Sitzen vier Polen im Auto
Teutonische Abenteuer. Originalausgabe
Als die achtjährige Alexandra 1989 mit ihrer Familie im polnischen Fiat nach Deutschland flieht, kennt sie das verheißungsvolle Land im Westen nur aus dem Quelle-Katalog ihrer Oma. Hinter der Grenze warten paradiesische Verhältnisse, aber auch viele...
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Produktinformationen zu „Sitzen vier Polen im Auto “
Klappentext zu „Sitzen vier Polen im Auto “
Als die achtjährige Alexandra 1989 mit ihrer Familie im polnischen Fiat nach Deutschland flieht, kennt sie das verheißungsvolle Land im Westen nur aus dem Quelle-Katalog ihrer Oma. Hinter der Grenze warten paradiesische Verhältnisse, aber auch viele ungelöste Rätsel: Wie kommt es, dass alle Städte "Ausfahrt" heißen? Was bringt deutsche Frauen dazu, freiwillig Hosen zu tragen? Und warum haben Wurstscheiben ein Bärengesicht? Humorvoll und einfühlsam erzählt Alexandra Tobor die abenteuerliche Geschichte ihrer Familie, die versucht, in Deutschland Fuß zu fassen.
Lese-Probe zu „Sitzen vier Polen im Auto “
Sitzen vier Polen im Auto von Alexandra Tobor1. Das Goldene Buch
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Das Erste was ich sah, als ich am 1.Mai 1986 beschloss, ins Leben zurückzukehren, war die rabenschwarze Turmfrisur meiner Oma. Ich lag auf dem Asphalt, die Haare senkrecht im Wind, der heulend über polnischen Boden fegte. Er schüttelte Apfel- und Kirschblütenblätter von den Ästen, ließ die gestärkten Kleider der Mädchen knattern und wirbelte rote Kreppstreifen durch die Luft. Nur die Schornsteine der Ziegelei und Omas hartgesprühter Haarturm standen unbewegt in der Landschaft.
»Mutter Gottes von Tschenstochau!«, heulte jemand. »Das Mädchen ist voller Blut!« Oma lugte in meine Pupille, die sie mit Daumen und Zeigefinger freigelegt hatte, und zog ihre Lippen zu einer Himbeere zusammen. Dieses Gesicht machte sie, wann immer eine spiegelnde Fläche ihr anbot, sich ihrer Schönheit zu vergewissern. »Wenn's nur Blut wäre ...«, seufzte sie, »dann wüsste ich wenigstens, wie ich die Flecken rausbekomme. Und jetzt rücken Sie endlich ab! Haben Sie noch nie ein totes Kind gesehen?« Die Neugierigen, die ihre Hälse nach meinem Leichnam streckten, stoben schnatternd auseinander wie ein Pulk Federvieh. Kurz darauf zurückzukehren, war die rabenschwarze Turmfrisur meiner Oma. Ich lag auf dem Asphalt, die Haare senkrecht im Wind, der heulend über polnischen Boden fegte. Er schüttelte Apfel- und Kirschblütenblätter von den Ästen, ließ die gestärkten Kleider der Mädchen knattern und wirbelte rote Kreppstreifen durch die Luft. Nur die Schornsteine der Ziegelei und Omas hartgesprühter Haarturm standen unbewegt in der Landschaft.
»Mutter Gottes von Tschenstochau!«, heulte jemand. »Das Mädchen ist voller Blut!«
Oma lugte in meine Pupille, die sie mit Daumen und Zeigefinger freigelegt hatte, und zog ihre Lippen zu einer Himbeere zusammen. Dieses Gesicht machte sie, wann immer eine spiegelnde Fläche ihr anbot, sich ihrer Schönheit zu vergewissern.
»Wenn's nur Blut wäre ...«, seufzte sie, »dann wüsste ich wenigstens, wie ich die Flecken rausbekomme. Und jetzt rücken Sie endlich ab! Haben Sie noch nie ein totes Kind gesehen?« Die Neugierigen, die ihre Hälse nach meinem Leichnam streckten, stoben schnatternd auseinander wie ein Pulk Federvieh. Kurz darauf hörte ich es knistern, und ein herrlicher Duft drang in meine Nase. Der Duft von Zitronendrops.
»Erwischt!«, rief Oma. Das schnuppernde Zittern meiner Nüstern hatte ihr verraten, dass ich quicklebendig war. Oma grub mir ihre Klunkerhände in die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine. »Heiliger Julek, du siehst aus wie eine geschlachtete Gans!«, schimpfte sie, während sie den Kies aus den Rillen meiner Strumpfhose klopfte. »Was sollen die Leute denken, wenn sie dich so mit mir sehen?« Schuldbewusst sah ich zu, wie Oma den Zitronendrops in ihrem Haarturm verschwinden ließ. Dann stopfte sie mir ein großes Taschentuch in den Kragen, damit es die rotbraunen Flecken verdeckte, und band es zu einer aparten Schluppe.
Ich war auf den Namen Aleksandra getauft, aber gerufen wurde ich Ola. Ich war sechs Jahre alt und hatte gerade meinen einhundertundelften Tod vorgetäuscht. Das Blut auf meinem Kleid war in Wirklichkeit »Plyn Lugola«, eine bittere Flüssigkeit, die mir nach der Maiparade im Spital verabreicht worden war. Vor wenigen Tagen hatte es in der Ukraine eine Explosion gegeben. Seitdem redeten die Erwachsenen von nichts anderem als einer Wolke mit aktiven Radios drin, in deren unheilvollem Schatten Kinder zu Monstern mutierten. Vor diesem Schicksal sollte das Jodgemisch mich bewahren. Ich wusste zwar nicht, wie die widerliche Flüssigkeit verhindern sollte, von einem Radio erschlagen zu werden, das aus einer Wolke fällt, aber ich wusste, dass Ärzte die absurdesten Lügen erfanden, um Kinder zu Tode zu quälen. »Plyn Lugola« war eine davon, und sie hatte mich heute ein weiteres Leben gekostet.
Seit ich denken konnte, waren vorgetäuschte Tode meine Art, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu umgehen: Schröpfgläser, Zahnbohrer, speerlange Spritzen. Diese Kinder, die sich krank stellten, um nicht in die Schule zu müssen, waren mir ein Rätsel. Wäre ich kein begnadetes Sterbetalent gewesen, hätte ich mich gesund gestellt, um nicht zum Arzt zu müssen. Eine meiner häufigsten Todesursachen war scheußliches Essen; Leber, die sich wie eine alte Sohle in der Pfanne bog, Spinat, der kuhfladengleich in den Kindergartenteller klatschte, übel riechende Zwiebelsäfte und Abhärtungscocktails aus Sauerkraut und Rettich. Meine Eltern ängstigten sich um mich. Sie fürchteten, dass ich bald wirklich sterben könnte. Vor Hunger. Als gäbe es nichts auf der Welt, das mir munden würde. Dabei war ich ein heimlicher Gourmet! Tante Selma hatte aus dem Bulgarienurlaub zehn Tuben Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Ich presste kleine Würste aus den Tuben direkt auf meine Zunge. Außerdem besaß ich einen ganzen Bund chinesischer Bleistifte, an deren Enden samtig gerundete Radiergummis saßen. Wenn ihr Duft mich zu sehr berauschte, biss ich unbeherrscht hinein und verschlang sie wie gezuckerte Beeren.
