Splitter
Was wäre, wenn wir die schlimmsten Ereignisse unseres Lebens für immer aus dem Gedächtnis löschen könnten? Und was, wenn etwas dabei schiefginge?
Marc Lucas hat einen Glassplitter im Kopf. Von einem Autounfall. Einem Unfall,...
Marc Lucas hat einen Glassplitter im Kopf. Von einem Autounfall. Einem Unfall,...
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Produktinformationen zu „Splitter “
Was wäre, wenn wir die schlimmsten Ereignisse unseres Lebens für immer aus dem Gedächtnis löschen könnten? Und was, wenn etwas dabei schiefginge?
Marc Lucas hat einen Glassplitter im Kopf. Von einem Autounfall. Einem Unfall, bei dem seine Frau starb. Und er war schuld. Eine peinigende Erinnerung, die er niemals los werden wird. Oder doch? Ein psychiatrisches Experiment verspricht Hilfe. Marc lässt sich darauf ein und ein neuer Alptraum nimmt seinen Lauf.
"Sebastian Fitzek ist ein Meister des Wahns."
BRIGITTE
Marc Lucas hat einen Glassplitter im Kopf. Von einem Autounfall. Einem Unfall, bei dem seine Frau starb. Und er war schuld. Eine peinigende Erinnerung, die er niemals los werden wird. Oder doch? Ein psychiatrisches Experiment verspricht Hilfe. Marc lässt sich darauf ein und ein neuer Alptraum nimmt seinen Lauf.
"Sebastian Fitzek ist ein Meister des Wahns."
BRIGITTE
Lese-Probe zu „Splitter “
Splitter von Sebastian Fitzek1.
Heute
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Marc Lucas zögerte. Ließ den einzigen noch unversehrten Finger seiner gebrochenen Hand lange auf dem Messingknopf der alten Klingel ruhen, bevor er sich einen Ruck gab und drückte.
Er wusste nicht, wie spät es war. Die Schrecken der letzten Stunden hatten ihm auch das Zeitgefühl geraubt. Doch hier draußen, mitten im Wald, schien Zeit ohnehin keine Bedeutung zu haben.
Der eisige Novemberwind und der Schneeregen der letzten Stunden hatten etwas nachgelassen, sogar der Mond schimmerte kurz durch die aufgerissene Wolkendecke. Er war die einzige Lichtquelle in einer Nacht, die ebenso kalt wie dunkel schien. Nichts deutete darauf hin, dass das efeuberankte, doppelstöckige Holzhaus bewohnt war. Selbst der viel zu groß dimensionierte Schornstein auf der Spitze des Giebeldachs schien nicht in Betrieb. Marc roch auch nicht den typischen Duft verbrannten Kaminholzes, der ihn heute Vormittag im Haus des Arztes geweckt hatte - um kurz nach elf, als sie ihn zum ersten Mal hierher in den Wald zum Professor gebracht hatten. Schon da hatte er sich krank gefühlt. Sterbenskrank. Und doch hatte sich sein Zustand seither dramatisch verschlechtert.
Vor wenigen Stunden noch waren seine äußerlichen Verfallserscheinungen kaum sichtbar gewesen. Jetzt tropfte Blut aus Mund und Nase auf seine verdreckten Sportschuhe, die zersplitterten Rippen rieben beim Atmen aneinander, und sein rechter Arm hing wie ein schlecht verschraubtes Ersatzteil am Körper herab.
Marc Lucas drückte erneut den Messingknopf, wieder ohne ein Klingeln, Summen oder Schellen zu hören. Er trat einen Schritt zurück und sah zum Balkon hoch, hinter dem das Schlafzimmer lag, von dem man tagsüber einen atemberaubenden Blick auf den kleinen Waldsee hinter dem Haus hatte, dessen Oberfläche in windstillen Momenten an Fensterglas erinnerte - eine glatte, dunkle Scheibe, die in tausend Teilchen zersplittern würde, sobald man einen Stein hineinwarf.
Das Schlafzimmer blieb dunkel. Selbst der Hund, dessen Namen er vergessen hatte, schlug nicht an, auch alle anderen Geräusche blieben aus, die normalerweise aus einem Haus dringen, dessen Bewohner mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden. Keine nackten Füße, die die Treppe heruntertrampeln; keine Hausschuhe, die über den Dielenboden schlurfen, während ihr Besitzer sich nervös räuspert und versucht, seine zerzausten Haare mit beiden Händen und etwas Spucke zu glätten.
