Schmitz' Mama
Andere haben Probleme, ich hab' Familie. Originalausgabe
Ralf Schmitz' neues Buch ist wieder pickepackevoll mit irren und unglaublich lustigen Geschichten, vielen Tipps und zahlreichen Fotos.
Dieses Mal hat sich der Comedian den bunten Alltag mit seiner Mama und dem Rest der Schmitzschen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schmitz' Mama “
Ralf Schmitz' neues Buch ist wieder pickepackevoll mit irren und unglaublich lustigen Geschichten, vielen Tipps und zahlreichen Fotos.
Dieses Mal hat sich der Comedian den bunten Alltag mit seiner Mama und dem Rest der Schmitzschen Familie vorgenommen. Mit Antworten auf Fragen wie "Wie beendet man ein Telefonat mit Mama?" sowie einem völlig abgedrehten Sohn/Tochter-Typtest.
SPIEGEL Bestseller Platz 1!
Klappentext zu „Schmitz' Mama “
Warum sagt Mama immer »Dingens«?Was hat sie mit Hannibal gemeinsam?
Wie zum Teufel beendet man ein Telefonat mit ihr?
Ralf Schmitz geht für solche und ähnlich knifflige Rätsel ungehemmt auf Lösungssuche. Spätestens, wenn er von Mamas schlimmsten Geschenken, unpassendsten Umräum-Aktionen und gruseligsten Kochversuchen erzählt, werden Sie sich fragen: Woher kennt Ralf Schmitz eigentlich meine Mutter?!
Eine humorvolle Hommage an die Mama und die »bucklige« Verwandtschaft.
Lese-Probe zu „Schmitz' Mama “
Schmitz' Mama von Ralf SchmitzDer Walker Brothers-Cowboy
... mehr
Nach dem Abendbrot sagt mein Vater: »Magst du runtergehen und nachschauen, ob der See noch da ist?« Wir lassen meine Mutter unter der Esszimmerlampe nähen, Sachen für mich zum Schulanfang. Sie hat dafür ein altes Kostüm und ein altes kariertes Wollkleid von sich aufgetrennt, sie muss sehr geschickt zurechtschneiden und zusammenheften, und ich muss für endlose Anproben dastehen und mich umdrehen, die warme Wolle juckt, ich schwitze und bin undankbar. Wir lassen meinen Bruder im Bett in dem kleinen Wintergarten auf der vorderen Veranda, und manchmal kniet er auf seinem Bett, presst das Gesicht ans Fliegengitter und ruft traurig: »Bring mir eine Eistüte mit!«, aber ich rufe zurück: »Dann schläfst du schon«, und drehe nicht mal den Kopf um.
Dann gehen mein Vater und ich gemächlich eine lange, ärmliche Straße entlang. Silverwoods Ice Cream-Schilder stehen auf dem Bürgersteig vor winzigen, erleuchteten Geschäften. Wir sind in Tuppertown, einem alten Getreidehafen am Huron-See. Die Straße ist an manchen Stellen schattig, da, wo Ahornbäume wachsen, deren Wurzeln den Bürgersteig aufgeworfen und gesprengt haben und sich wie Krokodile in die kahlen Vorgärten hinstrecken. Leute sitzen draußen, Männer in Hemdsärmeln oder Unterhemden und Frauen in Kittelschürzen - keine Leute, die wir kennen, aber wenn jemand uns zunickt und »Warmer Abend« sagt, dann nickt mein Vater auch und erwidert etwas in derselben Art. Kinder spielen noch. Die kenne ich auch nicht, denn meine Mutter lässt meinen Bruder und mich nur in unserem Garten spielen, sie sagt, er ist noch zu klein für draußen und ich muss auf ihn aufpassen. Es macht mich gar nicht besonders traurig, ihren abendlichen Spielen zuzusehen, denn diese Spiele sind zerfasert, lösen sich auf. Die Kinder trennen sich freiwillig, bilden allein oder zu zweit Inseln unter den alten Bäumen und gehen so einsamen Beschäftigungen nach, wie ich es den ganzen Tag lang tue, pflanzen Steinchen in den Sand oder schreiben darin mit einem Stöckchen.
Jetzt lassen wir diese Häuser hinter uns, wir kommen an einer Fabrik mit vernagelten Fenstern vorbei, an einem Holzhandel, dessen hohes Tor für die Nacht abgeschlossen ist. Dann zieht sich die Stadt zurück und zerfällt in ein Durcheinander aus Schuppen und kleinen Schrottplätzen, der Bürgersteig verendet, und wir gehen auf einem Sandweg weiter, mit Kletten, Wegerich und namenlosem, niedrigem Unkraut ringsum. Wir betreten ein leeres Grundstück, eigentlich so etwas wie ein Park, denn Abfälle werden weggeräumt und es gibt eine Bank, in deren Lehne eine Bohle fehlt, einen Platz, um sich hinzusetzen und aufs Wasser zu schauen. Das am Abend meistens grau ist, unter einem leicht bedeckten Himmel, keine Sonnenuntergänge, der Horizont verschwommen. Ein ganz leises Plätschern auf den Steinen am Ufer. Ein Stück weiter, zur Stadtmitte hin, ist ein Sandstrand, eine Wasserrutsche, Bojen, die um den geschützten Badebereich tanzen, der wacklige Thron eines Bademeisters. Auch ein lang-gestreckter dunkelgrüner Bau wie eine überdachte Veranda, er heißt Der Pavillon und ist sonntags voller Farmer und ihrer Frauen in ihrem steifen Staat. Das ist der Teil der Stadt, den wir früher kannten, als wir in Dungannon wohnten und im Sommer drei oder vier Mal hierherkamen, an den See. Dieser Teil und die Docks, zu denen wir gingen, um die schlingernden Getreideschiffe zu betrachten, so uralt und verrostet, dass wir uns fragten, wie sie es am Wellenbrecher vorbeischafften, geschweige denn bis nach Fort William.
Landstreicher lungern an den Docks herum, und gelegentlich stiefeln sie an diesen Abenden am Strand entlang, klettern dann, sich an verdorrtem Gesträuch festhaltend, den veränderlichen, riskanten Pfad hoch, den Jungs gebahnt haben, und sagen etwas zu meinem Vater, das ich, da ich mich vor Landstreichern fürchte, vor lauter Angst nicht mitbekomme. Mein Vater sagt, dass er selbst knapp bei Kasse ist. »Ich kann Ihnen eine Zigarette drehen, wenn Ihnen das was nützt«, sagt er, und er schüttet behutsam Tabak auf ein hauchdünnes Blättchen, leckt es an, klebt es zu und gibt es dem Landstreicher, der es nimmt und weitergeht. Mein Vater dreht auch für sich eine Zigarette und raucht sie.
