Schnee kommt
Roman
Tag für Tag sitzt Ruben in seinem Sessel und starrt aus dem Fenster. Tag für Tag sieht er den Geldtransporter, der vor der Bank gegenüber hält. Eines Tages steht er auf, geht über die Straße, nimmt einen der unbewachten Geldkoffer und macht sich davon - auf...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schnee kommt “
Klappentext zu „Schnee kommt “
Tag für Tag sitzt Ruben in seinem Sessel und starrt aus dem Fenster. Tag für Tag sieht er den Geldtransporter, der vor der Bank gegenüber hält. Eines Tages steht er auf, geht über die Straße, nimmt einen der unbewachten Geldkoffer und macht sich davon - auf in ein neues Leben. Auf seiner Flucht durch die Nacht gerät er in einen Unfall mitten in einem Tunnel. Während draußen der Schnee fällt und die Straßen gesperrt werden, sind im Tunnel fünf Menschen von der Außenwelt abgeschlossen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte, jeder sein dunkles Geheimnis - ein tödliches Drama nimmt seinen Lauf. In seinem Roman 'Schnee kommt' inszeniert Bernhard Aichner ein packendes Kammerspiel menschlicher Abgründe - virtuos komponiert, temporeich und bis zur letzten Seite fesselnd.
Lese-Probe zu „Schnee kommt “
Schnee kommt, Bernhard AichnerValentin
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Sie lag im warmen Wasser.
Ihre Augen weit geöffnet, zu einem Schrei auseinandergerissen,
reglos trieb sie in der Wanne, kleine, unscheinbare
Wellen auf der toten Haut. Ihr Kopf untergetaucht,
die Haare wild durcheinander, das Einzige, was sich noch
bewegte.
Valentins Frau war tot.
Er saß neben der Badewanne mit dem Rücken zu ihr,
er hielt sich die Hände vor sein Gesicht, tat sie nicht weg,
für Stunden. Hinter ihm schwamm sie, unten bei den
Füßen der Fernseher. Den Wannenrand entlang bog sich
das schwarze Kabel, es berührte Valentins nassen Arm,
friedlich jetzt. Verzweifelt hatte er sie hochgezogen, sie
geschüttelt, versucht, ihren Körper aus dem Wasser zu reißen,
sie wieder wach zu machen, mit Händen, mit Schreien,
Tränen. Dann hatte er sie losgelassen, sie war seinem Körper
entlang nach unten gerutscht. Er war über ihr gestanden
und hatte geschrien, er hatte auf die karierten Fliesen
eingeschlagen, nicht nach unten geschaut, auf die Fliesen
eingeschlagen, geschrien, er war aus der Wanne gestiegen,
hatte sich abgewendet, hatte sie losgelassen, sich nicht
mehr umgedreht, geschrien.
Sie lag im warmen Wasser.
Er hielt die Hände vor sein Gesicht. Hinter ihm seine
Braut. Er konnte sich nicht umdrehen, er konnte es nicht,
denn dann würde es für immer sein, wenn er sich umdrehte,
würde sie tot sein, sich nicht mehr bewegen, nur
noch daliegen mit diesen aufgerissenen Augen, nichts mehr
sagen, ihn nicht mehr berühren, ihre Hand nicht mehr
nach ihm ausstrecken. Nichts mehr.
Er spürte, wie sie tot war, er drehte sich nicht um. Er
weinte. Bis das Wasser kalt war, und noch länger, tagelang, Wochen.
Als sie lange schon unter der Erde war, setzte
er sich immer noch vor die Wanne, jeden Tag für Stunden
seine Hände vor seinem Gesicht. Immer an derselben
Stelle saß er, spürte sie, wie sie hinter ihm lag, tot war. Sie
war seine Liebe, für sie wäre er gestorben, alles hätte er
getan für sie, heiraten wollten sie, das weiße Kleid hing
im Schrank. Sie hatte ihn geliebt, sie war gut zu ihm gewesen,
mit ihr wollte er leben.
Dann fiel der Fernseher in die Wanne und sie war tot.
Er war nicht da gewesen, unterwegs, ihr war kalt, sie
wollte baden, ihre Lieblingsserie lief. Sie nahm das Gerät
mit ins Bad, stellte es auf den Waschbeckenrand, sie
wollte sich etwas Gutes tun, das Wasser auf der Haut, der
schöne Arzt mit dem Hund auf dem Bildschirm, wohlig,
warm, Grey’s Anatomy, Izzie, George, wie sie sich betrunken
umarmten. Alles war schön, doch der Fernseher hätte
nicht da sein sollen, nicht im Bad, nicht auf dem Waschbecken.
Valentin stolperte, er wollte sie küssen, wollte
sich zu ihr beugen, riss den Fernseher mit sich, den Arzt
und seine Assistentin, Alex, Christina, alle fielen ins Wasser,
waren tot, still.
Er wollte sie doch nur küssen, Valentin, er hatte die
elektrischen Leitungen erneuern wollen, seit Monaten,
er wollte sich darum kümmern, er wollte sie begrüßen,
sie umarmen, sie streckte sich nach ihm aus. Er hatte das
alte Haus sicher machen wollen, Schutzschalter, damit
nichts passierte, er wollte ihre Lippen auf seinen spüren,
sie begrüßen nach einer langen Fahrt, sie berühren. Sie
nur küssen. Er kam nicht mehr dazu.