Um Viertel nach zwölf, kurz vor meinem Tod also, hatte ich mit Oma Greta das städtische Spital betreten, einen monströsen, graublassblauen Klotz mit vergitterten Fenstern, hinter denen gespenstisch die Schwesternhäubchen knackten.
»Sehen Sie zu, dass sie es schluckt. Wir können froh sein, wenn's für alle reicht«, sagte die Krankenschwester zu meiner Oma und streckte mir einen Plastikbecher mit einer dunkelroten Flüssigkeit hin. »Na los! Trink schon!«, feuerte sie mich an. Voller Misstrauen beschnupperte ich erst den Becher.
»Plyn Lugola? Trink es, Ola. Schmeckt so gut wie Coca-Cola«, reimteOma trällernd. Als ich kleiner war, dachte sie sich ständig solche Lieder für mich aus, während sie mir Löffel voll widerlicher Pampe an den Mund führte. Ich überlegte, ob ich vorsorglich das Zeitliche segnen sollte. Nein. Erst würde ich überprüfen, ob an Omas Reim nicht doch etwas dran war. Ich nahm einen kleinen scheuen Schluck aus dem Becher, doch dieser Tropfen genügte, um in meinem Mund die Hölle zum Einsturz zu bringen. Eine widerliche, brennende Bitterkeit zersägte mir die Zunge.
»Ich trinke das nicht!«, schrie ich und blickte hilfesuchend zu Oma. Aber sie war nicht mehr da. Die Schwester ließ ihr hässliches Lachen scheppern.
»Kinder und Fische haben keine Stimme. Hat man dir das nicht beigebracht? Und jetzt runter damit!«
»Niemals!«, brüllte ich und warf den Becher verzweifelt gegen die Schwester, die im letzten Moment ausweichen konnte. Das rotbraune Rinnsal schlängelte sich zäh am Boden entlang.
»Na warte, du kleiner Teufel!«, röchelte sie und spreizte ihre buschigen Brauen, als Omas Kopf im Türspalt erschien.
»Was ist hier los?«, fragte Oma. »Kann man sich nicht mal kurz die Beine vertreten?«
»Was hier los ist?«, empörte sich die Schwester. »Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen dafür sorgen, dass sie es schluckt!?«
»Sie will es nicht trinken?«, fragte Oma und zuckte dann mit den Schultern. »Da kann man wohl nichts machen. Es kann sie ja keiner zwingen.«
»Ach nein?«, keifte die Schwester, während sie mit einem frisch gefüllten Becher auf mich zustampfte. »Ich kann's!«
Mit spitzen Hexenfingern packte sie mein Kinn, riss es nach oben, drückte meinen Mund zu einem Schnäbelchen auf und goss mir die ätzende Flüssigkeit in den Rachen. »Biiiiittescheeen«, schnalzte sie triumphierend, und ihre Mundwinkel zogen sich zäh auseinander, bis in ihrem Gesicht eine Art Lächeln mit grob gesäten Zähnen erschien.
Ich taumelte, verlor kurz das Gleichgewicht und spie den scheußlichen Saft prustend aus. Oma erstarrte im Türrahmen, als sie sah, wie die Flüssigkeit sich in den weißen Stoff meines sommerlichen Kleidchens fraß.
»Was haben Sie angerichtet!?«, brüllte sie los. »Das schöne Kleid! Das schöne, gute Kleid! Das hab ich ihr aus der DDR mitgebracht. Aus der D-D-R!«
»Na und?«, sagte die Schwester unbeeindruckt. »Und wenn's von den Inseln Hulla-Gulla wäre!«
Omas Gesicht verfinsterte sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte wie ein Stier. Der Leopardenrock spannte zwischen ihren spitzen Knien. Oma stand im Türrahmen wie ein großes verziertes A am Anfang einer finsteren Geschichte. Die Uhr tickte. Ich zählte jede Sekunde mit. Jeden ... dwa ... trzy ... Oma schritt im Takt voran. Unter ihren klackenden Absätzen verstummten sogar Silberfische und Milben. Die Zeiger der Wanduhr standen auf halb 1, als die Krankenschwester in den Schatten der Turmfrisur geriet. Ihr rotes Gesicht schrumpfte darin wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft weicht.
»Sind Sie je den weiten Weg in die DDR gefahren, um einem Mädchen ein schönes Kleid kaufen zu können? Haben Sie jemals etwas von dieser Qualität gesehen?« Oma zog mich am Ärmel heran und befahl der Schwester, den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. »Haben Sie?«
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Aber verstehen Sie denn nicht!?«, stammelte sie mit den Resten ihrer Stimme. »Wenn die Kleine das Jod nicht trinkt, stirbt sie!« »Eher welken mir die Ohren ab von Ihrem Blödsinn«, warf Oma zurück. »Oberschlesien ist die verseuch- teste Gegend Polens. Zeigen Sie mir ein Kind von hier, das nicht krank oder zurückgeblieben ist.«
Die Schwester zitterte mit der Unterlippe, während Oma munter fortfuhr: »Ruß und Chemie. Dreck und Gestank. Blei im Wasser. Verseuchtes Gemüse. Die Kinder sind zum Verblöden verdammt. Was soll uns das bisschen Radioaktivität von den Russen denn da noch anhaben können?«
»Aber ... aber ich habe die Anweisung vom Herrn Doktor ...«
»Unsinn! Machen Sie dem Kind lieber eine Freude. Von einem Schwesternhäubchen träumt meine Ola schon lange.«
»Natürlich«, stammelte die Schwester. Sie fummelte das Plastikhäubchen aus ihrem Haar und setzte es mir mit einem angedeuteten Knicks auf den Kopf.
»Und noch eine Handvoll Plastikspritzen zum Spielen«, forderte Oma. »Beeilen Sie sich. Draußen warten noch andere Gören, die Jod spucken wollen.«
Auf dem Gang sprach Oma kein Wort mit mir. Als wir draußen waren, setzte sie mich auf einen Stromkasten, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sie musterte mich mit zornglühenden Augen, über denen mir ihre dunkel nachgezogenen Brauen drohten.
»Für dich kaufe ich in der DDR nichts mehr. Ab jetzt trägst du nur noch die Kratzpullover von Tante Maria. Und sagte ich schon, dass zu Hause ein Teller Kuttel- suppe auf dich wartet?« Das war zu viel für einen Tag. Ich ließ mich gekonnt vom Stromkasten fallen, auf den Asphalt und in den Tod.
Zu Hause gab es Kuttelsuppe und Stubenarrest. Oma führte mich in die Küche ab, wo meine Mutter sich vom pfeifenden Wasserkessel, von der tickenden Eieruhr und schäumenden Töpfen herumkommandieren ließ. Ein langer, dicker Zopf pendelte über ihrem Bauch. Im Bauch wohnte mein Bruder Tomek und harrte ohne Hose und ohne Licht seiner baldigen Geburt. Ich hatte schon eine Weile grummelnd auf dem Hocker gesessen, als mein Vater die Küche betrat. Er trug einen ausgewaschenen Trainingsanzug und eine dunkle Hornbrille, hinter der seine Augen klein wie Stecknadelköpfe waren. Von seiner Hand baumelten Mamas Schuhe. Er hatte sie gerade fertig repariert und präsentierte ihr das Ergebnis. Mama war begeistert. Aus einem Fahr- radschlauch hatte Papa Gummibänder geschnitten, die Mamas Füße an die Sohle fixierten.
