. Ein ganzes Leben voller Geheimnisse.Als sie an Bord der 'Titanic' gehen, sind sie durch Stand und Herkunft getrennt: die Auswanderin May und die reiche Celeste. Als das unsinkbare Schiff sinkt, kann Celeste May und, wie sie glaubt, deren Kind aus den eisigen Fluten retten. In jener Nacht erwächst zwischen May und Celeste eine Freundschaft, die ihren weiteren Lebensweg auf immer verbindet - ebenso wie das Geheimnis des geretteten Kindes, das die Zukunft dreier Generationen prägen wird: von New York über England bis zu den Hügeln der Toskana...
»Fleming ist die geborene Erzählerin!« Kate Atkinson
Lese-Probe zu „Schiff der tausend Träume “
Schiff der tausend Träume von Leah Fleming9
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Joe presste Ellen an seine Brust und schob May zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Allmählich fanden sie ihren Weg durch das Gewirr von Gängen, durch eine unverschlossene Tür auf das Deck über ihnen. Menschen standen dort in Schlangen, und May hörte über ihnen irgendwo Musik. Auf diesem Deck gab es keine Rettungsboote. Ein Uniformierter öffnete eine andere Tür zur ersten Klasse und befahl den Frauen, sich an die große Treppe zum Oberdeck zu begeben, doch die Männer folgten ihnen, denn sie wollten nicht von ihren verängstigten Familien getrennt werden.
Sie durchquerten ein schreckliches Märchenland; schwankende Lüster, üppige Teppiche, so weit das Auge reichte, aber kaum eine Menschenseele war zu sehen. Stewarts eilten hin und her und wiesen ihnen den Weg immer weiter nach oben. Joe machte große Augen. Das war eine andere Welt. Da standen Männer in Abendgarderobe, rauchten, achteten nicht auf die panische Flucht, auf die verzweifelten Rufe nach der richtigen Richtung; einige spielten Karten, als hätten sie alle Zeit der Welt, um ihr Spiel zu beenden, während die große, vergoldete Uhr auf dem Kaminsims zwei Uhr schlug.
May spürte, wie sich das Schiff immer mehr neigte, nach und nach bedenklich schräg. Kostbares Glas ging ringsum zu Bruch, Tischlampen fielen um, Stühle rutschten über den Boden. Sie setzten ihren Weg durch den goldenen Salon und den Gesellschaftsraum fort. Über sich hörte sie Ragtimeklänge. Wo waren die anderen alle?
»Das gefällt mir nicht, Joe!«
»Geh einfach weiter, Schatz. Ellen ist bei mir sicher. Da oben ist bestimmt alles durchorganisiert.«
Plötzlich spürten sie einen kalten Luftzug, und sie befanden sich auf dem Bootsdeck in einer Menge Menschen, die sich weinend aneinanderklammerten.
»Wo sind die Rettungsboote?«, fragte Joe und schaute fassungslos zu den leeren Bootskränen auf.
»Gute Frage, Kumpel«, erwiderte eine barsche schottische Stimme. »Die sind alle weg ... nicht genug für unsereins.«
Das Schiff neigte sich noch mehr. May klammerte sich an Joe und versuchte, nicht in Panik zu geraten.
»Was machen wir jetzt?« Sie wollte gar nicht erst daran denken, was ihnen bevorstand. Die Vorstellung, im dunklen Wasser zu schwimmen, war entsetzlich, aber auf dem Schiff zu bleiben und unterzugehen ...
»An Backbord sind noch Boote«, schrie ein Passagier. »Kommt, mir nach!« Mühsam kämpften sie gegen die Schräglage an und versuchten, zusammenzubleiben. Als sie die andere Seite erreichten, fanden sie zwar keine Rettungsboote, aber ein paar Männer versuchten erfolglos, Faltboote abzulassen.
»Geht wieder nach Steuerbord. Da sind Faltboote«, befahl ein Matrose und zeigte überrascht auf May und das kleine Kind. »Frauen und Kinder hätten schon längst weg sein sollen!«
Joe zog May aus der Menge, aber sie blieb starr. »Das ist nicht gut ... für uns ist kein Platz mehr da, oder?«, schrie sie und wurde von Panik gepackt. Wie lange noch, bis das Schiff kippen und sie alle ins eiskalte Wasser werfen würde?
