Schutzlos
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Ein atemberaubendes Duell auf Leben und Tod.
Sein Name ist Corte, und er ist ein "Hirte". Im Auftrag des Staates übernimmt er die Fälle, bei denen normale Bodyguards nichts ausrichten können. Als er erfährt, dass die...
Sein Name ist Corte, und er ist ein "Hirte". Im Auftrag des Staates übernimmt er die Fälle, bei denen normale Bodyguards nichts ausrichten können. Als er erfährt, dass die...
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Produktinformationen zu „Schutzlos “
Ein atemberaubendes Duell auf Leben und Tod.
Sein Name ist Corte, und er ist ein "Hirte". Im Auftrag des Staates übernimmt er die Fälle, bei denen normale Bodyguards nichts ausrichten können. Als er erfährt, dass die Familie Kessler von Henry Loving - einem berüchtigten Entführer und Folterer - bedroht wird, ist er sofort bereit, ihren Schutz zu übernehmen. Zwischen Corte und Loving ist noch eine alte Rechnung offen. Um den Kesslers wirklichen Schutz bieten zu können, muss Corte allerdings erst einmal herausfinden, worauf Loving es eigentlich abgesehen hat. Denn in dieser Familie ist niemand, was er auf den ersten Blick zu sein scheint.
Sein Name ist Corte, und er ist ein "Hirte". Im Auftrag des Staates übernimmt er die Fälle, bei denen normale Bodyguards nichts ausrichten können. Als er erfährt, dass die Familie Kessler von Henry Loving - einem berüchtigten Entführer und Folterer - bedroht wird, ist er sofort bereit, ihren Schutz zu übernehmen. Zwischen Corte und Loving ist noch eine alte Rechnung offen. Um den Kesslers wirklichen Schutz bieten zu können, muss Corte allerdings erst einmal herausfinden, worauf Loving es eigentlich abgesehen hat. Denn in dieser Familie ist niemand, was er auf den ersten Blick zu sein scheint.
Lese-Probe zu „Schutzlos “
Schutzlos von Jeffery DeaverJuni 2004
DIE SPIELREGELN
... mehr
Der Mann, der die junge Frau auf dem Beifahrersitz neben mir töten wollte, befand sich gut eine Meile hinter uns, während wir an diesem schwülen Vormittag durch eine idyllische Landschaft mit Tabak- und Baumwollfeldern fuhren.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigte eine Teilansicht des Wagens, der ohne Hast im Verkehr mitschwamm, gesteuert von einem Mann, der sich in seinem Aussehen kaum von hundert anderen Fahrern auf diesem kürzlich neu asphaltierten, geteilten Highway unterschied.
»Officer Fallow?«, begann Alissa, ehe ihr einfiel, wozu ich sie seit einer Woche bereits drängte: »Abe?«
»Ja.«
»Ist er noch da?« Sie hatte meinen Blick bemerkt.
»Ja. Genau wie unser Mann, der ihn beschattet.« Mein Lieblingsschüler war zwei, drei Wagenlängen hinter dem Killer. Und er war nicht der Einzige aus unserer Organisation, der im Einsatz war.
»Okay«, flüsterte Alissa. Die Mittdreißigerin war Zeugin gegen ein Unternehmen, das im Regierungsauftrag viel Arbeit für die Armee erledigte. Die Firma beharrte darauf, nichts falsch gemacht zu haben, und begrüßte offiziell eine Untersuchung. Doch vor einer Woche hatte es einen Anschlag auf Alissas Leben gegeben, und nachdem ich mit einem hochrangigen Kommandeur von Fort Bragg zusammen in der Armee gewesen war, hatte mich das Verteidigungsministerium zu ihrem Schutz angefordert. Als Chef der Organisation mache ich nicht mehr viele Außeneinsätze, aber ehrlich gesagt war ich froh, einmal rauszukommen. Mein typischer Arbeitstag bestand aus zehn Stunden Schreibtischtätigkeit in meinem Büro in Alexandria. Und im letzten Monat waren es eher zwölf oder vierzehn gewesen, da wir den Schutz von fünf hochkarätigen Informanten koordinierten, die in Prozessen gegen das organisierte Verbrechen aussagten, ehe wir sie in das Zeugenschutzprogramm entließen.
Es tat gut, mal wieder im Sattel zu sitzen, und sei es auch nur für rund eine Woche.
Ich drückte eine Kurzwahltaste und rief meinen Ziehsohn an. »Wo ist er jetzt?«
»Sagen wir eine halbe Meile hinter euch. Er kommt langsam näher.«
Der Killer, dessen Identität wir nicht kannten, fuhr einen unauffälligen grauen Hyundai.
Ich folgte einem Siebeneinhalbtonner, auf dessen Seitenwänden Geflügelverarbeitung Carolina aufgemalt war. Er war leer und wurde von einem unserer Fahrer gesteuert. Vor ihm fuhr ein Wagen, der mit meinem identisch war.
»Wir haben noch etwa zwei Meilen bis zum Tausch«, sagte ich.
Vier Stimmen bestätigten es über vier verschlüsselte Funkgeräte.
Ich löste die Verbindung.
»Alles wird gut«, sagte ich zu Alissa, ohne sie anzusehen.
