Sieben Jahre
Roman
Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Dann lernt Alex die unscheinbare Iwona kennen. Alex trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sieben Jahre “
Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Dann lernt Alex die unscheinbare Iwona kennen. Alex trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja sich wünscht, setzt er alles aufs Spiel.
Klappentext zu „Sieben Jahre “
Ein Mann zwischen zwei Frauen, die eine ist begehrenswert, bei der anderen ist er frei.Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex. Eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Aber wann ist die Liebe schon einfach? Und wie funktioniert das Glück? Iwona wäre neben Sonja fast unsichtbar, sie ist spröde und grau. Aber Alex fühlt sich lebendig bei ihr - und weiß nicht, warum. Sie liebt ihn. Er trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja sich wünscht, setzt er alles aufs Spiel.
Peter Stamm erzählt so lakonisch und leidenschaftlich wie kein anderer von widerstreitenden Gefühlen und der Sehnsucht nach dem Leben. 'Sieben Jahre' ist ein großer Roman über die Zumutung des Glücks, geliebt zu werden.
Lese-Probe zu „Sieben Jahre “
Sieben Jahre von Peter StammSonja stand in der Mitte des hellerleuchteten Raumes, im Zentrum wie immer. Sie hielt den Kopf etwas gesenkt und die Arme nah am Körper, ihr Mund lächelte, aber ihre Augen waren zusammengekniffen, als blende sie das Licht oder als habe sie Schmerzen. Sie wirkte abwesend, ausgestellt wie die Bilder an den Wänden, die niemand beachtete und die doch der Anlass des Zusammenkommens waren.
Ich rauchte einen Zigarillo und beobachtete durch das große Schaufenster der Galerie, wie ein gutaussehender Mann auf Sonja zuging und sie ansprach. Es war, als erwache sie. Sie lächelte, stieß mit ihm an. Er bewegte den Mund, in ihrem Gesicht war ein fast kindliches Erstaunen zu sehen, dann lächelte sie wieder, aber selbst von hier aus sah ich, dass sie dem Mann nicht zuhörte, dass sie an etwas anderes dachte.
Sophie war neben mir stehen geblieben. Auch sie schien nachzudenken. Dann sagte sie, Mama ist die schönste Frau der Welt. Ja, sagte ich und streichelte mit der Hand über ihren Kopf. Das ist sie, deine Mutter ist die schönste Frau der Welt.
Es hatte seit dem Morgen geschneit, aber der Schnee schmolz, sobald er den Boden berührte. Mir ist kalt, sagte Sophie und schlüpfte durch die Tür, die eben jemand geöffnet hatte, in die Galerie. Ein großer, kahlköpfiger Mann war herausgekommen, eine Zigarette im Mund. Er blieb unangenehm nah vor mir stehen, als kennten wir uns, und zündete sich die Zigarette an. Krasse Bilder, sagte er. Als ich nicht antwortete, wandte er sich ab und ging ein paar Schritte von mir weg. Er wirkte plötzlich unsicher und etwas verloren. Ich schaute noch immer durch das Schaufenster.
Sophie war zu Sonja gelaufen, deren Gesicht sich aufhellte. Der gutaussehende Mann, der immer noch neben ihr stand, schaute etwas betreten, fast beleidigt auf das Kind. Sonja beugte sich zu Sophie hinunter, die beiden
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redeten kurz miteinander, und Sophie zeigte nach draußen. Sonja schirmte mit der Hand die Augen ab und schaute mit gerunzelter Stirn und einem irritierten Lächeln in meine Richtung. Ich war ziemlich sicher, dass sie mich nicht sehen konnte in der Dunkelheit. Sie sagte etwas zu Sophie und schob sie mit der Hand in Richtung Tür. Für einen Moment verspürte ich den Impuls zu fl iehen, mich mit den Menschen treiben zu lassen, die von der Arbeit kamen und nur für einen Moment ins Licht traten, das aus der Galerie strömte. Die Passanten warfen einen kurzen Blick auf die eleganten, schön angezogenen Menschen und gingen dann eilig weiter und tauchten unter in der Masse, unterwegs nach Hause.