»Da müssen Boote sein. Die würden uns doch nicht der Gefahr aussetzen ... nicht mit kleinen Kindern!«, rief Joe mit grimmigem Gesicht und drückte Ellen noch fester an sich. Er bemühte sich, aufrecht stehen zu bleiben, als das Schiff sich noch weiter neigte, und brüllte: »Wir werden springen, May. Ellen ist bei mir sicher. Ich habe sie in meinen Mantel gebunden. Wir müssen jetzt sofort hier weg, solange die Rettungsboote noch nah genug sind, um uns aufzunehmen!«
»Ohne dich gehe ich nirgendwohin«, kreischte sie, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen beim Anblick des Meeres, das immer näher auf sie zukam.
10
Regungslos, fassungslos beobachtete Celeste das sich entfaltende Drama, den Blick fest auf das angeschlagene Schiff gerichtet, das immer weiter auf seinen endgültigen Untergang zu glitt. Sie spürte nicht einmal die kalte Luft, während sie mit klopfendem Herzen sah, wie Männer ins Wasser sprangen und versuchten zu schwimmen.
»Wir müssen hier weg, bevor uns der Sog mit hinunterzieht«, schrie eine Frau und drückte ihren Pekinesen an die Brust. »Wir wollen doch nicht, dass sie ins Boot kriechen und uns zum Kentern bringen.«
»Aber wir müssen Menschen retten! Das Boot ist nicht voll«, beharrte Celeste. »Wir haben jede Menge Platz. Wir können nicht einfach wegrudern und sie im Stich lassen.«
»Ich lasse nicht zu, dass Leute vom Zwischendeck neben mir sitzen«, fuhr die Frau fort. »Man weiß ja nie, was man sich da einfängt.«
Celeste konnte kaum glauben, was sie da hörte. Diese Frau hatte am Morgen in derselben Reihe wie sie gesessen und mit ihr gemeinsam von einem Blatt abgelesen. Sie hatten »Eternal Father, strong to save« gesungen.
»Hören Sie nicht auf den Unsinn«, schrie Celeste. »Wir müssen diesen armen Seelen helfen.«
Doch die Männer ruderten mit entschlossenen Mienen weiter vom Schiff fort.
Der Lärm der im Wasser strampelnden Passagiere, die Schreie, das Dröhnen zischender Maschinen wurde noch lauter. Trümmerstücke hüpften ringsum auf den Wellen, zerstörte Liegestühle, Gepäckstücke, Holzplanken, die sich von den Decks losgerissen hatten, grausame Andenken an das, was dieses Schiff einmal gewesen war, und versperrten allen, die durch das Wasser auf sie zu schwammen, den Weg in die Sicherheit.
»So halten Sie doch ein! Bitte, im Namen der Barmherzigkeit, kehren Sie um. Wir müssen auf sie warten. Wenn es nun Ihre Frau, Ihr Kind oder Ihr Mann wären? Würden Sie sie dem Tod anheimgeben?«, schrie Celeste in der Hoffnung, die Matrosen zu beschämen.
Die Männer hoben einer nach dem anderen die Ruder, und das Rettungsboot trieb allmählich auf das sinkende Schiff zu. Erleichtert senkte Celeste den Kopf. Vielleicht bestand jetzt die Chance, mehr Leben zu retten.
11
May erstarrte in Panik, als sie die Möglichkeiten abwog, die ihnen blieben. Das Meer kroch langsam immer näher, ein Deck nach dem anderen verschwand, und in ihren Ohren hallten die Schreie der verzweifelten Passagiere, die sich bemühten, in Sicher heit zu gelangen. Andere knieten, beteten, hielten sich an den Händen und warteten darauf, durch ein Wunder gerettet zu werden, das nie eintreten würde.
»Wir müssen springen, Schatz.« Joe ergriff ihre Hand.
»Ich kann nicht!« Sie zitterte vor Todesangst, aber Joe war unnachgiebig.
»Spring! Ellen zuliebe. Sie hat eine Chance verdient. Halte meine Hand fest, und wir springen zusammen. Nur Gott kann uns jetzt noch retten«, redete er ihr gut zu. Das Wasser schwappte noch näher.
»Aber ich kann nicht schwimmen.«
»Doch, du kannst. Die Rettungsweste wird dich an der Oberfläche halten. Du musst es versuchen.«
»Ich kann nicht.«
»Zusammen können wir es. Wir sind nicht bis hierher gekommen, um wie die Ratten zu sterben.«
Seine Worte brachten sie zur Weißglut. »Sterben?« Wer hatte etwas von sterben gesagt? So würden sie ihr Leben nicht beenden, in den weiten Ozean geworfen. Sie sah, was mit denen passiert war, die zuerst gesprungen waren. Das Wasser war voll mit Rettungswesten, in denen kein Leben mehr war. Aber Joe hatte recht: sie mussten springen. So oder so würden sie im Meer landen.