Mein Vater war Ingenieur in einer Kohlengrube und konnte alles reparieren, was nur kaputtgehen konnte. Alles, bis auf Mamas Schuhe, die immer und immer wieder aus allen Nähten platzten. Mama hatte angeblich die größten Frauenfüße Polens, auch wenn ich noch nicht weit genug herumgekommen war, um das zu überprüfen. Opa Adelbert, der zu Lebzeiten auf seinem Mofa alle Woiwodschaften bereiste, hätte bestätigen können, dass weit und breit kein Schuhgeschäft existierte, das Mamas Größe führte. Wenigstens hatte ihr einziges Paar Sandalen vorn und hinten Öffnungen, die der überschüssigen Zehen- und Fersenmasse erlaubten, sich weit herauszulehnen.
»Gott sei Dank!«, rief Mama. »Dann können wir heute doch noch ins Theater!« Sogleich drehte sie sich zu mir, um den Glanz meiner Augen zu dimmen. »Tut mir leid, Würmchen. Dich nehmen wir diesmal nicht mit. Oma ist sehr gekränkt wegen dem Kleid. Zur Strafe bleibst du heute mit ihr zu Hause.«
Oma war halb Mensch, halb Besen. Sie wischte hinter jedem ihrer Schritte her. Krümel, Staub und Flusen waren ihr ein Graus. Das Leben und der Schmutz, den es hervorbrachte, betrübten sie zutiefst. Selbst Sonnenflecken und kleine Schatten mussten ihr Schrubben fürchten. Tiere durften nichts ins Haus, Kinder nicht aufs Sofa. Wenn meine Eltern mich mit Oma alleine ließen, kitzeltesie michmit dem Staubwedel nach draußen, wodie Spuren, die meine Existenzhinterließ, weniger sichtbar waren. Doch heute schloss Oma mir das Gästezimmer auf, denn sie hatte eine Aufgabe für mich. »Ich gehe in den Garten, Unkraut jäten«, sagte sie und drückte mir einen Kamm in die Hand. »Du bleibst hier und kämmst die Teppichfransen. In einer Stunde bin ich wieder da, mach's fein!«
Die einzigen Gäste, die ich in Omas Prunkzimmer je hörte ich es knistern, und ein herrlicher Duft drang in meine Nase. Der Duft von Zitronendrops.
»Erwischt!«, rief Oma. Das schnuppernde Zittern meiner Nüstern hatte ihr verraten, dass ich quicklebendig war. Oma grub mir ihre Klunkerhände in die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine.
»Heiliger Julek, du siehst aus wie eine geschlachtete Gans!«, schimpfte sie, während sie den Kies aus den Rillen meiner Strumpfhose klopfte. »Was sollen die Leute denken, wenn sie dich so mit mir sehen?« Schuldbewusst sah ich zu, wie Oma den Zitronendrops in ihrem Haarturm verschwinden ließ. Dann stopfte sie mir ein großes Taschentuch in den Kragen, damit es die rotbraunen Flecken verdeckte, und band es zu einer aparten Schluppe.
Ich war auf den Namen Aleksandra getauft, aber gerufen wurde ich Ola. Ich war sechs Jahre alt und hatte gerade meinen einhundertundelften Tod vorgetäuscht. Das Blut auf meinem Kleid war in Wirklichkeit »Plyn Lugola«, eine bittere Flüssigkeit, die mir nach der Maiparade im Spital verabreicht worden war. Vor wenigen Tagen hatte es in der Ukraine eine Explosion gegeben. Seitdem redeten die Erwachsenen von nichts anderem als einer Wolke mit aktiven Radios drin, in deren unheilvollem Schatten Kinder zu Monstern mutierten. Vor diesem Schicksal sollte das Jodgemisch mich bewahren. Ich wusste zwar nicht, wie die widerliche Flüssigkeit verhindern sollte, von einem Radio erschlagen zu werden, das aus einer Wolke fällt, aber ich wusste, dass Ärzte die absurdesten Lügen erfanden, um Kinder zu Tode zu quälen. »Plyn Lugola« war eine davon, und sie hatte mich heute ein weiteres Leben gekostet.
Seit ich denken konnte, waren vorgetäuschte Tode meine Art, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu umgehen: Schröpfgläser, Zahnbohrer, speerlange Spritzen. Diese Kinder, die sich krank stellten, um nicht in die Schule zu müssen, waren mir ein Rätsel. Wäre ich kein begnadetes Sterbetalent gewesen, hätte ich mich gesund gestellt, um nicht zum Arzt zu müssen. Eine meiner häufigsten Todesursachen war scheußliches Essen; Leber, die sich wie eine alte Sohle in der Pfanne bog, Spinat, der kuhfladengleich in den Kindergartenteller klatschte, übel riechende Zwiebelsäfte und Abhärtungscocktails aus Sauerkraut und Rettich. Meine Eltern ängstigten sich um mich. Sie fürchteten, dass ich bald wirklich sterben könnte. Vor Hunger. Als gäbe es nichts auf der Welt, das mir munden würde. Dabei war ich ein heimlicher Gourmet! Tante Selma hatte aus dem Bulgarienurlaub zehn Tuben Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Ich presste kleine Würste aus den Tuben direkt auf meine Zunge. Außerdem besaß ich einen ganzen Bund chinesischer Bleistifte, an deren Enden samtig gerundete Radiergummis saßen. Wenn ihr Duft mich zu sehr berauschte, biss ich unbeherrscht hinein und verschlang sie wie gezuckerte Beeren.
Um Viertel nach zwölf, kurz vor meinem Tod also, hatte ich mit Oma Greta das städtische Spital betreten, einen monströsen, graublassblauen Klotz mit vergitterten Fenstern, hinter denen gespenstisch die Schwesternhäubchen knackten.
»Sehen Sie zu, dass sie es schluckt. Wir können froh sein, wenn's für alle reicht«, sagte die Krankenschwester zu meiner Oma und streckte mir einen Plastikbecher mit einer dunkelroten Flüssigkeit hin. »Na los! Trink schon!«, feuerte sie mich an. Voller Misstrauen beschnupperte ich erst den Becher.
»Plyn Lugola? Trink es, Ola. Schmeckt so gut wie Coca-Cola«, reimte Oma trällernd. Als ich kleiner war, dachte sie sich ständig solche Lieder für mich aus, während sie mir Löffel voll widerlicher Pampe an den Mund führte. Ich überlegte, ob ich vorsorglich das Zeitliche segnen sollte. Nein. Erst würde ich überprüfen, ob an Omas Reim nicht doch etwas dran war. Ich nahm einen kleinen scheuen Schluck aus dem Becher, doch dieser Tropfen genügte, um in meinem Mund die Hölle zum Einsturz zu bringen. Eine widerliche, brennende Bitterkeit zersägte mir die Zunge.
»Ich trinke das nicht!«, schrie ich und blickte hilfesuchend zu Oma. Aber sie war nicht mehr da. Die Schwester ließ ihr hässliches Lachen scheppern.
»Kinder und Fische haben keine Stimme. Hat man dir das nicht beigebracht? Und jetzt runter damit!«
»Niemals!«, brüllte ich und warf den Becher verzweifelt gegen die Schwester, die im letzten Moment ausweichen konnte. Das rotbraune Rinnsal schlängelte sich zäh am Boden entlang.
