Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2
Thriller
Der Tod hat seine Meisterin gefunden
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Buch (Kartoniert)
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2 “
Der Tod hat seine Meisterin gefunden
Klappentext zu „Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2 “
Ein brutaler Killer treibt sein Unwesen in Berlins Straßen.Er genießt es, zu töten.
Er muss es wieder tun.
Wann? Wer? Und warum?
Nur Profilerin Lena Peters kann sein blutiges Geschäft beenden. Denn sie hat die Hölle am eigenen Leib erlebt und weiß: Wo Gedanken endlos kreisen, findet das Böse keine Ruhe!
Lese-Probe zu „Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2 “
Seelenriss von Hannah WinterProlog
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Am späten Nachmittag des 25. Mai ...
Lynn Maurer zog ihren aufklaffenden Bademantel zu und brachte kaum mehr als ein gequältes Wimmern zustande. Warmes Blut lief ihr über die nackten Oberschenkel, zugleich schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Körper, und Unmengen Adrenalin pulsierten durch ihre Adern. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und riss sich mit letzter Kraft zusammen.
Am Morgen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Es war ein Mittwochmorgen wie jeder andere, sie hatte ihre Kleider und ihren neuen Reisepass abgeholt und sich wie immer an ihrem freien Tag mit Annette getroffen.
Annette war Sozialarbeiterin in einem Berliner Problembezirk und hatte soeben ihren zweiten Alkoholentzug erfolgreich hinter sich gebracht. Seit drei Jahren waren Annette und sie mehr als nur gute Freundinnen, und jedes Mal, bevor sie im Eingang des Hotels am Kurfürstendamm verschwand, vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war. Sie hatte Annette im bevorstehenden Kurzurlaub endlich von dem Baby erzählen wollen. Gleichzeitig wollte sie ihre Freundin um etwas Aufschub bitten, was ihre Trennung von Sven anbelangte. Doch ehrlich gesagt hatte sie wenig Hoffnung, dass Sven sie jemals gehen lassen würde. Eher würde er sie halb totschlagen, sobald er von ihrem Doppelleben Wind bekäme - und das ohne Rücksicht auf das Kind in ihrem Bauch. Langsam hob sie die geschwollenen Lider und starrte auf das Diktiergerät, das eingeschaltet vor ihr auf dem Esstisch stand. »Ich habe gesündigt, o Herr«, presste sie unter Schmerzen hervor. »Bitte vergib mir,
o Herr.« Dutzende Filme liefen gleichzeitig vor ihrem geistigen Auge ab, als zöge ihr ganzes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf an ihr vorbei. Ihre Kindheit im Grunewald. Der erste Kuss mit Annette. Die Schläge von Sven. Das Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes, das für andere noch unsichtbar, für sie aber längst Teil ihres Lebens war. Und ihre Eltern, zu denen sie nach jahrelangen Familienstreitigkeiten inzwischen wieder ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte.
Die Erinnerungen waren sehr lebendig, und doch erschien ihr in diesem Moment alles unendlich weit entfernt. Mit angstvoll geweiteten Augen starrte sie auf die Kunststoffschale, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war bis zum Rand gefüllt mit hochgradig ätzender Säure. Die giftigen Dämpfe brannten ihr in Augen und Nase und benebelten ihre Sinne. Endlose Sekunden vergingen, und einen Moment lang wusste sie nicht, was schlimmer war: dass ihr das eigene Gesicht als Spiegelbild aus der grünlichen Flüssigkeit entgegensah oder dass sie dieses Gesicht nun zum letzten Mal sehen sollte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie zur Stuhlkante vorrutschte und mit zitternden Händen die Schale umfasste. Urin rann an ihren Beinen hinunter, und sie zitterte jetzt so stark, dass ihr beim Anheben der Schale ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit über die linke Hand schwappte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und setzte die Schale rasch ab, dennoch fraß sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf den Knochen in ihr Fleisch.