»Halte meine Hand fest, und viel Glück, aber wenn das Glück nicht auf unserer Seite ist, sehe ich dich im Paradies wieder. Niemand wird uns dort trennen.«
Wie aus dem Nichts erhob sich eine Woge, spülte über sie hinweg und schleuderte sie vom Schiff. Das kalte Wasser traf May wie eisige Pfeile und nahm ihr den Atem, während sie prustend an die Oberfläche kam und in der Dunkelheit nach Joe suchte.
Sie wollte schreien und schlug wild um sich, um über Wasser zu bleiben. Die Rettungsweste hielt sie wie durch ein Wunder oben. Das Dröhnen des steigenden Wassers an ihren Trommelfellen ertränkte alle zusammenhängenden Laute. Ihre Arme waren wie nutzlose Propeller, und das Gewicht ihrer Kleidung behinderte ihre Gliedmaßen, während sie sich platschend vom Schiff entfernte. Sie musste Joe und Ellen im Auge behalten, aber es war so dunkel, und ihr war so kalt.
Wie in Zeitlupe glaubte sie einen Umriss zu erkennen, einen Kopf, aber so viele Menschen waren im Wasser, einige verzweifelt um sich schlagend, andere, die mit dem Gesicht nach unten schwammen, wie Treibgut. Plötzlich, von wilder Panik gepackt, versuchte May die Beine zu bewegen, doch sie waren schwer wie Blei, ihre Schwimmstöße brachten sie nicht vorwärts, das eiskalte Wasser hielt sie in seinen eisernen Zwingen fest. Sie rang nach Luft und wippte auf dem Wasser, hielt verzweifelt nach Joe Ausschau. Er trieb immer weiter weg von ihr. Unter Einsatz aller Kräfte paddelte sie wie eine Maschine weiter. Die Kälte, die sie umgab, war grausam, unmenschlich. Sie erhaschte erneut einen Blick auf Joes auf und ab hüpfenden Kopf und die kleine Ellen, die wie ein Bündel aus Lumpen auf der Oberfläche abdriftete. Hektisch versuchte May, sie einzuholen. Ellen glitt außer Reichweite, und auf einmal war Joes Kopf verschwunden. Nein! Das durfte nicht passieren! Sie musste ihr Kind erreichen. »Ich komme!«, versuchte sie zu schreien, doch ihr Mund füllte sich mit Salzwasser, erstickte ihre Schreie und nahm ihr den Atem. Minute um Minute paddelte sie weiter. Schleichend überkam sie ein Gefühl der Apathie, der Mutlosigkeit. Mit jedem Atemzug schwand ihre Entschlossenheit, ihre Bewegungen wurden schwächer. Die Kälte griff nach ihr.
Nur Dunkelheit und Tod gab es noch, leere Gesichter, deren Augen zu den grausamen Sternen emporstarrten. Sie kam nicht an ihnen vorbei, sie konnte Joe nicht finden, sie konnte Ellen nicht finden.
»Nimm mich jetzt zu dir, Herr, zieh mich hinab«, betete sie. Wozu lohnte es sich noch zu leben, wenn sie schon ohne sie gegangen waren? »Ich komme! Ich komme!« Ihre Stimme wurde leiser, doch die Rettungsweste hielt sie fest im Griff, während sie immer weiter von der Stelle wegtrieb, an der sie ihre Familie zuletzt gesehen hatte. Ihre Finger wurden völlig taub, zu kalt, um sich an dem Treibgut festzuhalten; Rettungswesten trieben vorüber, nutzlos, und der Eishauch des Wassers presste allmählich das Leben aus ihr heraus. Ihr wurde schwarz vor Augen, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich dem Meer überließ.
12
Das Rettungsboot manövrierte tief in das Treibgut hinein, und das Licht einer Laterne durchdrang die Dunkelheit auf der Suche nach weiteren Überlebenden.
»Da drüben ist eine! Ihre Lippen bewegen sich. Sie ist nur ein schmächtiges Ding.« Der Matrose zog den treibenden Körper mit einem Bootshaken näher heran, und ein weiteres Besatzungsmitglied half ihm, ihn ins Boot zu ziehen.
Celeste vergaß die Kälte und ging hinüber, um der tropfnassen jungen Frau beizustehen und wieder Leben in ihre erstarrten Glieder zu reiben. Die Gerettete schlug kurz die Augen auf, versuchte den Kopf zu schütteln und protestierte leise.