»Na warte, du kleiner Teufel!«, röchelte sie und spreizte ihre buschigen Brauen, als Omas Kopf im Türspalt erschien. »Was ist hier los?«, fragte Oma. »Kann man sich nicht mal kurz die Beine vertreten?« »Was hier los ist?«, empörte sich die Schwester. »Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen dafür sorgen, dass sie es schluckt!?« »Sie will es nicht trinken?«, fragte Oma und zuckte dann mit den Schultern. »Da kann man wohl nichts machen. Es kann sie ja keiner zwingen.«
»Ach nein?«, keifte die Schwester, während sie mit einem frisch gefüllten Becher auf mich zustampfte. »Ich kann's!«
Mit spitzen Hexenfingern packte sie mein Kinn, riss es nach oben, drückte meinen Mund zu einem Schnäbelchen auf und goss mir die ätzende Flüssigkeit in den Rachen. »Biiiiittescheeen«, schnalzte sie triumphierend, und ihre Mundwinkel zogen sich zäh auseinander, bis in ihrem Gesicht eine Art Lächeln mit grob gesäten Zähnen erschien.
Ich taumelte, verlor kurz das Gleichgewicht und spie den scheußlichen Saft prustend aus. Oma erstarrte im Türrahmen, als sie sah, wie die Flüssigkeit sich in den weißen Stoff meines sommerlichen Kleidchens fraß.
»Was haben Sie angerichtet!?«, brüllte sie los. »Das schöne Kleid! Das schöne, gute Kleid! Das hab ich ihr aus der DDR mitgebracht. Aus der D-D-R!«
»Na und?«, sagte die Schwester unbeeindruckt. »Und wenn's von den Inseln Hulla-Gulla wäre!«
Omas Gesicht verfinsterte sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte wie ein Stier. Der Leopardenrock spannte zwischen ihren spitzen Knien. Oma stand im Türrahmen wie ein großes verziertes A am Anfang einer finsteren Geschichte. Die Uhr tickte. Ich zählte jede Sekunde mit. Jeden ... dwa ... trzy ... Oma schritt im Takt voran. Unter ihren klackenden Absätzen verstummten sogar Silberfische und Milben. Die Zeiger der Wanduhr standen auf halb 1, als die Krankenschwester in den Schatten der Turmfrisur geriet. Ihr rotes Gesicht schrumpfte darin wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft weicht.
»Sind Sie je den weiten Weg in die DDR gefahren, um einem Mädchen ein schönes Kleid kaufen zu können? Haben Sie jemals etwas von dieser Qualität gesehen?«
Oma zog mich am Ärmel heran und befahl der Schwester, den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. »Haben Sie?« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Aber verstehen Sie denn nicht!?«, stammelte sie mit den Resten ihrer Stimme. »Wenn die Kleine das Jod nicht trinkt, stirbt sie!«
»Eher welken mir die Ohren ab von Ihrem Blödsinn«, warf Oma zurück. »Oberschlesien ist die verseuch- teste Gegend Polens. Zeigen Sie mir ein Kind von hier, das nicht krank oder zurückgeblieben ist.« Die Schwester zitterte mit der Unterlippe, während Oma munter fortfuhr: »Ruß und Chemie. Dreck und Gestank. Blei im Wasser. Verseuchtes Gemüse. Die Kinder sind zum Verblöden verdammt. Was soll uns das bisschen Radioaktivität von den Russen denn da noch anhaben können?« »Aber ... aber ich habe die Anweisung vom Herrn Doktor ...«
»Unsinn! Machen Sie dem Kind lieber eine Freude. Von einem Schwesternhäubchen träumt meine Ola schon lange.«
»Natürlich«, stammelte die Schwester. Sie fummelte das Plastikhäubchen aus ihrem Haar und setzte es mir mit einem angedeuteten Knicks auf den Kopf.
»Und noch eine Handvoll Plastikspritzen zum Spielen«, forderte Oma. »Beeilen Sie sich. Draußen warten noch andere Gören, die Jod spucken wollen.«
Auf dem Gang sprach Oma kein Wort mit mir. Als wir draußen waren, setzte sie mich auf einen Stromkasten, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sie musterte mich mit zornglühenden Augen, über denen mir ihre dunkel nachgezogenen Brauen drohten.
»Für dich kaufe ich in der DDR nichts mehr. Ab jetzt trägst du nur noch die Kratzpullover von Tante Maria. Und sagte ich schon, dass zu Hause ein Teller Kuttel- suppe auf dich wartet?« Das war zu viel für einen Tag. Ich ließ mich gekonnt vom Stromkasten fallen, auf den Asphalt und in den Tod.
Zu Hause gab es Kuttelsuppe und Stubenarrest. Oma führte mich in die Küche ab, wo meine Mutter sich vom pfeifenden Wasserkessel, von der tickenden Eieruhr und schäumenden Töpfen herumkommandieren ließ. Ein langer, dicker Zopf pendelte über ihrem Bauch. Im Bauch wohnte mein Bruder Tomek und harrte ohne Hose und ohne Licht seiner baldigen Geburt. Ich hatte schon eine Weile grummelnd auf dem Hocker gesessen, als mein Vater die Küche betrat. Er trug einen ausgewaschenen Trainingsanzug und eine dunkle Hornbrille, hinter der seine Augen klein wie Stecknadelköpfe waren. Von seiner Hand baumelten Mamas Schuhe. Er hatte sie gerade fertig repariert und präsentierte ihr das Ergebnis. Mama war begeistert. Aus einem Fahr- radschlauch hatte Papa Gummibänder geschnitten, die Mamas Füße an die Sohle fixierten.
Mein Vater war Ingenieur in einer Kohlengrube und konnte alles reparieren, was nur kaputtgehen konnte. Alles, bis auf Mamas Schuhe, die immer und immer wieder aus allen Nähten platzten. Mama hatte angeblich die größten Frauenfüße Polens, auch wenn ich noch nicht weit genug herumgekommen war, um das zu überprüfen. Opa Adelbert, der zu Lebzeiten auf seinem Mofa alle Woiwodschaften bereiste, hätte bestätigen können, dass weit und breit kein Schuhgeschäft existierte, das Mamas Größe führte. Wenigstens hatte ihr einziges Paar Sandalen vorn und hinten Öffnungen, die der überschüssigen Zehen- und Fersenmasse erlaubten, sich weit herauszulehnen.
»Gott sei Dank!«, rief Mama. »Dann können wir heute doch noch ins Theater!« Sogleich drehte sie sich zu mir, um den Glanz meiner Augen zu dimmen. »Tut mir leid, Würmchen. Dich nehmen wir diesmal nicht mit. Oma ist sehr gekränkt wegen dem Kleid. Zur Strafe bleibst du heute mit ihr zu Hause.«
Oma war halb Mensch, halb Besen. Sie wischte hinter jedem ihrer Schritte her. Krümel, Staub und Flusen waren ihr ein Graus. Das Leben und der Schmutz, den es hervorbrachte, betrübten sie zutiefst. Selbst Sonnenflecken und kleine Schatten mussten ihr Schrubben fürchten. Tiere durften nichts ins Haus, Kinder nicht aufs Sofa. Wenn meine Eltern mich mit Oma alleine ließen, kitzelte sie mich mit dem Staubwedelnach draußen, wo die Spuren, die meine Existenz hinterließ, weniger sichtbar waren. Doch heute schloss Oma mir das Gästezimmer auf, denn sie hatte eine Aufgabe für mich. »Ich gehe in den Garten, Unkraut jäten«, sagte sie und drückte mir einen Kamm in die Hand. »Du bleibst hier und kämmst die Teppichfransen. In einer Stunde bin ich wieder da, mach's fein!«
Das Erste was ich sah, als ich am 1.Mai 1986 beschloss, ins Leben zurückzukehren, war die rabenschwarze Turmfrisur meiner Oma. Ich lag auf dem Asphalt, die Haare senkrecht im Wind, der heulend über polnischen Boden fegte. Er schüttelte Apfel- und Kirschblütenblätter von den Ästen, ließ die gestärkten Kleider der Mädchen knattern und wirbelte rote Kreppstreifen durch die Luft. Nur die Schornsteine der Ziegelei und Omas hartgesprühter Haarturm standen unbewegt in der Landschaft.