Und dennoch wunderte Marc sich nicht eine Sekunde, als plötzlich wie von Geisterhand die Tür geöffnet wurde. Viel zu viel Unerklärliches war ihm in den letzten Tagen widerfahren, als dass er auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte, weshalb der Psychiater vollständig bekleidet vor ihm stand, im Anzug und mit korrekt gebundener Krawatte, als halte er seine Sprechstunden grundsätzlich mitten in der Nacht ab. Vielleicht hatte er ja im hinteren Teil seines verwinkelten Häuschens gearbeitet, alte Patientenakten gelesen oder einen der dicken Wälzer über Neuropsychologie, Schizophrenie, Gehirnwäsche oder multiple Persönlichkeiten studiert, die überall umherlagen, obwohl er schon seit Jahren nur noch als Gutachter praktizierte.
Marc fragte sich auch nicht, weshalb das Licht aus dem Kaminzimmer erst jetzt zu ihm nach draußen drang. Ein Spiegel über der Kommode reflektierte die Strahlen, so dass es für einen Moment so wirkte, als trage der Professor einen Heiligenschein. Dann trat der alte Mann einen Schritt zurück, und der Effekt war verschwunden.
Marc seufzte, lehnte sich erschöpft mit der gesunden Schulter an den Türrahmen und hob die zertrümmerte Hand.
»Bitte ...«, flehte er. »Sie müssen es mir sagen.«
Seine Zunge schlug beim Reden an lose Schneidezähne. Er hustete, und ein dünner Blutstropfen löste sich aus der Nase. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.«
Der Arzt nickte bedächtig, als fiele es ihm schwer, den Kopf zu bewegen. Jeder andere wäre bei seinem Anblick schockiert zusammengezuckt, hätte vor Angst die Tür zugeschlagen oder zumindest sofort medizinische Hilfe gerufen. Doch Professor Niclas Haberland tat nichts dergleichen. Er trat lediglich zur Seite und sagte mit leiser, melancholischer Stimme: »Es tut mir leid, aber Sie kommen zu spät. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen.«
Marc nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Und er hatte sich darauf vorbereitet.
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl!«, sagte er und zog die Pistole aus seiner zerrissenen Lederjacke.
2.
Der Professor ging voran, den Flur entlang zum Wohnzimmer. Marc blieb dicht hinter ihm, die Waffe unablässig auf Haberlands Oberkörper gerichtet. Dabei war er froh, dass der alte Mann sich nicht umdrehte und daher seinen drohenden Schwächeanfall nicht wahrnahm. Kaum hatte Marc das Haus betreten, war ihm schwindelig geworden. Der Kopfschmerz, die Übelkeit, die Schweißausbrüche ... all die Symptome, die die psychischen Qualen der letzten Stunden noch verstärkt hatten, waren mit einem Mal zurückgekommen. Jetzt wollte er sich am liebsten an Haberlands Schultern festhalten und sich von ihm ziehen lassen. Er war müde, so unerträglich müde, und der Flur schien unendlich viel länger als bei seinem ersten Besuch.
»Hören Sie, es tut mir leid«, wiederholte Haberland, als sie das Wohnzimmer betraten, dessen hervorstechendes Merkmal ein offener Kamin war, in dem ein schwächelndes Feuer langsam ausbrannte. Seine Stimme klang ruhig, fast mitleidig. »Ich wünschte wirklich, Sie wären früher gekommen. Jetzt wird die Zeit knapp.«
Haberlands Augen waren völlig ausdruckslos. Wenn er Angst hatte, konnte er sie ebenso gut verbergen wie der greise Hund, der in einem kleinen Rattankörbchen vor dem Fenster schlief. Das sandfarbene Fellknäuel hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben, als sie eingetreten waren.