Ihr Körper zuckte wild vor ihm. Der Fernseher schlug
im Wasser ein, bevor sein Mund auf ihrem ankam, ihr
Lachen wurde zu einer Fratze. Wie sie zuckte. Wie er
sich nicht rühren konnte, nicht begriff, was passiert war.
Wenige Sekunden nur, dann lag ihr Arm still im Wasser, ihre Hand
sagte nichts mehr. Komm zu mir. Küss mich.
Nichts.
Er packte sie. Er riss sie nach oben, er zerrte an ihr,
nahm sie, umarmte sie, drückte sie an seine Brust, schrie
sie an, er hielt ihren weichen Körper, sie hörte ihn nicht.
Sie blieb, wo sie war. Draußen stand der Lkw, der Motor
war noch warm, er tat die Hände vor sein Gesicht, weinte.
Jetzt wieder, Monate danach, immer noch. Während er
im Lkw die Passstraße hinauffuhr, dachte er an sie, er erinnerte
sich an alles, an ihr Gesicht im Wasser, die Haare,
ihre Hände. Er sah sie vor sich. Es hatte zu schneien begonnen,
der Schnee kam zu früh in diesem Jahr. Seit sieben
Monaten war sie tot.
Die Flocken legten sich langsam nieder, verschwanden,
neue kamen, sie tauchten ein in die schwarze Straße, bis
sie sich entschieden zu bleiben, sich übereinanderlegten,
dicht aneinanderdrängten. Wie die Fahrbahnränder langsam
weiß wurden. Wie er sich an ihre Haut erinnerte, wie
sie ihm einfiel, als er den Schnee sah. Wie ihre Haut weiß
war hinter ihm, wie alles aufhörte plötzlich, auseinanderfiel.
Mit jedem Gedanken zurück. Unerträglich. Was er
getan hatte. Wie die Straße weiß wurde, wie er den Berg
hinauffuhr und sie ihn nicht losließ. Wie ihr Mund zuckte
vor seinem, wie sie für immer aufhörte zu reden.
Wie die Flocken durch die Luft flogen, wie sie vor ihm
herumtanzten, unbeschwert, wie er sie mit seinem Lkw
überrollte, kaputt machte, weil ihm etwas wie Glück unerträglich
geworden war.
Dann der Tunnel.
Valentin bekam ihr Bild nicht mehr aus seinem Kopf,
ihre weiße Haut, der Schnee. Wie alles zu rutschen begann,
wie er das Lenkrad hin- und herriss, wie ihm alles
entglitt, wie er alles verlor, wie sie an seinem Körper entlang
nach unten rutschte, zurück in die Wanne. Wie die Schneeflocken
auf die Windschutzscheibe knallten, wie
sie überall waren plötzlich, überall die weiße Haut seiner
Frau, die toten Brüste, ihre Augen, der Schnee auf der
Straße. Die Kabine der Mautstation, der Tunnel.
Er hatte die Hände vor seinem Gesicht.
Dieter
Immer dasselbe Spiel.
Wenn es gelb wäre, würde er gehen, er würde einfach
gehen, seine Sachen packen, sie nicht wieder sehen, es
würde ihm egal sein, ob sie litt, ob sie ihn verfluchte, er
würde sie verlassen, wenn es gelb wäre.
Er glaubte daran. An seine Entscheidung.
Dieter saß in seiner Kabine und umschlang mit vier
Fingern seinen Daumen. Er hoffte, er wollte, dass sich
etwas veränderte, er schaute ins Dunkel. Ein Auto, das aus
dem Schwarz kam, nur zwei Lichtkegel zuerst durch die
Schneeflocken hindurch, dann kam es näher, noch näher,
dann sah man seine Farbe, es war grün. Er würde nicht
weggehen, er würde bei ihr bleiben. Sie war der einzige
Mensch, den er hatte, der mit ihm leben wollte, da war
sonst niemand. Er musste sich zufriedengeben mit ihr, egal,
wie sehr er es hasste, sie wegwünschte von sich, er hasste
sie, er liebte sie, er brauchte sie, egal, ob ihm schlecht
wurde, wenn sie ihn berührte, wenn sie mit ihrer Hand
über seinen Kopf strich, ihm Kosenamen zuwarf, ihn tätschelte
wie ein Pferd. Er würde sie weiterhin ertragen, er
brauchte sie. Kein gelbes Auto. Er würde bei ihr bleiben.
Das Auto hatte entschieden. So waren die Regeln.
Nachts eine Straße über die Berge, ein Tunnel, neun
Kilometer lang, eine Mautstation, eine kleine Kabine, sein
Zuhause. Alles hier war altmodisch, heruntergekommen, die Strecke
wurde nicht mehr viel befahren, Renovierung
lohnte sich nicht, irgendwann würde man alles stilllegen,
keine Autos mehr durch diesen Berg schicken. Die Arbeit
warf gerade genug ab, dass er davon leben konnte, er
und der Mann auf der anderen Seite des Tunnels, beide
in kleinen Kabinen aus Plexiglas.
Dieter arbeitete hier. Er war Mautner, er war einunddreißig
Jahre alt, und er wünschte sich etwas anderes.