»Mutter Gottes von Tschenstochau!«, heulte jemand. »Das Mädchen ist voller Blut!« Oma lugte in meine Pupille, die sie mit Daumen und Zeigefinger freigelegt hatte, und zog ihre Lippen zu einer Himbeere zusammen. Dieses Gesicht machte sie, wann immer eine spiegelnde Fläche ihr anbot, sich ihrer Schönheit zu vergewissern. »Wenn's nur Blut wäre ...«, seufzte sie, »dann wüsste ich wenigstens, wie ich die Flecken rausbekomme. Und jetzt rücken Sie endlich ab! Haben Sie noch nie ein totes Kind gesehen?« Die Neugierigen, die ihre Hälse nach meinem Leichnam streckten, stoben schnatternd auseinander wie ein Pulk Federvieh. Kurz darauf zurückzukehren, war die rabenschwarze Turmfrisur meiner Oma. Ich lag auf dem Asphalt, die Haare senkrecht im Wind, der heulend über polnischen Boden fegte. Er schüttelte Apfel- und Kirschblütenblätter von den Ästen, ließ die gestärkten Kleider der Mädchen knattern und wirbelte rote Kreppstreifen durch die Luft. Nur die Schornsteine der Ziegelei und Omas hartgesprühter Haarturm standen unbewegt in der Landschaft.
»Mutter Gottes von Tschenstochau!«, heulte jemand. »Das Mädchen ist voller Blut!«
Oma lugte in meine Pupille, die sie mit Daumen und Zeigefinger freigelegt hatte, und zog ihre Lippen zu einer Himbeere zusammen. Dieses Gesicht machte sie, wann immer eine spiegelnde Fläche ihr anbot, sich ihrer Schönheit zu vergewissern.
»Wenn's nur Blut wäre ...«, seufzte sie, »dann wüsste ich wenigstens, wie ich die Flecken rausbekomme. Und jetzt rücken Sie endlich ab! Haben Sie noch nie ein totes Kind gesehen?« Die Neugierigen, die ihre Hälse nach meinem Leichnam streckten, stoben schnatternd auseinander wie ein Pulk Federvieh. Kurz darauf hörte ich es knistern, und ein herrlicher Duft drang in meine Nase. Der Duft von Zitronendrops.
»Erwischt!«, rief Oma. Das schnuppernde Zittern meiner Nüstern hatte ihr verraten, dass ich quicklebendig war. Oma grub mir ihre Klunkerhände in die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine. »Heiliger Julek, du siehst aus wie eine geschlachtete Gans!«, schimpfte sie, während sie den Kies aus den Rillen meiner Strumpfhose klopfte. »Was sollen die Leute denken, wenn sie dich so mit mir sehen?« Schuldbewusst sah ich zu, wie Oma den Zitronendrops in ihrem Haarturm verschwinden ließ. Dann stopfte sie mir ein großes Taschentuch in den Kragen, damit es die rotbraunen Flecken verdeckte, und band es zu einer aparten Schluppe.
Ich war auf den Namen Aleksandra getauft, aber gerufen wurde ich Ola. Ich war sechs Jahre alt und hatte gerade meinen einhundertundelften Tod vorgetäuscht. Das Blut auf meinem Kleid war in Wirklichkeit »Plyn Lugola«, eine bittere Flüssigkeit, die mir nach der Maiparade im Spital verabreicht worden war. Vor wenigen Tagen hatte es in der Ukraine eine Explosion gegeben. Seitdem redeten die Erwachsenen von nichts anderem als einer Wolke mit aktiven Radios drin, in deren unheilvollem Schatten Kinder zu Monstern mutierten. Vor diesem Schicksal sollte das Jodgemisch mich bewahren. Ich wusste zwar nicht, wie die widerliche Flüssigkeit verhindern sollte, von einem Radio erschlagen zu werden, das aus einer Wolke fällt, aber ich wusste, dass Ärzte die absurdesten Lügen erfanden, um Kinder zu Tode zu quälen. »Plyn Lugola« war eine davon, und sie hatte mich heute ein weiteres Leben gekostet.
Seit ich denken konnte, waren vorgetäuschte Tode meine Art, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu umgehen: Schröpfgläser, Zahnbohrer, speerlange Spritzen. Diese Kinder, die sich krank stellten, um nicht in die Schule zu müssen, waren mir ein Rätsel. Wäre ich kein begnadetes Sterbetalent gewesen, hätte ich mich gesund gestellt, um nicht zum Arzt zu müssen. Eine meiner häufigsten Todesursachen war scheußliches Essen; Leber, die sich wie eine alte Sohle in der Pfanne bog, Spinat, der kuhfladengleich in den Kindergartenteller klatschte, übel riechende Zwiebelsäfte und Abhärtungscocktails aus Sauerkraut und Rettich. Meine Eltern ängstigten sich um mich. Sie fürchteten, dass ich bald wirklich sterben könnte. Vor Hunger. Als gäbe es nichts auf der Welt, das mir munden würde. Dabei war ich ein heimlicher Gourmet! Tante Selma hatte aus dem Bulgarienurlaub zehn Tuben Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Ich presste kleine Würste aus den Tuben direkt auf meine Zunge. Außerdem besaß ich einen ganzen Bund chinesischer Bleistifte, an deren Enden samtig gerundete Radiergummis saßen. Wenn ihr Duft mich zu sehr berauschte, biss ich unbeherrscht hinein und verschlang sie wie gezuckerte Beeren.
Um Viertel nach zwölf, kurz vor meinem Tod also, hatte ich mit Oma Greta das städtische Spital betreten, einen monströsen, graublassblauen Klotz mit vergitterten Fenstern, hinter denen gespenstisch die Schwesternhäubchen knackten.
»Sehen Sie zu, dass sie es schluckt. Wir können froh sein, wenn's für alle reicht«, sagte die Krankenschwester zu meiner Oma und streckte mir einen Plastikbecher mit einer dunkelroten Flüssigkeit hin. »Na los! Trink schon!«, feuerte sie mich an. Voller Misstrauen beschnupperte ich erst den Becher.
»Plyn Lugola? Trink es, Ola. Schmeckt so gut wie Coca-Cola«, reimteOma trällernd. Als ich kleiner war, dachte sie sich ständig solche Lieder für mich aus, während sie mir Löffel voll widerlicher Pampe an den Mund führte. Ich überlegte, ob ich vorsorglich das Zeitliche segnen sollte. Nein. Erst würde ich überprüfen, ob an Omas Reim nicht doch etwas dran war. Ich nahm einen kleinen scheuen Schluck aus dem Becher, doch dieser Tropfen genügte, um in meinem Mund die Hölle zum Einsturz zu bringen. Eine widerliche, brennende Bitterkeit zersägte mir die Zunge.