Ihr wurde schlecht vor Schmerz, und es dauerte eine Weile, bis sie in der Lage war, einen neuen Versuch zu wagen. Doch ihr würde keine andere Wahl bleiben. Ein letzter Blick zum Kruzifix, das neben Bildern aus glücklicheren Tagen an der Wand hing, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und konzentrierte sich. Vorsichtig umfasste sie die Schale und verdrängte den Schmerz in ihrer linken Hand, der nichts gegen das war, was gleich kommen würde. Dann hob sie das Gefäß behutsam mit beiden Händen an. Langsam, ganz langsam, führte sie die Schale zum Gesicht, hob sie weiter an und legte den Kopf in den Nacken. Und tat, was sie tun musste.
Sekunden später drangen markerschütternde Schreie aus der Wohnung, die im ganzen Haus zu hören waren.
1
Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Straße ...
Die rötliche Abendsonne schien durch das Küchenfenster, und im Radio wurde heftig über die für Ende Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen debattiert. Lena Peters stand in Jeans, schwarzem Top und einem türkisfarbenen Seidenschal am Esstisch und sah die Post durch. Wie sooft in letzter Zeit verspürte sie dabei eine vertraute Beklemmung, die nicht von ungefähr kam.
Kaum fünf Tage waren vergangen, seit sie ihren ersten großen Fall gelöst hatte, und ebenso lang war es her, seit ihr das in schwarzes Leder eingeschlagene Notizbuch zugesandt worden war. Sie hatte es zunächst für ein Geschenk gehalten und sich gefragt, wer es ihr geschickt haben mochte, denn die Sendung enthielt keinen Absender. Lena hatte auf ihren Nachbarn Lukas Richter getippt, dem sie während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall nähergekommen war, nachdem er ihr mit seinen begnadeten Fähigkeiten als Hacker zur Seite gestanden hatte. In sich hineinschmunzelnd, war sie mit dem Daumen über die Prägung im ledernen Umschlag gefahren und hatte die Seiten durchblättert, als sie urplötzlich erstarrt war. Kalter Schweiß brach ihr aus, während ihr Blick auf der letzten Seite des Notizbuchs verharrte, auf der in blutroter Schrift die unmissverständliche Botschaft geschrieben stand: »Tu, was ich dir sage. Oder ich töte dich.«
Die Nachricht war handschriftlich und dem kriminaltechnischen Laborbericht zufolge mit Tierblut verfasst worden. Seit Erhalt der Botschaft war nun schon eine knappe Woche vergangen, aber mehr war noch immer nicht über den anonymen Verfasser bekannt. Die Morddrohung war für Lena aus heiterem Himmel gekommen. Wann immer sie daran dachte, beschäftigte sie die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen jener Botschaft und der Tatsache, dass sie nur wenige Tage zuvor einen der brutalsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte überführt hatte. »Der Stümmler«, wie ihn die Presse getauft hatte, hielt sich selbst für einen begnadeten Künstler. Er hatte seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt und die Leichenteile plastiniert, um sie zu einem »Gesamtkunstwerk« zusammenzusetzen, das in seiner kranken Phantasie dem Abbild seiner geliebten Schwester entsprach.
Lena war mit den Denkweisen von Psychopathen wohlvertraut. Daher wunderte es sie wenig, dass der Grundstein der Persönlichkeitsstörung des Mannes in seiner schwierigen Kindheit zu suchen war. Diese war eine einzige Tragödie gewesen und wies mehr Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit auf, als ihr lieb war. Dennoch hatte sie ihn unterschätzt und hätte dies, festgeschnallt auf einen OP-Tisch in seiner Spandauer Kellerwerkstatt, um ein Haar mit dem Leben bezahlt.