Er erzählt mir, wie die Großen Seen entstanden sind. Überall, wo jetzt der Huron-See ist, sagt er, war früher flaches Land, eine weite, flache Ebene. Dann kam das Eis, kroch aus dem Norden herunter und schob sich weit vor in die tiefer gelegenen Stellen. So - er demonstriert es und drückt seine Hand mit gespreizten Fingern auf den harten Boden, auf dem wir sitzen. Seine Finger hinterlassen kaum einen Abdruck, und er sagt: »Na ja, in der guten alten Polkappe steckte eben wesentlich mehr Kraft als in meiner Hand.« Und dann ging das Eis zurück, zog sich zum Nordpol zurück, von dem es gekommen war, hinterließ seine Eisfinger in den Senken, die es sich gegraben hatte, deren Eis wurde zu Seen, und da sind sie also jetzt. Sie sind jung, zeitlich gesehen. Ich versuche, diese Ebene vor mir zu sehen, Dinosaurier, die herumspazieren, aber ich kann mir nicht einmal das Seeufer vorstellen, als die Indianer hier lebten, vor Tuppertown. Der winzige Anteil, den wir an der Zeit haben, erschreckt mich, auch wenn mein Vater ihn mit Gelassenheit zu betrachten scheint. Sogar mein Vater, der mir manchmal so vorkommt, als sei er von Anbeginn der Welt in ihr zu Hause, hat in Wirklichkeit nur ein klein bisschen länger gelebt als ich, im Vergleich zur Gesamtheit des Lebens auf der Erde. Er hat ebenso wenig wie ich eine Zeit gekannt, in der es noch keine Automobile und kein elektrisches Licht gab. Er war noch nicht am Leben, als dieses Jahrhundert begann. Ich werde kaum noch am Leben sein - alt, uralt -, wenn es endet. Ich mag nicht daran denken. Ich wünsche mir, dass der See immer nur ein See bleibt, mit seinen Bojen, dem Wellenbrecher und den Lichtern von Tuppertown.
Mein Vater arbeitet als Vertreter für Walker Brothers. Das ist eine Firma, die fast ausschließlich auf dem Lande verkauft, im Hinterland. Sunshine, Boylesbridge, Turnaround - das gehört alles zu seinem Gebiet. Dungannon, wo wir früher gewohnt haben, nicht, Dungannon liegt zu nah bei der Stadt, und dafür ist meine Mutter dankbar. Er verkauft Hustensaft, Eisentinktur, Hühneraugenpflaster, Abführmittel, Tabletten gegen Frauenbeschwerden, Mundwasser, Shampoo, Einreibemittel, Heilsalben, Zitronen-, Apfelsinen- und Himbeersirup für Erfrischungsgetränke, Vanille, Speisefarben, schwarzen und grünen Tee, Ingwer, Nelken und andere Gewürze, Rattengift. Er hat ein Liedchen darüber gemacht, mit folgenden beiden Zeilen:
Furunkel, Kropf und Wespenstich, Die Kur für all das hab nur ich. Kein sehr komisches Lied, fand meine Mutter. Das Lied eines Hausierers, und genau das ist er, ein Hausierer, der an die Küchentüren von Hinterwäldlern klopft. Bis zum letzten Winter hatten wir unser eigenes Unternehmen, eine Fuchsfarm. Mein Vater züchtete Silberfüchse und verkaufte ihre Felle an Leute, die daraus Mäntel, Stolen und Muffe anfertigten. Die Preise fielen, mein Vater machte weiter und hoffte, dass sie im nächsten Jahr wieder stiegen, aber sie fielen weiter, und er machte noch ein Jahr weiter und noch eins, und schließlich war es nicht mehr möglich, weiterzumachen, wir schuldeten alles der Futtermittelfirma. Ich habe meine Mutter das mehrere Male Mrs. Oliphant erklären hören, die einzige Nachbarin, mit der sie redet. (Mrs. Oliphant war auch einmal etwas Besseres, eine Lehrerin, die dann den Pedell heiratete.) Wir gaben alles hinein, was wir hatten, sagt meine Mutter, und es ist uns nichts geblieben. Viele Menschen könnten das in diesen Zeiten sagen, aber meine Mutter hat keine Augen für die nationale Katastrophe, nur für unsere. Das Schicksal hat uns in eine Straße der armen Leute verschlagen (es spielt keine Rolle, dass wir auch davor schon arm waren, das war eine andere Art von Armut), und sie kann das nur auf ihre Weise hinnehmen, mit Würde, verbittert, unversöhnlich. Kein Badezimmer mit löwenfüßiger Badewanne und Wasserklosett wird sie darüber hinwegtrösten, nicht das fließende Wasser aus dem Hahn, der Bürgersteig vor dem Haus und die Milch in Flaschen, nicht einmal die beiden Kinos, das Restaurant Venus und die prächtige Woolworth-Filiale, wo in von Ventilatoren gekühlten Ecken richtige Vögel singen und in grünen Aquarien Fische schwimmen, so winzig wie Fingernägel und so leuchtend wie Monde. Meine Mutter kümmert das nicht.
Nachmittags geht sie oft ins Lebensmittelgeschäft Simon und nimmt mich mit, damit ich ihr tragen helfe. Sie hat ein gutes Kleid an, marineblau mit Blümchen, hauchdünn, über einem marineblauen Unterkleid. Auch einen Sommerhut aus weißem Stroh, ein wenig schräg, und weiße Schuhe, die ich gerade erst auf der Hintertreppe auf einer Zeitung geweißt habe. Ich bin frisch frisiert, meine Haare sind zu feuchten Locken aufgedreht, die sich in der trockenen Luft hoffentlich bald auflösen werden, auf meinem Kopf sitzt eine große, steife Haarschleife. Es ist völlig anders als ein Spaziergang mit meinem Vater nach dem Abendbrot. Wir sind noch nicht an zwei Häusern vorbeigegangen, und schon habe ich das Gefühl, dass wir die Zielscheibe des allgemeinen Spotts sind. Sogar die Schimpfwörter, die mit Kreide auf den Bürgersteig gekritzelt worden sind, lachen uns aus. Meine Mutter scheint das nicht zu bemerken. Sie schreitet gemessen wie eine Dame zu ihren Einkäufen, wie eine feine Dame, vorbei an den Hausfrauen in weiten Kleidern ohne Gürtel, aber dafür mit Löchern unter den Armen. Mit mir, ihrem Geschöpf, scheußliche Locken und protzige Haarschleife, sauber gewaschene Knie und weiße Söckchen - all das, was ich nicht sein will. Ich hasse sogar meinen Namen, wenn sie ihn öffentlich ausspricht, mit hoher, stolzer, weit tragender Stimme, die sich absichtlich von den Stimmen aller anderen Mütter auf der Straße abhebt.