»Nein, nein ... Kind ist im Wasser ... Sucht nach ihnen! Joe ... Lasst mich los!« Celeste breitete rasch eine Decke über sie. »Nein«, flüsterte die junge Frau. »Will zurück ... meine Kleine ... Lasst mich los ... Joe, wir kommen.« Sie versuchte sich aufzurichten, ihre Hand war starr, ihre verkrampften Finger unfähig zu zeigen.
»Legt sie auf den Boden zu der Toten. Seht doch, in welchem Zustand sie ist. Die macht es nicht mehr lange.«
»Nein, ich werde mich ihrer annehmen«, beharrte Celeste. »Sie hat ein kleines Kind im Wasser. Um Himmels willen, bleibt hier und sucht danach.«
»Bringt die verdammte Frau doch zum Schweigen!«, ertönte eine Stimme unter einem Schal.
»Wir kommen nie fort von hier, wenn wir weiterhin Straßenkinder aufnehmen! Sie werden uns alle zum Kentern bringen!« geiferte die Frau mit dem Hund von neuem.
»Halten Sie den Mund, Sie selbstsüchtiges Miststück! Sie wollen eine Christin sein? Seien Sie nicht so grausam«, fuhr Celeste sie derart selbstbewusst und heftig an, dass sie selbst überrascht war. »Diese arme Seele hat alles verloren, und Sie sitzen hier mit Ihrem Schoßhund. Wir müssen zurück und noch mehr Leute finden.«
»Verzeihung, Ma'am, weiter können wir nicht heran. Sehen Sie doch!« Der Matrose deutete auf den massigen, immer ungeheuerlicher in den Himmel ragenden Schiffsbug, der wie eine albtraumhafte Vision im Wasser versank. »Das Schiff wird gleich untergehen, und wir dürfen nicht von seinem Sog erfasst wer den. Wie es dem Mädchen gelungen ist, zu überleben, wunder mich, aber genug ist genug. Ich kann das Leben der anderen hier im Boot nicht riskieren. Rudert weiter!«
Die junge Frau zitterte und weinte, als Celeste noch eine Decke um sie wickelte. »Rühren Sie sich jetzt nicht ... Bewahren Sie Haltung, seien Sie britisch, seien Sie tapfer, Sie sind hie in Sicherheit.« Die Wärme einer menschlichen Berührung war alles, was sie in der Dunkelheit bieten konnte. »Wir müssen alle ruhig bleiben.«
Während sie sich um die junge Frau kümmerte, war im dunklen Wasser wieder eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Arm er hob sich aus den Fluten über das Dollbord des Bootes und ließ eine durchnässte Decke in den Schoß eines zitternden Jungen fallen. »Nehmt das Kind!«, rief eine raue Stimme. Celeste meinte, im Licht der Laterne einen weißen Bart zu erkennen.
»Der Kapitän ... Sir! Kapitän Smith. Wir können Sie an Bord nehmen«, schrie ein Matrose und streckte dem Mann im Wasser eine Hand entgegen.
Der Arm verweilte eine Sekunde lang und zog sich dann zurück. »Viel Glück, Männer, tut eure Pflicht.«
Stille trat ein.
»Gebt das Kind seiner Mutter«, rief der Matrose, und plötzlich wurde das Bündel durch das Boot gereicht und der jungen, in trockene Decken gehüllten Mutter in die Arme gelegt. Sie drückte das Kind erleichtert an sich. Aus ihrer Benommenheit gerissen, tastete sie im Dunkeln nach dem Gesicht des Kindes, berührte seine eiskalte Wange und lauschte auf jeden Atemzug. Als sie die Kleine jammern hörte, weinte sie vor Erleichterung.
Gott in seiner Güte hatte sie wieder zusammengebracht!, dachte Celeste. Wie wunderbar, so etwas mitten in den Schrecknissen der Nacht zu sehen. Wenn das nun Roddy gewesen wäre? Gott sei Dank hatte sie ihn nicht mit auf Reisen genommen. Ausnahmsweise hatte Grover einmal recht gehabt, seine Zustimmung zu verweigern. Wie hätte sie jemals weiterleben können, wenn er verlorengegangen wäre?