Wie allen seinen Opfern hatte er auch ihr ein südamerikanisches Pfeilgift gespritzt, das eine vorübergehende Lähmung der gesamten Muskulatur auslöste, jedoch keinerlei Auswirkung auf das Bewusstsein hatte. Die Opfer waren also während der gesamten Prozedur bei vollem Bewusstsein und konnten alles spüren. Der Täter hatte Lena einen Tubus in den Rachen geschoben, der an eine Beatmungsmaschine angeschlossen war, um sicherzugehen, dass sie den Eingriff bis zum Ende mitbekam und ihm keinesfalls zuvor unter den Händen wegstarb. Ihr wurde noch immer ganz schlecht, wenn sie daran dachte, wie er ihr mit seinen behandschuhten Fingern die Lider auseinandergeschoben und sie gefragt hatte: »Stehst du auf Schmerz, kleine Lena?«
Im Nachhinein hätte sie nicht mehr sagen können, was sie in jenem Moment mehr geschockt hatte: dass er kurz davor gewesen war, ihr mit dem Skalpell das Auge herauszuschneiden, oder aber die Tatsache, dass sie dieses Monster bereits seit Kindertagen gekannt hatte.
Noch immer verfolgten sie seine stechend blauen Augen, und während sie die Post, die lediglich aus Prospekten und Gratiszeitungen bestand, in den Müll warf, musste sie sich zwingen, den Gedanken an dieses Grauen abzuschütteln.
»Der ›Stümmler‹ ist tot«, rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Lena hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er von der Wucht einer gewaltigen Explosion gegen die Wand geschleudert worden und nach einem anschließenden Feuergefecht mit durchlöcherter Brust zu Boden gegangen war. Doch wer um alles in der Welt hatte ihr nun diese Morddrohung gesandt?
Während Lena ihren Gedanken nachhing, kam Napoleon in die Küche getapst und wand sich maunzend um ihre Knöchel. Lena hob ihn hoch und streichelte ihm über das gescheckte Fell. Der Kater war ihr vor drei Jahren in Köln zugelaufen und seither nicht mehr von der Seite gewichen. Lena hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn bei ihrem Umzug nach Berlin zurückzulassen. Ihre Zwillingsschwester Tamara hatte ihn bei ihrem letzten, wie immer unerwarteten Besuch als den hässlichsten Kater der Welt bezeichnet. Doch Lena liebte den eigensinnigen Kater und hatte die Entscheidung, ihn mitzunehmen, bis heute nicht bereut. Sie setzte Napoleon wieder ab und blickte ihn fragend an. »Was, wenn sich bloß jemand einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hat?« Der Kater blieb stumm und leckte sich seelenruhig die Vorderpfote.
Bei dem Gedanken daran, dass es draußen in der Welt möglicherweise jemanden gab, der ihr nur zum Spaß schlaflose Nächte bereitete, überkam Lena ohnmächtige Wut. Mit leerem Blick starrte sie zum Küchenfenster hinaus in den kargen Innenhof und rieb sich die pochenden Schläfen. Ihr ständiges Grübeln trieb sie noch in den Wahnsinn, lieferte ihr aber zumindest eine Erklärung für ihre wiederkehrenden Kopfschmerzen in letzter Zeit. Lena spülte eine Aspirintablette mit einem Glas Wasser herunter und entschied, den restlichen Abend mit einem guten Buch auf dem Sofa zu verbringen. Sie nahm eine eisgekühlte Cola aus dem Gefrierfach und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung: Das darf doch nicht wahr sein! Sie traute ihren Augen kaum, als sie Lukas eng umschlungen mit einer rothaarigen Bohnenstange über den Hof laufen sah. Erst gestern Abend nach dem Kino hatte sie sich noch mit einem innigen Kuss vor ihrer Wohnungstür von ihm verabschiedet.
Blitzschnell ging Lena in Deckung und spähte den beiden hinterher. Lukas trug ausgelatschte Chucks, eine knielange Army-Hose und dasselbe T-Shirt, das er gestern schon angehabt hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust, was ganz bestimmt nicht davon kam, dass er den ganzen Tag vor dem Computer gesessen hatte. Die Rothaarige schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen und sah in ihren Highheels und dem kurzem Rock so aus, als käme sie geradewegs vom Laufsteg der Berliner Fashion Week. Die beiden wirkten vertraut. Viel zu vertraut, fand Lena und spürte, wie ihr der Anblick einen Stich versetzte. Wie hatte sie nur so naiv sein können, sich einzubilden, dass sich zwischen Lukas und ihr etwas anbahnen könnte!