Ich hatte Antje seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen, trotzdem erkannte ich sie sofort. Sie musste ungefähr sechzig sein, aber ihr Gesicht wirkte noch immer jugendlich. Na, sagte sie und küsste mich auf die Wangen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, trat ein junger Mann mit einem lächerlichen Bärtchen neben sie, fl üsterte ihr etwas ins Ohr und zog sie am Arm von mir weg. Ich sah, wie er sie zu einem Herrn in schwarzem Anzug führte, dessen Gesicht ich vom Sehen kannte oder aus der Zeitung. Sophie hatte sich den Mann geschnappt, der sich vorhin an Sonja herangemacht hatte, und fl irtete mit ihm, was ihn sichtlich in Verlegenheit brachte. Sonja hörte lachend zu, aber ich hatte wieder das Gefühl, sie sei in Gedanken anderswo. Ich ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille. Ich genoss den neidischen Blick des anderen Mannes. Er fragte Sophie, wie alt sie sei. Was schätzen Sie, sagte sie. Er tat, als denke er nach. Zwölf? Sie ist zehn, sagte Sonja, und Sophie sagte, du bist gemein. Du gleichst deiner Mutter, sagte der Mann. Sophie bedankte sich und machte einen Knicks. Sie ist die schönste Frau der Welt. Sie schien sehr genau zu begreifen, was vor sich ging.
Macht es dir etwas aus, wenn ich mit Sophie vorausfahre?, fragte Sonja. Antje wird wohl bis zum Schluss bleiben müssen. Ich bot ihr an, Sophie nach Hause zu bringen, damit sie bleiben könne, aber sie schüttelte den Kopf und sagte, sie sei furchtbar müde. Sie und Antje hätten ja das ganze Wochenende zusammen. Sophie hatte ihren Verehrer gebeten, ihr ein Glas Orangensaft zu holen. Er fragte, ob sonst noch jemand etwas zu trinken wolle. Hörst du auf, andere Leute herumzukommandieren?, sagte ich. Von wem sie das nur hat, sagte Sonja. Sie biss sich auf die Lippen und schaute kurz auf den Boden und dann in meine Augen, aber ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Wir sind weg, sagte sie und küsste mich kurz auf den Mund. Macht keinen Lärm, wenn ihr nach Hause kommt.
Die Galerie fing an sich zu leeren, aber es dauerte lange, bis die letzten Gäste gegangen waren. Am Schluss war außer Antje und mir nur noch ein älterer Herr da, den sie mir nicht vorstellte. Die beiden standen nebeneinander vor einem der Bilder und redeten so leise, dass ich mich instinktiv von ihnen entfernte. Ich blätterte durch die Preisliste und schaute immer wieder zu dem Paar hinüber. Schließlich umarmte Antje den Mann, küsste ihn auf die Stirn und brachte ihn zur Tür. Dann kam sie zu mir. Das war Georg, sagte sie, ich war mal verrückt nach ihm. Sie lachte. Schwer zu verstehen, nicht wahr?
Das war vor hundert Jahren. Sie ging zur Theke und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück. Sie hielt mir eines hin, aber ich schüttelte den Kopf. Ich trinke nicht mehr. Sie lächelte skeptisch, leerte ihr Glas in einem Zug und sagte, dann bin ich bereit. Der Galerist hatte Antje den Schlüssel dagelassen. Sie drückte endlos auf den Lichtschaltern herum, bis endlich alle Lampen gelöscht waren. Draußen hängte sie sich bei mir ein und fragte, ob es weit sei bis zum Wagen. Es schneite noch immer ein wenig. Was für ein Wetter, sagte sie. Das nächste Mal treffen wir uns wieder in Marseille. Sie fragte mich, ob mir die Bilder gefi elen. Du bist zivilisierter geworden, sagte ich. Subtiler, hoffe ich, sagte Antje. Ich verstehe nichts von Kunst, sagte ich, aber im Gegensatz zu früher kann ich mir jetzt vorstellen, eines deiner Bilder zu Hause aufzuhängen. Antje sagte, sie sei sich nicht sicher, ob das ein Kompliment sei.