Celeste bemühte sich hinauszuspähen, im Dunkeln etwas zu erkennen, beugte sich über den Bootsrand, wohl wissend, dass zahllose Kleinkinder und ihre Familien im eiskalten Wasser trieben. Wie viele würden die Nacht noch überleben? Nach diesen schrecklichen Qualen, nach allem, was sie gerade gesehen hatte, war nur eins sicher - das Leben würde für sie nie wieder so sein wie bisher.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Joe presste Ellen an seine Brust und schob May zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Allmählich fanden sie ihren Weg durch das Gewirr von Gängen, durch eine unverschlossene Tür auf das Deck über ihnen. Menschen standen dort in Schlangen, und May hörte über ihnen irgendwo Musik. Auf diesem Deck gab es keine Rettungsboote. Ein Uniformierter öffnete eine andere Tür zur ersten Klasse und befahl den Frauen, sich an die große Treppe zum Oberdeck zu begeben, doch die Männer folgten ihnen, denn sie wollten nicht von ihren verängstigten Familien getrennt werden.
Sie durchquerten ein schreckliches Märchenland; schwankende Lüster, üppige Teppiche, so weit das Auge reichte, aber kaum eine Menschenseele war zu sehen. Stewarts eilten hin und her und wiesen ihnen den Weg immer weiter nach oben. Joe machte große Augen. Das war eine andere Welt. Da standen Männer in Abendgarderobe, rauchten, achteten nicht auf die panische Flucht, auf die verzweifelten Rufe nach der richtigen Richtung; einige spielten Karten, als hätten sie alle Zeit der Welt, um ihr Spiel zu beenden, während die große, vergoldete Uhr auf dem Kaminsims zwei Uhr schlug.
May spürte, wie sich das Schiff immer mehr neigte, nach und nach bedenklich schräg. Kostbares Glas ging ringsum zu Bruch, Tischlampen fielen um, Stühle rutschten über den Boden. Sie setzten ihren Weg durch den goldenen Salon und den Gesellschaftsraum fort. Über sich hörte sie Ragtimeklänge. Wo waren die anderen alle?
»Das gefällt mir nicht, Joe!«
»Geh einfach weiter, Schatz. Ellen ist bei mir sicher. Da oben ist bestimmt alles durchorganisiert.«
Plötzlich spürten sie einen kalten Luftzug, und sie befanden sich auf dem Bootsdeck in einer Menge Menschen, die sich weinend aneinanderklammerten.
»Wo sind die Rettungsboote?«, fragte Joe und schaute fassungslos zu den leeren Bootskränen auf.
»Gute Frage, Kumpel«, erwiderte eine barsche schottische Stimme. »Die sind alle weg ... nicht genug für unsereins.«
Das Schiff neigte sich noch mehr. May klammerte sich an Joe und versuchte, nicht in Panik zu geraten.
»Was machen wir jetzt?« Sie wollte gar nicht erst daran denken, was ihnen bevorstand. Die Vorstellung, im dunklen Wasser zu schwimmen, war entsetzlich, aber auf dem Schiff zu bleiben und unterzugehen ...
»An Backbord sind noch Boote«, schrie ein Passagier. »Kommt, mir nach!« Mühsam kämpften sie gegen die Schräglage an und versuchten, zusammenzubleiben. Als sie die andere Seite erreichten, fanden sie zwar keine Rettungsboote, aber ein paar Männer versuchten erfolglos, Faltboote abzulassen.
»Geht wieder nach Steuerbord. Da sind Faltboote«, befahl ein Matrose und zeigte überrascht auf May und das kleine Kind. »Frauen und Kinder hätten schon längst weg sein sollen!«
Joe zog May aus der Menge, aber sie blieb starr. »Das ist nicht gut ... für uns ist kein Platz mehr da, oder?«, schrie sie und wurde von Panik gepackt. Wie lange noch, bis das Schiff kippen und sie alle ins eiskalte Wasser werfen würde?
»Da müssen Boote sein. Die würden uns doch nicht der Gefahr aussetzen ... nicht mit kleinen Kindern!«, rief Joe mit grimmigem Gesicht und drückte Ellen noch fester an sich. Er bemühte sich, aufrecht stehen zu bleiben, als das Schiff sich noch weiter neigte, und brüllte: »Wir werden springen, May. Ellen ist bei mir sicher. Ich habe sie in meinen Mantel gebunden. Wir müssen jetzt sofort hier weg, solange die Rettungsboote noch nah genug sind, um uns aufzunehmen!«
»Ohne dich gehe ich nirgendwohin«, kreischte sie, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen beim Anblick des Meeres, das immer näher auf sie zukam.