Lena biss sich auf die Unterlippe und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst, als die beiden auf die Straße hinaus verschwanden. Noch während sie darüber nachdachte, dass sie künftig wohl verstohlen aus ihrer Wohnung schleichen und mit Lukas nie wieder mehr als unverfänglichen Small Talk an der Tür halten könnte, schlug ihr iPhone auf dem Küchentisch Alarm. Ein Blick auf das Display verriet, dass es sich bei dem Anrufer um Wulf Belling handelte.
Belling war ein Polizist älteren Kalibers, den sie bei den Ermittlungen zum letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Belling wegen, wie er sagte, vollkommen haltloser Gründe vorzeitig pensioniert worden war, hatte auch ihm der »Stümmler« keine Ruhe gelassen, und mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, dem Killer auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Ermittlungen waren sie ein eingeschworenes Team geworden, das es fortan nur noch im Doppel- pack gab. Lena hatte Volker Drescher, dem Leiter der Berliner Mordkommission, keine andere Wahl gelassen, als Wulf Belling wieder einzustellen. Es war das mindeste, was Lena für Belling hatte tun können
- immerhin hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken. Es war Belling gewesen, der im Keller einer Galerie unter Einsatz seines eigenen Lebens auf den alles entscheidenden Hinweis gestoßen war, der das Team von Volker Drescher dann in buchstäblich letzter Sekunde zur Werkstatt des Psychopathen geführt hatte. Doch Lena schätzte nicht nur Bellings Kompetenz als Kriminalist, sondern auch sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Wenn es auf dieser Welt jemanden gab, dem sie blind vertraute, dann war es Belling. Ihr Kollege kannte ihre dunkle Vergangenheit, wusste Bescheid über ihre Zwillingsschwester Tamara, die auf die schiefe Bahn geraten war, und auch darüber, dass Lena zwei Jahre ihres Lebens wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatte, im Gefängnis gesessen hatte. Zudem war er einer der wenigen Menschen, denen sie von dem schrecklichen Tod ihrer Eltern sowie von ihrer Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien erzählt hatte. Durch diese traumatischen Erlebnisse hatte sie sich letzten Endes zu jener Einzelkämpferin entwickelt, die sie heute war. Dennoch gab es Dinge, die sie selbst ihrem Kollegen verschwieg. Dunkle Flecken auf der Landkarte ihres Lebens, die so grausam waren, dass nicht einmal Belling davon erfahren durfte.
Das beharrliche Klingeln des Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Lena starrte das Handy unschlüssig an. Es war ihr freier Tag, und etwas sagte ihr, dass dieser Anruf nichts Gutes verhieß. Entweder brauchte Belling ihren Rat, da er wieder einmal Ärger mit seiner heranwachsenden Tochter hatte und um nichts in der Welt seine Exfrau kontaktieren wollte, oder aber es gab einen Mord. Dann konnte sie ihren freien Abend getrost vergessen. Allerdings wurde sie als Profilerin meist nur dann zu einem Fall hinzugezogen, wenn mindestens ein Menschenleben auf so perverse Art und Weise ausgelöscht worden war, dass die Tat jegliche Nachvollziehbarkeit eines »normal« denkenden Menschen überstieg.
Lena nahm den Anruf an, und es ging tatsächlich nicht um Bellings Tochter, sondern um einen Mord. Was Belling ihr allerdings darüber berichtete, gab ihr Rätsel auf. Ihre Neugier war geweckt, und sie beschloss, sich selbst ein Bild zu verschaffen. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe, drehte die schulterlangen mittelbraunen Haare zu einem Dutt zusammen, schnappte sich die Schlüssel ihrer Vespa und machte sich umgehend auf den Weg zum Tatort.