»Ich bin nur ... «, sagte sie im Flüsterton. »Ach, ich weiß nicht.« Sie verstummte und blickte in den Außenspiegel, als wäre der Mann, der sie töten wollte, direkt hinter uns.
Wenn sich unschuldige Menschen in Situationen wiederfinden, in denen sie von Leuten wie mir beschützt werden müssen, reagieren sie meist mit ebenso viel Verwunderung wie Angst. Die eigene Sterblichkeit ist schwer zu verarbeiten.
Doch für Sicherheit zu sorgen und Menschen am Leben zu erhalten ist ein Geschäft wie jedes andere. Das habe ich meinem Ziehsohn und den anderen in der Dienststelle immer wieder gesagt und sie wahrscheinlich maßlos genervt damit. Aber ich habe es beharrlich wiederholt, weil man es nie vergessen darf. Es ist ein Geschäft mit starren Arbeitsabläufen, die wir so studieren, wie ein Chirurg lernt, präzise in Fleisch zu schneiden, wie ein Pilot lernt, Tonnen von Metall sicher in der Luft zu halten. Diese Techniken wurden über die Jahre immer weiter verfeinert, und sie funktionieren.
Geschäft ...
Natürlich stimmte es auch, dass der Auftragskiller, der in diesem Moment hinter uns fuhr und fest entschlossen war, die Frau neben mir zu töten, aus seiner Sicht ebenfalls nur einem Geschäft nachging. Es war ihm so ernst wie mir, er hatte genauso sorgfältig seine Verfahrensweisen studiert wie ich die meinen, er war schlau, lebensklug und gerissen, und er hatte mir gegenüber einen Vorteil: Seine Regeln unterlagen nicht denselben Beschränkungen wie meine - etwa der Verfassung und den Gesetzen.
Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es ein Vorteil ist, im Recht zu sein. In all den Jahren meiner Tätigkeit habe ich nicht einen Mandanten verloren. Und ich hatte nicht vor, Alissa zu verlieren.
Ein Geschäft ... Was bedeutete, ruhig wie ein Chirurg, wie ein Pilot zu bleiben.
Natürlich war Alissa nicht ruhig. Sie atmete schwer und nestelte an ihrem Ärmel herum, während wir an einer wild wuchernden Magnolie vorbeifuhren, dann an einem Walnuss- oder Kastanienwald, der wiederum an ein riesiges Baumwollfeld mit prallen Büscheln grenzte. Sie drehte unruhig ein dünnes Diamantenkettchen an ihrem Handgelenk, das sie sich selbst zu einem ihrer letzten Geburtstage geschenkt hatte, blickte auf den Schmuck und dann auf ihre schwitzenden Handflächen. Sie legte die Hände auf ihren dunkelblauen Rock. Unter meiner Obhut hatte Alissa ausschließlich dunkle Sachen getragen. Es war eine Tarnung, aber nicht, weil sie das Ziel eines Profikillers war; es ging um ihr Gewicht, mit dem sie seit ihrer Pubertät zu kämpfen hatte. Ich wusste das, weil wir gemeinsam die Mahlzeiten einnahmen und ich den Kampf aus der Nähe beobachten konnte. Sie hatte außerdem ziemlich viel über ihre Gewichtsprobleme gesprochen. Manche Mandanten brauchen oder wollen keine Kameradschaft. Für andere wie Alissa müssen wir Freunde sein. Ich bin nicht sehr gut in dieser Rolle, aber ich gebe mir Mühe, und im Allgemeinen kriege ich es hin.
Wir kamen an einem Schild vorbei. Noch eineinhalb Meilen bis zur Ausfahrt.
Ein Geschäft erfordert einfache, kluge Planung. Man darf bei so einer Tätigkeit nicht nur reagieren, und obwohl ich das Wort »proaktiv« hasse (im Gegensatz wozu? - »antiaktiv«?), ist die Idee dahinter von entscheidender Bedeutung für unser Handeln. Das in diesem Fall darin bestand, Alissa gesund und wohlbehalten beim Staatsanwalt abzuliefern, damit sie ihre Aussagen machen konnte. Ich musste den Killer im Spiel lassen. Da ihm mein geschäftlicher Ziehsohn seit Stunden folgte, wussten wir, wo er war, und hätten ihn jederzeit ausschalten können. Aber in diesem Fall hätte sein unbekannter Auftraggeber schlicht jemand anderen für den Job angeheuert. Ich wollte, dass der Killer den größten Teil des Tages auf der Straße verbrachte - bis Alissa im Büro des Staatsanwalts gewesen war und diesem per eidlicher Aussage so viele Informationen hatte zukommen lassen, dass sie nicht mehr in Gefahr war. Sobald eine Aussage niedergeschrieben ist, hat der Killer keinen Anlass mehr, einen Zeugen auszuschalten.
Der Plan, den ich mir mit Hilfe meines Ziehsohns ausgedacht hatte, sah vor, dass ich den Geflügellaster überholte und mich vor ihm wieder einreihte. Der Killer würde Gas geben, damit wir in Sichtweite für ihn blieben, aber ehe er nahe genug kam, würden der Lkw und ich gleichzeitig den Highway verlassen. Wegen der Biegung der Straße und der besonderen Ausfahrt, die ich mir ausgesucht hatte, würde der Killer meinen Wagen nicht sehen können und von da ab unserem Double folgen. Ich würde dann mit Alissa über eine komplizierte Route zu einem Hotel in Raleigh fahren, wo der Staatsanwalt wartete, während unser Double schließlich im drei Stunden entfernten Charlotte vor dem Gerichtsgebäude halten würde. Bis der Killer erkannte, dass er einem falschen Ziel gefolgt war, würde es zu spät sein. Er würde seinen Auftraggeber anrufen, und höchstwahrscheinlich würden sie den versuchten Anschlag aufgeben. Dann würden wir einschreiten, den Killer verhaften und versuchen, ihn zu seinem Auftraggeber zurückzuverfolgen.