Ich fragte sie, ob sie Sonjas Eltern nicht zur Vernissage eingeladen habe? Ich hätte gedacht, sie kämen. Antje gab keine Antwort. Wenn du sie besuchen willst, leihe ich dir gern den Wagen, sagte ich, nach Starnberg ist es ja nur ein Katzensprung. Antje schwieg immer noch. Erst als wir beim Auto angekommen waren, sagte sie, sie habe ja kaum Zeit und sie sei zu müde, um in der Gegend herumzufahren. Die Vorbereitung der Ausstellung sei ein furchtbarer Stress gewesen. Ich fragte sie, ob irgendetwas nicht stimme. Antje zögerte. Nein, sagte sie, oder doch. Sie sind alt geworden und engherzig. Das waren sie doch schon immer, sagte ich. Antje schüttelte den Kopf. Natürlich seien Sonjas Eltern immer konservativ gewesen, sagte sie, aber ihr Vater habe früher ein echtes Interesse für Kunst gehabt. Sie habe sich oft mit ihm darüber unterhalten. In den letzten Jahren habe er sich dann immer mehr verschlossen, vielleicht sei es eine Frage des Alters. Er könne nichts Neues mehr gelten lassen und er sei bitter geworden. Er muss ja nicht in allem meiner Meinung sein, sagte sie, aber er sollte sich wenigstens anhören, was ich zu sagen habe. Das letzte Mal als wir uns sahen, hatten wir einen Riesenstreit über Gursky. Seither habe ich keine Lust mehr, ihn zu sehen. Ich fragte mich, ob Antje noch andere Gründe hatte, Sonjas Vater zu meiden. Ich hatte oft den Verdacht gehabt, dass sie irgendwann eine Affäre mit ihm gehabt hatte. Als ich Sonja einmal danach fragte, hatte sie empört reagiert und gesagt, ihre Eltern führten eine harmonische Ehe. Wie wir, hatte ich gedacht und nichts weiter gesagt.
Obwohl nicht mehr viel Verkehr war, brauchten wir lange, um aus der Stadt herauszukommen. Antje schwieg. Ich schaute zu ihr hinüber und sah, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ich dachte schon, sie wäre eingeschlafen, als sie sagte, sie habe sich manchmal gefragt, ob sie mir damals einen Gefallen getan habe. Wie meinst du das? Womit? Sonja war unsicher, sagte Antje. Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Antje, Sonja sei sich nicht sicher gewesen, ob wir zueinander passten. Ob ich gut genug für sie bin? Du hattest Potenzial, sagte Antje, ich glaube, das war das Wort, das sie damals benutzt hat. Der andere ... Rüdiger, sagte ich. Ja, Rüdiger, der war lustig, aber viel zu lasch. Und dann war da noch einer. Sie dachte nach. Der nachher die Musikerin geheiratet hat. Ferdi?, fragte ich. Kann sein, sagte Antje. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sonja sich jemals für Ferdi interessiert hatte. Das dauerte nicht lange, sagte Antje. Sie hat etwas mit ihm gehabt? Wir standen an einer Ampel, und ich schaute Antje an. Sie lächelte entschuldigend. Ich glaube nicht, dass sie mit ihm geschlafen hat, wenn du das meinst. Hat sie dir das nie erzählt?