10
Regungslos, fassungslos beobachtete Celeste das sich entfaltende Drama, den Blick fest auf das angeschlagene Schiff gerichtet, das immer weiter auf seinen endgültigen Untergang zu glitt. Sie spürte nicht einmal die kalte Luft, während sie mit klopfendem Herzen sah, wie Männer ins Wasser sprangen und versuchten zu schwimmen.
»Wir müssen hier weg, bevor uns der Sog mit hinunterzieht«, schrie eine Frau und drückte ihren Pekinesen an die Brust. »Wir wollen doch nicht, dass sie ins Boot kriechen und uns zum Kentern bringen.«
»Aber wir müssen Menschen retten! Das Boot ist nicht voll«, beharrte Celeste. »Wir haben jede Menge Platz. Wir können nicht einfach wegrudern und sie im Stich lassen.«
»Ich lasse nicht zu, dass Leute vom Zwischendeck neben mir sitzen«, fuhr die Frau fort. »Man weiß ja nie, was man sich da einfängt.«
Celeste konnte kaum glauben, was sie da hörte. Diese Frau hatte am Morgen in derselben Reihe wie sie gesessen und mit ihr gemeinsam von einem Blatt abgelesen. Sie hatten »Eternal Father, strong to save« gesungen.
»Hören Sie nicht auf den Unsinn«, schrie Celeste. »Wir müssen diesen armen Seelen helfen.«
Doch die Männer ruderten mit entschlossenen Mienen weiter vom Schiff fort.
Der Lärm der im Wasser strampelnden Passagiere, die Schreie, das Dröhnen zischender Maschinen wurde noch lauter. Trümmerstücke hüpften ringsum auf den Wellen, zerstörte Liegestühle, Gepäckstücke, Holzplanken, die sich von den Decks losgerissen hatten, grausame Andenken an das, was dieses Schiff einmal gewesen war, und versperrten allen, die durch das Wasser auf sie zu schwammen, den Weg in die Sicherheit.
»So halten Sie doch ein! Bitte, im Namen der Barmherzigkeit, kehren Sie um. Wir müssen auf sie warten. Wenn es nun Ihre Frau, Ihr Kind oder Ihr Mann wären? Würden Sie sie dem Tod anheimgeben?«, schrie Celeste in der Hoffnung, die Matrosen zu beschämen.
Die Männer hoben einer nach dem anderen die Ruder, und das Rettungsboot trieb allmählich auf das sinkende Schiff zu. Erleichtert senkte Celeste den Kopf. Vielleicht bestand jetzt die Chance, mehr Leben zu retten.
11
May erstarrte in Panik, als sie die Möglichkeiten abwog, die ihnen blieben. Das Meer kroch langsam immer näher, ein Deck nach dem anderen verschwand, und in ihren Ohren hallten die Schreie der verzweifelten Passagiere, die sich bemühten, in Sicher heit zu gelangen. Andere knieten, beteten, hielten sich an den Händen und warteten darauf, durch ein Wunder gerettet zu werden, das nie eintreten würde.
»Wir müssen springen, Schatz.« Joe ergriff ihre Hand.
»Ich kann nicht!« Sie zitterte vor Todesangst, aber Joe war unnachgiebig.
»Spring! Ellen zuliebe. Sie hat eine Chance verdient. Halte meine Hand fest, und wir springen zusammen. Nur Gott kann uns jetzt noch retten«, redete er ihr gut zu. Das Wasser schwappte noch näher.
»Aber ich kann nicht schwimmen.«
»Doch, du kannst. Die Rettungsweste wird dich an der Oberfläche halten. Du musst es versuchen.«
»Ich kann nicht.«
»Zusammen können wir es. Wir sind nicht bis hierher gekommen, um wie die Ratten zu sterben.«
Seine Worte brachten sie zur Weißglut. »Sterben?« Wer hatte etwas von sterben gesagt? So würden sie ihr Leben nicht beenden, in den weiten Ozean geworfen. Sie sah, was mit denen passiert war, die zuerst gesprungen waren. Das Wasser war voll mit Rettungswesten, in denen kein Leben mehr war. Aber Joe hatte recht: sie mussten springen. So oder so würden sie im Meer landen.
»Halte meine Hand fest, und viel Glück, aber wenn das Glück nicht auf unserer Seite ist, sehe ich dich im Paradies wieder. Niemand wird uns dort trennen.«
Wie aus dem Nichts erhob sich eine Woge, spülte über sie hinweg und schleuderte sie vom Schiff. Das kalte Wasser traf May wie eisige Pfeile und nahm ihr den Atem, während sie prustend an die Oberfläche kam und in der Dunkelheit nach Joe suchte.