Meine Mutter bringt manchmal als besondere Leckerei eine Schachtel Eiscreme mit - blasses Fürst-Pückler-Eis; und weil wir keinen Kühlschrank im Haus haben, wecken wir meinen Bruder auf und verspeisen es sofort im Esszimmer, in das kaum Licht fällt, weil das Nachbarhaus so dicht daneben steht. Ich löffle mein Eis bedachtsam, hebe mir die Schokolade bis zum Schluss auf und hoffe, dass ich noch etwas übrig haben werde, wenn der Teller meines Bruders leer ist. Meine Mutter versucht dann, sich wieder so mit mir zu unterhalten wie damals in Dungannon und kehrt zu unserer allerersten, geruhsamsten Zeit zurück, bevor mein Bruder geboren wurde, als sie mir ein bisschen Tee mit viel Milch in einer Tasse wie der ihren gab und wir draußen auf den Stufen saßen, mit Blick auf die Pumpe, den Fliederbusch und die Fuchskäfige dahinter. Sie kann nicht anders, sie muss immer wieder von dieser Zeit reden. »Weißt du noch, wie wir dich auf deinen Schlitten gesetzt haben und Major dich gezogen hat?« (Major war unser Hund, den wir bei Nachbarn lassen mussten, als wir wegzogen.) »Erinnerst du dich noch an deine Sandkiste draußen vor dem Küchenfenster?« Ich tue so, als könnte ich mich kaum noch an etwas erinnern, auf der Hut davor, mich in die Falle der Zuneigung oder irgendeines anderen unerträglichen Gefühls locken zu lassen.
Meine Mutter hat häufig Kopfschmerzen. Sie muss sich oft hinlegen. Sie legt sich auf das schmale Bett meines Bruders in dem kleinen, schattigen Wintergarten mit den dichten Zweigen darüber. »Ich schaue in den Baum hoch und bilde mir ein, ich bin zu Hause«, sagt sie.
»Was du brauchst«, sagt mein Vater zu ihr, »das ist frische Luft und eine Fahrt aufs Land.« Er meint, sie soll ihn auf seiner Walker Brothers-Tour begleiten.
Das entspricht nicht der Vorstellung meiner Mutter von einer Fahrt aufs Land.
»Kann ich mitkommen?«
»Deine Mutter braucht dich vielleicht zur Anprobe.«
»Nähen geht heute Nachmittag über meine Kräfte«, sagt meine Mutter.
»Dann nehme ich sie mit. Ich nehme beide mit, dann kannst du dich ausruhen.«
Was haben wir an uns, dass man sich von uns ausruhen muss? Egal. Ich bin schon froh, dass ich meinen Bruder finde, ihn dazu bringe, auf die Toilette zu gehen, und uns beide ins Auto verfrachte, unsere Knie ungewaschen, meine Haare ungelockt. Mein Vater holt die zwei schweren braunen Koffer mit den vielen Flaschen aus dem Haus und legt sie auf den Rücksitz. Er trägt ein weißes Hemd, das in der Sonne leuchtet, eine Krawatte, eine helle Hose, die zu seinem Sommeranzug gehört (sein anderer Anzug ist schwarz, für Beerdigungen, und gehörte meinem verstorbenen Onkel) und einen cremefarbenen Strohhut. Seine Vertreterkleidung, mit Stiften in der Brusttasche. Er geht noch einmal zurück, wahrscheinlich, um sich von meiner Mutter zu verabschieden, sie zu fragen, ob sie bestimmt nicht mitkommen will, und sie sagen zu hören: »Nein. Nein, danke, es ist besser für mich, einfach hier mit geschlossenen Augen zu liegen.« Dann fahren wir vom Hof mit einer kleinen Hoffnung auf Abenteuer, die uns über den Huckel kurz vor der Straße hinwegträgt, die heiße Luft beginnt sich zu bewegen, verwandelt sich in eine Brise, die Häuser werden allmählich fremder, während mein Vater eine Abkürzung nimmt, den schnellen Weg aus der Stadt hinaus. Doch was erwartet uns den ganzen Nachmittag lang außer heiße Stunden auf den Höfen armseliger Farmen, vielleicht ein Halt vor einem Dorfladen und drei Tüten Eiscreme oder drei Flaschen Limo und die Lieder, die mein Vater singt? Er hat auch eines über sich selbst gemacht, es hat sogar einen Titel, »Der Walker Brothers-Cowboy«, und so fängt es an:
Der gute, alte Freddy Fields, er hat den Tod gefunden, Jetzt reite ich von Hof zu Hof und drehe seine Runden.
Wer ist Freddy Fields? Auf alle Fälle der Mann, dessen Stelle er jetzt einnimmt und der also tatsächlich tot ist; doch die Stimme meines Vaters klingt traurig-fröhlich und macht aus seinem Tod etwas Ulkiges, ein komisches Missgeschick. »Wär ich doch wieder am Rio Grande, stapfte durch den dunklen Sand.« Mein Vater singt fast ständig, wenn er Auto fährt. Sogar jetzt, während wir aus der Stadt hinausfahren, die Brücke überqueren und in der engen Kurve auf den Highway einbiegen, summt er etwas vor sich hin, nur ein paar Takte, probiert etwas aus für ein neues Lied, denn auf dem Highway kommen wir gleich an dem Baptisten-Lager vorbei, dem Bibel-Ferienlager, und er legt los:
Wo sind die Baptisten, wo sind die Baptisten, wo sind die Baptisten alle hin?
Tauchen tief ins Wasser, ins Huron-See -Wasser, lassen ihre Sünden alle drin.