Sonja hatte nie viel erzählt. Es war mir oft gewesen, als habe sie vor unserer Beziehung kein Leben geführt oder als habe dieses frühere Leben keine Spuren hinterlassen außer in den Fotoalben in ihrem Bücherregal, die sie nie hervornahm. Wenn ich die Bilder anschaute, war es mir, als stammten sie aus einer weit zurückliegenden Zeit, aus einem anderen Leben. Manchmal fragte ich Sonja nach ihrer Zeit mit Rüdiger, dann gab sie einsilbige Antworten. Sie frage mich ja auch nicht, was ich getrieben habe, bevor wir zusammen gewesen seien. Es macht mir nichts aus, sagte ich. Jetzt gehörst du ja mir. Aber Sonja schwieg beharrlich. Ich fragte mich manchmal, ob sie einfach nichts zu erzählen hatte.
Antjes Lächeln hatte sich verändert, jetzt wirkte es spöttisch. Ihr Männer wollt immer die Eroberer sein, sagte sie. Versuch es von der positiven Seite zu sehen. Sie hat die Optionen geprüft und sich für dich entschieden. Der Wagen hinter mir hupte, und ich fuhr so ruckartig los, dass die Reifen quietschten. Und was hast du für eine Rolle gespielt in dem Ganzen?, fragte ich. Kannst du dich an die erste Nacht erinnern, die ihr bei mir verbracht habt?, sagte Antje. Sonja ist früh schlafen gegangen, und wir haben zusammen meine Bilder angeschaut. Da hatte ich größte Lust, dich zu verführen. Du hast mir gefallen, ein hübscher kleiner Student. Stattdessen habe ich dich an der Nase herumgeführt und dir erzählt, Sonja sei verliebt in dich. Und ihr habe ich am nächsten Tag gut zugeredet. Warum hast du das gemacht? Antje zuckte mit den Schultern. Nimmst du es mir übel? Die Frage klang ganz ernsthaft. Aus Spaß, sagte sie dann, ich habe dich verteidigt. Da war irgendeine Sache mit einer anderen Frau, einer Ausländerin, glaube ich. Das müsstest du doch am besten wissen. Iwona, sagte ich und seufzte, das ist eine lange Geschichte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Ich hatte Antje seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen, trotzdem erkannte ich sie sofort. Sie musste ungefähr sechzig sein, aber ihr Gesicht wirkte noch immer jugendlich. Na, sagte sie und küsste mich auf die Wangen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, trat ein junger Mann mit einem lächerlichen Bärtchen neben sie, fl üsterte ihr etwas ins Ohr und zog sie am Arm von mir weg. Ich sah, wie er sie zu einem Herrn in schwarzem Anzug führte, dessen Gesicht ich vom Sehen kannte oder aus der Zeitung. Sophie hatte sich den Mann geschnappt, der sich vorhin an Sonja herangemacht hatte, und fl irtete mit ihm, was ihn sichtlich in Verlegenheit brachte. Sonja hörte lachend zu, aber ich hatte wieder das Gefühl, sie sei in Gedanken anderswo. Ich ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille. Ich genoss den neidischen Blick des anderen Mannes. Er fragte Sophie, wie alt sie sei. Was schätzen Sie, sagte sie. Er tat, als denke er nach. Zwölf? Sie ist zehn, sagte Sonja, und Sophie sagte, du bist gemein. Du gleichst deiner Mutter, sagte der Mann. Sophie bedankte sich und machte einen Knicks. Sie ist die schönste Frau der Welt. Sie schien sehr genau zu begreifen, was vor sich ging.
Macht es dir etwas aus, wenn ich mit Sophie vorausfahre?, fragte Sonja. Antje wird wohl bis zum Schluss bleiben müssen. Ich bot ihr an, Sophie nach Hause zu bringen, damit sie bleiben könne, aber sie schüttelte den Kopf und sagte, sie sei furchtbar müde. Sie und Antje hätten ja das ganze Wochenende zusammen. Sophie hatte ihren Verehrer gebeten, ihr ein Glas Orangensaft zu holen. Er fragte, ob sonst noch jemand etwas zu trinken wolle. Hörst du auf, andere Leute herumzukommandieren?, sagte ich. Von wem sie das nur hat, sagte Sonja. Sie biss sich auf die Lippen und schaute kurz auf den Boden und dann in meine Augen, aber ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Wir sind weg, sagte sie und küsste mich kurz auf den Mund. Macht keinen Lärm, wenn ihr nach Hause kommt.