Sie wollte schreien und schlug wild um sich, um über Wasser zu bleiben. Die Rettungsweste hielt sie wie durch ein Wunder oben. Das Dröhnen des steigenden Wassers an ihren Trommelfellen ertränkte alle zusammenhängenden Laute. Ihre Arme waren wie nutzlose Propeller, und das Gewicht ihrer Kleidung behinderte ihre Gliedmaßen, während sie sich platschend vom Schiff entfernte. Sie musste Joe und Ellen im Auge behalten, aber es war so dunkel, und ihr war so kalt.
Wie in Zeitlupe glaubte sie einen Umriss zu erkennen, einen Kopf, aber so viele Menschen waren im Wasser, einige verzweifelt um sich schlagend, andere, die mit dem Gesicht nach unten schwammen, wie Treibgut. Plötzlich, von wilder Panik gepackt, versuchte May die Beine zu bewegen, doch sie waren schwer wie Blei, ihre Schwimmstöße brachten sie nicht vorwärts, das eiskalte Wasser hielt sie in seinen eisernen Zwingen fest. Sie rang nach Luft und wippte auf dem Wasser, hielt verzweifelt nach Joe Ausschau. Er trieb immer weiter weg von ihr. Unter Einsatz aller Kräfte paddelte sie wie eine Maschine weiter. Die Kälte, die sie umgab, war grausam, unmenschlich. Sie erhaschte erneut einen Blick auf Joes auf und ab hüpfenden Kopf und die kleine Ellen, die wie ein Bündel aus Lumpen auf der Oberfläche abdriftete. Hektisch versuchte May, sie einzuholen. Ellen glitt außer Reichweite, und auf einmal war Joes Kopf verschwunden. Nein! Das durfte nicht passieren! Sie musste ihr Kind erreichen. »Ich komme!«, versuchte sie zu schreien, doch ihr Mund füllte sich mit Salzwasser, erstickte ihre Schreie und nahm ihr den Atem. Minute um Minute paddelte sie weiter. Schleichend überkam sie ein Gefühl der Apathie, der Mutlosigkeit. Mit jedem Atemzug schwand ihre Entschlossenheit, ihre Bewegungen wurden schwächer. Die Kälte griff nach ihr.
Nur Dunkelheit und Tod gab es noch, leere Gesichter, deren Augen zu den grausamen Sternen emporstarrten. Sie kam nicht an ihnen vorbei, sie konnte Joe nicht finden, sie konnte Ellen nicht finden.
»Nimm mich jetzt zu dir, Herr, zieh mich hinab«, betete sie. Wozu lohnte es sich noch zu leben, wenn sie schon ohne sie gegangen waren? »Ich komme! Ich komme!« Ihre Stimme wurde leiser, doch die Rettungsweste hielt sie fest im Griff, während sie immer weiter von der Stelle wegtrieb, an der sie ihre Familie zuletzt gesehen hatte. Ihre Finger wurden völlig taub, zu kalt, um sich an dem Treibgut festzuhalten; Rettungswesten trieben vorüber, nutzlos, und der Eishauch des Wassers presste allmählich das Leben aus ihr heraus. Ihr wurde schwarz vor Augen, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich dem Meer überließ.
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Das Rettungsboot manövrierte tief in das Treibgut hinein, und das Licht einer Laterne durchdrang die Dunkelheit auf der Suche nach weiteren Überlebenden.
»Da drüben ist eine! Ihre Lippen bewegen sich. Sie ist nur ein schmächtiges Ding.« Der Matrose zog den treibenden Körper mit einem Bootshaken näher heran, und ein weiteres Besatzungsmitglied half ihm, ihn ins Boot zu ziehen.
Celeste vergaß die Kälte und ging hinüber, um der tropfnassen jungen Frau beizustehen und wieder Leben in ihre erstarrten Glieder zu reiben. Die Gerettete schlug kurz die Augen auf, versuchte den Kopf zu schütteln und protestierte leise.
»Nein, nein ... Kind ist im Wasser ... Sucht nach ihnen! Joe ... Lasst mich los!« Celeste breitete rasch eine Decke über sie. »Nein«, flüsterte die junge Frau. »Will zurück ... meine Kleine ... Lasst mich los ... Joe, wir kommen.« Sie versuchte sich aufzurichten, ihre Hand war starr, ihre verkrampften Finger unfähig zu zeigen.