Nacht für Nacht spielte er. Auto für Auto.
Aber nichts geschah, alles blieb, wie es war. Es schneite.
Er schaute hinaus und wartete auf das nächste Auto.
Pink. Und er würde kündigen. Wenn das nächste Auto
pink wäre.
Aber es gab keine pinken Autos auf dieser Straße. In
zwei Jahren kein einziges. Trotzdem pink. Er würde in
die Stadt ziehen, diesen Job kündigen und endlich Musik
machen, seine Musik. Egal, wie unmöglich es war. Pink.
Mit seinen Gitarren in den Norden. Pink. Egal wohin,
egal, wie schwierig es sein würde, was auf ihn zukommen
würde, egal was. Nur weg von ihr. Von seiner Kabine. Diesem
Tunnel.
Pink. Dieter presste seine Finger aneinander.
Die zwei Lichtkegel kamen auf ihn zu, alles könnte sich
verändern, alle Farben waren möglich, es kam unter den
Scheinwerfer vor der Mautstelle, er war sich sicher, es
gab pinke Autos zwischen diesen Bergen, alles war möglich
in dieser Nacht. Es kam näher. Dieter presste seine
Lippen zusammen. Ein Audi. Nicht pink. Nur blau. Tief
atmete er ein und aus.
Ein Schwarzer am Steuer, daneben eine Frau.
Dieter presste Luft zwischen seinen Lippen nach außen,
der Schwarze streckte seine Kreditkarte aus dem Auto,
sprach nicht, schaute feindselig, er schien wütend. Dieter
gab ihm die Quittung. Falsche Farbe, dachte er, falsches Auto,
falsche Welt, alles falsch. Wie immer.
Er grinste, er war enttäuscht, er war erleichtert, beides,
er überlegte, er war sich nicht mehr sicher, er wollte
nichts riskieren, er spürte, dass etwas Besonderes war in
dieser Nacht, er entschied sich für orange. Wenn es orange
wäre, würde er gehen. Orange ist häufiger als pink, flüsterte
er vor sich hin.
In dieser Nacht würde er Glück haben.
Der Schwarze schrie die Frau an, die neben ihm saß,
Dieter hörte ihn, während die Scheibe nach oben ging,
dann verschwand das Auto im Tunnel. Stille. Er dachte
an Köln, dorthin wollte er, nächtelang träumte er, suchte
nach Gründen zu gehen, nach Entscheidungen, die jemand
für ihn treffen sollte.
Orange, dachte er. Große Entscheidungen brauchen besondere
Farben. Und alles wieder von vorne. Das nächste
Auto würde über seine Zukunft entscheiden. Jede Nacht
dasselbe Spiel. Dieter führte Listen, erstellte Statistiken,
machte kleine Kreuze in kleine Spalten. Am häufigsten
kam Rot. Aber diesmal sollte es Orange sein. Etwas sollte
passieren, sich verändern. Jetzt.
Es kam unter den Scheinwerfer. Und es war rot.
Dieter machte ein Kreuz in eine Spalte und rieb sich
die Hände. Nichts veränderte sich, er träumte von Köln,
suchte sich neue schrille Farben, die ihn festhielten, die
alles so ließen, wie es war.
Es war Nacht. Er putzte sich die Nase, es war kalt draußen,
Schnee fiel vom Himmel. Der Winter kam zu früh
in diesem Jahr. Das rote Auto hielt neben seiner Kabine,
die Scheibe ging nach unten. Wieder ein Paar. Dahinter
gleich der nächste Wagen. Er war gelb. Drei Autos zu spät.
Sein Herz pochte, er hatte Glück gehabt, er war dankbar,
dass er sich nichts gedacht hatte in dieser Runde, dass er sich
nicht noch einmal für Gelb entschieden hatte.
Dass alles so blieb, sein Leben, wie es war. Er brauchte
sie doch, was sollte er ohne sie, sie schaute auf ihn, sie
war da für ihn. Weggehen von ihr. Das konnte er nicht.
Dieter dachte an Türkis, an Braun, an die unmöglichsten
Farben.
Das rote Auto neben ihm. Das Fenster, wie es nach unten
ging, seine Gedanken an die Wohnung, in der er mit
ihr lebte, ihre Fürsorge, wie sie über seine Haare strich
mit ihrer alten Hand, ihre Ratschläge, ihre Ängste, das
rote Auto und die Stimme, die plötzlich in seine Kabine
kam, dieser Mann, dieses Gesicht, wie es aus dem roten
Auto schaute, entstellt.
Gedankenverloren starrte er ihn an, er konnte sich
nicht abwenden, starrte ihn einfach an, zwei Sekunden,
drei, eine Ewigkeit, seine Augen blieben kleben an diesem
Gesicht. Er wollte das nicht, er konnte nicht anders.
So etwas hatte er noch nicht gesehen. Hässlich, durchfuhr
es ihn, angsteinflößend, der Fahrer. Ein Paar in einem
roten Auto. Wie sie ihn anlächelte, wie sein Gesicht
ihn ekelte, wie er ihm die Quittung gab, wie er sich nicht
abwenden konnte, starrte.
