Schwarzer Schmetterling
Psychothriller. Ausgezeichnet mit dem Prix Polar 2011
Es beginnt mit einem grauenvoll inszenierten Pferdekadaver und wird zu einem unfassbaren Gewaltexzess.
Wie ein riesiger schwarzer Schmetterling hängt das tote Pferd an der eisigen Felswand in den Pyrenäen. Das Werk eines...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schwarzer Schmetterling “
Es beginnt mit einem grauenvoll inszenierten Pferdekadaver und wird zu einem unfassbaren Gewaltexzess.
Wie ein riesiger schwarzer Schmetterling hängt das tote Pferd an der eisigen Felswand in den Pyrenäen. Das Werk eines Wahnsinnigen? Am Tatort: DNA-Spuren des hochintelligenten Serienmörders Julian Hirtmann. Doch der sitzt seit Jahren im Hochsicherheitstrakt einer psychiatrischen Anstalt. Commandant Servaz, ein manischer Ermittler, versucht zusammen mit der Anstaltpsychologin Diane Berg das Rätsel zu lösen. Da nimmt eine beispiellose Mordserie ihren Lauf - die Opfer allesamt makaber inszeniert. Was weiß Psychopath Julian Hirtmann wirklich?
"Dieser Blick in Miniers eisige Welt ist schlicht atemberaubend."
LE FIGARO
Klappentext zu „Schwarzer Schmetterling “
Bei eisiger Dezemberkälte schweben zwei Arbeiter in einer Seilbahn zu einem Wasserkraftwerk in 2000 Meter Höhe. An der Bergstation machen sie eine verstörende Entdeckung: Ein riesiger, bedrohlich schwarzer Schmetterling scheint sich von den schnee- und blutbedeckten Felsen abzuheben. Ein Tierkadaver, grauenvoll inszeniert. Das Werk eines Wahnsinnigen? Am Tatort werden DNA-Spuren des hochintelligenten Serienmörders Julian Hirtmann gefunden. Doch dieser sitzt seit Jahren im Hochsicherheitstrakt einer hermetisch abgeriegelten psychiatrischen Anstalt. Wie konnte der gefährlichste Serientäter Europas am Tatort seine Spuren hinterlassen, obwohl er nie seine Zelle verlassen hat? Noch während Commandant Servaz und die junge Anstaltspsychologin Diane Berg versuchen, das Rätsel um den schwarzen Schmetterling zu lösen, wird der kleine französische Ort von einer kaltblütig inszenierten Mordserie erschüttert, die die Ermittler an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit bringt
Bei eisiger Dezemberkälte schweben zwei Arbeiter in einer Seilbahn zu einem Wasserkraftwerk in 2000 Meter Höhe. An der Bergstation machen sie eine verstörende Entdeckung: Ein riesiger, bedrohlich schwarzer Schmetterling scheint sich von den schnee- und blutbedeckten Felsen abzuheben. Ein Tierkadaver, grauenvoll inszeniert. Das Werk eines Wahnsinnigen? Am Tatort werden DNA-Spuren des hochintelligenten Serienmörders Julian Hirtmann gefunden. Doch dieser sitzt seit Jahren im Hochsicherheitstrakt einer hermetisch abgeriegelten psychiatrischen Anstalt. Wie konnte der gefährlichste Serientäter Europas am Tatort seine Spuren hinterlassen, obwohl er nie seine Zelle verlassen hat? Noch während Commandant Servaz und die junge Anstaltspsychologin Diane Berg versuchen, das Rätsel um den schwarzen Schmetterling zu lösen, wird der kleine französische Ort von einer kaltblütig inszenierten Mordserie erschüttert, die die Ermittler an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit bringt ...
Lese-Probe zu „Schwarzer Schmetterling “
Schwarzer Schmetterling von Bernard MinierPROLOG
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Dgdgdgdgdgd - tacktacktack - dgdgdgdgdgd - tacktack
Die Geräusche: das regelmäßige vom Seil und, in Abständen, von den Rädern der Seilbahnstützen, wenn die Rollenbatterie darüber hinwegglitt und die Kabine dabei kurz gerüttelt wurde. Hinzu kam das allgegenwärtige helle Klagen des Windes, das an die Stimmen verzweifelter Kinder erinnerte. Und schließlich die Geräusche der Kabineninsassen, die brüllten, um den Krach zu übertönen. Sie waren zu fünft - Huysmans inklusive.
Dgdgdgdgdgd - tacktacktack - dgdgdgdgdgd - tacktack
»Verdammt, bei diesem Wetter hab ich keinen Bock, da hochzufahren!«, sagte einer von ihnen.
Schweigend wartete Huysmans, dass der untere See auftauchte - tausend Meter unter ihnen, durch das Schneegestöber, das die Kabine umwirbelte. Die Seile wirkten befremdlich schlaff, und sie beschrieben eine doppelte Kurve, die träge im winterlichen Grau versank.
Die Wolken rissen auf. Kurz kam der See zum Vorschein. Einen Moment lang glich er einer Lache unter dem Himmel, einem einfachen Wasserloch zwischen den Gipfeln und den Wolkenbändern, an denen die Grate zupften.
»Was schert uns das Wetter?«, sagte ein anderer. »Wir werden so oder so eine ganze Woche auf diesem verdammten Berg festsitzen!«
Das Wasserkraftwerk von Arruns: eine Reihe von Hallen und Stollen, die siebzig Meter tief in den Fels vorgetrieben worden waren, und das in zweitausend Meter Höhe. Der längste Stollen war elf Kilometer lang. Er leitete Wasser vom oberen See zu den Fallleitungen: Röhren von anderthalb Meter Durchmesser an der steilen Flanke des Berges, die das Wasser des oberen Sees zu den gierigen Turbinen der Hydrogeneratoren im Talgrund hinabsausen ließen. Es gab nur einen einzigen Weg ins Innere des Kraftwerks mitten im Berg: einen Zugangsschacht, dessen Eingang sich in Gipfelnähe befand, dann der Abstieg im Lastenaufzug bis zum Hauptstollen und weiter bei geschlossenen Schiebern auf zweisitzigen Schleppern: eine einstündige Reise ins Herz der Finsternis, durch Gänge mit einer Gesamtlänge von acht Kilometern.