Marc ging in die Mitte des Raumes und sah sich unschlüssig um. »Die Zeit wird knapp? Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie sich doch an. Sie sind in einem schlimmeren Zustand als meine Wohnung.«
Marc erwiderte Haberlands Lächeln, und selbst das tat ihm weh. Die Inneneinrichtung des Hauses war in der Tat ebenso ungewöhnlich wie die Lage mitten im Wald. Kein Möbelstück passte zum anderen. Ein überfülltes Ikearegal stand neben einer eleganten Biedermeierkommode. Fast der gesamte Boden war mit Teppichen ausgelegt, von denen einer unschwer als Badezimmerläufer zu erkennen war, der auch farblich nicht mit dem handgeknüpften, chinesischen Seidenteppich harmonierte. Man musste unweigerlich an eine Rumpelkammer denken, und dennoch schien nichts an diesem Arrangement zufällig. Jeder einzelne Gegenstand, vom Grammophon auf dem Teewagen bis zur Ledercouch, vom Ohrensessel bis zu den Leinenvorhängen, wirkte wie ein Souvenir aus vergangenen Zeiten. So als hätte der Professor Angst, die Erinnerung an eine entscheidende Phase seines Lebens zu verlieren, würde er ein Möbelstück weggeben. Die medizinischen Fachbücher und Zeitschriften, die sich nicht nur in den Regalen und auf dem Schreibtisch, sondern auch auf den Fensterbrettern, dem Fußboden und sogar im Holzkorb neben dem Kamin fanden, wirkten wie ein Bindeglied zwischen all dem Krempel.
»Setzen Sie sich doch«, bat Haberland, als wäre Marc immer noch ein willkommener Gast. So wie heute Vormittag, als sie ihn bewusstlos auf die bequeme Polstercouch gelegt hatten, in deren Kissen man zu ertrinken drohte. Doch jetzt hätte er sich am liebsten direkt vor das Feuer gesetzt. Ihm war kalt; so kalt wie noch nie zuvor in seinem Leben. »Soll ich noch etwas nachlegen?«, fragte Haberland, als habe er seine Gedanken gelesen.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Holzkorb, zog ein Scheit hervor und warf es in den Kamin. Die Flammen schlugen hoch, und Marc spürte ein nahezu unerträgliches Verlangen, die Hände mitten ins Feuer zu strecken, um endlich die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Wie bitte?« Er benötigte eine Weile, um seinen Blick von dem Kamin abzuwenden und sich wieder auf Haberland zu konzentrieren. Der Professor musterte ihn von oben bis unten.
»Ihre Verletzungen? Wie ist das geschehen?«
»Das war ich selbst.«
Zu Marcs Erstaunen nickte der alte Psychiater nur. »Das habe ich mir bereits gedacht.«
»Weshalb?«
»Weil Sie sich fragen, ob Sie überhaupt existieren.«
Die Wahrheit schien Marc regelrecht auf das Sofa zu drücken. Haberland hatte recht. Genau das war sein Problem. Heute Vormittag noch hatte der Professor sich in Andeutungen verloren, doch jetzt wollte Marc es ganz genau wissen. Deshalb saß er schon wieder auf dieser weichen Couch.
»Sie wollen wissen, ob Sie real sind. Auch aus diesem Grund haben Sie sich selbst Verletzungen zugefügt. Sie wollten sicherstellen, dass Sie noch etwas spüren.«
»Woher wissen Sie das?«
Haberland winkte ab. »Erfahrung. Ich war selbst einmal in einer vergleichbaren Lage wie Sie.«
Der Professor sah auf seine Uhr am Handgelenk. Marc war sich nicht sicher, aber er glaubte, mehrere Narben rund um das Armband entdeckt zu haben, die weniger von einem Messer als von einer Brandwunde herzurühren schienen.
»Ich praktiziere offiziell nicht mehr, aber mein analytisches Gespür hat mich deshalb noch lange nicht verlassen. Darf ich fragen, was Sie im Augenblick empfinden?«
»Kälte.«
»Keine Schmerzen?«
»Die sind auszuhalten. Ich glaube, der Schock sitzt noch zu tief.«
»Aber denken Sie nicht, es wäre besser, wenn Sie nicht hier, sondern in einer Notaufnahme wären? Ich habe noch nicht einmal Aspirin im Haus.«
Marc schüttelte den Kopf. »Ich will keine Tabletten. Ich will nur Gewissheit.«
Er legte die Pistole auf den Couchtisch, die Mündung auf Haberland gerichtet, der immer noch vor ihm stand. »Beweisen Sie mir, dass es mich wirklich gibt.«
Der Professor griff sich an den Hinterkopf und kratzte sich an der etwa bierdeckelgroßen, lichten Stelle in seinem grauen Haupthaar. »Wissen Sie, was man gemeinhin über den Unterschied zwischen Mensch und Tier sagt?« Er deutete auf seinen Hund in dem Körbchen, der im Schlaf unruhig stöhnte. »Es sei das Bewusstsein. Während wir darüber reflektieren, warum es uns gibt, wann wir sterben werden und was nach dem Tode geschieht, verschwendet ein Tier nicht einen Gedanken daran, ob es überhaupt auf der Welt ist.« Während er geredet hatte, war Haberland zu seinem Hund gegangen. Er kniete sich hin und nahm liebevoll den wuscheligen Kopf in beide Hände.