Alles Lüge, dachte er. Die machen sich etwas vor. Wie
kann sie ihn lieben, wenn er so aussieht, mit ihm zusammen
sein. Er schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen,
was er eben gesehen hatte, dieses Gesicht, die schöne Frau
am Beifahrersitz, wie sie ihn angelacht hatte. Der Wagen
fuhr in den Tunnel, das Bild blieb in seinem Kopf. Kurz
schaute er dem Auto nach, nahm das Geld des nächsten
Fahrers, grüßte nicht, sagte nichts, schaute nur, gab ihm
das Restgeld.
Die Autos verschwanden im Tunnel.
Es wurde wieder still in seiner Welt. Nur das Neonlicht
in seiner Kabine, das leise Surren. Er warf dieses Bild aus
seinem Kopf, er versuchte es, er zerrte es nach außen,
spuckte es aus. Es war still in seiner Kabine.
Er musste sich um die Farben kümmern, das nächste
Auto würde kommen, er musste eine Farbe wählen,
überlegen. Dieses Gesicht, fremde Menschen, die an ihm
vorbeifuhren, jede Nacht die flüchtigen Blicke in andere
Leben, kleine Eindrücke, die nicht lange blieben. Sein Alltag,
seine Kabine, die Autos, alles, was er hatte.
Dieter rieb sein Gesicht.
Eben war noch Sommer gewesen. Er beobachtete die
Schneeflocken, die auf der Straße landeten, sie tanzten im
Scheinwerferlicht, dichtes Schneetreiben plötzlich, große,
kalte Flocken. Wie sie vor ihm aus dem Nichts auftauchten,
aus dem Schwarz herausfielen. Wie sie die Straße
langsam weiß machten.
Es war warm in seiner Kabine.
Du bist hier zu Hause, sagte er sich, du kannst hier
nicht weg, du gehörst hierher, dein schöner Sessel, mach
dir nichts vor, dein kleines Radio, es ist warm hier. Was
willst du noch, deine Kabine, deine Straße, deine Schneeflocken.
Du bleibst, wo du bist, bis morgen früh, und am
Abend kommst du wieder, fünf Nächte in der Woche, das
ist dein Leben. Und Ende.
Kein normales Leben, sagte seine Mutter.
Was ist schon normal, sagte Dieter.
Er hasste sie dafür, er wollte weg von ihr, er konnte
nicht gehen, konnte sie nicht alleine lassen, er wollte kein
Kind mehr sein, ihr Kind, sich nicht mehr bemuttern lassen,
nicht mehr für sie da sein, für ihre Fürsorge. Er wollte
weg von ihr.
Doch kein Auto kam, nur Flocken.
Die Fahrbahn wurde weiß, alles war still, nur das Surren der Neonröhren. Er öffnete das Fenster und hörte zu,
wie sie fielen, lautlos fast, nur ein leises, dumpfes Geräusch,
wenn sie im Weiß eintauchten. Kaum hörbar, wie Bewegungen
in Watte. Flocken, die ankamen mitten in der
Nacht. Nur er und der Schnee. Schnee in seinem Vorgarten,
dachte er, Passanten in Autos. Da und wieder weg. Nur
diese Flocken im Scheinwerferlicht, wie sie durch die Luft
wirbelten, so viele, unkontrolliert, unzählbar.
Schön, dachte er. Wie die Landschaft Winter wird.
Dieter steckte seinen Kopf durch das kleine Fenster.
Er schloss die Augen, spürte die Flocken im Gesicht, das
Schmelzen auf seiner Haut, er hörte nichts außer dem
Schnee, er öffnete den Mund und fing sie mit seiner Zunge,
er bewegte sie hin und her, hob und senkte seinen Kopf. Wie
sie ihn kalt berührten. Flocken, so groß wie Briefmarken.
Mitten in der Nacht auf seiner Zunge.
Plötzlich das Motorengeräusch in seinem Vorgarten.
Wie es schnell näher kam. Dann der Knall. Wie der
Lkw umkippte hinter der Wand aus Schnee, wie Blech und
Eisen auf ihn zukamen, wie Tonnen über den schneebedeckten
Asphalt rutschten. Zuerst nur der Lärm, so nah,
unsichtbar, gleich bei ihm, mitten in seinem Garten. Wie
er den Schnee auf seiner Zunge verschluckte, hinhörte.
Er bewegte sich nicht.
Alles ging so schnell, sein Mund war geschlossen, die
Flocken auf seinen Haaren, den Wangen, auf den Lippen,
das Geräusch noch lauter, sein Blick geradeaus in den
Schnee.
Er riss den Kopf zurück, hinein in seine Kabine, er
sah ihn, plötzlich war er da, Funken flogen zwischen den
Flocken, Eisen auf Asphalt war laut, einfach umgekippt,
viel zu schnell. Er kam auf ihn zu.
Dieter sprang aus der Kabine. Er lief, drehte sich nicht
um, lief, sprang. Der Lkw schlitterte über den Asphalt.
Sein Zuhause wurde aus der Verankerung gerissen. Er
warf sich in den Straßengraben, blieb liegen, drehte sich um,
sah, wie der Lkw sein Leben verschluckte, es einfach
wegschob, es zwischen sich und der Tunnelwand
zerquetschte, seine kleine Kabine, alles, was er hatte.
Ohrenbetäubender Lärm, ein Knall, lauter als alles vorher
in seinem Leben.