Alternativ transportierte einen der Hubschrauber - das aber nur im Notfall. In der Nähe des oberen Sees war ein Landeplatz angelegt worden, der aber nur bei günstigen Wetterverhältnissen angeflogen werden konnte.
»Joachim hat recht«, sagte der Älteste. »Bei diesem Wetter könnte der Hubschrauber nicht mal landen.«
Sie alle wussten, was das bedeutete: Sobald die Schieber wieder geöffnet wären, würden sich Tausende Kubikmeter Wasser aus dem oberen See tosend in den Stollen ergießen, den sie in einigen Minuten nehmen würden. Bei einem Unfall würde es zwei Stunden dauern, um ihn wieder zu leeren, eine weitere Stunde der Weg mit dem Schlepper durch den Stollen bis zum Zugangsschacht, fünfzehn Minuten der Aufstieg ins Freie, zehn Minuten die Fahrt in der Seilbahnkabine zur Talstation und nochmals dreißig Fahrminuten bis nach Saint-Martin-de-Comminges - sofern die Straße nicht unpassierbar war.
Bei einem Unfall würde es ganze vier Stunden dauern, bis sie ein Krankenhaus erreichten. Und das Kraftwerk war in die Jahre gekommen ... Seit 1929 war es jetzt in Betrieb. Jeden Winter, vor der Schneeschmelze, verbrachten sie in völliger Abgeschiedenheit vier Wochen dort oben, um diese vorsintflutlichen Maschinen zu warten und instand zu setzen. Eine beschwerliche und hochgefährliche Arbeit.
Huysmans beobachtete, wie sich, etwa hundert Meter von der Kabine entfernt, ein Adler vom Wind tragen ließ. Schweigend.
Er ließ den Blick zu dem schwindelerregenden Abgrund aus Eis schweifen, der sich unter dem Kabinenboden erstreckte. Die drei riesigen Fallleitungsröhren schienen an der Bergflanke zu kleben, wie sie da in den Abgrund hinabtauchten. Das Tal war schon längst nicht mehr in ihrem Blickfeld. Die letzte Seilbahnstütze war dreihundert Meter unter ihnen zu sehen; sie stand dort, wo die Flanke des Berges einen Vorsprung bildete, und zeichnete sich einsam in der Nebel suppe ab. Jetzt fuhr die Kabine in schnurgerader Linie zum Zugangsschacht hinauf. Sollte das Seil reißen, würde die Kabine etliche Dutzend Meter tief stürzen, bevor sie wie eine geknackte Nuss auf der Felswand zerbarst. Jetzt schwang sie im Sturm hin und her wie ein Korb am Arm einer Hausfrau.
»He, Koch, was gibt's diesmal zu essen?«
»Jedenfalls kein Bio!«
Nur Huysmans lachte nicht. Er verfolgte mit den Blicken einen gelben Kleinbus auf der Straße zum unteren Kraftwerk. Er gehörte dem Direktor. Dann verschwand auch der Kleinbus aus seinem Blickfeld, verschluckt von den Wolkenbändern, als würde eine Postkutsche von einer Indianerhorde eingeholt.
Jedes Mal, wenn er da hinauffuhr, hatte er das Gefühl, ein Stück grundlegende Wahrheit über sein Leben zu begreifen. In Worte aber hätte er sie nicht fassen können.
Huysmans blickte zum Gipfel hinauf.
Die Bergstation der Kabinenseilbahn - ein Metallgerüst, das an dem betonierten Vorbau vor dem Zugangsschacht verankert war - kam näher. Sobald die Kabine stand, würden die Männer über eine Reihe schmaler Stege und Treppen zu dem Betonbunker gehen.
Der Wind brauste. Draußen dürfte es um die minus zehn Grad haben.
Huysmans kniff die Augen zusammen.
Etwas an der Silhouette des Gerüsts wirkte merkwürdig. Als ob dort etwas zu viel wäre ...
Wie ein Schatten zwischen den Querstreben und Eisenträgern, über die heftige Windstöße hinwegfegten.
Ein Adler, dachte er, ein Adler hat sich in den Seilen und Rollen verfangen.
Nein, Unsinn! Aber genau das war es: ein großer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Ein Geier vielleicht, der in den Aufbauten hängen geblieben war, nicht mehr aus dem Gewirr von Gittern und Stangen herausgefunden hatte.
»He, schaut mal da!«
Joachims Stimme. Auch er hatte die merkwürdige Gestalt entdeckt. Die anderen wandten sich zu der Plattform um. »Mein Gott, was ist das denn?«
Das ist jedenfalls kein Vogel, dachte Huysmans.
Eine diffuse Beklemmung stieg in ihm auf. Dieses »Etwas« hing über der Plattform, direkt unter den Seilen und Rollen - als schwebte es in der Luft. Es glich einem riesigen schwarzen Schmetterling, einem düsteren, unheilbringenden Schmetterling, der sich scharf gegen den weißen Hintergrund aus Schnee und Wolken abhob.
»Verdammt noch mal, was soll das denn sein?«
Die Kabine wurde langsamer. Sie erreichten ihr Ziel. Die Gestalt wurde größer.
»Heilige Muttergottes!«
Es war weder ein Schmetterling noch ein Vogel.
Die Kabine hielt an, die Türen glitten automatisch auf. Eine eisige Bö klatschte ihnen Schneeflocken ins Gesicht.
Aber niemand stieg aus. Sie blieben stehen und betrachteten dieses Werk des Wahns und des Todes. Ein Anblick, den sie gewiss nie vergessen würden.
Der Wind heulte um die Plattform herum. Huysmans hörte jetzt keine Kinderschreie mehr, sondern das furchtbare Heulen von Gefolterten, das vom Brüllen des Windes übertönt wurde. Sie wichen einen Schritt ins Innere der Kabine zurück.
Die Angst traf sie mit der Wucht eines fahrenden Schnellzugs. Huysmans stürzte zum Funkhelm und setzte ihn auf. KRAFTWERK? HIER HUYSMANS! VERSTÄNDIGEN SIE DIE GENDARMERIE! SOFORT! SAGEN SIE IHNEN, SIE SOLLEN SICH BEEILEN! HIER IST EINE LEICHE! DA WAR IRGENDEIN IRRER AM WERK!