»Tarzan hier kann sich noch nicht einmal im Spiegel erkennen.«
Marc rieb sich etwas Blut von einer Augenbraue, dann glitt sein Blick zum Fenster. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, dort draußen ein Licht in der Dunkelheit gesehen zu haben, doch dann war ihm klargeworden, dass das Glas nur das Flackern des Kamins widerspiegelte. Der Regen musste zurückgekommen sein, denn die Scheibe war außen mit winzigen Tropfen überzogen. Nach einer Weile entdeckte er sein eigenes Spiegelbild weit draußen in der Dunkelheit über dem See.
»Nun, ich sehe mich noch, aber wie kann ich wissen, dass der Spiegel nicht lügt?«
»Was hat Sie denn zu der Annahme verleitet, Sie würden an Wahnvorstellungen leiden?«, stellte Haberland die Gegenfrage.
Marc konzentrierte sich wieder auf die Tröpfchen an der Scheibe. Sein Spiegelbild schien zu zerlaufen.
Nun, wie wäre es zum Beispiel mit Hochhäusern, die sich in Luft auflösen, kurz nachdem ich sie verlassen habe? Mit Menschen, die in meinem Keller gefangen gehalten werden und mir Bücher übergeben, in denen ich nachlesen kann, was mir in wenigen Sekunden zustoßen wird? Ach ja, und dann wären da noch die Toten, die plötzlich wiederauferstehen.
»Weil es für all das, was mir heute widerfahren ist, keine logische Erklärung gibt«, sagte er leise.
»O doch, die gibt es.«
Marc schnellte herum. »Welche? Bitte sagen Sie es mir.«
»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.« Haberland sah schon wieder auf seine Uhr. »Uns bleibt nicht mehr viel, bevor Sie endgültig von hier verschwinden müssen.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Marc, griff sich seine Waffe vom Couchtisch und stand auf. »Gehören Sie etwa auch zu denen? Stecken Sie da mit drin?« Er richtete die Pistole auf den Kopf des Psychiaters.
Haberland streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen.
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Ach ja, und woher wissen Sie das?«
Der Professor schüttelte mitleidig den Kopf.
»Raus mit der Sprache!« Marc schrie so laut, dass die Adern am Hals hervortraten. »Was wissen Sie über mich?« Die Antwort nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Alles.«
Das Feuer loderte auf. Marc musste wegsehen, auf einmal ertrugen seine Augen die Helligkeit nicht mehr.
»Ich weiß alles, Marc. Und Sie wissen es auch. Sie wollen es nur nicht wahrhaben.«
»Dann, dann ...« Marcs Augen begannen zu tränen. »... dann sagen Sie es mir bitte. Was geschieht hier mit mir?«
»Nein, nein, nein.« Haberland faltete die Hände beschwörend wie zum Gebet. »So funktioniert das nicht. Glauben Sie mir. Jede Erkenntnis ist wertlos, wenn sie nicht von innen kommt.«
»Das ist doch scheiße!«, brüllte Marc und schloss kurz die Augen, um sich besser auf den Schmerz in der Schulter konzentrieren zu können. Bevor er weiterredete, schluckte er das Blut herunter, das sich in seinem Mund angesammelt hatte. »Sagen Sie mir sofort, was hier gespielt wird, oder, ich schwöre bei Gott, ich bringe Sie um.«
Jetzt zielte er nicht mehr auf den Kopf, sondern genau auf die Leber des Professors. Auch wenn er nicht richtig traf, würde die Kugel lebenswichtige Organe zerstören, und hier draußen käme jede Hilfe zu spät.
Haberland verzog keine Miene.