Dieter schloss die Augen, schützte seinen Kopf mit
seinen Händen und Armen. Dann war es wieder still.
Totenstill.
Nur die Schneeflocken waren laut.
© Studienverlag GmbH
Sie lag im warmen Wasser.
Ihre Augen weit geöffnet, zu einem Schrei auseinandergerissen,
reglos trieb sie in der Wanne, kleine, unscheinbare
Wellen auf der toten Haut. Ihr Kopf untergetaucht,
die Haare wild durcheinander, das Einzige, was sich noch
bewegte.
Valentins Frau war tot.
Er saß neben der Badewanne mit dem Rücken zu ihr,
er hielt sich die Hände vor sein Gesicht, tat sie nicht weg,
für Stunden. Hinter ihm schwamm sie, unten bei den
Füßen der Fernseher. Den Wannenrand entlang bog sich
das schwarze Kabel, es berührte Valentins nassen Arm,
friedlich jetzt. Verzweifelt hatte er sie hochgezogen, sie
geschüttelt, versucht, ihren Körper aus dem Wasser zu reißen,
sie wieder wach zu machen, mit Händen, mit Schreien,
Tränen. Dann hatte er sie losgelassen, sie war seinem Körper
entlang nach unten gerutscht. Er war über ihr gestanden
und hatte geschrien, er hatte auf die karierten Fliesen
eingeschlagen, nicht nach unten geschaut, auf die Fliesen
eingeschlagen, geschrien, er war aus der Wanne gestiegen,
hatte sich abgewendet, hatte sie losgelassen, sich nicht
mehr umgedreht, geschrien.
Sie lag im warmen Wasser.
Er hielt die Hände vor sein Gesicht. Hinter ihm seine
Braut. Er konnte sich nicht umdrehen, er konnte es nicht,
denn dann würde es für immer sein, wenn er sich umdrehte,
würde sie tot sein, sich nicht mehr bewegen, nur
noch daliegen mit diesen aufgerissenen Augen, nichts mehr
sagen, ihn nicht mehr berühren, ihre Hand nicht mehr
nach ihm ausstrecken. Nichts mehr.
Er spürte, wie sie tot war, er drehte sich nicht um. Er
weinte. Bis das Wasser kalt war, und noch länger, tagelang, Wochen.
Als sie lange schon unter der Erde war, setzte
er sich immer noch vor die Wanne, jeden Tag für Stunden
seine Hände vor seinem Gesicht. Immer an derselben
Stelle saß er, spürte sie, wie sie hinter ihm lag, tot war. Sie
war seine Liebe, für sie wäre er gestorben, alles hätte er
getan für sie, heiraten wollten sie, das weiße Kleid hing
im Schrank. Sie hatte ihn geliebt, sie war gut zu ihm gewesen,
mit ihr wollte er leben.
Dann fiel der Fernseher in die Wanne und sie war tot.
Er war nicht da gewesen, unterwegs, ihr war kalt, sie
wollte baden, ihre Lieblingsserie lief. Sie nahm das Gerät
mit ins Bad, stellte es auf den Waschbeckenrand, sie
wollte sich etwas Gutes tun, das Wasser auf der Haut, der
schöne Arzt mit dem Hund auf dem Bildschirm, wohlig,
warm, Grey’s Anatomy, Izzie, George, wie sie sich betrunken
umarmten. Alles war schön, doch der Fernseher hätte
nicht da sein sollen, nicht im Bad, nicht auf dem Waschbecken.
Valentin stolperte, er wollte sie küssen, wollte
sich zu ihr beugen, riss den Fernseher mit sich, den Arzt
und seine Assistentin, Alex, Christina, alle fielen ins Wasser,
waren tot, still.
Er wollte sie doch nur küssen, Valentin, er hatte die
elektrischen Leitungen erneuern wollen, seit Monaten,
er wollte sich darum kümmern, er wollte sie begrüßen,
sie umarmen, sie streckte sich nach ihm aus. Er hatte das
alte Haus sicher machen wollen, Schutzschalter, damit
nichts passierte, er wollte ihre Lippen auf seinen spüren,
sie begrüßen nach einer langen Fahrt, sie berühren. Sie
nur küssen. Er kam nicht mehr dazu.
Ihr Körper zuckte wild vor ihm. Der Fernseher schlug
im Wasser ein, bevor sein Mund auf ihrem ankam, ihr
Lachen wurde zu einer Fratze. Wie sie zuckte. Wie er
sich nicht rühren konnte, nicht begriff, was passiert war.
Wenige Sekunden nur, dann lag ihr Arm still im Wasser, ihre Hand
sagte nichts mehr. Komm zu mir. Küss mich.
Nichts.
Er packte sie. Er riss sie nach oben, er zerrte an ihr,
nahm sie, umarmte sie, drückte sie an seine Brust, schrie
sie an, er hielt ihren weichen Körper, sie hörte ihn nicht.
Sie blieb, wo sie war. Draußen stand der Lkw, der Motor
war noch warm, er tat die Hände vor sein Gesicht, weinte.
Jetzt wieder, Monate danach, immer noch. Während er
im Lkw die Passstraße hinauffuhr, dachte er an sie, er erinnerte
sich an alles, an ihr Gesicht im Wasser, die Haare,
ihre Hände. Er sah sie vor sich. Es hatte zu schneien begonnen,
der Schnee kam zu früh in diesem Jahr. Seit sieben
Monaten war sie tot.