Wir hatten uns der Ausfahrt auf etwa eine Meile genähert. Ein Blick in den Rückspiegel - der graue Hyundai hielt seine Position. Der Geflügellaster war zehn Meter vor uns.
Ich sah zu Alissa hinüber, die jetzt mit einem Halsband aus Gold und Amethyst spielte. Ihre Mutter hatte es ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt, es hatte mehr gekostet, als sich die Familie leisten konnte, war jedoch ein unausgesprochener Trostpreis für das Ausbleiben einer Einladung zum Abschlussball der Highschool gewesen. Die Leute neigen dazu, ihren Lebensrettern ziemlich viel zu erzählen.
Mein Telefon läutete. Ich nahm das Gespräch an.
»Das Subjekt hat ein bisschen aufgeholt«, berichtete mein
Ziehsohn. »Er ist etwa zweihundert Meter hinter dem Lkw.« »Wir sind fast da«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«
Ich überholte den Geflügellaster zügig und scherte hinter unserem Double wieder ein - dicht hinter ihm. Der Wagen wurde von einem Mann aus unserer Organisation gesteuert, die Beifahrerin war eine FBI-Agentin, die Alissa ähnelte. Die Auswahl des Mitarbeiters, der meine Rolle spielte, hatte für einige Heiterkeit im Büro gesorgt. Ich habe einen rundlichen Kopf und Ohren, die eine Idee weiter abstehen, als mir lieb ist, habe borstiges, rotes Haar und bin nicht sehr groß. Und so verbrachten sie im Büro offenbar ein, zwei Stunden bei einem improvisierten Casting, um den koboldähnlichsten Mitarbeiter zu finden, der mich darstellen sollte.
»Status?«, fragte ich ins Telefon.
»Er hat die Spur gewechselt und beschleunigt ein wenig.« Es gefiel ihm wohl nicht, dass er mich nicht mehr sah. »Warte ... «, hörte ich. »Warte ... «
Ich würde meinen Protegé daran erinnern müssen, auf unnötige Kommunikation zu verzichten; zwar wurden unsere Worte von einer Sprachsoftware zerhackt, aber die Tatsache, dass ein Gespräch stattgefunden hatte, konnte entdeckt werden. Er würde die Lektion schnell lernen und behalten.
»Ich komme zur Ausfahrt. Okay ... und tschüs.«
Mit immer noch gut neunzig Stundenkilometern wechselte ich auf die Ausfahrtspur und bog um die Kurve, die dicht von Bäumen gesäumt war. Der Geflügellaster klebte an meiner Stoßstange.
»Gut«, berichtete mein Ziehsohn. »Subjekt hat nicht einmal in eure Richtung geschaut. Er hat das Double in Sicht und geht wieder auf das Tempolimit zurück.«
Ich hielt an der roten Ampel, wo die Ausfahrt in die Route 18 mündet, und bog dann rechts ab. Der Geflügellaster nahm die andere Richtung.
»Subjekt setzt seine Fahrt fort«, meldete sich die Stimme meines Ziehsohns. »Scheint alles gut zu klappen.« Seine Stimme war ruhig und gelassen. Ich bin selbst ziemlich distanziert bei Operationen, aber er übertrifft mich noch. Er lächelt selten und scherzt nie, und in Wahrheit weiß ich kaum etwas über ihn, obwohl wir seit mehreren Jahren teilweise sehr eng zusammenarbeiten. Ich würde dieses Düstere an ihm gern ändern; nicht wegen des Jobs - da ist er wirklich sehr, sehr gut -, sondern einfach, weil ich wünschte, er hätte mehr Freude bei unserer Arbeit. Die Aufgabe, Menschen zu schützen, kann sehr befriedigend sein, sogar Spaß machen. Vor allem, wenn es um den Schutz von Familien geht, wie es häufig der Fall ist.
Ich wies ihn an, mich auf dem Laufenden zu halten, und wir trennten die Verbindung.
»Dann sind wir also sicher?«, fragte Alissa.
»Wir sind sicher«, antwortete ich und beschleunigte auf achtzig, wo siebzig erlaubt war. Fünfzehn Minuten später näherten wir uns über Umwege den Außenbezirken von Raleigh, wo wir den Staatsanwalt wegen der eidlichen Aussagen treffen würden.
Der Himmel war bewölkt, und die Gegend ringsum sah wahrscheinlich seit Jahrzehnten gleich aus: Bauernhäuser im Bungalowstil, Scheunen, Anhänger und Motorfahrzeuge im Endstadium, die aber immer noch funktionierten, wenn man sie richtig pflegte und dazu noch etwas Glück hatte. Eine Tankstelle bot eine Benzinmarke an, von der ich noch nie gehört hatte. Hunde bissen träge nach Flöhen in ihrem Fell. Frauen in straff sitzenden Jeans beaufsichtigten ihren Nachwuchs. Männer mit bierschlanken Gesichtern und ausladenden Bäuchen saßen auf Veranden und warteten auf nichts. Wahrscheinlich wunderten sie sich über unseren Wagen - mit Insassen, wie man sie in dieser Gegend nicht häufig sah: einem Mann im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und eine Frau mit Kurzhaarschnitt.