Mein Bruder nimmt das für die blanke Wahrheit, kniet sich auf und späht hinunter zum See. »Ich sehe keine Baptisten«, sagt er vorwurfsvoll. »Ich auch nicht, mein Sohn«, erwidert mein Vater. »Ich hab dir ja gesagt, sie tauchen tief in den See.«
Keine gepflasterten Straßen mehr, als wir den Highway verlassen. Wir müssen die Fenster wegen des Staubs hochkurbeln. Das Land ist eben, verdorrt, leer. Baumgruppen hinten auf den Farmen versprechen Schatten, schwarzen Föhrenschatten wie Teiche, die unerreichbar sind. Wir holpern über einen langen Feldweg, und was könnte an dessen Ende abweisender, verlassener aussehen als das hohe, ungestrichene Farmhaus mit Gras, das ungemäht bis zur Haustür wächst, grünen heruntergelassenen Rouleaus und einer Tür im Obergeschoss, die sich ins Nichts öffnet? Viele Häuser haben diese Tür, und ich habe nie herausfinden können, wozu. Ich frage meinen Vater, und er sagt, sie sind für Schlafwandler da. Was? Na ja, wenn ein Schlafwandler mal eben vor die Tür gehen will. Ich bin gekränkt, habe zu spät gemerkt, dass er wie üblich Witze macht, aber mein Bruder sagt unerschüttert: »Wenn er das täte, würde er sich den Hals brechen.«
Die dreißiger Jahre. Wie sehr gehören doch diese Art von Farmhaus, diese Art von Nachmittag für mich zu jenem Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, ebenso wie der Hut meines Vaters, sein breiter, bunter Schlips und unser Auto mit seinen breiten Trittbrettern (ein Essex, der seine beste Zeit lange hinter sich hatte). Ähnliche Autos, viele älter, keines staubiger, stehen auf den Höfen. Einige sind nur noch Schrott, haben keine Türen mehr, und ihre Sitze sind ausgebaut worden, um auf der Veranda benutzt zu werden. Kein lebendes Wesen ist zu sehen, keine Hühner, kein Vieh. Nur Hunde. Sie liegen in jedem Fleckchen Schatten, das sie finden können, und träumen, ihre mageren Flanken heben und senken sich rasch. Sie springen auf, wenn mein Vater die Autotür aufmacht, und er muss mit ihnen reden. »Feiner Hund, braver Hund, so ist's gut.« Sie beruhigen sich, kehren in ihren Schatten zurück. Er muss schließlich wissen, wie man Tiere beruhigt, er hat tobende Füchse mit einer Zange am Hals festgehalten. Eine besänftigende Stimme für die Hunde und eine andere aufmunternde, fröhliche für den Hausbesuch. »Hallo, Missus, hier ist der Mann von Walker Brothers, wo fehlt's denn heute?« Eine Tür geht auf, er verschwindet. Es ist uns verboten, ihm zu folgen oder auch nur aus dem Auto zu steigen, wir können bloß warten und rätseln, was er wohl sagt. Manchmal versucht er meine Mutter zum Lachen zu bringen, indem er so tut, als sitze er in einer Farmküche und breite seinen Musterkoffer aus. »Also, Missus, werden sie von Schmarotzern geplagt? Ich meine die Köpfe ihrer Kinder. Diese kleinen Krabbeltierchen, die wir aus Höflichkeit nicht nennen und die auf den Köpfen der besten Familien zu finden sind. Seife alleine hilft nichts, Benzin ist kein sehr hübsches Parfüm, aber ich habe hier ... « Oder auch: »Glauben Sie mir, wer so wie ich den ganzen Tag lang im Auto sitzt, der kennt den Wert dieser feinen Pillen. Natürliche Erleichterung. Ein Problem, das auch alte Leutchen kennen, sobald ihre aktive Zeit vorbei ist ... Wie steht's bei Ihnen, Oma?« Dann wedelte er meiner Mutter mit einer imaginären Pillenschachtel vor der Nase herum, und sie musste schließlich unfreiwillig lachen. »Er sagt das doch nicht wirklich?«, fragte ich, und sie sagte, natürlich nicht, dazu ist er viel zu gut erzogen.
Ein Hof nach dem anderen also, alte Autos, Pumpen, Hunde, Ausblicke auf graue Scheunen, zerfallende Ställe und stillstehende Windmühlen. Falls die Männer auf den Feldern arbeiten, dann nicht auf Feldern, die wir sehen können. Die Kinder sind weit fort, folgen ausgetrockneten Bachbetten oder suchen Brombeeren, oder sie verstecken sich im Haus, beobachten uns durch einen Spalt im Rouleau. Der Autositz ist von unserem Schweiß glitschig geworden. Du traust dich nicht, auf die Hupe zu drücken, stachle ich meinen Bruder auf, weil ich eigentlich selbst hupen möchte, aber nicht die Schimpfe dafür kriegen will. Er durchschaut mich. Wir spielen »Ich sehe was, was du nicht siehst«, aber es fällt schwer, viele Farben zu finden. Grau für die Scheunen, Ställe, Toiletten und Häuser, Braun für den Hof und die Felder, Schwarz und Braun für die Hunde. Die verrostenden Autos haben bunt schimmernde Stellen, in denen ich ein bisschen Rot oder Grün suche; genauso suche ich auch auf den Türen nach abblätternder alter blauer oder gelber Farbe. Wir können nicht mit Buchstaben spielen, was besser wäre, denn mein Bruder kennt sie noch nicht. Das Spiel zerfällt ohnehin. Er behauptet, meine Farben seien ungerecht, und will außer der Reihe drankommen.