Die Flocken legten sich langsam nieder, verschwanden,
neue kamen, sie tauchten ein in die schwarze Straße, bis
sie sich entschieden zu bleiben, sich übereinanderlegten,
dicht aneinanderdrängten. Wie die Fahrbahnränder langsam
weiß wurden. Wie er sich an ihre Haut erinnerte, wie
sie ihm einfiel, als er den Schnee sah. Wie ihre Haut weiß
war hinter ihm, wie alles aufhörte plötzlich, auseinanderfiel.
Mit jedem Gedanken zurück. Unerträglich. Was er
getan hatte. Wie die Straße weiß wurde, wie er den Berg
hinauffuhr und sie ihn nicht losließ. Wie ihr Mund zuckte
vor seinem, wie sie für immer aufhörte zu reden.
Wie die Flocken durch die Luft flogen, wie sie vor ihm
herumtanzten, unbeschwert, wie er sie mit seinem Lkw
überrollte, kaputt machte, weil ihm etwas wie Glück unerträglich
geworden war.
Dann der Tunnel.
Valentin bekam ihr Bild nicht mehr aus seinem Kopf,
ihre weiße Haut, der Schnee. Wie alles zu rutschen begann,
wie er das Lenkrad hin- und herriss, wie ihm alles
entglitt, wie er alles verlor, wie sie an seinem Körper entlang
nach unten rutschte, zurück in die Wanne. Wie die Schneeflocken
auf die Windschutzscheibe knallten, wie
sie überall waren plötzlich, überall die weiße Haut seiner
Frau, die toten Brüste, ihre Augen, der Schnee auf der
Straße. Die Kabine der Mautstation, der Tunnel.
Er hatte die Hände vor seinem Gesicht.
Dieter
Immer dasselbe Spiel.
Wenn es gelb wäre, würde er gehen, er würde einfach
gehen, seine Sachen packen, sie nicht wieder sehen, es
würde ihm egal sein, ob sie litt, ob sie ihn verfluchte, er
würde sie verlassen, wenn es gelb wäre.
Er glaubte daran. An seine Entscheidung.
Dieter saß in seiner Kabine und umschlang mit vier
Fingern seinen Daumen. Er hoffte, er wollte, dass sich
etwas veränderte, er schaute ins Dunkel. Ein Auto, das aus
dem Schwarz kam, nur zwei Lichtkegel zuerst durch die
Schneeflocken hindurch, dann kam es näher, noch näher,
dann sah man seine Farbe, es war grün. Er würde nicht
weggehen, er würde bei ihr bleiben. Sie war der einzige
Mensch, den er hatte, der mit ihm leben wollte, da war
sonst niemand. Er musste sich zufriedengeben mit ihr, egal,
wie sehr er es hasste, sie wegwünschte von sich, er hasste
sie, er liebte sie, er brauchte sie, egal, ob ihm schlecht
wurde, wenn sie ihn berührte, wenn sie mit ihrer Hand
über seinen Kopf strich, ihm Kosenamen zuwarf, ihn tätschelte
wie ein Pferd. Er würde sie weiterhin ertragen, er
brauchte sie. Kein gelbes Auto. Er würde bei ihr bleiben.
Das Auto hatte entschieden. So waren die Regeln.
Nachts eine Straße über die Berge, ein Tunnel, neun
Kilometer lang, eine Mautstation, eine kleine Kabine, sein
Zuhause. Alles hier war altmodisch, heruntergekommen, die Strecke
wurde nicht mehr viel befahren, Renovierung
lohnte sich nicht, irgendwann würde man alles stilllegen,
keine Autos mehr durch diesen Berg schicken. Die Arbeit
warf gerade genug ab, dass er davon leben konnte, er
und der Mann auf der anderen Seite des Tunnels, beide
in kleinen Kabinen aus Plexiglas.
Dieter arbeitete hier. Er war Mautner, er war einunddreißig
Jahre alt, und er wünschte sich etwas anderes.
Nacht für Nacht spielte er. Auto für Auto.
Aber nichts geschah, alles blieb, wie es war. Es schneite.
Er schaute hinaus und wartete auf das nächste Auto.
Pink. Und er würde kündigen. Wenn das nächste Auto
pink wäre.
Aber es gab keine pinken Autos auf dieser Straße. In
zwei Jahren kein einziges. Trotzdem pink. Er würde in
die Stadt ziehen, diesen Job kündigen und endlich Musik
machen, seine Musik. Egal, wie unmöglich es war. Pink.
Mit seinen Gitarren in den Norden. Pink. Egal wohin,
egal, wie schwierig es sein würde, was auf ihn zukommen
würde, egal was. Nur weg von ihr. Von seiner Kabine. Diesem
Tunnel.
Pink. Dieter presste seine Finger aneinander.
Die zwei Lichtkegel kamen auf ihn zu, alles könnte sich
verändern, alle Farben waren möglich, es kam unter den
Scheinwerfer vor der Mautstelle, er war sich sicher, es
gab pinke Autos zwischen diesen Bergen, alles war möglich
in dieser Nacht. Es kam näher. Dieter presste seine
Lippen zusammen. Ein Audi. Nicht pink. Nur blau. Tief
atmete er ein und aus.