»Also schön«, sagte er nach einer Weile, in der sie sich wortlos angestarrt hatten. »Sie wollen die Wahrheit wissen?« »Ja.«
Der Professor setzte sich langsam in den Ohrensessel und neigte den Kopf zum Kamin, in dem das Feuer immer stärker loderte. Seine Stimme wurde zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern. »Haben Sie jemals eine Geschichte gehört und sich danach gewünscht, Sie hätten das Ende niemals erfahren?«
Er drehte sich zu Marc und sah ihn mitleidig an. »Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Marc Lucas zögerte. Ließ den einzigen noch unversehrten Finger seiner gebrochenen Hand lange auf dem Messingknopf der alten Klingel ruhen, bevor er sich einen Ruck gab und drückte.
Er wusste nicht, wie spät es war. Die Schrecken der letzten Stunden hatten ihm auch das Zeitgefühl geraubt. Doch hier draußen, mitten im Wald, schien Zeit ohnehin keine Bedeutung zu haben.
Der eisige Novemberwind und der Schneeregen der letzten Stunden hatten etwas nachgelassen, sogar der Mond schimmerte kurz durch die aufgerissene Wolkendecke. Er war die einzige Lichtquelle in einer Nacht, die ebenso kalt wie dunkel schien. Nichts deutete darauf hin, dass das efeuberankte, doppelstöckige Holzhaus bewohnt war. Selbst der viel zu groß dimensionierte Schornstein auf der Spitze des Giebeldachs schien nicht in Betrieb. Marc roch auch nicht den typischen Duft verbrannten Kaminholzes, der ihn heute Vormittag im Haus des Arztes geweckt hatte - um kurz nach elf, als sie ihn zum ersten Mal hierher in den Wald zum Professor gebracht hatten. Schon da hatte er sich krank gefühlt. Sterbenskrank. Und doch hatte sich sein Zustand seither dramatisch verschlechtert.
Vor wenigen Stunden noch waren seine äußerlichen Verfallserscheinungen kaum sichtbar gewesen. Jetzt tropfte Blut aus Mund und Nase auf seine verdreckten Sportschuhe, die zersplitterten Rippen rieben beim Atmen aneinander, und sein rechter Arm hing wie ein schlecht verschraubtes Ersatzteil am Körper herab.
Marc Lucas drückte erneut den Messingknopf, wieder ohne ein Klingeln, Summen oder Schellen zu hören. Er trat einen Schritt zurück und sah zum Balkon hoch, hinter dem das Schlafzimmer lag, von dem man tagsüber einen atemberaubenden Blick auf den kleinen Waldsee hinter dem Haus hatte, dessen Oberfläche in windstillen Momenten an Fensterglas erinnerte - eine glatte, dunkle Scheibe, die in tausend Teilchen zersplittern würde, sobald man einen Stein hineinwarf.
Das Schlafzimmer blieb dunkel. Selbst der Hund, dessen Namen er vergessen hatte, schlug nicht an, auch alle anderen Geräusche blieben aus, die normalerweise aus einem Haus dringen, dessen Bewohner mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden. Keine nackten Füße, die die Treppe heruntertrampeln; keine Hausschuhe, die über den Dielenboden schlurfen, während ihr Besitzer sich nervös räuspert und versucht, seine zerzausten Haare mit beiden Händen und etwas Spucke zu glätten.
Und dennoch wunderte Marc sich nicht eine Sekunde, als plötzlich wie von Geisterhand die Tür geöffnet wurde. Viel zu viel Unerklärliches war ihm in den letzten Tagen widerfahren, als dass er auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte, weshalb der Psychiater vollständig bekleidet vor ihm stand, im Anzug und mit korrekt gebundener Krawatte, als halte er seine Sprechstunden grundsätzlich mitten in der Nacht ab. Vielleicht hatte er ja im hinteren Teil seines verwinkelten Häuschens gearbeitet, alte Patientenakten gelesen oder einen der dicken Wälzer über Neuropsychologie, Schizophrenie, Gehirnwäsche oder multiple Persönlichkeiten studiert, die überall umherlagen, obwohl er schon seit Jahren nur noch als Gutachter praktizierte.
Marc fragte sich auch nicht, weshalb das Licht aus dem Kaminzimmer erst jetzt zu ihm nach draußen drang. Ein Spiegel über der Kommode reflektierte die Strahlen, so dass es für einen Moment so wirkte, als trage der Professor einen Heiligenschein. Dann trat der alte Mann einen Schritt zurück, und der Effekt war verschwunden.