In einem Haus geht keine Tür auf, obwohl das Auto im Hof steht. Mein Vater klopft, pfeift und ruft: »Hallo! Hier ist der Mann von Walker Brothers!«, aber von nirgendwo kommt Antwort. Dieses Haus hat keine Veranda, nur einen kahlen, abschüssigen Betonsockel, auf dem mein Vater steht. Er dreht sich um, schaut umher, auch zur Scheune, deren Heuboden leer sein muss, weil man von unten den Himmel sehen kann, und beugt sich schließlich vor, um seine Koffer zu nehmen. Genau in diesem Augenblick geht oben ein Fenster auf, ein weißer Topf erscheint über dem Fensterbrett, wird ausgekippt, und sein Inhalt ergießt sich entlang der Wand. Das Fenster ist nicht direkt über dem Kopf meines Vaters, also bekommt er nur ein paar Spritzer ab. Er hebt seine Koffer auf, ohne besondere Eile, und kommt ohne zu pfeifen zum Auto. »Weißt du, was das war?«, frage ich meinen Bruder. »Pipi.« Er lacht sich schief.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Nach dem Abendbrot sagt mein Vater: »Magst du runtergehen und nachschauen, ob der See noch da ist?« Wir lassen meine Mutter unter der Esszimmerlampe nähen, Sachen für mich zum Schulanfang. Sie hat dafür ein altes Kostüm und ein altes kariertes Wollkleid von sich aufgetrennt, sie muss sehr geschickt zurechtschneiden und zusammenheften, und ich muss für endlose Anproben dastehen und mich umdrehen, die warme Wolle juckt, ich schwitze und bin undankbar. Wir lassen meinen Bruder im Bett in dem kleinen Wintergarten auf der vorderen Veranda, und manchmal kniet er auf seinem Bett, presst das Gesicht ans Fliegengitter und ruft traurig: »Bring mir eine Eistüte mit!«, aber ich rufe zurück: »Dann schläfst du schon«, und drehe nicht mal den Kopf um.
Dann gehen mein Vater und ich gemächlich eine lange, ärmliche Straße entlang. Silverwoods Ice Cream-Schilder stehen auf dem Bürgersteig vor winzigen, erleuchteten Geschäften. Wir sind in Tuppertown, einem alten Getreidehafen am Huron-See. Die Straße ist an manchen Stellen schattig, da, wo Ahornbäume wachsen, deren Wurzeln den Bürgersteig aufgeworfen und gesprengt haben und sich wie Krokodile in die kahlen Vorgärten hinstrecken. Leute sitzen draußen, Männer in Hemdsärmeln oder Unterhemden und Frauen in Kittelschürzen - keine Leute, die wir kennen, aber wenn jemand uns zunickt und »Warmer Abend« sagt, dann nickt mein Vater auch und erwidert etwas in derselben Art. Kinder spielen noch. Die kenne ich auch nicht, denn meine Mutter lässt meinen Bruder und mich nur in unserem Garten spielen, sie sagt, er ist noch zu klein für draußen und ich muss auf ihn aufpassen. Es macht mich gar nicht besonders traurig, ihren abendlichen Spielen zuzusehen, denn diese Spiele sind zerfasert, lösen sich auf. Die Kinder trennen sich freiwillig, bilden allein oder zu zweit Inseln unter den alten Bäumen und gehen so einsamen Beschäftigungen nach, wie ich es den ganzen Tag lang tue, pflanzen Steinchen in den Sand oder schreiben darin mit einem Stöckchen.
Jetzt lassen wir diese Häuser hinter uns, wir kommen an einer Fabrik mit vernagelten Fenstern vorbei, an einem Holzhandel, dessen hohes Tor für die Nacht abgeschlossen ist. Dann zieht sich die Stadt zurück und zerfällt in ein Durcheinander aus Schuppen und kleinen Schrottplätzen, der Bürgersteig verendet, und wir gehen auf einem Sandweg weiter, mit Kletten, Wegerich und namenlosem, niedrigem Unkraut ringsum. Wir betreten ein leeres Grundstück, eigentlich so etwas wie ein Park, denn Abfälle werden weggeräumt und es gibt eine Bank, in deren Lehne eine Bohle fehlt, einen Platz, um sich hinzusetzen und aufs Wasser zu schauen. Das am Abend meistens grau ist, unter einem leicht bedeckten Himmel, keine Sonnenuntergänge, der Horizont verschwommen. Ein ganz leises Plätschern auf den Steinen am Ufer. Ein Stück weiter, zur Stadtmitte hin, ist ein Sandstrand, eine Wasserrutsche, Bojen, die um den geschützten Badebereich tanzen, der wacklige Thron eines Bademeisters. Auch ein lang-gestreckter dunkelgrüner Bau wie eine überdachte Veranda, er heißt Der Pavillon und ist sonntags voller Farmer und ihrer Frauen in ihrem steifen Staat. Das ist der Teil der Stadt, den wir früher kannten, als wir in Dungannon wohnten und im Sommer drei oder vier Mal hierherkamen, an den See. Dieser Teil und die Docks, zu denen wir gingen, um die schlingernden Getreideschiffe zu betrachten, so uralt und verrostet, dass wir uns fragten, wie sie es am Wellenbrecher vorbeischafften, geschweige denn bis nach Fort William.
Landstreicher lungern an den Docks herum, und gelegentlich stiefeln sie an diesen Abenden am Strand entlang, klettern dann, sich an verdorrtem Gesträuch festhaltend, den veränderlichen, riskanten Pfad hoch, den Jungs gebahnt haben, und sagen etwas zu meinem Vater, das ich, da ich mich vor Landstreichern fürchte, vor lauter Angst nicht mitbekomme. Mein Vater sagt, dass er selbst knapp bei Kasse ist. »Ich kann Ihnen eine Zigarette drehen, wenn Ihnen das was nützt«, sagt er, und er schüttet behutsam Tabak auf ein hauchdünnes Blättchen, leckt es an, klebt es zu und gibt es dem Landstreicher, der es nimmt und weitergeht. Mein Vater dreht auch für sich eine Zigarette und raucht sie.
Er erzählt mir, wie die Großen Seen entstanden sind. Überall, wo jetzt der Huron-See ist, sagt er, war früher flaches Land, eine weite, flache Ebene. Dann kam das Eis, kroch aus dem Norden herunter und schob sich weit vor in die tiefer gelegenen Stellen. So - er demonstriert es und drückt seine Hand mit gespreizten Fingern auf den harten Boden, auf dem wir sitzen. Seine Finger hinterlassen kaum einen Abdruck, und er sagt: »Na ja, in der guten alten Polkappe steckte eben wesentlich mehr Kraft als in meiner Hand.« Und dann ging das Eis zurück, zog sich zum Nordpol zurück, von dem es gekommen war, hinterließ seine Eisfinger in den Senken, die es sich gegraben hatte, deren Eis wurde zu Seen, und da sind sie also jetzt. Sie sind jung, zeitlich gesehen. Ich versuche, diese Ebene vor mir zu sehen, Dinosaurier, die herumspazieren, aber ich kann mir nicht einmal das Seeufer vorstellen, als die Indianer hier lebten, vor Tuppertown. Der winzige Anteil, den wir an der Zeit haben, erschreckt mich, auch wenn mein Vater ihn mit Gelassenheit zu betrachten scheint. Sogar mein Vater, der mir manchmal so vorkommt, als sei er von Anbeginn der Welt in ihr zu Hause, hat in Wirklichkeit nur ein klein bisschen länger gelebt als ich, im Vergleich zur Gesamtheit des Lebens auf der Erde. Er hat ebenso wenig wie ich eine Zeit gekannt, in der es noch keine Automobile und kein elektrisches Licht gab. Er war noch nicht am Leben, als dieses Jahrhundert begann. Ich werde kaum noch am Leben sein - alt, uralt -, wenn es endet. Ich mag nicht daran denken. Ich wünsche mir, dass der See immer nur ein See bleibt, mit seinen Bojen, dem Wellenbrecher und den Lichtern von Tuppertown.