Dann ließen wir die Wohnhäuser hinter uns und fuhren auf einer Straße, die weitere Felder zerschnitt. Ich bemerkte die Baumwollpflanzen mit ihrem an Popcorn erinnernden Bewuchs, und ich dachte daran, dass dieses Land vor hundertfünfzig Jahren von genau derselben Frucht bedeckt gewesen war; der Bürgerkrieg und die Menschen, für die man ihn ausgetragen hatte, waren im Süden nie weit entfernt.
Mein Telefon läutete, und ich meldete mich.
Die Stimme meines Ziehsohns klang dringlich. »Abe.«
»Hat er den Highway verlassen?«, fragte ich angespannt. Ich war nicht allzu besorgt; wir waren vor mehr als einer halben Stunde abgebogen. Der Killer war inzwischen wohl an die vierzig Meilen entfernt.
»Nein, er folgt immer noch dem Double. Aber gerade ist etwas passiert. Er hat einen Anruf von seinem Handy gemacht. Als er auflegte, hat er sich so merkwürdig übers Gesicht gewischt. Ich bin auf zwei Wagenlängen herangefahren. Es sah aus, als würde er weinen.«
Mein Atem ging schnell, als ich überlegte, welche Gründe es dafür geben konnte. Schließlich zeichnete sich ein plausibles und beunruhigendes Szenario ab: Was, wenn der Killer vorausgeahnt hatte, dass wir ein Double einsetzen würden, und seinerseits ebenfalls eins benutzt hatte? Er hatte jemanden, der ihm ähnlich sah, gezwungen, uns zu folgen - so wie es der Kobold-Typ in unserem Wagen tat. Das Telefongespräch, dessen Zeuge mein Ziehsohn eben geworden war, könnte zwischen dem Fahrer und dem echten Täter, der wahrscheinlich Frau oder Kinder des Mannes als Geiseln hielt, geführt worden sein.
Aber dies bedeutete dann, dass der echte Killer woanders sein konnte, und ...
Etwas Weißes blitzte in der Einfahrt einer verfallenen, aufgegebenen Tankstelle links von mir auf, und ein weißer Ford Pick-up raste über die Straße auf uns zu. Das Fahrzeug, dessen Front mit einem Metallgitter geschützt war, krachte in unsere Fahrerseite und schob uns problemlos durch ein hohes Unkrautgestrüpp in einen flachen Graben. Alissa schrie; ich stöhnte vor Schmerz und hörte, wie mein Ziehsohn am Telefon meinen Namen schrie, dann flogen das Handy und das schnurlose Headset
durch den Wagen, angetrieben von dem explodierenden Airbag.
Wir stürzten eine anderthalb Meter tiefe Böschung hinunter und kamen unspektakulär auf dem sumpfigen Grund eines seichten Bachs zu liegen.
Ach, er hatte seinen Angriff perfekt geplant. Bevor ich auch nur meinen Sicherheitsgurt lösen konnte, um an meine Waffe heranzukommen, hatte er einen Hammer durch das Fahrerfenster geschwungen, dieses zertrümmert und mich mit demselben Schlag halb betäubt. Meine Glock wurde mir vom Gürtel gerissen und eingesteckt. Schulter ausgekugelt, dachte ich, nicht viel Blut. Ich spuckte Glasscherben aus und sah zu Alissa hinüber. Auch sie war benommen, schien aber nicht schwer verletzt zu sein. Der Killer hatte keine Schusswaffe in der Hand, nur den Hammer, und ich dachte, wenn sie sofort floh, könnte sie eine Chance haben, ins Unterholz zu entkommen. Keine große Chance, aber besser als nichts. Sie würde sich allerdings beeilen müssen. »Lauf, Alissa! Nach links! Sofort!«
Sie drückte die Tür auf und rollte sich aus dem Wagen.
Ich blickte zur Straße zurück. Alles, was ich sah, war der weiße Pick-up, der auf dem Bankett neben einem Bachlauf stand. Er versperrte perfekt die Sicht von der Straße her. Genau wie ich vorhin einen Lkw benutzt hatte, um mich aus dem Staub zu machen, dachte ich grimmig.
Der Killer langte jetzt durchs Fenster, um meine Tür zu entriegeln. Ich kniff vor Schmerzen die Augen zusammen, dankbar dafür, dass sich der Mann so viel Zeit ließ. Es verschaffte Alissa mehr Vorsprung. Meine Leute konnten unsere exakte Position per GPS feststellen, und in fünfzehn, zwanzig Minuten würde vielleicht schon Polizei zur Stelle sein. Alissa konnte es schaffen. Bitte, dachte ich und wandte den Kopf in Richtung ihres Fluchtwegs, den schmalen Bachlauf entlang.
Nur dass sie nirgendwohin lief.
Sie stand mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen neben dem Wagen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. War sie schlimmer verletzt, als ich gedacht hatte?