Marc seufzte, lehnte sich erschöpft mit der gesunden Schulter an den Türrahmen und hob die zertrümmerte Hand.
»Bitte ...«, flehte er. »Sie müssen es mir sagen.«
Seine Zunge schlug beim Reden an lose Schneidezähne. Er hustete, und ein dünner Blutstropfen löste sich aus der Nase. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.«
Der Arzt nickte bedächtig, als fiele es ihm schwer, den Kopf zu bewegen. Jeder andere wäre bei seinem Anblick schockiert zusammengezuckt, hätte vor Angst die Tür zugeschlagen oder zumindest sofort medizinische Hilfe gerufen. Doch Professor Niclas Haberland tat nichts dergleichen. Er trat lediglich zur Seite und sagte mit leiser, melancholischer Stimme: »Es tut mir leid, aber Sie kommen zu spät. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen.«
Marc nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Und er hatte sich darauf vorbereitet.
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl!«, sagte er und zog die Pistole aus seiner zerrissenen Lederjacke.
2.
Der Professor ging voran, den Flur entlang zum Wohnzimmer. Marc blieb dicht hinter ihm, die Waffe unablässig auf Haberlands Oberkörper gerichtet. Dabei war er froh, dass der alte Mann sich nicht umdrehte und daher seinen drohenden Schwächeanfall nicht wahrnahm. Kaum hatte Marc das Haus betreten, war ihm schwindelig geworden. Der Kopfschmerz, die Übelkeit, die Schweißausbrüche ... all die Symptome, die die psychischen Qualen der letzten Stunden noch verstärkt hatten, waren mit einem Mal zurückgekommen. Jetzt wollte er sich am liebsten an Haberlands Schultern festhalten und sich von ihm ziehen lassen. Er war müde, so unerträglich müde, und der Flur schien unendlich viel länger als bei seinem ersten Besuch.
»Hören Sie, es tut mir leid«, wiederholte Haberland, als sie das Wohnzimmer betraten, dessen hervorstechendes Merkmal ein offener Kamin war, in dem ein schwächelndes Feuer langsam ausbrannte. Seine Stimme klang ruhig, fast mitleidig. »Ich wünschte wirklich, Sie wären früher gekommen. Jetzt wird die Zeit knapp.«
Haberlands Augen waren völlig ausdruckslos. Wenn er Angst hatte, konnte er sie ebenso gut verbergen wie der greise Hund, der in einem kleinen Rattankörbchen vor dem Fenster schlief. Das sandfarbene Fellknäuel hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben, als sie eingetreten waren.
Marc ging in die Mitte des Raumes und sah sich unschlüssig um. »Die Zeit wird knapp? Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie sich doch an. Sie sind in einem schlimmeren Zustand als meine Wohnung.«
Marc erwiderte Haberlands Lächeln, und selbst das tat ihm weh. Die Inneneinrichtung des Hauses war in der Tat ebenso ungewöhnlich wie die Lage mitten im Wald. Kein Möbelstück passte zum anderen. Ein überfülltes Ikearegal stand neben einer eleganten Biedermeierkommode. Fast der gesamte Boden war mit Teppichen ausgelegt, von denen einer unschwer als Badezimmerläufer zu erkennen war, der auch farblich nicht mit dem handgeknüpften, chinesischen Seidenteppich harmonierte. Man musste unweigerlich an eine Rumpelkammer denken, und dennoch schien nichts an diesem Arrangement zufällig. Jeder einzelne Gegenstand, vom Grammophon auf dem Teewagen bis zur Ledercouch, vom Ohrensessel bis zu den Leinenvorhängen, wirkte wie ein Souvenir aus vergangenen Zeiten. So als hätte der Professor Angst, die Erinnerung an eine entscheidende Phase seines Lebens zu verlieren, würde er ein Möbelstück weggeben. Die medizinischen Fachbücher und Zeitschriften, die sich nicht nur in den Regalen und auf dem Schreibtisch, sondern auch auf den Fensterbrettern, dem Fußboden und sogar im Holzkorb neben dem Kamin fanden, wirkten wie ein Bindeglied zwischen all dem Krempel.