»Ich trinke das nicht!«, schrie ich und blickte hilfesuchend zu Oma. Aber sie war nicht mehr da. Die Schwester ließ ihr hässliches Lachen scheppern.
»Kinder und Fische haben keine Stimme. Hat man dir das nicht beigebracht? Und jetzt runter damit!«
»Niemals!«, brüllte ich und warf den Becher verzweifelt gegen die Schwester, die im letzten Moment ausweichen konnte. Das rotbraune Rinnsal schlängelte sich zäh am Boden entlang.
»Na warte, du kleiner Teufel!«, röchelte sie und spreizte ihre buschigen Brauen, als Omas Kopf im Türspalt erschien.
»Was ist hier los?«, fragte Oma. »Kann man sich nicht mal kurz die Beine vertreten?«
»Was hier los ist?«, empörte sich die Schwester. »Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen dafür sorgen, dass sie es schluckt!?«
»Sie will es nicht trinken?«, fragte Oma und zuckte dann mit den Schultern. »Da kann man wohl nichts machen. Es kann sie ja keiner zwingen.«
»Ach nein?«, keifte die Schwester, während sie mit einem frisch gefüllten Becher auf mich zustampfte. »Ich kann's!«
Mit spitzen Hexenfingern packte sie mein Kinn, riss es nach oben, drückte meinen Mund zu einem Schnäbelchen auf und goss mir die ätzende Flüssigkeit in den Rachen. »Biiiiittescheeen«, schnalzte sie triumphierend, und ihre Mundwinkel zogen sich zäh auseinander, bis in ihrem Gesicht eine Art Lächeln mit grob gesäten Zähnen erschien.
Ich taumelte, verlor kurz das Gleichgewicht und spie den scheußlichen Saft prustend aus. Oma erstarrte im Türrahmen, als sie sah, wie die Flüssigkeit sich in den weißen Stoff meines sommerlichen Kleidchens fraß.
»Was haben Sie angerichtet!?«, brüllte sie los. »Das schöne Kleid! Das schöne, gute Kleid! Das hab ich ihr aus der DDR mitgebracht. Aus der D-D-R!«
»Na und?«, sagte die Schwester unbeeindruckt. »Und wenn's von den Inseln Hulla-Gulla wäre!«
Omas Gesicht verfinsterte sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte wie ein Stier. Der Leopardenrock spannte zwischen ihren spitzen Knien. Oma stand im Türrahmen wie ein großes verziertes A am Anfang einer finsteren Geschichte. Die Uhr tickte. Ich zählte jede Sekunde mit. Jeden ... dwa ... trzy ... Oma schritt im Takt voran. Unter ihren klackenden Absätzen verstummten sogar Silberfische und Milben. Die Zeiger der Wanduhr standen auf halb 1, als die Krankenschwester in den Schatten der Turmfrisur geriet. Ihr rotes Gesicht schrumpfte darin wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft weicht.
»Sind Sie je den weiten Weg in die DDR gefahren, um einem Mädchen ein schönes Kleid kaufen zu können? Haben Sie jemals etwas von dieser Qualität gesehen?« Oma zog mich am Ärmel heran und befahl der Schwester, den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. »Haben Sie?«
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Aber verstehen Sie denn nicht!?«, stammelte sie mit den Resten ihrer Stimme. »Wenn die Kleine das Jod nicht trinkt, stirbt sie!« »Eher welken mir die Ohren ab von Ihrem Blödsinn«, warf Oma zurück. »Oberschlesien ist die verseuch- teste Gegend Polens. Zeigen Sie mir ein Kind von hier, das nicht krank oder zurückgeblieben ist.«
Die Schwester zitterte mit der Unterlippe, während Oma munter fortfuhr: »Ruß und Chemie. Dreck und Gestank. Blei im Wasser. Verseuchtes Gemüse. Die Kinder sind zum Verblöden verdammt. Was soll uns das bisschen Radioaktivität von den Russen denn da noch anhaben können?«
»Aber ... aber ich habe die Anweisung vom Herrn Doktor ...«
»Unsinn! Machen Sie dem Kind lieber eine Freude. Von einem Schwesternhäubchen träumt meine Ola schon lange.«
»Natürlich«, stammelte die Schwester. Sie fummelte das Plastikhäubchen aus ihrem Haar und setzte es mir mit einem angedeuteten Knicks auf den Kopf.
»Und noch eine Handvoll Plastikspritzen zum Spielen«, forderte Oma. »Beeilen Sie sich. Draußen warten noch andere Gören, die Jod spucken wollen.«
Auf dem Gang sprach Oma kein Wort mit mir. Als wir draußen waren, setzte sie mich auf einen Stromkasten, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sie musterte mich mit zornglühenden Augen, über denen mir ihre dunkel nachgezogenen Brauen drohten.
»Für dich kaufe ich in der DDR nichts mehr. Ab jetzt trägst du nur noch die Kratzpullover von Tante Maria. Und sagte ich schon, dass zu Hause ein Teller Kuttel- suppe auf dich wartet?« Das war zu viel für einen Tag. Ich ließ mich gekonnt vom Stromkasten fallen, auf den Asphalt und in den Tod.
Zu Hause gab es Kuttelsuppe und Stubenarrest. Oma führte mich in die Küche ab, wo meine Mutter sich vom pfeifenden Wasserkessel, von der tickenden Eieruhr und schäumenden Töpfen herumkommandieren ließ. Ein langer, dicker Zopf pendelte über ihrem Bauch. Im Bauch wohnte mein Bruder Tomek und harrte ohne Hose und ohne Licht seiner baldigen Geburt. Ich hatte schon eine Weile grummelnd auf dem Hocker gesessen, als mein Vater die Küche betrat. Er trug einen ausgewaschenen Trainingsanzug und eine dunkle Hornbrille, hinter der seine Augen klein wie Stecknadelköpfe waren. Von seiner Hand baumelten Mamas Schuhe. Er hatte sie gerade fertig repariert und präsentierte ihr das Ergebnis. Mama war begeistert. Aus einem Fahr- radschlauch hatte Papa Gummibänder geschnitten, die Mamas Füße an die Sohle fixierten.
Mein Vater war Ingenieur in einer Kohlengrube und konnte alles reparieren, was nur kaputtgehen konnte. Alles, bis auf Mamas Schuhe, die immer und immer wieder aus allen Nähten platzten. Mama hatte angeblich die größten Frauenfüße Polens, auch wenn ich noch nicht weit genug herumgekommen war, um das zu überprüfen. Opa Adelbert, der zu Lebzeiten auf seinem Mofa alle Woiwodschaften bereiste, hätte bestätigen können, dass weit und breit kein Schuhgeschäft existierte, das Mamas Größe führte. Wenigstens hatte ihr einziges Paar Sandalen vorn und hinten Öffnungen, die der überschüssigen Zehen- und Fersenmasse erlaubten, sich weit herauszulehnen.