Mein Vater arbeitet als Vertreter für Walker Brothers. Das ist eine Firma, die fast ausschließlich auf dem Lande verkauft, im Hinterland. Sunshine, Boylesbridge, Turnaround - das gehört alles zu seinem Gebiet. Dungannon, wo wir früher gewohnt haben, nicht, Dungannon liegt zu nah bei der Stadt, und dafür ist meine Mutter dankbar. Er verkauft Hustensaft, Eisentinktur, Hühneraugenpflaster, Abführmittel, Tabletten gegen Frauenbeschwerden, Mundwasser, Shampoo, Einreibemittel, Heilsalben, Zitronen-, Apfelsinen- und Himbeersirup für Erfrischungsgetränke, Vanille, Speisefarben, schwarzen und grünen Tee, Ingwer, Nelken und andere Gewürze, Rattengift. Er hat ein Liedchen darüber gemacht, mit folgenden beiden Zeilen:
Furunkel, Kropf und Wespenstich, Die Kur für all das hab nur ich. Kein sehr komisches Lied, fand meine Mutter. Das Lied eines Hausierers, und genau das ist er, ein Hausierer, der an die Küchentüren von Hinterwäldlern klopft. Bis zum letzten Winter hatten wir unser eigenes Unternehmen, eine Fuchsfarm. Mein Vater züchtete Silberfüchse und verkaufte ihre Felle an Leute, die daraus Mäntel, Stolen und Muffe anfertigten. Die Preise fielen, mein Vater machte weiter und hoffte, dass sie im nächsten Jahr wieder stiegen, aber sie fielen weiter, und er machte noch ein Jahr weiter und noch eins, und schließlich war es nicht mehr möglich, weiterzumachen, wir schuldeten alles der Futtermittelfirma. Ich habe meine Mutter das mehrere Male Mrs. Oliphant erklären hören, die einzige Nachbarin, mit der sie redet. (Mrs. Oliphant war auch einmal etwas Besseres, eine Lehrerin, die dann den Pedell heiratete.) Wir gaben alles hinein, was wir hatten, sagt meine Mutter, und es ist uns nichts geblieben. Viele Menschen könnten das in diesen Zeiten sagen, aber meine Mutter hat keine Augen für die nationale Katastrophe, nur für unsere. Das Schicksal hat uns in eine Straße der armen Leute verschlagen (es spielt keine Rolle, dass wir auch davor schon arm waren, das war eine andere Art von Armut), und sie kann das nur auf ihre Weise hinnehmen, mit Würde, verbittert, unversöhnlich. Kein Badezimmer mit löwenfüßiger Badewanne und Wasserklosett wird sie darüber hinwegtrösten, nicht das fließende Wasser aus dem Hahn, der Bürgersteig vor dem Haus und die Milch in Flaschen, nicht einmal die beiden Kinos, das Restaurant Venus und die prächtige Woolworth-Filiale, wo in von Ventilatoren gekühlten Ecken richtige Vögel singen und in grünen Aquarien Fische schwimmen, so winzig wie Fingernägel und so leuchtend wie Monde. Meine Mutter kümmert das nicht.
Nachmittags geht sie oft ins Lebensmittelgeschäft Simon und nimmt mich mit, damit ich ihr tragen helfe. Sie hat ein gutes Kleid an, marineblau mit Blümchen, hauchdünn, über einem marineblauen Unterkleid. Auch einen Sommerhut aus weißem Stroh, ein wenig schräg, und weiße Schuhe, die ich gerade erst auf der Hintertreppe auf einer Zeitung geweißt habe. Ich bin frisch frisiert, meine Haare sind zu feuchten Locken aufgedreht, die sich in der trockenen Luft hoffentlich bald auflösen werden, auf meinem Kopf sitzt eine große, steife Haarschleife. Es ist völlig anders als ein Spaziergang mit meinem Vater nach dem Abendbrot. Wir sind noch nicht an zwei Häusern vorbeigegangen, und schon habe ich das Gefühl, dass wir die Zielscheibe des allgemeinen Spotts sind. Sogar die Schimpfwörter, die mit Kreide auf den Bürgersteig gekritzelt worden sind, lachen uns aus. Meine Mutter scheint das nicht zu bemerken. Sie schreitet gemessen wie eine Dame zu ihren Einkäufen, wie eine feine Dame, vorbei an den Hausfrauen in weiten Kleidern ohne Gürtel, aber dafür mit Löchern unter den Armen. Mit mir, ihrem Geschöpf, scheußliche Locken und protzige Haarschleife, sauber gewaschene Knie und weiße Söckchen - all das, was ich nicht sein will. Ich hasse sogar meinen Namen, wenn sie ihn öffentlich ausspricht, mit hoher, stolzer, weit tragender Stimme, die sich absichtlich von den Stimmen aller anderen Mütter auf der Straße abhebt.
Meine Mutter bringt manchmal als besondere Leckerei eine Schachtel Eiscreme mit - blasses Fürst-Pückler-Eis; und weil wir keinen Kühlschrank im Haus haben, wecken wir meinen Bruder auf und verspeisen es sofort im Esszimmer, in das kaum Licht fällt, weil das Nachbarhaus so dicht daneben steht. Ich löffle mein Eis bedachtsam, hebe mir die Schokolade bis zum Schluss auf und hoffe, dass ich noch etwas übrig haben werde, wenn der Teller meines Bruders leer ist. Meine Mutter versucht dann, sich wieder so mit mir zu unterhalten wie damals in Dungannon und kehrt zu unserer allerersten, geruhsamsten Zeit zurück, bevor mein Bruder geboren wurde, als sie mir ein bisschen Tee mit viel Milch in einer Tasse wie der ihren gab und wir draußen auf den Stufen saßen, mit Blick auf die Pumpe, den Fliederbusch und die Fuchskäfige dahinter. Sie kann nicht anders, sie muss immer wieder von dieser Zeit reden. »Weißt du noch, wie wir dich auf deinen Schlitten gesetzt haben und Major dich gezogen hat?« (Major war unser Hund, den wir bei Nachbarn lassen mussten, als wir wegzogen.) »Erinnerst du dich noch an deine Sandkiste draußen vor dem Küchenfenster?« Ich tue so, als könnte ich mich kaum noch an etwas erinnern, auf der Hut davor, mich in die Falle der Zuneigung oder irgendeines anderen unerträglichen Gefühls locken zu lassen.