»Setzen Sie sich doch«, bat Haberland, als wäre Marc immer noch ein willkommener Gast. So wie heute Vormittag, als sie ihn bewusstlos auf die bequeme Polstercouch gelegt hatten, in deren Kissen man zu ertrinken drohte. Doch jetzt hätte er sich am liebsten direkt vor das Feuer gesetzt. Ihm war kalt; so kalt wie noch nie zuvor in seinem Leben. »Soll ich noch etwas nachlegen?«, fragte Haberland, als habe er seine Gedanken gelesen.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Holzkorb, zog ein Scheit hervor und warf es in den Kamin. Die Flammen schlugen hoch, und Marc spürte ein nahezu unerträgliches Verlangen, die Hände mitten ins Feuer zu strecken, um endlich die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Wie bitte?« Er benötigte eine Weile, um seinen Blick von dem Kamin abzuwenden und sich wieder auf Haberland zu konzentrieren. Der Professor musterte ihn von oben bis unten.
»Ihre Verletzungen? Wie ist das geschehen?«
»Das war ich selbst.«
Zu Marcs Erstaunen nickte der alte Psychiater nur. »Das habe ich mir bereits gedacht.«
»Weshalb?«
»Weil Sie sich fragen, ob Sie überhaupt existieren.«
Die Wahrheit schien Marc regelrecht auf das Sofa zu drücken. Haberland hatte recht. Genau das war sein Problem. Heute Vormittag noch hatte der Professor sich in Andeutungen verloren, doch jetzt wollte Marc es ganz genau wissen. Deshalb saß er schon wieder auf dieser weichen Couch.
»Sie wollen wissen, ob Sie real sind. Auch aus diesem Grund haben Sie sich selbst Verletzungen zugefügt. Sie wollten sicherstellen, dass Sie noch etwas spüren.«
»Woher wissen Sie das?«
Haberland winkte ab. »Erfahrung. Ich war selbst einmal in einer vergleichbaren Lage wie Sie.«
Der Professor sah auf seine Uhr am Handgelenk. Marc war sich nicht sicher, aber er glaubte, mehrere Narben rund um das Armband entdeckt zu haben, die weniger von einem Messer als von einer Brandwunde herzurühren schienen.
»Ich praktiziere offiziell nicht mehr, aber mein analytisches Gespür hat mich deshalb noch lange nicht verlassen. Darf ich fragen, was Sie im Augenblick empfinden?«
»Kälte.«
»Keine Schmerzen?«
»Die sind auszuhalten. Ich glaube, der Schock sitzt noch zu tief.«
»Aber denken Sie nicht, es wäre besser, wenn Sie nicht hier, sondern in einer Notaufnahme wären? Ich habe noch nicht einmal Aspirin im Haus.«
Marc schüttelte den Kopf. »Ich will keine Tabletten. Ich will nur Gewissheit.«
Er legte die Pistole auf den Couchtisch, die Mündung auf Haberland gerichtet, der immer noch vor ihm stand. »Beweisen Sie mir, dass es mich wirklich gibt.«
Der Professor griff sich an den Hinterkopf und kratzte sich an der etwa bierdeckelgroßen, lichten Stelle in seinem grauen Haupthaar. »Wissen Sie, was man gemeinhin über den Unterschied zwischen Mensch und Tier sagt?« Er deutete auf seinen Hund in dem Körbchen, der im Schlaf unruhig stöhnte. »Es sei das Bewusstsein. Während wir darüber reflektieren, warum es uns gibt, wann wir sterben werden und was nach dem Tode geschieht, verschwendet ein Tier nicht einen Gedanken daran, ob es überhaupt auf der Welt ist.« Während er geredet hatte, war Haberland zu seinem Hund gegangen. Er kniete sich hin und nahm liebevoll den wuscheligen Kopf in beide Hände.
»Tarzan hier kann sich noch nicht einmal im Spiegel erkennen.«
Marc rieb sich etwas Blut von einer Augenbraue, dann glitt sein Blick zum Fenster. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, dort draußen ein Licht in der Dunkelheit gesehen zu haben, doch dann war ihm klargeworden, dass das Glas nur das Flackern des Kamins widerspiegelte. Der Regen musste zurückgekommen sein, denn die Scheibe war außen mit winzigen Tropfen überzogen. Nach einer Weile entdeckte er sein eigenes Spiegelbild weit draußen in der Dunkelheit über dem See.
