Sturm
Dirk Gallwynds ist verzweifelt: Seine 16-jährige Tochter ist seit Tagen verschwunden. Eine Spur führt ihn zum Ogowe-Fluss in Afrika. Dort, in einem kleinen Dorf, lebt der Stamm der "Sturmbringer". Diese Menschen hüten ein...
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Dirk Gallwynds ist verzweifelt: Seine 16-jährige Tochter ist seit Tagen verschwunden. Eine Spur führt ihn zum Ogowe-Fluss in Afrika. Dort, in einem kleinen Dorf, lebt der Stamm der "Sturmbringer". Diese Menschen hüten ein unfassbares Geheimnis. Dirk ahnt nicht, was ihn erwartet.
"Hohlbein mixt Fantasy und Action zu einem explosiven Cocktail."
DPA
Sturm von Wolfgang Hohlbein
LESEPROBE
Dirk stießeinen Schrei aus und fuhr hoch. Ein Blitzgewitter fuhr über die Wand, über dieafrikanischen Masken, die dort hingen, seit Kinah bei ihm eingezogen war, undhauchte ihnen scheinbar Leben ein - ein Verziehen von Augenbrauen, einVorstülpen wulstiger Lippen, ein vorwurfsvolles Stirnrunzeln. Dirk hatte dieMasken von Anfang an nicht gemocht und es gehasst, dass sie ihm bei allemzusahen, was er mit Kinah im Bett trieb. Es kam ihm vor, als hätte sie ihreAhnen aus ihrer afrikanischen Heimat mitgebracht, damit sie an den intimstenDetails ihres Lebens teilnahmen und es überwachten - als müssten sie sich davonüberzeugen, dass der weiße Mann gut genug für die Tochter des mächtigenSchamanen war. Vor allem aber mochte Dirk es nicht, dass die Masken ihnbeobachteten, wenn er am Abend in den Schlaf hinüberdämmerte oder sich amMorgen, von Kinah sanft oder leidenschaftlich geweckt, hin und her rekelte oderseinen rituellen Kampf mit den zwei Weckern ausfocht, die im Wechselklingelten, ohne ihn wirklich aus dem Schlaf reißen zu können.
Jetzt, daihn auch die Maske mit den breiten Augenschlitzen wieder anfunkelte, erinnerteer sich daran, wie er sie eines Morgens abgenommen hatte, nicht nur probeweise,sondern mit der ernsthaften Absicht, sie in irgendeinem Winkel ihres Hausesverschwinden zu lassen. Just in diesem Moment war Kinah aus dem Badezimmergekommen, und er hatte sich ertappt gefühlt wie ein kleines Kind, das seinerMutter zum ersten Mal Süßigkeiten klaute. Und Kinah hatte ihn auch genau sobehandelt. Er hatte sie noch nie schreien gehört, bis zu jenem Morgen, dannaber dafür umso lauter. Seinen früheren Freundinnen war er selten eine Antwortschuldig geblieben, aber Kinah gegenüber hatte er kaum ein Wort herausgebracht,so betroffen hatte ihn ihre Fassungslosigkeit gemacht. Schließlich hatte siesich neben ihn auf das Bett gesetzt, ihn umarmt - auch das eher wie eine Mutterund nicht wie eine Geliebte - und ihm uralte Geschichten erzählt von Ritualenund Ahnenkult und natürlich von den Masken.
»Sie wachenüber deinen Schlaf«, hatte sie schließlich behauptet. »Solange sie da sind,kann dir nichts Böses zustoßen. Deswegen darfst du sie nie abhängen. Hörst du?Niemals und unter keinen Umständen!«
Aus demMund einer anderen Frau hätte es wie ein Spruch geklungen, mit dem man kleineKinder beruhigt. Doch Kinahs wunderschöne Augen hatten dabei geblitzt,temperamentvoll und voller Nachdruck und Ernsthaftigkeit, und Dirk hatte sichihrem Zauber nicht entziehen können - wieder einmal nicht. Sie hatten sich geliebtdanach, und es war
Schluss! Dirkverscheuchte die Erinnerung an Kinah und war mit einem Satz aus dem Bett - oderzumindest wollte er mit einem Satz aus dem Bett, aber sein Kreislauf machte ihmeinen Strich durch die Rechnung und zwang ihn, in gebückter Haltung auf derKante seines Bettes hocken zu bleiben und zu versuchen, das Flirren vor seinenAugen wegzublinzeln und seinen Atem zu beruhigen, der auf einmal unangenehmeÄhnlichkeit mit einer bergan fahrenden Dampflokomotive hatte. Er bewegte probehalberdie Beine und irgendetwas fiel klirrend um. Dann war ein gluckerndes Geräuschzu hören - Whiskey oder Wodka? Er konnte sich beim besten Willen nicht daranerinnern, was er gestern bis an die Grenze zur Bewusstlosigkeit in sichhineingeschüttet hatte. Er wollte sich vorbeugen und die Flasche aufrichten.