© ullstein Verlag
Am späten Nachmittag des 25. Mai ...
Lynn Maurer zog ihren aufklaffenden Bademantel zu und brachte kaum mehr als ein gequältes Wimmern zustande. Warmes Blut lief ihr über die nackten Oberschenkel, zugleich schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Körper, und Unmengen Adrenalin pulsierten durch ihre Adern. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und riss sich mit letzter Kraft zusammen.
Am Morgen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Es war ein Mittwochmorgen wie jeder andere, sie hatte ihre Kleider und ihren neuen Reisepass abgeholt und sich wie immer an ihrem freien Tag mit Annette getroffen.
Annette war Sozialarbeiterin in einem Berliner Problembezirk und hatte soeben ihren zweiten Alkoholentzug erfolgreich hinter sich gebracht. Seit drei Jahren waren Annette und sie mehr als nur gute Freundinnen, und jedes Mal, bevor sie im Eingang des Hotels am Kurfürstendamm verschwand, vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war. Sie hatte Annette im bevorstehenden Kurzurlaub endlich von dem Baby erzählen wollen. Gleichzeitig wollte sie ihre Freundin um etwas Aufschub bitten, was ihre Trennung von Sven anbelangte. Doch ehrlich gesagt hatte sie wenig Hoffnung, dass Sven sie jemals gehen lassen würde. Eher würde er sie halb totschlagen, sobald er von ihrem Doppelleben Wind bekäme - und das ohne Rücksicht auf das Kind in ihrem Bauch. Langsam hob sie die geschwollenen Lider und starrte auf das Diktiergerät, das eingeschaltet vor ihr auf dem Esstisch stand. »Ich habe gesündigt, o Herr«, presste sie unter Schmerzen hervor. »Bitte vergib mir,
o Herr.« Dutzende Filme liefen gleichzeitig vor ihrem geistigen Auge ab, als zöge ihr ganzes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf an ihr vorbei. Ihre Kindheit im Grunewald. Der erste Kuss mit Annette. Die Schläge von Sven. Das Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes, das für andere noch unsichtbar, für sie aber längst Teil ihres Lebens war. Und ihre Eltern, zu denen sie nach jahrelangen Familienstreitigkeiten inzwischen wieder ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte.
Die Erinnerungen waren sehr lebendig, und doch erschien ihr in diesem Moment alles unendlich weit entfernt. Mit angstvoll geweiteten Augen starrte sie auf die Kunststoffschale, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war bis zum Rand gefüllt mit hochgradig ätzender Säure. Die giftigen Dämpfe brannten ihr in Augen und Nase und benebelten ihre Sinne. Endlose Sekunden vergingen, und einen Moment lang wusste sie nicht, was schlimmer war: dass ihr das eigene Gesicht als Spiegelbild aus der grünlichen Flüssigkeit entgegensah oder dass sie dieses Gesicht nun zum letzten Mal sehen sollte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie zur Stuhlkante vorrutschte und mit zitternden Händen die Schale umfasste. Urin rann an ihren Beinen hinunter, und sie zitterte jetzt so stark, dass ihr beim Anheben der Schale ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit über die linke Hand schwappte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und setzte die Schale rasch ab, dennoch fraß sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf den Knochen in ihr Fleisch.
Ihr wurde schlecht vor Schmerz, und es dauerte eine Weile, bis sie in der Lage war, einen neuen Versuch zu wagen. Doch ihr würde keine andere Wahl bleiben. Ein letzter Blick zum Kruzifix, das neben Bildern aus glücklicheren Tagen an der Wand hing, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und konzentrierte sich. Vorsichtig umfasste sie die Schale und verdrängte den Schmerz in ihrer linken Hand, der nichts gegen das war, was gleich kommen würde. Dann hob sie das Gefäß behutsam mit beiden Händen an. Langsam, ganz langsam, führte sie die Schale zum Gesicht, hob sie weiter an und legte den Kopf in den Nacken. Und tat, was sie tun musste.