Meine Tür wurde geöffnet, der Killer zerrte mich aus dem Wagen und legte mir sachkundig Nylonfesseln an den Händen an. Er ließ mich los, und ich sackte in den säuerlich riechenden Schlamm neben laut zirpende Grillen.
Fesseln?, wunderte ich mich. Ich sah Alissa wieder an, die jetzt am Wagen lehnte und es nicht fertigbrachte, in meine Richtung zu blicken. »Bitte«, wandte sie sich an unseren Angreifer. »Meine Mutter?«
Nein, sie war nicht benommen, und sie war nicht schwer verletzt, und ich begriff, warum sie nicht weglief. Sie hatte keinen Grund dazu.
Sie war nicht das Ziel.
Das war ich.
...
Übersetzung: Fred Kinzel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Mann, der die junge Frau auf dem Beifahrersitz neben mir töten wollte, befand sich gut eine Meile hinter uns, während wir an diesem schwülen Vormittag durch eine idyllische Landschaft mit Tabak- und Baumwollfeldern fuhren.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigte eine Teilansicht des Wagens, der ohne Hast im Verkehr mitschwamm, gesteuert von einem Mann, der sich in seinem Aussehen kaum von hundert anderen Fahrern auf diesem kürzlich neu asphaltierten, geteilten Highway unterschied.
»Officer Fallow?«, begann Alissa, ehe ihr einfiel, wozu ich sie seit einer Woche bereits drängte: »Abe?«
»Ja.«
»Ist er noch da?« Sie hatte meinen Blick bemerkt.
»Ja. Genau wie unser Mann, der ihn beschattet.« Mein Lieblingsschüler war zwei, drei Wagenlängen hinter dem Killer. Und er war nicht der Einzige aus unserer Organisation, der im Einsatz war.
»Okay«, flüsterte Alissa. Die Mittdreißigerin war Zeugin gegen ein Unternehmen, das im Regierungsauftrag viel Arbeit für die Armee erledigte. Die Firma beharrte darauf, nichts falsch gemacht zu haben, und begrüßte offiziell eine Untersuchung. Doch vor einer Woche hatte es einen Anschlag auf Alissas Leben gegeben, und nachdem ich mit einem hochrangigen Kommandeur von Fort Bragg zusammen in der Armee gewesen war, hatte mich das Verteidigungsministerium zu ihrem Schutz angefordert. Als Chef der Organisation mache ich nicht mehr viele Außeneinsätze, aber ehrlich gesagt war ich froh, einmal rauszukommen. Mein typischer Arbeitstag bestand aus zehn Stunden Schreibtischtätigkeit in meinem Büro in Alexandria. Und im letzten Monat waren es eher zwölf oder vierzehn gewesen, da wir den Schutz von fünf hochkarätigen Informanten koordinierten, die in Prozessen gegen das organisierte Verbrechen aussagten, ehe wir sie in das Zeugenschutzprogramm entließen.
Es tat gut, mal wieder im Sattel zu sitzen, und sei es auch nur für rund eine Woche.
Ich drückte eine Kurzwahltaste und rief meinen Ziehsohn an. »Wo ist er jetzt?«
»Sagen wir eine halbe Meile hinter euch. Er kommt langsam näher.«
Der Killer, dessen Identität wir nicht kannten, fuhr einen unauffälligen grauen Hyundai.
Ich folgte einem Siebeneinhalbtonner, auf dessen Seitenwänden Geflügelverarbeitung Carolina aufgemalt war. Er war leer und wurde von einem unserer Fahrer gesteuert. Vor ihm fuhr ein Wagen, der mit meinem identisch war.
»Wir haben noch etwa zwei Meilen bis zum Tausch«, sagte ich.
Vier Stimmen bestätigten es über vier verschlüsselte Funkgeräte.
Ich löste die Verbindung.
»Alles wird gut«, sagte ich zu Alissa, ohne sie anzusehen.
»Ich bin nur ... «, sagte sie im Flüsterton. »Ach, ich weiß nicht.« Sie verstummte und blickte in den Außenspiegel, als wäre der Mann, der sie töten wollte, direkt hinter uns.
Wenn sich unschuldige Menschen in Situationen wiederfinden, in denen sie von Leuten wie mir beschützt werden müssen, reagieren sie meist mit ebenso viel Verwunderung wie Angst. Die eigene Sterblichkeit ist schwer zu verarbeiten.
Doch für Sicherheit zu sorgen und Menschen am Leben zu erhalten ist ein Geschäft wie jedes andere. Das habe ich meinem Ziehsohn und den anderen in der Dienststelle immer wieder gesagt und sie wahrscheinlich maßlos genervt damit. Aber ich habe es beharrlich wiederholt, weil man es nie vergessen darf. Es ist ein Geschäft mit starren Arbeitsabläufen, die wir so studieren, wie ein Chirurg lernt, präzise in Fleisch zu schneiden, wie ein Pilot lernt, Tonnen von Metall sicher in der Luft zu halten. Diese Techniken wurden über die Jahre immer weiter verfeinert, und sie funktionieren.
Geschäft ...
Natürlich stimmte es auch, dass der Auftragskiller, der in diesem Moment hinter uns fuhr und fest entschlossen war, die Frau neben mir zu töten, aus seiner Sicht ebenfalls nur einem Geschäft nachging. Es war ihm so ernst wie mir, er hatte genauso sorgfältig seine Verfahrensweisen studiert wie ich die meinen, er war schlau, lebensklug und gerissen, und er hatte mir gegenüber einen Vorteil: Seine Regeln unterlagen nicht denselben Beschränkungen wie meine - etwa der Verfassung und den Gesetzen.
Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es ein Vorteil ist, im Recht zu sein. In all den Jahren meiner Tätigkeit habe ich nicht einen Mandanten verloren. Und ich hatte nicht vor, Alissa zu verlieren.
Ein Geschäft ... Was bedeutete, ruhig wie ein Chirurg, wie ein Pilot zu bleiben.
Natürlich war Alissa nicht ruhig. Sie atmete schwer und nestelte an ihrem Ärmel herum, während wir an einer wild wuchernden Magnolie vorbeifuhren, dann an einem Walnuss- oder Kastanienwald, der wiederum an ein riesiges Baumwollfeld mit prallen Büscheln grenzte. Sie drehte unruhig ein dünnes Diamantenkettchen an ihrem Handgelenk, das sie sich selbst zu einem ihrer letzten Geburtstage geschenkt hatte, blickte auf den Schmuck und dann auf ihre schwitzenden Handflächen. Sie legte die Hände auf ihren dunkelblauen Rock. Unter meiner Obhut hatte Alissa ausschließlich dunkle Sachen getragen. Es war eine Tarnung, aber nicht, weil sie das Ziel eines Profikillers war; es ging um ihr Gewicht, mit dem sie seit ihrer Pubertät zu kämpfen hatte. Ich wusste das, weil wir gemeinsam die Mahlzeiten einnahmen und ich den Kampf aus der Nähe beobachten konnte. Sie hatte außerdem ziemlich viel über ihre Gewichtsprobleme gesprochen. Manche Mandanten brauchen oder wollen keine Kameradschaft. Für andere wie Alissa müssen wir Freunde sein. Ich bin nicht sehr gut in dieser Rolle, aber ich gebe mir Mühe, und im Allgemeinen kriege ich es hin.
Wir kamen an einem Schild vorbei. Noch eineinhalb Meilen bis zur Ausfahrt.
Ein Geschäft erfordert einfache, kluge Planung. Man darf bei so einer Tätigkeit nicht nur reagieren, und obwohl ich das Wort »proaktiv« hasse (im Gegensatz wozu? - »antiaktiv«?), ist die Idee dahinter von entscheidender Bedeutung für unser Handeln. Das in diesem Fall darin bestand, Alissa gesund und wohlbehalten beim Staatsanwalt abzuliefern, damit sie ihre Aussagen machen konnte. Ich musste den Killer im Spiel lassen. Da ihm mein geschäftlicher Ziehsohn seit Stunden folgte, wussten wir, wo er war, und hätten ihn jederzeit ausschalten können. Aber in diesem Fall hätte sein unbekannter Auftraggeber schlicht jemand anderen für den Job angeheuert. Ich wollte, dass der Killer den größten Teil des Tages auf der Straße verbrachte - bis Alissa im Büro des Staatsanwalts gewesen war und diesem per eidlicher Aussage so viele Informationen hatte zukommen lassen, dass sie nicht mehr in Gefahr war. Sobald eine Aussage niedergeschrieben ist, hat der Killer keinen Anlass mehr, einen Zeugen auszuschalten.
Der Plan, den ich mir mit Hilfe meines Ziehsohns ausgedacht hatte, sah vor, dass ich den Geflügellaster überholte und mich vor ihm wieder einreihte. Der Killer würde Gas geben, damit wir in Sichtweite für ihn blieben, aber ehe er nahe genug kam, würden der Lkw und ich gleichzeitig den Highway verlassen. Wegen der Biegung der Straße und der besonderen Ausfahrt, die ich mir ausgesucht hatte, würde der Killer meinen Wagen nicht sehen können und von da ab unserem Double folgen. Ich würde dann mit Alissa über eine komplizierte Route zu einem Hotel in Raleigh fahren, wo der Staatsanwalt wartete, während unser Double schließlich im drei Stunden entfernten Charlotte vor dem Gerichtsgebäude halten würde. Bis der Killer erkannte, dass er einem falschen Ziel gefolgt war, würde es zu spät sein. Er würde seinen Auftraggeber anrufen, und höchstwahrscheinlich würden sie den versuchten Anschlag aufgeben. Dann würden wir einschreiten, den Killer verhaften und versuchen, ihn zu seinem Auftraggeber zurückzuverfolgen.
Wir hatten uns der Ausfahrt auf etwa eine Meile genähert. Ein Blick in den Rückspiegel - der graue Hyundai hielt seine Position. Der Geflügellaster war zehn Meter vor uns.
Ich sah zu Alissa hinüber, die jetzt mit einem Halsband aus Gold und Amethyst spielte. Ihre Mutter hatte es ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt, es hatte mehr gekostet, als sich die Familie leisten konnte, war jedoch ein unausgesprochener Trostpreis für das Ausbleiben einer Einladung zum Abschlussball der Highschool gewesen. Die Leute neigen dazu, ihren Lebensrettern ziemlich viel zu erzählen.
Mein Telefon läutete. Ich nahm das Gespräch an.