Meine Mutter hat häufig Kopfschmerzen. Sie muss sich oft hinlegen. Sie legt sich auf das schmale Bett meines Bruders in dem kleinen, schattigen Wintergarten mit den dichten Zweigen darüber. »Ich schaue in den Baum hoch und bilde mir ein, ich bin zu Hause«, sagt sie.
»Was du brauchst«, sagt mein Vater zu ihr, »das ist frische Luft und eine Fahrt aufs Land.« Er meint, sie soll ihn auf seiner Walker Brothers-Tour begleiten.
Das entspricht nicht der Vorstellung meiner Mutter von einer Fahrt aufs Land.
»Kann ich mitkommen?«
»Deine Mutter braucht dich vielleicht zur Anprobe.«
»Nähen geht heute Nachmittag über meine Kräfte«, sagt meine Mutter.
»Dann nehme ich sie mit. Ich nehme beide mit, dann kannst du dich ausruhen.«
Was haben wir an uns, dass man sich von uns ausruhen muss? Egal. Ich bin schon froh, dass ich meinen Bruder finde, ihn dazu bringe, auf die Toilette zu gehen, und uns beide ins Auto verfrachte, unsere Knie ungewaschen, meine Haare ungelockt. Mein Vater holt die zwei schweren braunen Koffer mit den vielen Flaschen aus dem Haus und legt sie auf den Rücksitz. Er trägt ein weißes Hemd, das in der Sonne leuchtet, eine Krawatte, eine helle Hose, die zu seinem Sommeranzug gehört (sein anderer Anzug ist schwarz, für Beerdigungen, und gehörte meinem verstorbenen Onkel) und einen cremefarbenen Strohhut. Seine Vertreterkleidung, mit Stiften in der Brusttasche. Er geht noch einmal zurück, wahrscheinlich, um sich von meiner Mutter zu verabschieden, sie zu fragen, ob sie bestimmt nicht mitkommen will, und sie sagen zu hören: »Nein. Nein, danke, es ist besser für mich, einfach hier mit geschlossenen Augen zu liegen.« Dann fahren wir vom Hof mit einer kleinen Hoffnung auf Abenteuer, die uns über den Huckel kurz vor der Straße hinwegträgt, die heiße Luft beginnt sich zu bewegen, verwandelt sich in eine Brise, die Häuser werden allmählich fremder, während mein Vater eine Abkürzung nimmt, den schnellen Weg aus der Stadt hinaus. Doch was erwartet uns den ganzen Nachmittag lang außer heiße Stunden auf den Höfen armseliger Farmen, vielleicht ein Halt vor einem Dorfladen und drei Tüten Eiscreme oder drei Flaschen Limo und die Lieder, die mein Vater singt? Er hat auch eines über sich selbst gemacht, es hat sogar einen Titel, »Der Walker Brothers-Cowboy«, und so fängt es an:
Der gute, alte Freddy Fields, er hat den Tod gefunden, Jetzt reite ich von Hof zu Hof und drehe seine Runden.
Wer ist Freddy Fields? Auf alle Fälle der Mann, dessen Stelle er jetzt einnimmt und der also tatsächlich tot ist; doch die Stimme meines Vaters klingt traurig-fröhlich und macht aus seinem Tod etwas Ulkiges, ein komisches Missgeschick. »Wär ich doch wieder am Rio Grande, stapfte durch den dunklen Sand.« Mein Vater singt fast ständig, wenn er Auto fährt. Sogar jetzt, während wir aus der Stadt hinausfahren, die Brücke überqueren und in der engen Kurve auf den Highway einbiegen, summt er etwas vor sich hin, nur ein paar Takte, probiert etwas aus für ein neues Lied, denn auf dem Highway kommen wir gleich an dem Baptisten-Lager vorbei, dem Bibel-Ferienlager, und er legt los:
Wo sind die Baptisten, wo sind die Baptisten, wo sind die Baptisten alle hin?
Tauchen tief ins Wasser, ins Huron-See -Wasser, lassen ihre Sünden alle drin.