TEIL EINS
DER MANN, DER DIEPFERDE LIEBTE
1
DIE PYRENÄEN. In dem Moment, als Diane Berg die Kuppe des Hügels erreichte, sah sie den hoch aufragenden Gebirgszug vor sich.
Eine noch recht weit entfernte weiße Barriere, die sich über den gesamten Horizont hinzog: Wie Wogen brachen sich an diesen mächtigen Felsspornen die davorliegenden Hügel. Ein Raubvogel zog am Himmel seine Kreise.
Der 10. Dezember, neun Uhr morgens.
Wenn man der Straßenkarte auf dem Armaturenbrett Glauben schenken konnte, dann müsste sie die nächste Ausfahrt nehmen und Richtung Süden, nach Spanien, fahren. Ihr uralter Lancia hatte weder ein Navi noch einen Bordcomputer. Sie sah ein Schild über der Autobahn: »Ausfahrt Nr. 17, Montréjeau / Spanien, 1000 m«.
Diane hatte die Nacht in Toulouse verbracht. Ein preiswertes Hotel, ein winziges Zimmer mit einer Nasszelle aus Plastik und einem kleinen Fernseher. In der Nacht war sie durch mehrere Schreie geweckt worden. Mit klopfendem Herzen hatte sie sich ans Kopfende des Bettes gesetzt und die Ohren gespitzt - aber im Hotel war es mucksmäuschenstill geblieben, und sie hatte schon geglaubt, sie hätte geträumt, bis die Schreie von neuem begannen, noch lauter diesmal. Übelkeit überkam sie, bis ihr schließlich klar wurde, dass sich unter ihrem Fenster die Kater balgten. Danach hatte sie nicht mehr richtig einschlafen können. Noch am Vortag war sie in Genf gewesen und hatte ihren Abschied mit Kollegen und Freunden begossen. Sie hatte die Einrichtung ihres Wohnheimzimmers an der Universität betrachtet und sich gefragt, wie wohl das nächste aussehen würde. Als sie auf dem Parkplatz des Hotels mitten im Schneeregen, der auf die Autos niederging, ihren Lancia aufschloss,
war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie soeben ihre Jugend hinter sich ließ. Sie wusste, dass sie in ein oder zwei Wochen ihr früheres Leben vergessen hätte. Und nach ein paar Monaten wäre sie ein ganz anderer Mensch. Machte man sich klar, was für ein Ort in den kommenden zwölf Monaten den Rahmen ihres Lebens bilden würde, konnte es gar nicht anders sein. »Bleib du selbst«, hatte ihr Vater ihr mit auf den Weg gegeben. Als sie den kleinen Parkplatz verließ, um auf die schon jetzt verstopfte Autobahn zu fahren, fragte sie sich, ob die Veränderungen positiv ausfallen würden. Irgendjemand hat gesagt, manche Anpassungen seien Amputationen - da konnte sie nur hoffen, dass es bei ihr anders wäre.
Sie musste ständig an das Institut denken.
An die, die dort eingesperrt waren ...
Den ganzen Tag hatte ihr gestern der eine Gedanke keine Ruhe gelassen: Ich schaffe das nicht. Ich bin der Aufgabe nicht gewachsen. Obwohl ich mich vorbereitet habe und für die Stelle am besten qualifiziert bin, weiß ich überhaupt nicht, was mich erwartet. Diese Leute werden in mir lesen wie in einem offenen Buch.
Für sie waren es trotz allem Menschen und keine ... Monster.
Und doch waren sie genau dies: wahre Bestien, Menschen, die so wenig mit ihr, ihren Eltern und all ihren Bekannten gemeinsam hatten wie ein Tiger mit einer Hauskatze.
Tiger ...
Ja, das waren sie: unberechenbar, gefährlich und fähig zu unvorstellbaren Grausamkeiten. Tiger, die im Gebirge eingesperrt waren ...
An der Mautstelle merkte sie, dass sie vor lauter Grübeln vergessen hatte, wohin sie das Ticket gelegt hatte. Die Angestellte musterte sie streng, während sie fieberhaft erst das Handschuhfach und dann ihre Handtasche durchwühlte.
Dabei bestand kein Grund zur Eile: Weit und breit war sonst kein Auto in Sicht.
Im folgenden Kreisverkehr fuhr sie Richtung Spanien und Gebirge. Nach einigen Kilometern war die Ebene jäh zu Ende. Die ersten Ausläufer der Pyrenäen ragten empor, und neben der Straße wölbten sich sanfte, bewaldete Hügel, die allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gezackten hohen Gipfeln aufwiesen, die sie in der Ferne erblickte. Auch das Wetter änderte sich: Die Schneeflocken fielen dichter. Hinter einer Kurve erstreckte sich unterhalb der Straße unvermittelt eine Landschaft aus weißen Wiesen, Flüssen und Wäldern. Auf einer Anhöhe sah Diane eine gotische Kathedrale aus einem Marktflecken aufragen. Durch das Hin und Her der Scheibenwischer sah die Landschaft allmählich aus wie eine alte Radierung.
»Die Pyrenäen sind nicht die Schweiz«, hatte Spitzner sie gewarnt.
Am Straßenrand wurden die Schneehaufen immer höher.
Noch bevor sie die Straßensperre erkannte, sah sie durch die Schneeflocken hindurch die Blaulichter blinken. Es schneite immer heftiger. Die Männer von der Gendarmerie schwenkten mitten im Gestöber ihre Stablampen. Diane fiel auf, dass sie bewaffnet waren. Ein Kastenwagen und zwei Motorräder standen im schmutzigen Schnee am Straßenrand, unter hoch aufragenden Fichten. Sie ließ die Seitenscheibe herunter, und sofort benetzten große, flaumige Flocken ihr Gesicht und ihre Kleider.
»Papiere, bitte, Mademoiselle!«
Sie lehnte sich vor, um sie aus dem Handschuhfach zu holen. Sie hörte den knisternden Schwall von Durchsagen aus den Funkgeräten, vermischt mit dem schnellen Quietschen der Scheibenwischer und dem vorwurfsvollen Rattern ihres Auspuffs. Klamme Kälte hüllte ihr Gesicht ein.