»Das Subjekt hat ein bisschen aufgeholt«, berichtete mein
Ziehsohn. »Er ist etwa zweihundert Meter hinter dem Lkw.« »Wir sind fast da«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«
Ich überholte den Geflügellaster zügig und scherte hinter unserem Double wieder ein - dicht hinter ihm. Der Wagen wurde von einem Mann aus unserer Organisation gesteuert, die Beifahrerin war eine FBI-Agentin, die Alissa ähnelte. Die Auswahl des Mitarbeiters, der meine Rolle spielte, hatte für einige Heiterkeit im Büro gesorgt. Ich habe einen rundlichen Kopf und Ohren, die eine Idee weiter abstehen, als mir lieb ist, habe borstiges, rotes Haar und bin nicht sehr groß. Und so verbrachten sie im Büro offenbar ein, zwei Stunden bei einem improvisierten Casting, um den koboldähnlichsten Mitarbeiter zu finden, der mich darstellen sollte.
»Status?«, fragte ich ins Telefon.
»Er hat die Spur gewechselt und beschleunigt ein wenig.« Es gefiel ihm wohl nicht, dass er mich nicht mehr sah. »Warte ... «, hörte ich. »Warte ... «
Ich würde meinen Protegé daran erinnern müssen, auf unnötige Kommunikation zu verzichten; zwar wurden unsere Worte von einer Sprachsoftware zerhackt, aber die Tatsache, dass ein Gespräch stattgefunden hatte, konnte entdeckt werden. Er würde die Lektion schnell lernen und behalten.
»Ich komme zur Ausfahrt. Okay ... und tschüs.«
Mit immer noch gut neunzig Stundenkilometern wechselte ich auf die Ausfahrtspur und bog um die Kurve, die dicht von Bäumen gesäumt war. Der Geflügellaster klebte an meiner Stoßstange.
»Gut«, berichtete mein Ziehsohn. »Subjekt hat nicht einmal in eure Richtung geschaut. Er hat das Double in Sicht und geht wieder auf das Tempolimit zurück.«
Ich hielt an der roten Ampel, wo die Ausfahrt in die Route 18 mündet, und bog dann rechts ab. Der Geflügellaster nahm die andere Richtung.
»Subjekt setzt seine Fahrt fort«, meldete sich die Stimme meines Ziehsohns. »Scheint alles gut zu klappen.« Seine Stimme war ruhig und gelassen. Ich bin selbst ziemlich distanziert bei Operationen, aber er übertrifft mich noch. Er lächelt selten und scherzt nie, und in Wahrheit weiß ich kaum etwas über ihn, obwohl wir seit mehreren Jahren teilweise sehr eng zusammenarbeiten. Ich würde dieses Düstere an ihm gern ändern; nicht wegen des Jobs - da ist er wirklich sehr, sehr gut -, sondern einfach, weil ich wünschte, er hätte mehr Freude bei unserer Arbeit. Die Aufgabe, Menschen zu schützen, kann sehr befriedigend sein, sogar Spaß machen. Vor allem, wenn es um den Schutz von Familien geht, wie es häufig der Fall ist.
Ich wies ihn an, mich auf dem Laufenden zu halten, und wir trennten die Verbindung.
»Dann sind wir also sicher?«, fragte Alissa.
»Wir sind sicher«, antwortete ich und beschleunigte auf achtzig, wo siebzig erlaubt war. Fünfzehn Minuten später näherten wir uns über Umwege den Außenbezirken von Raleigh, wo wir den Staatsanwalt wegen der eidlichen Aussagen treffen würden.
Der Himmel war bewölkt, und die Gegend ringsum sah wahrscheinlich seit Jahrzehnten gleich aus: Bauernhäuser im Bungalowstil, Scheunen, Anhänger und Motorfahrzeuge im Endstadium, die aber immer noch funktionierten, wenn man sie richtig pflegte und dazu noch etwas Glück hatte. Eine Tankstelle bot eine Benzinmarke an, von der ich noch nie gehört hatte. Hunde bissen träge nach Flöhen in ihrem Fell. Frauen in straff sitzenden Jeans beaufsichtigten ihren Nachwuchs. Männer mit bierschlanken Gesichtern und ausladenden Bäuchen saßen auf Veranden und warteten auf nichts. Wahrscheinlich wunderten sie sich über unseren Wagen - mit Insassen, wie man sie in dieser Gegend nicht häufig sah: einem Mann im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und eine Frau mit Kurzhaarschnitt.
Dann ließen wir die Wohnhäuser hinter uns und fuhren auf einer Straße, die weitere Felder zerschnitt. Ich bemerkte die Baumwollpflanzen mit ihrem an Popcorn erinnernden Bewuchs, und ich dachte daran, dass dieses Land vor hundertfünfzig Jahren von genau derselben Frucht bedeckt gewesen war; der Bürgerkrieg und die Menschen, für die man ihn ausgetragen hatte, waren im Süden nie weit entfernt.
Mein Telefon läutete, und ich meldete mich.
Die Stimme meines Ziehsohns klang dringlich. »Abe.«
»Hat er den Highway verlassen?«, fragte ich angespannt. Ich war nicht allzu besorgt; wir waren vor mehr als einer halben Stunde abgebogen. Der Killer war inzwischen wohl an die vierzig Meilen entfernt.