Ein Schwarzer am Steuer, daneben eine Frau.
Dieter presste Luft zwischen seinen Lippen nach außen,
der Schwarze streckte seine Kreditkarte aus dem Auto,
sprach nicht, schaute feindselig, er schien wütend. Dieter
gab ihm die Quittung. Falsche Farbe, dachte er, falsches Auto,
falsche Welt, alles falsch. Wie immer.
Er grinste, er war enttäuscht, er war erleichtert, beides,
er überlegte, er war sich nicht mehr sicher, er wollte
nichts riskieren, er spürte, dass etwas Besonderes war in
dieser Nacht, er entschied sich für orange. Wenn es orange
wäre, würde er gehen. Orange ist häufiger als pink, flüsterte
er vor sich hin.
In dieser Nacht würde er Glück haben.
Der Schwarze schrie die Frau an, die neben ihm saß,
Dieter hörte ihn, während die Scheibe nach oben ging,
dann verschwand das Auto im Tunnel. Stille. Er dachte
an Köln, dorthin wollte er, nächtelang träumte er, suchte
nach Gründen zu gehen, nach Entscheidungen, die jemand
für ihn treffen sollte.
Orange, dachte er. Große Entscheidungen brauchen besondere
Farben. Und alles wieder von vorne. Das nächste
Auto würde über seine Zukunft entscheiden. Jede Nacht
dasselbe Spiel. Dieter führte Listen, erstellte Statistiken,
machte kleine Kreuze in kleine Spalten. Am häufigsten
kam Rot. Aber diesmal sollte es Orange sein. Etwas sollte
passieren, sich verändern. Jetzt.
Es kam unter den Scheinwerfer. Und es war rot.
Dieter machte ein Kreuz in eine Spalte und rieb sich
die Hände. Nichts veränderte sich, er träumte von Köln,
suchte sich neue schrille Farben, die ihn festhielten, die
alles so ließen, wie es war.
Es war Nacht. Er putzte sich die Nase, es war kalt draußen,
Schnee fiel vom Himmel. Der Winter kam zu früh
in diesem Jahr. Das rote Auto hielt neben seiner Kabine,
die Scheibe ging nach unten. Wieder ein Paar. Dahinter
gleich der nächste Wagen. Er war gelb. Drei Autos zu spät.
Sein Herz pochte, er hatte Glück gehabt, er war dankbar,
dass er sich nichts gedacht hatte in dieser Runde, dass er sich
nicht noch einmal für Gelb entschieden hatte.
Dass alles so blieb, sein Leben, wie es war. Er brauchte
sie doch, was sollte er ohne sie, sie schaute auf ihn, sie
war da für ihn. Weggehen von ihr. Das konnte er nicht.
Dieter dachte an Türkis, an Braun, an die unmöglichsten
Farben.
Das rote Auto neben ihm. Das Fenster, wie es nach unten
ging, seine Gedanken an die Wohnung, in der er mit
ihr lebte, ihre Fürsorge, wie sie über seine Haare strich
mit ihrer alten Hand, ihre Ratschläge, ihre Ängste, das
rote Auto und die Stimme, die plötzlich in seine Kabine
kam, dieser Mann, dieses Gesicht, wie es aus dem roten
Auto schaute, entstellt.
Gedankenverloren starrte er ihn an, er konnte sich
nicht abwenden, starrte ihn einfach an, zwei Sekunden,
drei, eine Ewigkeit, seine Augen blieben kleben an diesem
Gesicht. Er wollte das nicht, er konnte nicht anders.
So etwas hatte er noch nicht gesehen. Hässlich, durchfuhr
es ihn, angsteinflößend, der Fahrer. Ein Paar in einem
roten Auto. Wie sie ihn anlächelte, wie sein Gesicht
ihn ekelte, wie er ihm die Quittung gab, wie er sich nicht
abwenden konnte, starrte.
Alles Lüge, dachte er. Die machen sich etwas vor. Wie
kann sie ihn lieben, wenn er so aussieht, mit ihm zusammen
sein. Er schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen,
was er eben gesehen hatte, dieses Gesicht, die schöne Frau
am Beifahrersitz, wie sie ihn angelacht hatte. Der Wagen
fuhr in den Tunnel, das Bild blieb in seinem Kopf. Kurz
schaute er dem Auto nach, nahm das Geld des nächsten
Fahrers, grüßte nicht, sagte nichts, schaute nur, gab ihm
das Restgeld.
Die Autos verschwanden im Tunnel.
Es wurde wieder still in seiner Welt. Nur das Neonlicht
in seiner Kabine, das leise Surren. Er warf dieses Bild aus
seinem Kopf, er versuchte es, er zerrte es nach außen,
spuckte es aus. Es war still in seiner Kabine.
Er musste sich um die Farben kümmern, das nächste
Auto würde kommen, er musste eine Farbe wählen,
überlegen. Dieses Gesicht, fremde Menschen, die an ihm
vorbeifuhren, jede Nacht die flüchtigen Blicke in andere
Leben, kleine Eindrücke, die nicht lange blieben. Sein Alltag,
seine Kabine, die Autos, alles, was er hatte.
Dieter rieb sein Gesicht.