Sekunden später drangen markerschütternde Schreie aus der Wohnung, die im ganzen Haus zu hören waren.
1
Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Straße ...
Die rötliche Abendsonne schien durch das Küchenfenster, und im Radio wurde heftig über die für Ende Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen debattiert. Lena Peters stand in Jeans, schwarzem Top und einem türkisfarbenen Seidenschal am Esstisch und sah die Post durch. Wie sooft in letzter Zeit verspürte sie dabei eine vertraute Beklemmung, die nicht von ungefähr kam.
Kaum fünf Tage waren vergangen, seit sie ihren ersten großen Fall gelöst hatte, und ebenso lang war es her, seit ihr das in schwarzes Leder eingeschlagene Notizbuch zugesandt worden war. Sie hatte es zunächst für ein Geschenk gehalten und sich gefragt, wer es ihr geschickt haben mochte, denn die Sendung enthielt keinen Absender. Lena hatte auf ihren Nachbarn Lukas Richter getippt, dem sie während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall nähergekommen war, nachdem er ihr mit seinen begnadeten Fähigkeiten als Hacker zur Seite gestanden hatte. In sich hineinschmunzelnd, war sie mit dem Daumen über die Prägung im ledernen Umschlag gefahren und hatte die Seiten durchblättert, als sie urplötzlich erstarrt war. Kalter Schweiß brach ihr aus, während ihr Blick auf der letzten Seite des Notizbuchs verharrte, auf der in blutroter Schrift die unmissverständliche Botschaft geschrieben stand: »Tu, was ich dir sage. Oder ich töte dich.«
Die Nachricht war handschriftlich und dem kriminaltechnischen Laborbericht zufolge mit Tierblut verfasst worden. Seit Erhalt der Botschaft war nun schon eine knappe Woche vergangen, aber mehr war noch immer nicht über den anonymen Verfasser bekannt. Die Morddrohung war für Lena aus heiterem Himmel gekommen. Wann immer sie daran dachte, beschäftigte sie die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen jener Botschaft und der Tatsache, dass sie nur wenige Tage zuvor einen der brutalsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte überführt hatte. »Der Stümmler«, wie ihn die Presse getauft hatte, hielt sich selbst für einen begnadeten Künstler. Er hatte seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt und die Leichenteile plastiniert, um sie zu einem »Gesamtkunstwerk« zusammenzusetzen, das in seiner kranken Phantasie dem Abbild seiner geliebten Schwester entsprach.
Lena war mit den Denkweisen von Psychopathen wohlvertraut. Daher wunderte es sie wenig, dass der Grundstein der Persönlichkeitsstörung des Mannes in seiner schwierigen Kindheit zu suchen war. Diese war eine einzige Tragödie gewesen und wies mehr Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit auf, als ihr lieb war. Dennoch hatte sie ihn unterschätzt und hätte dies, festgeschnallt auf einen OP-Tisch in seiner Spandauer Kellerwerkstatt, um ein Haar mit dem Leben bezahlt.
Wie allen seinen Opfern hatte er auch ihr ein südamerikanisches Pfeilgift gespritzt, das eine vorübergehende Lähmung der gesamten Muskulatur auslöste, jedoch keinerlei Auswirkung auf das Bewusstsein hatte. Die Opfer waren also während der gesamten Prozedur bei vollem Bewusstsein und konnten alles spüren. Der Täter hatte Lena einen Tubus in den Rachen geschoben, der an eine Beatmungsmaschine angeschlossen war, um sicherzugehen, dass sie den Eingriff bis zum Ende mitbekam und ihm keinesfalls zuvor unter den Händen wegstarb. Ihr wurde noch immer ganz schlecht, wenn sie daran dachte, wie er ihr mit seinen behandschuhten Fingern die Lider auseinandergeschoben und sie gefragt hatte: »Stehst du auf Schmerz, kleine Lena?«
Im Nachhinein hätte sie nicht mehr sagen können, was sie in jenem Moment mehr geschockt hatte: dass er kurz davor gewesen war, ihr mit dem Skalpell das Auge herauszuschneiden, oder aber die Tatsache, dass sie dieses Monster bereits seit Kindertagen gekannt hatte.