»Gott sei Dank!«, rief Mama. »Dann können wir heute doch noch ins Theater!« Sogleich drehte sie sich zu mir, um den Glanz meiner Augen zu dimmen. »Tut mir leid, Würmchen. Dich nehmen wir diesmal nicht mit. Oma ist sehr gekränkt wegen dem Kleid. Zur Strafe bleibst du heute mit ihr zu Hause.«
Oma war halb Mensch, halb Besen. Sie wischte hinter jedem ihrer Schritte her. Krümel, Staub und Flusen waren ihr ein Graus. Das Leben und der Schmutz, den es hervorbrachte, betrübten sie zutiefst. Selbst Sonnenflecken und kleine Schatten mussten ihr Schrubben fürchten. Tiere durften nichts ins Haus, Kinder nicht aufs Sofa. Wenn meine Eltern mich mit Oma alleine ließen, kitzeltesie michmit dem Staubwedel nach draußen, wodie Spuren, die meine Existenzhinterließ, weniger sichtbar waren. Doch heute schloss Oma mir das Gästezimmer auf, denn sie hatte eine Aufgabe für mich. »Ich gehe in den Garten, Unkraut jäten«, sagte sie und drückte mir einen Kamm in die Hand. »Du bleibst hier und kämmst die Teppichfransen. In einer Stunde bin ich wieder da, mach's fein!«
Die einzigen Gäste, die ich in Omas Prunkzimmer je hörte ich es knistern, und ein herrlicher Duft drang in meine Nase. Der Duft von Zitronendrops.
»Erwischt!«, rief Oma. Das schnuppernde Zittern meiner Nüstern hatte ihr verraten, dass ich quicklebendig war. Oma grub mir ihre Klunkerhände in die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine.
»Heiliger Julek, du siehst aus wie eine geschlachtete Gans!«, schimpfte sie, während sie den Kies aus den Rillen meiner Strumpfhose klopfte. »Was sollen die Leute denken, wenn sie dich so mit mir sehen?« Schuldbewusst sah ich zu, wie Oma den Zitronendrops in ihrem Haarturm verschwinden ließ. Dann stopfte sie mir ein großes Taschentuch in den Kragen, damit es die rotbraunen Flecken verdeckte, und band es zu einer aparten Schluppe.
Ich war auf den Namen Aleksandra getauft, aber gerufen wurde ich Ola. Ich war sechs Jahre alt und hatte gerade meinen einhundertundelften Tod vorgetäuscht. Das Blut auf meinem Kleid war in Wirklichkeit »Plyn Lugola«, eine bittere Flüssigkeit, die mir nach der Maiparade im Spital verabreicht worden war. Vor wenigen Tagen hatte es in der Ukraine eine Explosion gegeben. Seitdem redeten die Erwachsenen von nichts anderem als einer Wolke mit aktiven Radios drin, in deren unheilvollem Schatten Kinder zu Monstern mutierten. Vor diesem Schicksal sollte das Jodgemisch mich bewahren. Ich wusste zwar nicht, wie die widerliche Flüssigkeit verhindern sollte, von einem Radio erschlagen zu werden, das aus einer Wolke fällt, aber ich wusste, dass Ärzte die absurdesten Lügen erfanden, um Kinder zu Tode zu quälen. »Plyn Lugola« war eine davon, und sie hatte mich heute ein weiteres Leben gekostet.
Seit ich denken konnte, waren vorgetäuschte Tode meine Art, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu umgehen: Schröpfgläser, Zahnbohrer, speerlange Spritzen. Diese Kinder, die sich krank stellten, um nicht in die Schule zu müssen, waren mir ein Rätsel. Wäre ich kein begnadetes Sterbetalent gewesen, hätte ich mich gesund gestellt, um nicht zum Arzt zu müssen. Eine meiner häufigsten Todesursachen war scheußliches Essen; Leber, die sich wie eine alte Sohle in der Pfanne bog, Spinat, der kuhfladengleich in den Kindergartenteller klatschte, übel riechende Zwiebelsäfte und Abhärtungscocktails aus Sauerkraut und Rettich. Meine Eltern ängstigten sich um mich. Sie fürchteten, dass ich bald wirklich sterben könnte. Vor Hunger. Als gäbe es nichts auf der Welt, das mir munden würde. Dabei war ich ein heimlicher Gourmet! Tante Selma hatte aus dem Bulgarienurlaub zehn Tuben Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Ich presste kleine Würste aus den Tuben direkt auf meine Zunge. Außerdem besaß ich einen ganzen Bund chinesischer Bleistifte, an deren Enden samtig gerundete Radiergummis saßen. Wenn ihr Duft mich zu sehr berauschte, biss ich unbeherrscht hinein und verschlang sie wie gezuckerte Beeren.
Um Viertel nach zwölf, kurz vor meinem Tod also, hatte ich mit Oma Greta das städtische Spital betreten, einen monströsen, graublassblauen Klotz mit vergitterten Fenstern, hinter denen gespenstisch die Schwesternhäubchen knackten.
»Sehen Sie zu, dass sie es schluckt. Wir können froh sein, wenn's für alle reicht«, sagte die Krankenschwester zu meiner Oma und streckte mir einen Plastikbecher mit einer dunkelroten Flüssigkeit hin. »Na los! Trink schon!«, feuerte sie mich an. Voller Misstrauen beschnupperte ich erst den Becher.
»Plyn Lugola? Trink es, Ola. Schmeckt so gut wie Coca-Cola«, reimte Oma trällernd. Als ich kleiner war, dachte sie sich ständig solche Lieder für mich aus, während sie mir Löffel voll widerlicher Pampe an den Mund führte. Ich überlegte, ob ich vorsorglich das Zeitliche segnen sollte. Nein. Erst würde ich überprüfen, ob an Omas Reim nicht doch etwas dran war. Ich nahm einen kleinen scheuen Schluck aus dem Becher, doch dieser Tropfen genügte, um in meinem Mund die Hölle zum Einsturz zu bringen. Eine widerliche, brennende Bitterkeit zersägte mir die Zunge.
»Ich trinke das nicht!«, schrie ich und blickte hilfesuchend zu Oma. Aber sie war nicht mehr da. Die Schwester ließ ihr hässliches Lachen scheppern.
»Kinder und Fische haben keine Stimme. Hat man dir das nicht beigebracht? Und jetzt runter damit!«
»Niemals!«, brüllte ich und warf den Becher verzweifelt gegen die Schwester, die im letzten Moment ausweichen konnte. Das rotbraune Rinnsal schlängelte sich zäh am Boden entlang.
»Na warte, du kleiner Teufel!«, röchelte sie und spreizte ihre buschigen Brauen, als Omas Kopf im Türspalt erschien. »Was ist hier los?«, fragte Oma. »Kann man sich nicht mal kurz die Beine vertreten?« »Was hier los ist?«, empörte sich die Schwester. »Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen dafür sorgen, dass sie es schluckt!?« »Sie will es nicht trinken?«, fragte Oma und zuckte dann mit den Schultern. »Da kann man wohl nichts machen. Es kann sie ja keiner zwingen.«
»Ach nein?«, keifte die Schwester, während sie mit einem frisch gefüllten Becher auf mich zustampfte. »Ich kann's!«
Mit spitzen Hexenfingern packte sie mein Kinn, riss es nach oben, drückte meinen Mund zu einem Schnäbelchen auf und goss mir die ätzende Flüssigkeit in den Rachen. »Biiiiittescheeen«, schnalzte sie triumphierend, und ihre Mundwinkel zogen sich zäh auseinander, bis in ihrem Gesicht eine Art Lächeln mit grob gesäten Zähnen erschien.