»Sind Sie Journalistin?«
»Psychologin. Ich bin auf dem Weg zum Institut Wargnier.« Der Beamte sah sie durch das offene Fenster prüfend an. Ein großer blonder Typ, der fast eins neunzig groß sein musste. Durch das Knistern der verschiedenen Funkgeräte hindurch hörte sie im Wald den Fluss tosen.
»Was machen Sie hier? Die Schweiz ist ja nicht gerade um die Ecke hier.«
»Das Institut Wargnier ist eine psychiatrische Klinik, und ich bin Psychologin: Sehen Sie den Zusammenhang?«
Er reichte ihr die Papiere.
»In Ordnung. Sie können weiterfahren.«
Als sie wieder anfuhr, fragte sie sich, ob die französische Polizei Autofahrer immer so kontrollierte oder ob etwas passiert war. Die Straße verlief dicht am Ufer des Flusses (einem »Gave«, laut ihrem Reiseführer), der sich hinter den Bäumen durch die Landschaft schlängelte. Unvermittelt wich der Wald einer Ebene, die gut fünf Kilometer breit sein mochte. Eine lange, gerade Allee, gesäumt von verlassenen Campingplätzen, deren Banner traurig im Wind flatterten, hübsche Häuser im Chalet-Stil, eine endlose Reihe von Werbeplakaten, die die Vorzüge der nahen Wintersportorte rühmten ...
»IM HINTERGRUND SAINT-MARTIN-DE-COMMINGES, 20 863 EINWOHNER« - so stand es jedenfalls auf dem in leuchtenden Farben gemalten Schild. Durch die Wolken, die die aufragenden Gipfel über der Stadt verhüllten, brachen hier und da Lichtstreifen, die wie ein Scheinwerfer einen Bergkamm oder das Profil eines Gebirgspasses grell ausleuchteten. Am ersten Kreisverkehr fuhr Diane nicht mehr Richtung »Stadtmitte«, sondern rechts in eine kleine Straße und hinter einem Gebäude entlang, dessen großes Schaufenster in Neonlettern verkündete: Sport & Natur. Auf den Straßen waren ziemlich viele Fußgänger unterwegs, und überall standen parkende Autos. »Das ist kein sehr unterhaltsamer Ort für eine junge Frau.« Die Worte Spitzners fielen ihr wieder ein, als sie, begleitet von dem vertrauten und beruhigenden Geräusch der Scheibenwischer, durch die Straßen fuhr.
Die Straße stieg an. Am Fuß des Hanges erblickte sie kurz die dichtgedrängten Dächer. Der Schnee am Boden verwandelte sich in schwärzlichen Matsch, der gegen den Boden der Karosserie peitschte. »Bist du sicher, dass du dort arbeiten willst? Das ist etwas ganz anderes als in Champ-Dollon.« Champ-Dollon hieß das schweizerische Gefängnis, wo sie nach ihrem Psychologie-Diplom als forensische Gutachterin tätig gewesen war und Sexualstraftäter betreut hatte. Sie hatte dort mit Serienvergewaltigern zu tun gehabt, mit Pädophilen und mit intrafamiliärem sexuellem Missbrauch - ein verwaltungstechnischer Euphemismus für inzestuöse Vergewaltigungen. Sie hatte als Zweitgutachterin auch Glaubwürdigkeitsgutachten über Minderjährige erstellt, die behaupteten, Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein - und hatte mit Schrecken festgestellt, wie sehr ideologische und moralische Vorurteile des Gutachters diese Expertisen verzerren konnten.
»Man hört merkwürdige Geschichten über das Institut Wargnier«, hatte Spitzner gesagt.
»Ich habe mit Dr. Wargnier telefoniert. Er hat einen sehr guten Eindruck auf mich gemacht.«
»Wargnier ist ein sehr liebenswürdiger Mensch«, hatte Spitzner zugegeben.
Sie wusste allerdings, dass nicht Wargnier selbst sie empfangen würde, sondern dessen Nachfolger als Leiter der Klinik: Dr. Xavier, der vom Institut Pinel im kanadischen Montréal kam. Wargnier war vor sechs Monaten in den Ruhestand getreten. Er hatte ihre Bewerbung geprüft und ihre Einstellung befürwortet, bevor er sich zurückzog. Im Laufe ihrer vielen Telefonate hatte er sie auch vor den Schwierigkeiten gewarnt, die sie an diesem Arbeitsplatz erwarteten.
»Für eine junge Frau ist es nicht leicht hier, Dr. Berg. Ich meine damit nicht nur die Klinik, sondern die ganze Region. Dieses Tal ... Saint-Martin ... die Pyrenäen ... Comminges. Die Winter sind lang, es gibt wenig Zeitvertreib. Außer natürlich Wintersport, wenn Sie den mögen.«
»Ich bin Schweizerin, vergessen Sie das nicht«, hatte sie gescherzt.
»Da möchte ich Ihnen einen Rat geben: Lassen Sie sich nicht von Ihrer Arbeit auffressen, verschaffen Sie sich Freiräume - und verbringen Sie Ihre Freizeit draußen. Die Klinik ist ein Ort, der auf Dauer ... belastend werden kann ...«
»Ich werde versuchen, daran zu denken.«
»Noch etwas: Ich werde nicht das Vergnügen haben, Sie zu begrüßen. Darum wird sich mein Nachfolger kümmern, Dr. Xavier aus Montréal. Ein sehr renommierter Praktiker. Er sollte nächste Woche hier eintreffen. Er ist voller Tatendrang. Wie Sie wissen, ist man uns in Kanada, was die Behandlung aggressiver Patienten anlangt, etwas voraus. Es dürfte für Sie interessant sein, Ihre Standpunkte auszutauschen.«
»Das denke ich auch.«
»Ich hätte jedenfalls schon längst einen Stellvertreter einstellen sollen. Ich habe zu wenig delegiert.«
Wieder fuhr Diane unter dem geschlossenen Kronendach der Bäume. Die Straße war nicht weiter angestiegen, sie führte jetzt durch ein bewaldetes schmales Tal, das von einer seltsamen Atmosphäre unheilvoller Gemütlichkeit erfüllt zu sein schien. Diane hatte ihr Fenster einen Spaltbreit geöffnet, und ein durchdringender Geruch nach Laub, Moos, Tannennadeln und nassem Schnee kitzelte sie in der Nase. Das Brausen des nahen Wildbachs überdeckte fast den Lärm des Motors. »Eine einsame Gegend«, sagte sie laut zu sich selbst, um sich Mut zu machen.