»Nun, ich sehe mich noch, aber wie kann ich wissen, dass der Spiegel nicht lügt?«
»Was hat Sie denn zu der Annahme verleitet, Sie würden an Wahnvorstellungen leiden?«, stellte Haberland die Gegenfrage.
Marc konzentrierte sich wieder auf die Tröpfchen an der Scheibe. Sein Spiegelbild schien zu zerlaufen.
Nun, wie wäre es zum Beispiel mit Hochhäusern, die sich in Luft auflösen, kurz nachdem ich sie verlassen habe? Mit Menschen, die in meinem Keller gefangen gehalten werden und mir Bücher übergeben, in denen ich nachlesen kann, was mir in wenigen Sekunden zustoßen wird? Ach ja, und dann wären da noch die Toten, die plötzlich wiederauferstehen.
»Weil es für all das, was mir heute widerfahren ist, keine logische Erklärung gibt«, sagte er leise.
»O doch, die gibt es.«
Marc schnellte herum. »Welche? Bitte sagen Sie es mir.«
»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.« Haberland sah schon wieder auf seine Uhr. »Uns bleibt nicht mehr viel, bevor Sie endgültig von hier verschwinden müssen.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Marc, griff sich seine Waffe vom Couchtisch und stand auf. »Gehören Sie etwa auch zu denen? Stecken Sie da mit drin?« Er richtete die Pistole auf den Kopf des Psychiaters.
Haberland streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen.
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Ach ja, und woher wissen Sie das?«
Der Professor schüttelte mitleidig den Kopf.
»Raus mit der Sprache!« Marc schrie so laut, dass die Adern am Hals hervortraten. »Was wissen Sie über mich?« Die Antwort nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Alles.«
Das Feuer loderte auf. Marc musste wegsehen, auf einmal ertrugen seine Augen die Helligkeit nicht mehr.
»Ich weiß alles, Marc. Und Sie wissen es auch. Sie wollen es nur nicht wahrhaben.«
»Dann, dann ...« Marcs Augen begannen zu tränen. »... dann sagen Sie es mir bitte. Was geschieht hier mit mir?«
»Nein, nein, nein.« Haberland faltete die Hände beschwörend wie zum Gebet. »So funktioniert das nicht. Glauben Sie mir. Jede Erkenntnis ist wertlos, wenn sie nicht von innen kommt.«
»Das ist doch scheiße!«, brüllte Marc und schloss kurz die Augen, um sich besser auf den Schmerz in der Schulter konzentrieren zu können. Bevor er weiterredete, schluckte er das Blut herunter, das sich in seinem Mund angesammelt hatte. »Sagen Sie mir sofort, was hier gespielt wird, oder, ich schwöre bei Gott, ich bringe Sie um.«
Jetzt zielte er nicht mehr auf den Kopf, sondern genau auf die Leber des Professors. Auch wenn er nicht richtig traf, würde die Kugel lebenswichtige Organe zerstören, und hier draußen käme jede Hilfe zu spät.
Haberland verzog keine Miene.
»Also schön«, sagte er nach einer Weile, in der sie sich wortlos angestarrt hatten. »Sie wollen die Wahrheit wissen?« »Ja.«
Der Professor setzte sich langsam in den Ohrensessel und neigte den Kopf zum Kamin, in dem das Feuer immer stärker loderte. Seine Stimme wurde zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern. »Haben Sie jemals eine Geschichte gehört und sich danach gewünscht, Sie hätten das Ende niemals erfahren?«
Er drehte sich zu Marc und sah ihn mitleidig an. »Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
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Autoren-Porträt von Sebastian Fitzek
Sebastian Fitzek wurde 1971 in Berlin geboren. Nach mittlerweile sechs Bestsellerfolgen - Die Therapie, Amokspiel, Das Kind, Der Seelenbrecher, Splitter und Der Augensammler - ist er unbestritten der deutsche Star des Psychothrillers. Seine Bücher werden in über zwanzig Sprachen übersetzt, und als einer der wenigen deutschen Thrillerautoren erscheint Sebastian Fitzek auch in den USA und England, der Heimat des Spannungsromans.Mehr Informationen über den Autor finden Sie unter: www.sebastianfitzek.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Fitzek
- 2012, 1, 383 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007407
- ISBN-13: 9783868007404
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