Die Galerie fing an sich zu leeren, aber es dauerte lange, bis die letzten Gäste gegangen waren. Am Schluss war außer Antje und mir nur noch ein älterer Herr da, den sie mir nicht vorstellte. Die beiden standen nebeneinander vor einem der Bilder und redeten so leise, dass ich mich instinktiv von ihnen entfernte. Ich blätterte durch die Preisliste und schaute immer wieder zu dem Paar hinüber. Schließlich umarmte Antje den Mann, küsste ihn auf die Stirn und brachte ihn zur Tür. Dann kam sie zu mir. Das war Georg, sagte sie, ich war mal verrückt nach ihm. Sie lachte. Schwer zu verstehen, nicht wahr?
Das war vor hundert Jahren. Sie ging zur Theke und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück. Sie hielt mir eines hin, aber ich schüttelte den Kopf. Ich trinke nicht mehr. Sie lächelte skeptisch, leerte ihr Glas in einem Zug und sagte, dann bin ich bereit. Der Galerist hatte Antje den Schlüssel dagelassen. Sie drückte endlos auf den Lichtschaltern herum, bis endlich alle Lampen gelöscht waren. Draußen hängte sie sich bei mir ein und fragte, ob es weit sei bis zum Wagen. Es schneite noch immer ein wenig. Was für ein Wetter, sagte sie. Das nächste Mal treffen wir uns wieder in Marseille. Sie fragte mich, ob mir die Bilder gefi elen. Du bist zivilisierter geworden, sagte ich. Subtiler, hoffe ich, sagte Antje. Ich verstehe nichts von Kunst, sagte ich, aber im Gegensatz zu früher kann ich mir jetzt vorstellen, eines deiner Bilder zu Hause aufzuhängen. Antje sagte, sie sei sich nicht sicher, ob das ein Kompliment sei.
Ich fragte sie, ob sie Sonjas Eltern nicht zur Vernissage eingeladen habe? Ich hätte gedacht, sie kämen. Antje gab keine Antwort. Wenn du sie besuchen willst, leihe ich dir gern den Wagen, sagte ich, nach Starnberg ist es ja nur ein Katzensprung. Antje schwieg immer noch. Erst als wir beim Auto angekommen waren, sagte sie, sie habe ja kaum Zeit und sie sei zu müde, um in der Gegend herumzufahren. Die Vorbereitung der Ausstellung sei ein furchtbarer Stress gewesen. Ich fragte sie, ob irgendetwas nicht stimme. Antje zögerte. Nein, sagte sie, oder doch. Sie sind alt geworden und engherzig. Das waren sie doch schon immer, sagte ich. Antje schüttelte den Kopf. Natürlich seien Sonjas Eltern immer konservativ gewesen, sagte sie, aber ihr Vater habe früher ein echtes Interesse für Kunst gehabt. Sie habe sich oft mit ihm darüber unterhalten. In den letzten Jahren habe er sich dann immer mehr verschlossen, vielleicht sei es eine Frage des Alters. Er könne nichts Neues mehr gelten lassen und er sei bitter geworden. Er muss ja nicht in allem meiner Meinung sein, sagte sie, aber er sollte sich wenigstens anhören, was ich zu sagen habe. Das letzte Mal als wir uns sahen, hatten wir einen Riesenstreit über Gursky. Seither habe ich keine Lust mehr, ihn zu sehen. Ich fragte mich, ob Antje noch andere Gründe hatte, Sonjas Vater zu meiden. Ich hatte oft den Verdacht gehabt, dass sie irgendwann eine Affäre mit ihm gehabt hatte. Als ich Sonja einmal danach fragte, hatte sie empört reagiert und gesagt, ihre Eltern führten eine harmonische Ehe. Wie wir, hatte ich gedacht und nichts weiter gesagt.