Im Grau dieses Wintermorgens fuhr sie vorsichtig. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer spießten die Stämme der Tannen und Buchen auf. Eine Stromleitung folgte der Straße; Äste stützten sich darauf, als hätten sie nicht mehr die Kraft, sich selbst zu tragen. Manchmal wich der Wald vor verschlossenen, aufgegebenen Scheunen mit moosbedeckten Schieferdächern zurück.
Etwas weiter weg, hinter einer Kurve, sah sie kurz ein paar Gebäude. Nach der Kurve tauchten sie wieder auf. Mehrere Beton- und Holzhäuser direkt am Waldsaum, mit großen Fensterfronten im Erdgeschoss. Von der Straße ging ein Weg ab, der den Wildbach auf einer Eisenbrücke überquerte und durch eine verschneite Wiese bis zu der Anlage führte. Die baufällig wirkenden Gebäude schienen verlassen. Ohne dass sie begriff, wieso, jagten ihr diese leeren Häuser, die so tief in diesem Tal wie verloren wirkten, einen kalten Schauer über den Rücken.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
© DROEMER KNAUR Verlag
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Die Geräusche: das regelmäßige vom Seil und, in Abständen, von den Rädern der Seilbahnstützen, wenn die Rollenbatterie darüber hinwegglitt und die Kabine dabei kurz gerüttelt wurde. Hinzu kam das allgegenwärtige helle Klagen des Windes, das an die Stimmen verzweifelter Kinder erinnerte. Und schließlich die Geräusche der Kabineninsassen, die brüllten, um den Krach zu übertönen. Sie waren zu fünft - Huysmans inklusive.
Dgdgdgdgdgd - tacktacktack - dgdgdgdgdgd - tacktack
»Verdammt, bei diesem Wetter hab ich keinen Bock, da hochzufahren!«, sagte einer von ihnen.
Schweigend wartete Huysmans, dass der untere See auftauchte - tausend Meter unter ihnen, durch das Schneegestöber, das die Kabine umwirbelte. Die Seile wirkten befremdlich schlaff, und sie beschrieben eine doppelte Kurve, die träge im winterlichen Grau versank.
Die Wolken rissen auf. Kurz kam der See zum Vorschein. Einen Moment lang glich er einer Lache unter dem Himmel, einem einfachen Wasserloch zwischen den Gipfeln und den Wolkenbändern, an denen die Grate zupften.
»Was schert uns das Wetter?«, sagte ein anderer. »Wir werden so oder so eine ganze Woche auf diesem verdammten Berg festsitzen!«
Das Wasserkraftwerk von Arruns: eine Reihe von Hallen und Stollen, die siebzig Meter tief in den Fels vorgetrieben worden waren, und das in zweitausend Meter Höhe. Der längste Stollen war elf Kilometer lang. Er leitete Wasser vom oberen See zu den Fallleitungen: Röhren von anderthalb Meter Durchmesser an der steilen Flanke des Berges, die das Wasser des oberen Sees zu den gierigen Turbinen der Hydrogeneratoren im Talgrund hinabsausen ließen. Es gab nur einen einzigen Weg ins Innere des Kraftwerks mitten im Berg: einen Zugangsschacht, dessen Eingang sich in Gipfelnähe befand, dann der Abstieg im Lastenaufzug bis zum Hauptstollen und weiter bei geschlossenen Schiebern auf zweisitzigen Schleppern: eine einstündige Reise ins Herz der Finsternis, durch Gänge mit einer Gesamtlänge von acht Kilometern.
Alternativ transportierte einen der Hubschrauber - das aber nur im Notfall. In der Nähe des oberen Sees war ein Landeplatz angelegt worden, der aber nur bei günstigen Wetterverhältnissen angeflogen werden konnte.
»Joachim hat recht«, sagte der Älteste. »Bei diesem Wetter könnte der Hubschrauber nicht mal landen.«
Sie alle wussten, was das bedeutete: Sobald die Schieber wieder geöffnet wären, würden sich Tausende Kubikmeter Wasser aus dem oberen See tosend in den Stollen ergießen, den sie in einigen Minuten nehmen würden. Bei einem Unfall würde es zwei Stunden dauern, um ihn wieder zu leeren, eine weitere Stunde der Weg mit dem Schlepper durch den Stollen bis zum Zugangsschacht, fünfzehn Minuten der Aufstieg ins Freie, zehn Minuten die Fahrt in der Seilbahnkabine zur Talstation und nochmals dreißig Fahrminuten bis nach Saint-Martin-de-Comminges - sofern die Straße nicht unpassierbar war.
Bei einem Unfall würde es ganze vier Stunden dauern, bis sie ein Krankenhaus erreichten. Und das Kraftwerk war in die Jahre gekommen ... Seit 1929 war es jetzt in Betrieb. Jeden Winter, vor der Schneeschmelze, verbrachten sie in völliger Abgeschiedenheit vier Wochen dort oben, um diese vorsintflutlichen Maschinen zu warten und instand zu setzen. Eine beschwerliche und hochgefährliche Arbeit.
Huysmans beobachtete, wie sich, etwa hundert Meter von der Kabine entfernt, ein Adler vom Wind tragen ließ. Schweigend.
Er ließ den Blick zu dem schwindelerregenden Abgrund aus Eis schweifen, der sich unter dem Kabinenboden erstreckte. Die drei riesigen Fallleitungsröhren schienen an der Bergflanke zu kleben, wie sie da in den Abgrund hinabtauchten. Das Tal war schon längst nicht mehr in ihrem Blickfeld. Die letzte Seilbahnstütze war dreihundert Meter unter ihnen zu sehen; sie stand dort, wo die Flanke des Berges einen Vorsprung bildete, und zeichnete sich einsam in der Nebel suppe ab. Jetzt fuhr die Kabine in schnurgerader Linie zum Zugangsschacht hinauf. Sollte das Seil reißen, würde die Kabine etliche Dutzend Meter tief stürzen, bevor sie wie eine geknackte Nuss auf der Felswand zerbarst. Jetzt schwang sie im Sturm hin und her wie ein Korb am Arm einer Hausfrau.