»Nein, er folgt immer noch dem Double. Aber gerade ist etwas passiert. Er hat einen Anruf von seinem Handy gemacht. Als er auflegte, hat er sich so merkwürdig übers Gesicht gewischt. Ich bin auf zwei Wagenlängen herangefahren. Es sah aus, als würde er weinen.«
Mein Atem ging schnell, als ich überlegte, welche Gründe es dafür geben konnte. Schließlich zeichnete sich ein plausibles und beunruhigendes Szenario ab: Was, wenn der Killer vorausgeahnt hatte, dass wir ein Double einsetzen würden, und seinerseits ebenfalls eins benutzt hatte? Er hatte jemanden, der ihm ähnlich sah, gezwungen, uns zu folgen - so wie es der Kobold-Typ in unserem Wagen tat. Das Telefongespräch, dessen Zeuge mein Ziehsohn eben geworden war, könnte zwischen dem Fahrer und dem echten Täter, der wahrscheinlich Frau oder Kinder des Mannes als Geiseln hielt, geführt worden sein.
Aber dies bedeutete dann, dass der echte Killer woanders sein konnte, und ...
Etwas Weißes blitzte in der Einfahrt einer verfallenen, aufgegebenen Tankstelle links von mir auf, und ein weißer Ford Pick-up raste über die Straße auf uns zu. Das Fahrzeug, dessen Front mit einem Metallgitter geschützt war, krachte in unsere Fahrerseite und schob uns problemlos durch ein hohes Unkrautgestrüpp in einen flachen Graben. Alissa schrie; ich stöhnte vor Schmerz und hörte, wie mein Ziehsohn am Telefon meinen Namen schrie, dann flogen das Handy und das schnurlose Headset
durch den Wagen, angetrieben von dem explodierenden Airbag.
Wir stürzten eine anderthalb Meter tiefe Böschung hinunter und kamen unspektakulär auf dem sumpfigen Grund eines seichten Bachs zu liegen.
Ach, er hatte seinen Angriff perfekt geplant. Bevor ich auch nur meinen Sicherheitsgurt lösen konnte, um an meine Waffe heranzukommen, hatte er einen Hammer durch das Fahrerfenster geschwungen, dieses zertrümmert und mich mit demselben Schlag halb betäubt. Meine Glock wurde mir vom Gürtel gerissen und eingesteckt. Schulter ausgekugelt, dachte ich, nicht viel Blut. Ich spuckte Glasscherben aus und sah zu Alissa hinüber. Auch sie war benommen, schien aber nicht schwer verletzt zu sein. Der Killer hatte keine Schusswaffe in der Hand, nur den Hammer, und ich dachte, wenn sie sofort floh, könnte sie eine Chance haben, ins Unterholz zu entkommen. Keine große Chance, aber besser als nichts. Sie würde sich allerdings beeilen müssen. »Lauf, Alissa! Nach links! Sofort!«
Sie drückte die Tür auf und rollte sich aus dem Wagen.
Ich blickte zur Straße zurück. Alles, was ich sah, war der weiße Pick-up, der auf dem Bankett neben einem Bachlauf stand. Er versperrte perfekt die Sicht von der Straße her. Genau wie ich vorhin einen Lkw benutzt hatte, um mich aus dem Staub zu machen, dachte ich grimmig.
Der Killer langte jetzt durchs Fenster, um meine Tür zu entriegeln. Ich kniff vor Schmerzen die Augen zusammen, dankbar dafür, dass sich der Mann so viel Zeit ließ. Es verschaffte Alissa mehr Vorsprung. Meine Leute konnten unsere exakte Position per GPS feststellen, und in fünfzehn, zwanzig Minuten würde vielleicht schon Polizei zur Stelle sein. Alissa konnte es schaffen. Bitte, dachte ich und wandte den Kopf in Richtung ihres Fluchtwegs, den schmalen Bachlauf entlang.
Nur dass sie nirgendwohin lief.
Sie stand mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen neben dem Wagen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. War sie schlimmer verletzt, als ich gedacht hatte?
Meine Tür wurde geöffnet, der Killer zerrte mich aus dem Wagen und legte mir sachkundig Nylonfesseln an den Händen an. Er ließ mich los, und ich sackte in den säuerlich riechenden Schlamm neben laut zirpende Grillen.
Fesseln?, wunderte ich mich. Ich sah Alissa wieder an, die jetzt am Wagen lehnte und es nicht fertigbrachte, in meine Richtung zu blicken. »Bitte«, wandte sie sich an unseren Angreifer. »Meine Mutter?«
Nein, sie war nicht benommen, und sie war nicht schwer verletzt, und ich begriff, warum sie nicht weglief. Sie hatte keinen Grund dazu.
Sie war nicht das Ziel.
Das war ich.
...
Übersetzung: Fred Kinzel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Jeffery Deaver
Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat Jeffery Deaver sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht. Nach der weltweit erfolgreichen Kinoverfilmung begeisterte auch die TV-Serie um das faszinierende Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhyme und Amelia Sachs die Zuschauer. Neben Lincoln Rhyme hat Deaver mit Colter Shaw einen weiteren außergewöhnlichen Serienhelden geschaffen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeffery Deaver
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 509 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Fred Kinzel
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 344237720X
- ISBN-13: 9783442377206
- Erscheinungsdatum: 14.03.2012
Rezension zu „Schutzlos “
"Rasant."
Pressezitat
"Rasant." tv-media
Kommentare zu "Schutzlos"
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