Noch immer verfolgten sie seine stechend blauen Augen, und während sie die Post, die lediglich aus Prospekten und Gratiszeitungen bestand, in den Müll warf, musste sie sich zwingen, den Gedanken an dieses Grauen abzuschütteln.
»Der ›Stümmler‹ ist tot«, rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Lena hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er von der Wucht einer gewaltigen Explosion gegen die Wand geschleudert worden und nach einem anschließenden Feuergefecht mit durchlöcherter Brust zu Boden gegangen war. Doch wer um alles in der Welt hatte ihr nun diese Morddrohung gesandt?
Während Lena ihren Gedanken nachhing, kam Napoleon in die Küche getapst und wand sich maunzend um ihre Knöchel. Lena hob ihn hoch und streichelte ihm über das gescheckte Fell. Der Kater war ihr vor drei Jahren in Köln zugelaufen und seither nicht mehr von der Seite gewichen. Lena hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn bei ihrem Umzug nach Berlin zurückzulassen. Ihre Zwillingsschwester Tamara hatte ihn bei ihrem letzten, wie immer unerwarteten Besuch als den hässlichsten Kater der Welt bezeichnet. Doch Lena liebte den eigensinnigen Kater und hatte die Entscheidung, ihn mitzunehmen, bis heute nicht bereut. Sie setzte Napoleon wieder ab und blickte ihn fragend an. »Was, wenn sich bloß jemand einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hat?« Der Kater blieb stumm und leckte sich seelenruhig die Vorderpfote.
Bei dem Gedanken daran, dass es draußen in der Welt möglicherweise jemanden gab, der ihr nur zum Spaß schlaflose Nächte bereitete, überkam Lena ohnmächtige Wut. Mit leerem Blick starrte sie zum Küchenfenster hinaus in den kargen Innenhof und rieb sich die pochenden Schläfen. Ihr ständiges Grübeln trieb sie noch in den Wahnsinn, lieferte ihr aber zumindest eine Erklärung für ihre wiederkehrenden Kopfschmerzen in letzter Zeit. Lena spülte eine Aspirintablette mit einem Glas Wasser herunter und entschied, den restlichen Abend mit einem guten Buch auf dem Sofa zu verbringen. Sie nahm eine eisgekühlte Cola aus dem Gefrierfach und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung: Das darf doch nicht wahr sein! Sie traute ihren Augen kaum, als sie Lukas eng umschlungen mit einer rothaarigen Bohnenstange über den Hof laufen sah. Erst gestern Abend nach dem Kino hatte sie sich noch mit einem innigen Kuss vor ihrer Wohnungstür von ihm verabschiedet.
Blitzschnell ging Lena in Deckung und spähte den beiden hinterher. Lukas trug ausgelatschte Chucks, eine knielange Army-Hose und dasselbe T-Shirt, das er gestern schon angehabt hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust, was ganz bestimmt nicht davon kam, dass er den ganzen Tag vor dem Computer gesessen hatte. Die Rothaarige schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen und sah in ihren Highheels und dem kurzem Rock so aus, als käme sie geradewegs vom Laufsteg der Berliner Fashion Week. Die beiden wirkten vertraut. Viel zu vertraut, fand Lena und spürte, wie ihr der Anblick einen Stich versetzte. Wie hatte sie nur so naiv sein können, sich einzubilden, dass sich zwischen Lukas und ihr etwas anbahnen könnte!
Lena biss sich auf die Unterlippe und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst, als die beiden auf die Straße hinaus verschwanden. Noch während sie darüber nachdachte, dass sie künftig wohl verstohlen aus ihrer Wohnung schleichen und mit Lukas nie wieder mehr als unverfänglichen Small Talk an der Tür halten könnte, schlug ihr iPhone auf dem Küchentisch Alarm. Ein Blick auf das Display verriet, dass es sich bei dem Anrufer um Wulf Belling handelte.