»He, Koch, was gibt's diesmal zu essen?«
»Jedenfalls kein Bio!«
Nur Huysmans lachte nicht. Er verfolgte mit den Blicken einen gelben Kleinbus auf der Straße zum unteren Kraftwerk. Er gehörte dem Direktor. Dann verschwand auch der Kleinbus aus seinem Blickfeld, verschluckt von den Wolkenbändern, als würde eine Postkutsche von einer Indianerhorde eingeholt.
Jedes Mal, wenn er da hinauffuhr, hatte er das Gefühl, ein Stück grundlegende Wahrheit über sein Leben zu begreifen. In Worte aber hätte er sie nicht fassen können.
Huysmans blickte zum Gipfel hinauf.
Die Bergstation der Kabinenseilbahn - ein Metallgerüst, das an dem betonierten Vorbau vor dem Zugangsschacht verankert war - kam näher. Sobald die Kabine stand, würden die Männer über eine Reihe schmaler Stege und Treppen zu dem Betonbunker gehen.
Der Wind brauste. Draußen dürfte es um die minus zehn Grad haben.
Huysmans kniff die Augen zusammen.
Etwas an der Silhouette des Gerüsts wirkte merkwürdig. Als ob dort etwas zu viel wäre ...
Wie ein Schatten zwischen den Querstreben und Eisenträgern, über die heftige Windstöße hinwegfegten.
Ein Adler, dachte er, ein Adler hat sich in den Seilen und Rollen verfangen.
Nein, Unsinn! Aber genau das war es: ein großer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Ein Geier vielleicht, der in den Aufbauten hängen geblieben war, nicht mehr aus dem Gewirr von Gittern und Stangen herausgefunden hatte.
»He, schaut mal da!«
Joachims Stimme. Auch er hatte die merkwürdige Gestalt entdeckt. Die anderen wandten sich zu der Plattform um. »Mein Gott, was ist das denn?«
Das ist jedenfalls kein Vogel, dachte Huysmans.
Eine diffuse Beklemmung stieg in ihm auf. Dieses »Etwas« hing über der Plattform, direkt unter den Seilen und Rollen - als schwebte es in der Luft. Es glich einem riesigen schwarzen Schmetterling, einem düsteren, unheilbringenden Schmetterling, der sich scharf gegen den weißen Hintergrund aus Schnee und Wolken abhob.
»Verdammt noch mal, was soll das denn sein?«
Die Kabine wurde langsamer. Sie erreichten ihr Ziel. Die Gestalt wurde größer.
»Heilige Muttergottes!«
Es war weder ein Schmetterling noch ein Vogel.
Die Kabine hielt an, die Türen glitten automatisch auf. Eine eisige Bö klatschte ihnen Schneeflocken ins Gesicht.
Aber niemand stieg aus. Sie blieben stehen und betrachteten dieses Werk des Wahns und des Todes. Ein Anblick, den sie gewiss nie vergessen würden.
Der Wind heulte um die Plattform herum. Huysmans hörte jetzt keine Kinderschreie mehr, sondern das furchtbare Heulen von Gefolterten, das vom Brüllen des Windes übertönt wurde. Sie wichen einen Schritt ins Innere der Kabine zurück.
Die Angst traf sie mit der Wucht eines fahrenden Schnellzugs. Huysmans stürzte zum Funkhelm und setzte ihn auf. KRAFTWERK? HIER HUYSMANS! VERSTÄNDIGEN SIE DIE GENDARMERIE! SOFORT! SAGEN SIE IHNEN, SIE SOLLEN SICH BEEILEN! HIER IST EINE LEICHE! DA WAR IRGENDEIN IRRER AM WERK!
TEIL EINS
DER MANN, DER DIEPFERDE LIEBTE
1
DIE PYRENÄEN. In dem Moment, als Diane Berg die Kuppe des Hügels erreichte, sah sie den hoch aufragenden Gebirgszug vor sich.
Eine noch recht weit entfernte weiße Barriere, die sich über den gesamten Horizont hinzog: Wie Wogen brachen sich an diesen mächtigen Felsspornen die davorliegenden Hügel. Ein Raubvogel zog am Himmel seine Kreise.
Der 10. Dezember, neun Uhr morgens.
Wenn man der Straßenkarte auf dem Armaturenbrett Glauben schenken konnte, dann müsste sie die nächste Ausfahrt nehmen und Richtung Süden, nach Spanien, fahren. Ihr uralter Lancia hatte weder ein Navi noch einen Bordcomputer. Sie sah ein Schild über der Autobahn: »Ausfahrt Nr. 17, Montréjeau / Spanien, 1000 m«.
Diane hatte die Nacht in Toulouse verbracht. Ein preiswertes Hotel, ein winziges Zimmer mit einer Nasszelle aus Plastik und einem kleinen Fernseher. In der Nacht war sie durch mehrere Schreie geweckt worden. Mit klopfendem Herzen hatte sie sich ans Kopfende des Bettes gesetzt und die Ohren gespitzt - aber im Hotel war es mucksmäuschenstill geblieben, und sie hatte schon geglaubt, sie hätte geträumt, bis die Schreie von neuem begannen, noch lauter diesmal. Übelkeit überkam sie, bis ihr schließlich klar wurde, dass sich unter ihrem Fenster die Kater balgten. Danach hatte sie nicht mehr richtig einschlafen können. Noch am Vortag war sie in Genf gewesen und hatte ihren Abschied mit Kollegen und Freunden begossen. Sie hatte die Einrichtung ihres Wohnheimzimmers an der Universität betrachtet und sich gefragt, wie wohl das nächste aussehen würde. Als sie auf dem Parkplatz des Hotels mitten im Schneeregen, der auf die Autos niederging, ihren Lancia aufschloss,
war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie soeben ihre Jugend hinter sich ließ. Sie wusste, dass sie in ein oder zwei Wochen ihr früheres Leben vergessen hätte. Und nach ein paar Monaten wäre sie ein ganz anderer Mensch. Machte man sich klar, was für ein Ort in den kommenden zwölf Monaten den Rahmen ihres Lebens bilden würde, konnte es gar nicht anders sein. »Bleib du selbst«, hatte ihr Vater ihr mit auf den Weg gegeben. Als sie den kleinen Parkplatz verließ, um auf die schon jetzt verstopfte Autobahn zu fahren, fragte sie sich, ob die Veränderungen positiv ausfallen würden. Irgendjemand hat gesagt, manche Anpassungen seien Amputationen - da konnte sie nur hoffen, dass es bei ihr anders wäre.