Er kamnicht einmal ein paar Zentimeter weit. Sein Kopf, der sich bisher nur dumpf undtaub angefühlt hatte, schien plötzlich zu explodieren.
Er keuchteund erstarrte mit vorgestreckter Hand zu vollkommener Bewegungslosigkeit.Scheißsauferei! Er hatte zeit seines Lebens einen großen Bogen um jedesübertriebene Besäufnis gemacht, vor allem um das, was als Kampftrinken daraufhinauslief, sich auf einen Schlag Zehntausende von Gehirnzellen aus dem Kopf zublasen.
Denn mitsiebzehn hatte er einmal einen Filmriss gehabt, und alles, woran er sich nochhatte erinnern können, war ein matschiger Graben gewesen, in dem er nebenseiner gedrosselten 125er gelegen hatte, deren Hinterrad sich wild drehte,während aus der gerissenen Tankleitung Benzin über den heißen Motor lief. SeineAprilia hatte kein Feuer gefangen und war auch nicht hochgegangen, aberes hatte wohl nicht viel daran gefehlt.
Jedenfallswar ihm das ein Denkzettel gewesen, den er sein Leben lang nicht vergessenhatte.
Bis Kinahihn verlassen hatte.
Und danachauch noch ihre gemeinsame Tochter Akuyi verschwunden war.
Ganzlangsam und vorsichtig richtete er sich auf und legte den Kopf in den Nacken,darum bemüht, nur nicht in Richtung der Masken zu blicken. Aspirin, dasbrauchte er jetzt, zwei, drei oder besser gleich vier Tabletten. Wahrscheinlichhalfen sie nicht die Bohne, aber dann hatte er wenigstens das Gefühl, etwasgegen seinen dicken Kopf getan zu haben. Denn egal, wie mies es ihm ging undwie gerne er sich in seinem Selbstmitleid badete: Er hatte etwas zu tun. DasGleiche wie jeden Tag seit sechs Wochen. Sich hinter seinen PC klemmen, alsgebe es in den Weiten des Internets eine Spur, die ihn zu Akuyi führen konnte,zu seinem Lieblingsbullen fahren, der ihn über den Rand seiner schmalen Brillehinweg mitfühlend angucken würde, bevor er in seine Wurststulle biss undschmatzend sagte: »Leider nein, noch keine Spur. Aber ich kann nur immer wiederbetonen, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Irgendwann werden wirIhre Tochter fi nden. Da bin ich mir sicher.«
Dirk warsich da gar nicht sicher. Mister Superbulle hatte durchblicken lassen, dass esin Deutschland je nach Schätzung drei- bis siebentausend Jugendliche gab, dieausgerissen waren und auf der Straße lebten - und nur ganz wenige Fälle proJahr, in denen Jugendliche einem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen.
Damithatte er Dirk wohl Hoffnung machen wollen, aber natürlich nur das Gegenteilerreicht. Die meisten der wenigen bedauernswerten Opfer, die einemGewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren, waren Mädchen, und die wenigsten vonihnen waren hässlich. Und Akuyi war bildhübsch, was ihr auch schon früher daseine oder andere Mal neben den üblichen dämlichen Anmachersprüchen großen Ärgereingebracht hatte. Außerdem kannte Dirk seine Tochter. Sie hatte es genausoschwer wie er selbst verkraftet, dass ihre Mutter ohne ein Wort der Erklärungihre kleine Familie verlassen hatte, und nie die Tendenz gezeigt, einen ähnlichgearteten Unsinn zu machen. Ganz im Gegenteil; sie hatte sich wie eineErtrinkende an einen Ast an den Rest Normalität geklammert, den Dirk ihr zubieten versucht hatte.
Oder, umes anders ausdrücken: Sie beide hatten sich wie zwei Ertrinkendeaneinandergeklammert.
Nicht,dass das gesund für eine Sechzehnjährige gewesen wäre; ganz im Gegenteil. Akuyiwar zwar weiterhin recht gut in der Schule gewesen, aber sie hatte sich vonallem abgewandt, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise beschäftigte.Mode, Disco, Jungs, Abhängen - all das interessierte sie nicht mehr, wie sieDirk gestanden hatte.
Dafürhatte sie sich intensiv mit ihren schwarzafrikanischen Wurzelnauseinandergesetzt, was Dirk vom ersten Moment an mit mehr Unruhe erfüllthatte, als wenn sie sich auf irgendwelchen Kifferpartys herumgetrieben hätte.Afrika war ihm fremd geblieben, so viel ihm Kinah auch zu vermitteln versuchthatte, ja, es war ihm sogar zunehmend fremder geworden, je mehr Einzelheiten erüber die alten Kulturen erfahren hatte, die Kinah - und damit teilweise auchAkuyi - geprägt hatten.