»Legt sie auf den Boden zu der Toten. Seht doch, in welchem Zustand sie ist. Die macht es nicht mehr lange.«
»Nein, ich werde mich ihrer annehmen«, beharrte Celeste. »Sie hat ein kleines Kind im Wasser. Um Himmels willen, bleibt hier und sucht danach.«
»Bringt die verdammte Frau doch zum Schweigen!«, ertönte eine Stimme unter einem Schal.
»Wir kommen nie fort von hier, wenn wir weiterhin Straßenkinder aufnehmen! Sie werden uns alle zum Kentern bringen!« geiferte die Frau mit dem Hund von neuem.
»Halten Sie den Mund, Sie selbstsüchtiges Miststück! Sie wollen eine Christin sein? Seien Sie nicht so grausam«, fuhr Celeste sie derart selbstbewusst und heftig an, dass sie selbst überrascht war. »Diese arme Seele hat alles verloren, und Sie sitzen hier mit Ihrem Schoßhund. Wir müssen zurück und noch mehr Leute finden.«
»Verzeihung, Ma'am, weiter können wir nicht heran. Sehen Sie doch!« Der Matrose deutete auf den massigen, immer ungeheuerlicher in den Himmel ragenden Schiffsbug, der wie eine albtraumhafte Vision im Wasser versank. »Das Schiff wird gleich untergehen, und wir dürfen nicht von seinem Sog erfasst wer den. Wie es dem Mädchen gelungen ist, zu überleben, wunder mich, aber genug ist genug. Ich kann das Leben der anderen hier im Boot nicht riskieren. Rudert weiter!«
Die junge Frau zitterte und weinte, als Celeste noch eine Decke um sie wickelte. »Rühren Sie sich jetzt nicht ... Bewahren Sie Haltung, seien Sie britisch, seien Sie tapfer, Sie sind hie in Sicherheit.« Die Wärme einer menschlichen Berührung war alles, was sie in der Dunkelheit bieten konnte. »Wir müssen alle ruhig bleiben.«
Während sie sich um die junge Frau kümmerte, war im dunklen Wasser wieder eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Arm er hob sich aus den Fluten über das Dollbord des Bootes und ließ eine durchnässte Decke in den Schoß eines zitternden Jungen fallen. »Nehmt das Kind!«, rief eine raue Stimme. Celeste meinte, im Licht der Laterne einen weißen Bart zu erkennen.
»Der Kapitän ... Sir! Kapitän Smith. Wir können Sie an Bord nehmen«, schrie ein Matrose und streckte dem Mann im Wasser eine Hand entgegen.
Der Arm verweilte eine Sekunde lang und zog sich dann zurück. »Viel Glück, Männer, tut eure Pflicht.«
Stille trat ein.
»Gebt das Kind seiner Mutter«, rief der Matrose, und plötzlich wurde das Bündel durch das Boot gereicht und der jungen, in trockene Decken gehüllten Mutter in die Arme gelegt. Sie drückte das Kind erleichtert an sich. Aus ihrer Benommenheit gerissen, tastete sie im Dunkeln nach dem Gesicht des Kindes, berührte seine eiskalte Wange und lauschte auf jeden Atemzug. Als sie die Kleine jammern hörte, weinte sie vor Erleichterung.
Gott in seiner Güte hatte sie wieder zusammengebracht!, dachte Celeste. Wie wunderbar, so etwas mitten in den Schrecknissen der Nacht zu sehen. Wenn das nun Roddy gewesen wäre? Gott sei Dank hatte sie ihn nicht mit auf Reisen genommen. Ausnahmsweise hatte Grover einmal recht gehabt, seine Zustimmung zu verweigern. Wie hätte sie jemals weiterleben können, wenn er verlorengegangen wäre?
Celeste bemühte sich hinauszuspähen, im Dunkeln etwas zu erkennen, beugte sich über den Bootsrand, wohl wissend, dass zahllose Kleinkinder und ihre Familien im eiskalten Wasser trieben. Wie viele würden die Nacht noch überleben? Nach diesen schrecklichen Qualen, nach allem, was sie gerade gesehen hatte, war nur eins sicher - das Leben würde für sie nie wieder so sein wie bisher.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Leah Fleming
Leah Fleming stammt aus dem englischen Lancashire. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder. Als Autorin von historischen Romanzen bereits sehr erfolgreich, hat sie nun ihren ersten großen Roman geschrieben. Sie lebt und arbeitet in den Yorkshire Dales und in einem alten Olivengut auf Kreta.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leah Fleming
- 2012, 640 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marion Balkenhol, Annette Hahn
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359619475X
- ISBN-13: 9783596194759
- Erscheinungsdatum: 06.03.2012
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