Ich taumelte, verlor kurz das Gleichgewicht und spie den scheußlichen Saft prustend aus. Oma erstarrte im Türrahmen, als sie sah, wie die Flüssigkeit sich in den weißen Stoff meines sommerlichen Kleidchens fraß.
»Was haben Sie angerichtet!?«, brüllte sie los. »Das schöne Kleid! Das schöne, gute Kleid! Das hab ich ihr aus der DDR mitgebracht. Aus der D-D-R!«
»Na und?«, sagte die Schwester unbeeindruckt. »Und wenn's von den Inseln Hulla-Gulla wäre!«
Omas Gesicht verfinsterte sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte wie ein Stier. Der Leopardenrock spannte zwischen ihren spitzen Knien. Oma stand im Türrahmen wie ein großes verziertes A am Anfang einer finsteren Geschichte. Die Uhr tickte. Ich zählte jede Sekunde mit. Jeden ... dwa ... trzy ... Oma schritt im Takt voran. Unter ihren klackenden Absätzen verstummten sogar Silberfische und Milben. Die Zeiger der Wanduhr standen auf halb 1, als die Krankenschwester in den Schatten der Turmfrisur geriet. Ihr rotes Gesicht schrumpfte darin wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft weicht.
»Sind Sie je den weiten Weg in die DDR gefahren, um einem Mädchen ein schönes Kleid kaufen zu können? Haben Sie jemals etwas von dieser Qualität gesehen?«
Oma zog mich am Ärmel heran und befahl der Schwester, den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. »Haben Sie?« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Aber verstehen Sie denn nicht!?«, stammelte sie mit den Resten ihrer Stimme. »Wenn die Kleine das Jod nicht trinkt, stirbt sie!«
»Eher welken mir die Ohren ab von Ihrem Blödsinn«, warf Oma zurück. »Oberschlesien ist die verseuch- teste Gegend Polens. Zeigen Sie mir ein Kind von hier, das nicht krank oder zurückgeblieben ist.« Die Schwester zitterte mit der Unterlippe, während Oma munter fortfuhr: »Ruß und Chemie. Dreck und Gestank. Blei im Wasser. Verseuchtes Gemüse. Die Kinder sind zum Verblöden verdammt. Was soll uns das bisschen Radioaktivität von den Russen denn da noch anhaben können?« »Aber ... aber ich habe die Anweisung vom Herrn Doktor ...«
»Unsinn! Machen Sie dem Kind lieber eine Freude. Von einem Schwesternhäubchen träumt meine Ola schon lange.«
»Natürlich«, stammelte die Schwester. Sie fummelte das Plastikhäubchen aus ihrem Haar und setzte es mir mit einem angedeuteten Knicks auf den Kopf.
»Und noch eine Handvoll Plastikspritzen zum Spielen«, forderte Oma. »Beeilen Sie sich. Draußen warten noch andere Gören, die Jod spucken wollen.«
Auf dem Gang sprach Oma kein Wort mit mir. Als wir draußen waren, setzte sie mich auf einen Stromkasten, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sie musterte mich mit zornglühenden Augen, über denen mir ihre dunkel nachgezogenen Brauen drohten.
»Für dich kaufe ich in der DDR nichts mehr. Ab jetzt trägst du nur noch die Kratzpullover von Tante Maria. Und sagte ich schon, dass zu Hause ein Teller Kuttel- suppe auf dich wartet?« Das war zu viel für einen Tag. Ich ließ mich gekonnt vom Stromkasten fallen, auf den Asphalt und in den Tod.
Zu Hause gab es Kuttelsuppe und Stubenarrest. Oma führte mich in die Küche ab, wo meine Mutter sich vom pfeifenden Wasserkessel, von der tickenden Eieruhr und schäumenden Töpfen herumkommandieren ließ. Ein langer, dicker Zopf pendelte über ihrem Bauch. Im Bauch wohnte mein Bruder Tomek und harrte ohne Hose und ohne Licht seiner baldigen Geburt. Ich hatte schon eine Weile grummelnd auf dem Hocker gesessen, als mein Vater die Küche betrat. Er trug einen ausgewaschenen Trainingsanzug und eine dunkle Hornbrille, hinter der seine Augen klein wie Stecknadelköpfe waren. Von seiner Hand baumelten Mamas Schuhe. Er hatte sie gerade fertig repariert und präsentierte ihr das Ergebnis. Mama war begeistert. Aus einem Fahr- radschlauch hatte Papa Gummibänder geschnitten, die Mamas Füße an die Sohle fixierten.
Mein Vater war Ingenieur in einer Kohlengrube und konnte alles reparieren, was nur kaputtgehen konnte. Alles, bis auf Mamas Schuhe, die immer und immer wieder aus allen Nähten platzten. Mama hatte angeblich die größten Frauenfüße Polens, auch wenn ich noch nicht weit genug herumgekommen war, um das zu überprüfen. Opa Adelbert, der zu Lebzeiten auf seinem Mofa alle Woiwodschaften bereiste, hätte bestätigen können, dass weit und breit kein Schuhgeschäft existierte, das Mamas Größe führte. Wenigstens hatte ihr einziges Paar Sandalen vorn und hinten Öffnungen, die der überschüssigen Zehen- und Fersenmasse erlaubten, sich weit herauszulehnen.
»Gott sei Dank!«, rief Mama. »Dann können wir heute doch noch ins Theater!« Sogleich drehte sie sich zu mir, um den Glanz meiner Augen zu dimmen. »Tut mir leid, Würmchen. Dich nehmen wir diesmal nicht mit. Oma ist sehr gekränkt wegen dem Kleid. Zur Strafe bleibst du heute mit ihr zu Hause.«
Oma war halb Mensch, halb Besen. Sie wischte hinter jedem ihrer Schritte her. Krümel, Staub und Flusen waren ihr ein Graus. Das Leben und der Schmutz, den es hervorbrachte, betrübten sie zutiefst. Selbst Sonnenflecken und kleine Schatten mussten ihr Schrubben fürchten. Tiere durften nichts ins Haus, Kinder nicht aufs Sofa. Wenn meine Eltern mich mit Oma alleine ließen, kitzelte sie mich mit dem Staubwedelnach draußen, wo die Spuren, die meine Existenz hinterließ, weniger sichtbar waren. Doch heute schloss Oma mir das Gästezimmer auf, denn sie hatte eine Aufgabe für mich. »Ich gehe in den Garten, Unkraut jäten«, sagte sie und drückte mir einen Kamm in die Hand. »Du bleibst hier und kämmst die Teppichfransen. In einer Stunde bin ich wieder da, mach's fein!«
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Autoren-Porträt von Alexandra Tobor
Alexandra Tobor, geboren 1981, verbrachte ihre ersten acht Lebensjahre in Polen, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland auswanderte. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte und lebt als freie Autorin in Augsburg. Als Produzentin von Podcasts bringt sie zudem zahlreichen Hörern kulturwissenschaftliche Themen näher.Website: www.alexandratobor.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Alexandra Tobor
- 2012, 4. Aufl., 272 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283748
- ISBN-13: 9783548283746
- Erscheinungsdatum: 06.06.2012
Rezension zu „Sitzen vier Polen im Auto “
Auf jeder Seite ein Schmunzel-Erlebnis. Mindestens. Freundin 20121002
Pressezitat
Auf jeder Seite ein Schmunzel-Erlebnis. Mindestens. Freundin 20121002
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