Eben war noch Sommer gewesen. Er beobachtete die
Schneeflocken, die auf der Straße landeten, sie tanzten im
Scheinwerferlicht, dichtes Schneetreiben plötzlich, große,
kalte Flocken. Wie sie vor ihm aus dem Nichts auftauchten,
aus dem Schwarz herausfielen. Wie sie die Straße
langsam weiß machten.
Es war warm in seiner Kabine.
Du bist hier zu Hause, sagte er sich, du kannst hier
nicht weg, du gehörst hierher, dein schöner Sessel, mach
dir nichts vor, dein kleines Radio, es ist warm hier. Was
willst du noch, deine Kabine, deine Straße, deine Schneeflocken.
Du bleibst, wo du bist, bis morgen früh, und am
Abend kommst du wieder, fünf Nächte in der Woche, das
ist dein Leben. Und Ende.
Kein normales Leben, sagte seine Mutter.
Was ist schon normal, sagte Dieter.
Er hasste sie dafür, er wollte weg von ihr, er konnte
nicht gehen, konnte sie nicht alleine lassen, er wollte kein
Kind mehr sein, ihr Kind, sich nicht mehr bemuttern lassen,
nicht mehr für sie da sein, für ihre Fürsorge. Er wollte
weg von ihr.
Doch kein Auto kam, nur Flocken.
Die Fahrbahn wurde weiß, alles war still, nur das Surren der Neonröhren. Er öffnete das Fenster und hörte zu,
wie sie fielen, lautlos fast, nur ein leises, dumpfes Geräusch,
wenn sie im Weiß eintauchten. Kaum hörbar, wie Bewegungen
in Watte. Flocken, die ankamen mitten in der
Nacht. Nur er und der Schnee. Schnee in seinem Vorgarten,
dachte er, Passanten in Autos. Da und wieder weg. Nur
diese Flocken im Scheinwerferlicht, wie sie durch die Luft
wirbelten, so viele, unkontrolliert, unzählbar.
Schön, dachte er. Wie die Landschaft Winter wird.
Dieter steckte seinen Kopf durch das kleine Fenster.
Er schloss die Augen, spürte die Flocken im Gesicht, das
Schmelzen auf seiner Haut, er hörte nichts außer dem
Schnee, er öffnete den Mund und fing sie mit seiner Zunge,
er bewegte sie hin und her, hob und senkte seinen Kopf. Wie
sie ihn kalt berührten. Flocken, so groß wie Briefmarken.
Mitten in der Nacht auf seiner Zunge.
Plötzlich das Motorengeräusch in seinem Vorgarten.
Wie es schnell näher kam. Dann der Knall. Wie der
Lkw umkippte hinter der Wand aus Schnee, wie Blech und
Eisen auf ihn zukamen, wie Tonnen über den schneebedeckten
Asphalt rutschten. Zuerst nur der Lärm, so nah,
unsichtbar, gleich bei ihm, mitten in seinem Garten. Wie
er den Schnee auf seiner Zunge verschluckte, hinhörte.
Er bewegte sich nicht.
Alles ging so schnell, sein Mund war geschlossen, die
Flocken auf seinen Haaren, den Wangen, auf den Lippen,
das Geräusch noch lauter, sein Blick geradeaus in den
Schnee.
Er riss den Kopf zurück, hinein in seine Kabine, er
sah ihn, plötzlich war er da, Funken flogen zwischen den
Flocken, Eisen auf Asphalt war laut, einfach umgekippt,
viel zu schnell. Er kam auf ihn zu.
Dieter sprang aus der Kabine. Er lief, drehte sich nicht
um, lief, sprang. Der Lkw schlitterte über den Asphalt.
Sein Zuhause wurde aus der Verankerung gerissen. Er
warf sich in den Straßengraben, blieb liegen, drehte sich um,
sah, wie der Lkw sein Leben verschluckte, es einfach
wegschob, es zwischen sich und der Tunnelwand
zerquetschte, seine kleine Kabine, alles, was er hatte.
Ohrenbetäubender Lärm, ein Knall, lauter als alles vorher
in seinem Leben.
Dieter schloss die Augen, schützte seinen Kopf mit
seinen Händen und Armen. Dann war es wieder still.
Totenstill.
Nur die Schneeflocken waren laut.
© Studienverlag GmbH
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Autoren-Porträt von Bernhard Aichner
Bernhard Aichner, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Fotograf in Innsbruck. Mehrere Literaturpreise und -stipendien, zuletzt der Burgdorfer Krimipreis (2014). Zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele sowie Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Bei HAYMONtb erschienen die Max-Broll-Krimis 'Die Schöne und der Tod' (2010), 'Für immer tot' (2011) und 'Leichenspiele' (2012) sowie der Roman 'Nur Blau' (2012).
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernhard Aichner
- 2014, 232 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709971586
- ISBN-13: 9783709971581
- Erscheinungsdatum: 17.09.2014
Rezension zu „Schnee kommt “
"ein fesselndes Kammerspiel" NEWS "Perfides Setting, stakkatoartig geschildert." Format "... der Autor hat das Ganze gekonnt arrangiert und den psychologisch unterfütterten Katastrophenfilm rasant geschnitten." Der Standard, Daniela Strigl "Schnee kommt kann gelesen werden wie ein Film." Die Furche, Jutta Fenk-Esterbauer
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