Mein Bruder nimmt das für die blanke Wahrheit, kniet sich auf und späht hinunter zum See. »Ich sehe keine Baptisten«, sagt er vorwurfsvoll. »Ich auch nicht, mein Sohn«, erwidert mein Vater. »Ich hab dir ja gesagt, sie tauchen tief in den See.«
Keine gepflasterten Straßen mehr, als wir den Highway verlassen. Wir müssen die Fenster wegen des Staubs hochkurbeln. Das Land ist eben, verdorrt, leer. Baumgruppen hinten auf den Farmen versprechen Schatten, schwarzen Föhrenschatten wie Teiche, die unerreichbar sind. Wir holpern über einen langen Feldweg, und was könnte an dessen Ende abweisender, verlassener aussehen als das hohe, ungestrichene Farmhaus mit Gras, das ungemäht bis zur Haustür wächst, grünen heruntergelassenen Rouleaus und einer Tür im Obergeschoss, die sich ins Nichts öffnet? Viele Häuser haben diese Tür, und ich habe nie herausfinden können, wozu. Ich frage meinen Vater, und er sagt, sie sind für Schlafwandler da. Was? Na ja, wenn ein Schlafwandler mal eben vor die Tür gehen will. Ich bin gekränkt, habe zu spät gemerkt, dass er wie üblich Witze macht, aber mein Bruder sagt unerschüttert: »Wenn er das täte, würde er sich den Hals brechen.«
Die dreißiger Jahre. Wie sehr gehören doch diese Art von Farmhaus, diese Art von Nachmittag für mich zu jenem Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, ebenso wie der Hut meines Vaters, sein breiter, bunter Schlips und unser Auto mit seinen breiten Trittbrettern (ein Essex, der seine beste Zeit lange hinter sich hatte). Ähnliche Autos, viele älter, keines staubiger, stehen auf den Höfen. Einige sind nur noch Schrott, haben keine Türen mehr, und ihre Sitze sind ausgebaut worden, um auf der Veranda benutzt zu werden. Kein lebendes Wesen ist zu sehen, keine Hühner, kein Vieh. Nur Hunde. Sie liegen in jedem Fleckchen Schatten, das sie finden können, und träumen, ihre mageren Flanken heben und senken sich rasch. Sie springen auf, wenn mein Vater die Autotür aufmacht, und er muss mit ihnen reden. »Feiner Hund, braver Hund, so ist's gut.« Sie beruhigen sich, kehren in ihren Schatten zurück. Er muss schließlich wissen, wie man Tiere beruhigt, er hat tobende Füchse mit einer Zange am Hals festgehalten. Eine besänftigende Stimme für die Hunde und eine andere aufmunternde, fröhliche für den Hausbesuch. »Hallo, Missus, hier ist der Mann von Walker Brothers, wo fehlt's denn heute?« Eine Tür geht auf, er verschwindet. Es ist uns verboten, ihm zu folgen oder auch nur aus dem Auto zu steigen, wir können bloß warten und rätseln, was er wohl sagt. Manchmal versucht er meine Mutter zum Lachen zu bringen, indem er so tut, als sitze er in einer Farmküche und breite seinen Musterkoffer aus. »Also, Missus, werden sie von Schmarotzern geplagt? Ich meine die Köpfe ihrer Kinder. Diese kleinen Krabbeltierchen, die wir aus Höflichkeit nicht nennen und die auf den Köpfen der besten Familien zu finden sind. Seife alleine hilft nichts, Benzin ist kein sehr hübsches Parfüm, aber ich habe hier ... « Oder auch: »Glauben Sie mir, wer so wie ich den ganzen Tag lang im Auto sitzt, der kennt den Wert dieser feinen Pillen. Natürliche Erleichterung. Ein Problem, das auch alte Leutchen kennen, sobald ihre aktive Zeit vorbei ist ... Wie steht's bei Ihnen, Oma?« Dann wedelte er meiner Mutter mit einer imaginären Pillenschachtel vor der Nase herum, und sie musste schließlich unfreiwillig lachen. »Er sagt das doch nicht wirklich?«, fragte ich, und sie sagte, natürlich nicht, dazu ist er viel zu gut erzogen.
Ein Hof nach dem anderen also, alte Autos, Pumpen, Hunde, Ausblicke auf graue Scheunen, zerfallende Ställe und stillstehende Windmühlen. Falls die Männer auf den Feldern arbeiten, dann nicht auf Feldern, die wir sehen können. Die Kinder sind weit fort, folgen ausgetrockneten Bachbetten oder suchen Brombeeren, oder sie verstecken sich im Haus, beobachten uns durch einen Spalt im Rouleau. Der Autositz ist von unserem Schweiß glitschig geworden. Du traust dich nicht, auf die Hupe zu drücken, stachle ich meinen Bruder auf, weil ich eigentlich selbst hupen möchte, aber nicht die Schimpfe dafür kriegen will. Er durchschaut mich. Wir spielen »Ich sehe was, was du nicht siehst«, aber es fällt schwer, viele Farben zu finden. Grau für die Scheunen, Ställe, Toiletten und Häuser, Braun für den Hof und die Felder, Schwarz und Braun für die Hunde. Die verrostenden Autos haben bunt schimmernde Stellen, in denen ich ein bisschen Rot oder Grün suche; genauso suche ich auch auf den Türen nach abblätternder alter blauer oder gelber Farbe. Wir können nicht mit Buchstaben spielen, was besser wäre, denn mein Bruder kennt sie noch nicht. Das Spiel zerfällt ohnehin. Er behauptet, meine Farben seien ungerecht, und will außer der Reihe drankommen.
In einem Haus geht keine Tür auf, obwohl das Auto im Hof steht. Mein Vater klopft, pfeift und ruft: »Hallo! Hier ist der Mann von Walker Brothers!«, aber von nirgendwo kommt Antwort. Dieses Haus hat keine Veranda, nur einen kahlen, abschüssigen Betonsockel, auf dem mein Vater steht. Er dreht sich um, schaut umher, auch zur Scheune, deren Heuboden leer sein muss, weil man von unten den Himmel sehen kann, und beugt sich schließlich vor, um seine Koffer zu nehmen. Genau in diesem Augenblick geht oben ein Fenster auf, ein weißer Topf erscheint über dem Fensterbrett, wird ausgekippt, und sein Inhalt ergießt sich entlang der Wand. Das Fenster ist nicht direkt über dem Kopf meines Vaters, also bekommt er nur ein paar Spritzer ab. Er hebt seine Koffer auf, ohne besondere Eile, und kommt ohne zu pfeifen zum Auto. »Weißt du, was das war?«, frage ich meinen Bruder. »Pipi.« Er lacht sich schief.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Ralf Schmitz
Ralf Schmitz, Jahrgang 1974, ist mehrfach ausgezeichneter Comedian und Schauspieler. Bekannt aus den erfolgreichen TV-Serien "Die Dreisten Drei", "Schillerstraße" und "Genial Daneben" überzeugte er auch mit eigenen Formaten wie 'Schmitz komm raus!' oder der Ausstrahlung seiner Live-Programme "Verschmitzt" und "Schmitzophren". Als Zwerg Sunny brillierte er in den beiden preisgekrönten Kinoerfolgen "Sieben Zwerge" mit Otto Waalkes, die über 7 Millionen Zuschauer begeisterten. In den Kinofilmen "Die Konferenz der Tiere", "Kung Fu Panda" oder auch "Ab durch die Hecke" lieh er den tierischen Hauptdarstellern seine Stimme und sang sich mit dem Kinderlied "Shaun das Schaf" an die Spitze der Download-Charts. Ralf Schmitz ist regelmäßiger Gast in TV-Shows und füllt mit über 100 Gastspielen im Jahr die großen Hallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sein 2009 veröffentlichtes Buch "Schmitz' Katze" belegte monatelang die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste und beweist damit, dass er ein wahres Multitalent ist.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ralf Schmitz
- 2011, 7. Aufl., 336 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191106
- ISBN-13: 9783596191109
- Erscheinungsdatum: 07.09.2011
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