Belling war ein Polizist älteren Kalibers, den sie bei den Ermittlungen zum letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Belling wegen, wie er sagte, vollkommen haltloser Gründe vorzeitig pensioniert worden war, hatte auch ihm der »Stümmler« keine Ruhe gelassen, und mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, dem Killer auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Ermittlungen waren sie ein eingeschworenes Team geworden, das es fortan nur noch im Doppel- pack gab. Lena hatte Volker Drescher, dem Leiter der Berliner Mordkommission, keine andere Wahl gelassen, als Wulf Belling wieder einzustellen. Es war das mindeste, was Lena für Belling hatte tun können
- immerhin hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken. Es war Belling gewesen, der im Keller einer Galerie unter Einsatz seines eigenen Lebens auf den alles entscheidenden Hinweis gestoßen war, der das Team von Volker Drescher dann in buchstäblich letzter Sekunde zur Werkstatt des Psychopathen geführt hatte. Doch Lena schätzte nicht nur Bellings Kompetenz als Kriminalist, sondern auch sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Wenn es auf dieser Welt jemanden gab, dem sie blind vertraute, dann war es Belling. Ihr Kollege kannte ihre dunkle Vergangenheit, wusste Bescheid über ihre Zwillingsschwester Tamara, die auf die schiefe Bahn geraten war, und auch darüber, dass Lena zwei Jahre ihres Lebens wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatte, im Gefängnis gesessen hatte. Zudem war er einer der wenigen Menschen, denen sie von dem schrecklichen Tod ihrer Eltern sowie von ihrer Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien erzählt hatte. Durch diese traumatischen Erlebnisse hatte sie sich letzten Endes zu jener Einzelkämpferin entwickelt, die sie heute war. Dennoch gab es Dinge, die sie selbst ihrem Kollegen verschwieg. Dunkle Flecken auf der Landkarte ihres Lebens, die so grausam waren, dass nicht einmal Belling davon erfahren durfte.
Das beharrliche Klingeln des Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Lena starrte das Handy unschlüssig an. Es war ihr freier Tag, und etwas sagte ihr, dass dieser Anruf nichts Gutes verhieß. Entweder brauchte Belling ihren Rat, da er wieder einmal Ärger mit seiner heranwachsenden Tochter hatte und um nichts in der Welt seine Exfrau kontaktieren wollte, oder aber es gab einen Mord. Dann konnte sie ihren freien Abend getrost vergessen. Allerdings wurde sie als Profilerin meist nur dann zu einem Fall hinzugezogen, wenn mindestens ein Menschenleben auf so perverse Art und Weise ausgelöscht worden war, dass die Tat jegliche Nachvollziehbarkeit eines »normal« denkenden Menschen überstieg.
Lena nahm den Anruf an, und es ging tatsächlich nicht um Bellings Tochter, sondern um einen Mord. Was Belling ihr allerdings darüber berichtete, gab ihr Rätsel auf. Ihre Neugier war geweckt, und sie beschloss, sich selbst ein Bild zu verschaffen. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe, drehte die schulterlangen mittelbraunen Haare zu einem Dutt zusammen, schnappte sich die Schlüssel ihrer Vespa und machte sich umgehend auf den Weg zum Tatort.
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Autoren-Porträt von Hanna Winter
Winter, HannaHanna Winter arbeitete nach dem Studium der Journalistik als Redakteurin. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Mit ihrem ersten Thriller, Die Spur der Kinder, ist ihr auf Anhieb ein Beststeller gelungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanna Winter
- 2013, 312 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283675
- ISBN-13: 9783548283678
- Erscheinungsdatum: 15.02.2013
Rezension zu „Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2 “
"Hanna Winter blickt in ihren Thrillern in die Abgründe der menschlichen Seele.", Frankfurter Rundschau
Kommentare zu "Seelenriss / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.2"
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