Sie musste ständig an das Institut denken.
An die, die dort eingesperrt waren ...
Den ganzen Tag hatte ihr gestern der eine Gedanke keine Ruhe gelassen: Ich schaffe das nicht. Ich bin der Aufgabe nicht gewachsen. Obwohl ich mich vorbereitet habe und für die Stelle am besten qualifiziert bin, weiß ich überhaupt nicht, was mich erwartet. Diese Leute werden in mir lesen wie in einem offenen Buch.
Für sie waren es trotz allem Menschen und keine ... Monster.
Und doch waren sie genau dies: wahre Bestien, Menschen, die so wenig mit ihr, ihren Eltern und all ihren Bekannten gemeinsam hatten wie ein Tiger mit einer Hauskatze.
Tiger ...
Ja, das waren sie: unberechenbar, gefährlich und fähig zu unvorstellbaren Grausamkeiten. Tiger, die im Gebirge eingesperrt waren ...
An der Mautstelle merkte sie, dass sie vor lauter Grübeln vergessen hatte, wohin sie das Ticket gelegt hatte. Die Angestellte musterte sie streng, während sie fieberhaft erst das Handschuhfach und dann ihre Handtasche durchwühlte.
Dabei bestand kein Grund zur Eile: Weit und breit war sonst kein Auto in Sicht.
Im folgenden Kreisverkehr fuhr sie Richtung Spanien und Gebirge. Nach einigen Kilometern war die Ebene jäh zu Ende. Die ersten Ausläufer der Pyrenäen ragten empor, und neben der Straße wölbten sich sanfte, bewaldete Hügel, die allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gezackten hohen Gipfeln aufwiesen, die sie in der Ferne erblickte. Auch das Wetter änderte sich: Die Schneeflocken fielen dichter. Hinter einer Kurve erstreckte sich unterhalb der Straße unvermittelt eine Landschaft aus weißen Wiesen, Flüssen und Wäldern. Auf einer Anhöhe sah Diane eine gotische Kathedrale aus einem Marktflecken aufragen. Durch das Hin und Her der Scheibenwischer sah die Landschaft allmählich aus wie eine alte Radierung.
»Die Pyrenäen sind nicht die Schweiz«, hatte Spitzner sie gewarnt.
Am Straßenrand wurden die Schneehaufen immer höher.
Noch bevor sie die Straßensperre erkannte, sah sie durch die Schneeflocken hindurch die Blaulichter blinken. Es schneite immer heftiger. Die Männer von der Gendarmerie schwenkten mitten im Gestöber ihre Stablampen. Diane fiel auf, dass sie bewaffnet waren. Ein Kastenwagen und zwei Motorräder standen im schmutzigen Schnee am Straßenrand, unter hoch aufragenden Fichten. Sie ließ die Seitenscheibe herunter, und sofort benetzten große, flaumige Flocken ihr Gesicht und ihre Kleider.
»Papiere, bitte, Mademoiselle!«
Sie lehnte sich vor, um sie aus dem Handschuhfach zu holen. Sie hörte den knisternden Schwall von Durchsagen aus den Funkgeräten, vermischt mit dem schnellen Quietschen der Scheibenwischer und dem vorwurfsvollen Rattern ihres Auspuffs. Klamme Kälte hüllte ihr Gesicht ein.
»Sind Sie Journalistin?«
»Psychologin. Ich bin auf dem Weg zum Institut Wargnier.« Der Beamte sah sie durch das offene Fenster prüfend an. Ein großer blonder Typ, der fast eins neunzig groß sein musste. Durch das Knistern der verschiedenen Funkgeräte hindurch hörte sie im Wald den Fluss tosen.
»Was machen Sie hier? Die Schweiz ist ja nicht gerade um die Ecke hier.«
»Das Institut Wargnier ist eine psychiatrische Klinik, und ich bin Psychologin: Sehen Sie den Zusammenhang?«
Er reichte ihr die Papiere.
»In Ordnung. Sie können weiterfahren.«
Als sie wieder anfuhr, fragte sie sich, ob die französische Polizei Autofahrer immer so kontrollierte oder ob etwas passiert war. Die Straße verlief dicht am Ufer des Flusses (einem »Gave«, laut ihrem Reiseführer), der sich hinter den Bäumen durch die Landschaft schlängelte. Unvermittelt wich der Wald einer Ebene, die gut fünf Kilometer breit sein mochte. Eine lange, gerade Allee, gesäumt von verlassenen Campingplätzen, deren Banner traurig im Wind flatterten, hübsche Häuser im Chalet-Stil, eine endlose Reihe von Werbeplakaten, die die Vorzüge der nahen Wintersportorte rühmten ...
»IM HINTERGRUND SAINT-MARTIN-DE-COMMINGES, 20 863 EINWOHNER« - so stand es jedenfalls auf dem in leuchtenden Farben gemalten Schild. Durch die Wolken, die die aufragenden Gipfel über der Stadt verhüllten, brachen hier und da Lichtstreifen, die wie ein Scheinwerfer einen Bergkamm oder das Profil eines Gebirgspasses grell ausleuchteten. Am ersten Kreisverkehr fuhr Diane nicht mehr Richtung »Stadtmitte«, sondern rechts in eine kleine Straße und hinter einem Gebäude entlang, dessen großes Schaufenster in Neonlettern verkündete: Sport & Natur. Auf den Straßen waren ziemlich viele Fußgänger unterwegs, und überall standen parkende Autos. »Das ist kein sehr unterhaltsamer Ort für eine junge Frau.« Die Worte Spitzners fielen ihr wieder ein, als sie, begleitet von dem vertrauten und beruhigenden Geräusch der Scheibenwischer, durch die Straßen fuhr.