Obwohl nicht mehr viel Verkehr war, brauchten wir lange, um aus der Stadt herauszukommen. Antje schwieg. Ich schaute zu ihr hinüber und sah, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ich dachte schon, sie wäre eingeschlafen, als sie sagte, sie habe sich manchmal gefragt, ob sie mir damals einen Gefallen getan habe. Wie meinst du das? Womit? Sonja war unsicher, sagte Antje. Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Antje, Sonja sei sich nicht sicher gewesen, ob wir zueinander passten. Ob ich gut genug für sie bin? Du hattest Potenzial, sagte Antje, ich glaube, das war das Wort, das sie damals benutzt hat. Der andere ... Rüdiger, sagte ich. Ja, Rüdiger, der war lustig, aber viel zu lasch. Und dann war da noch einer. Sie dachte nach. Der nachher die Musikerin geheiratet hat. Ferdi?, fragte ich. Kann sein, sagte Antje. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sonja sich jemals für Ferdi interessiert hatte. Das dauerte nicht lange, sagte Antje. Sie hat etwas mit ihm gehabt? Wir standen an einer Ampel, und ich schaute Antje an. Sie lächelte entschuldigend. Ich glaube nicht, dass sie mit ihm geschlafen hat, wenn du das meinst. Hat sie dir das nie erzählt?
Sonja hatte nie viel erzählt. Es war mir oft gewesen, als habe sie vor unserer Beziehung kein Leben geführt oder als habe dieses frühere Leben keine Spuren hinterlassen außer in den Fotoalben in ihrem Bücherregal, die sie nie hervornahm. Wenn ich die Bilder anschaute, war es mir, als stammten sie aus einer weit zurückliegenden Zeit, aus einem anderen Leben. Manchmal fragte ich Sonja nach ihrer Zeit mit Rüdiger, dann gab sie einsilbige Antworten. Sie frage mich ja auch nicht, was ich getrieben habe, bevor wir zusammen gewesen seien. Es macht mir nichts aus, sagte ich. Jetzt gehörst du ja mir. Aber Sonja schwieg beharrlich. Ich fragte mich manchmal, ob sie einfach nichts zu erzählen hatte.
Antjes Lächeln hatte sich verändert, jetzt wirkte es spöttisch. Ihr Männer wollt immer die Eroberer sein, sagte sie. Versuch es von der positiven Seite zu sehen. Sie hat die Optionen geprüft und sich für dich entschieden. Der Wagen hinter mir hupte, und ich fuhr so ruckartig los, dass die Reifen quietschten. Und was hast du für eine Rolle gespielt in dem Ganzen?, fragte ich. Kannst du dich an die erste Nacht erinnern, die ihr bei mir verbracht habt?, sagte Antje. Sonja ist früh schlafen gegangen, und wir haben zusammen meine Bilder angeschaut. Da hatte ich größte Lust, dich zu verführen. Du hast mir gefallen, ein hübscher kleiner Student. Stattdessen habe ich dich an der Nase herumgeführt und dir erzählt, Sonja sei verliebt in dich. Und ihr habe ich am nächsten Tag gut zugeredet. Warum hast du das gemacht? Antje zuckte mit den Schultern. Nimmst du es mir übel? Die Frage klang ganz ernsthaft. Aus Spaß, sagte sie dann, ich habe dich verteidigt. Da war irgendeine Sache mit einer anderen Frau, einer Ausländerin, glaube ich. Das müsstest du doch am besten wissen. Iwona, sagte ich und seufzte, das ist eine lange Geschichte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
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Autoren-Porträt von Peter Stamm
Stamm, PeterPeter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« und »Das Archiv der Gefühle« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Stamm
- 2009, 4. Aufl., 304 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100751264
- ISBN-13: 9783100751263
- Erscheinungsdatum: 12.08.2009
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