Die Straße stieg an. Am Fuß des Hanges erblickte sie kurz die dichtgedrängten Dächer. Der Schnee am Boden verwandelte sich in schwärzlichen Matsch, der gegen den Boden der Karosserie peitschte. »Bist du sicher, dass du dort arbeiten willst? Das ist etwas ganz anderes als in Champ-Dollon.« Champ-Dollon hieß das schweizerische Gefängnis, wo sie nach ihrem Psychologie-Diplom als forensische Gutachterin tätig gewesen war und Sexualstraftäter betreut hatte. Sie hatte dort mit Serienvergewaltigern zu tun gehabt, mit Pädophilen und mit intrafamiliärem sexuellem Missbrauch - ein verwaltungstechnischer Euphemismus für inzestuöse Vergewaltigungen. Sie hatte als Zweitgutachterin auch Glaubwürdigkeitsgutachten über Minderjährige erstellt, die behaupteten, Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein - und hatte mit Schrecken festgestellt, wie sehr ideologische und moralische Vorurteile des Gutachters diese Expertisen verzerren konnten.
»Man hört merkwürdige Geschichten über das Institut Wargnier«, hatte Spitzner gesagt.
»Ich habe mit Dr. Wargnier telefoniert. Er hat einen sehr guten Eindruck auf mich gemacht.«
»Wargnier ist ein sehr liebenswürdiger Mensch«, hatte Spitzner zugegeben.
Sie wusste allerdings, dass nicht Wargnier selbst sie empfangen würde, sondern dessen Nachfolger als Leiter der Klinik: Dr. Xavier, der vom Institut Pinel im kanadischen Montréal kam. Wargnier war vor sechs Monaten in den Ruhestand getreten. Er hatte ihre Bewerbung geprüft und ihre Einstellung befürwortet, bevor er sich zurückzog. Im Laufe ihrer vielen Telefonate hatte er sie auch vor den Schwierigkeiten gewarnt, die sie an diesem Arbeitsplatz erwarteten.
»Für eine junge Frau ist es nicht leicht hier, Dr. Berg. Ich meine damit nicht nur die Klinik, sondern die ganze Region. Dieses Tal ... Saint-Martin ... die Pyrenäen ... Comminges. Die Winter sind lang, es gibt wenig Zeitvertreib. Außer natürlich Wintersport, wenn Sie den mögen.«
»Ich bin Schweizerin, vergessen Sie das nicht«, hatte sie gescherzt.
»Da möchte ich Ihnen einen Rat geben: Lassen Sie sich nicht von Ihrer Arbeit auffressen, verschaffen Sie sich Freiräume - und verbringen Sie Ihre Freizeit draußen. Die Klinik ist ein Ort, der auf Dauer ... belastend werden kann ...«
»Ich werde versuchen, daran zu denken.«
»Noch etwas: Ich werde nicht das Vergnügen haben, Sie zu begrüßen. Darum wird sich mein Nachfolger kümmern, Dr. Xavier aus Montréal. Ein sehr renommierter Praktiker. Er sollte nächste Woche hier eintreffen. Er ist voller Tatendrang. Wie Sie wissen, ist man uns in Kanada, was die Behandlung aggressiver Patienten anlangt, etwas voraus. Es dürfte für Sie interessant sein, Ihre Standpunkte auszutauschen.«
»Das denke ich auch.«
»Ich hätte jedenfalls schon längst einen Stellvertreter einstellen sollen. Ich habe zu wenig delegiert.«
Wieder fuhr Diane unter dem geschlossenen Kronendach der Bäume. Die Straße war nicht weiter angestiegen, sie führte jetzt durch ein bewaldetes schmales Tal, das von einer seltsamen Atmosphäre unheilvoller Gemütlichkeit erfüllt zu sein schien. Diane hatte ihr Fenster einen Spaltbreit geöffnet, und ein durchdringender Geruch nach Laub, Moos, Tannennadeln und nassem Schnee kitzelte sie in der Nase. Das Brausen des nahen Wildbachs überdeckte fast den Lärm des Motors. »Eine einsame Gegend«, sagte sie laut zu sich selbst, um sich Mut zu machen.
Im Grau dieses Wintermorgens fuhr sie vorsichtig. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer spießten die Stämme der Tannen und Buchen auf. Eine Stromleitung folgte der Straße; Äste stützten sich darauf, als hätten sie nicht mehr die Kraft, sich selbst zu tragen. Manchmal wich der Wald vor verschlossenen, aufgegebenen Scheunen mit moosbedeckten Schieferdächern zurück.
Etwas weiter weg, hinter einer Kurve, sah sie kurz ein paar Gebäude. Nach der Kurve tauchten sie wieder auf. Mehrere Beton- und Holzhäuser direkt am Waldsaum, mit großen Fensterfronten im Erdgeschoss. Von der Straße ging ein Weg ab, der den Wildbach auf einer Eisenbrücke überquerte und durch eine verschneite Wiese bis zu der Anlage führte. Die baufällig wirkenden Gebäude schienen verlassen. Ohne dass sie begriff, wieso, jagten ihr diese leeren Häuser, die so tief in diesem Tal wie verloren wirkten, einen kalten Schauer über den Rücken.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
© DROEMER KNAUR Verlag
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Autoren-Porträt von Bernard Minier
Bernard Minier ist im Südwesten Frankreichs, in den Ausläufern der Pyrenäen, aufgewachsen. Er schreibt seit seiner Kindheit und ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Bernard Minier lebt in der Nähe von Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernard Minier
- 2012, 683 Seiten, Maße: 14 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Thorsten
- Übersetzer: Thorsten M. Schmidt
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199289
- ISBN-13: 9783426199282
Rezension zu „Schwarzer Schmetterling “
"Dieser Debütroman ist ein absolut grandioser Psychothriller und verspricht Spannung von der ersten bis zur letzten Seite." -- Buchlemmi.de, 08.08.2013"SCHWARZER SCHMETTERLING ist ein phantastischer Roman. Trotz seiner Länge ist er zu keiner Sekunde langatmig oder gar langweilig. Die Story überzeugt durch interessante Charakatere. Aber Vorsicht. Selbst unter der Bettdecke wird es ihnen eiskalt. Höchstes Spannungsniveau." -- fachbuchkritik.de, 26.04.2013
"Ein hochkarätiger Thriller rund um einen hochintelligenten Psychopathen." -- Taschenbuch.Magazin, Ausgabe 1/2013
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