Aber alldas spielte keine Rolle, jetzt, da Akuyi spurlos verschwunden war. Nun war nurnoch wichtig, dass er sie nicht im Stich ließ und jede noch so ungewisse Spurverfolgte.
Dirk stießsich ab, kam torkelnd hoch und machte zwei, drei unsichere Schritte. Seinrechter Fuß streifte eine Flasche, die ebenfalls klirrend umfiel, ohne dassdiesmal etwas auslief, und sein linker Fuß schlurfte durch die kalte Lache ausder ersten Flasche, die er gestern nicht mehr geschafft hatte. Heute würde erkeinen Schluck trinken, das schwor er sich. Morgen auch nicht. Den ganzen Restder Woche nicht.
Der Traum,der ihn erschrocken hatte hochfahren lassen, war noch immer in ihm, und ertrieb ihn voran. Er hatte von Kinah viel über Traumdeutung gelernt - nicht überdie westliche Art, die ihn sowieso nicht interessierte, sondern über einen ganzanderen Ansatz, der viel umfassender war und Träume lediglich als eine andereForm von Realität definierte, und das mit einer Selbstverständlichkeit, dieDirk nie wirklich hatte nachempfinden können.
Bis heuteMorgen
Es war ihmklar, dass der Traum ihn irgendwohin nach Afrika geführt hatte, in eine Gegend,die er aus Kinahs Erzählungen und von ihren Bildern kannte. Das Land derTausend Hügel Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daranerinnern, was es damit auf sich hatte. Vielleicht lag es nur an seinem Kater,der jeden Gedanken zur Qual werden ließ, vielleicht hatte er sich auch zu vieleGehirnzellen weggesoffen, um noch eine detailgetreue Erinnerungheraufbeschwören zu können. Doch darauf kam es nicht an. Der Traum war einLebenszeichen von Akuyi, das ihm auf eine für ihn kaum verständliche Weiseübermittelt worden war. Ein verzweifelter Hilferuf, der zeigte, wie schlecht esihr ging und dass sie von Gewalten zerschmettert zu werden drohte, denen sienichts entgegensetzen konnte und gegen die auch er kaum ankam. Der Traum hattemit ihren afrikanischen Wurzeln zu tun, mit dem, was sie nicht verleugnenkonnte, wollte sie ein ganzer Mensch sein, aber damit auch mit dem, was Dirkschon immer mehr Angst gemacht hatte, als er sich eingestehen wollte.
Er musstezu ihr.
DerGedanke war so lächerlich, dass er beinahe laut aufgelacht hätte. Natürlichmusste er zu ihr. Das wusste er schon die ganze Zeit. Doch jetzt fühlte eres auch, nicht nur als Vater, sondern mit jenem Teil seiner Seele, den Kinahimmer zu erwecken versucht hatte. »Alle Menschen stammen aus Afrika«, hatte sieimmer wieder gesagt, »und in unserer aller Seelen sind all die alten Bilder undSehnsüchte gespeichert, die uns seit Menschengedenken vorangetrieben haben. Dumusst sie nur fi nden in dir, und dann musst du bereit sein, sie anzunehmen.«
Dirkerreichte den Schreibtisch, auf dem sein Notebook dank der zur Zeit schnellstenverfügbaren DSL-Verbindung ständig mit dem Internet verbunden war und sein ganzeigenes Leben führte. Gestern hatte er sich, bereits leicht alkoholumnebelt,mit einem der widerlichsten Themen beschäftigt, auf die er bei seinerverzweifelten Suche nach seiner Tochter gestoßen war: mit Kinder- undMenschenhandel.
Mario,sein ältester und bester Freund, hatte ihn auf diese Spur gebracht, er hatteirgendwelche abstrusen Theorien entwickelt, was dazu geführt hatte, dass siesich in den Tagen nach Akuyis Verschwinden so kräftig in die Haare geratenwaren, dass Dirk Mario schließlich achtkantig rausgeschmissen hatte (was ermittlerweile ebenso sehr bedauerte wie die Tatsache, dass er den Kontakt zujedem anderen Menschen abgewürgt hatte, der ihm seine Hilfe angeboten hatte).
So verworrenMarios Theorie auch in Dirks Ohren geklungen hatte - sie hatte ihn gezwungen,in eine Richtung zu denken, die er zunächst nicht hatte sehen wollen. Es warerschreckend, wie viele Einträge es zum Thema Kinder- und Menschenhandel gab -alleine in Google waren es mehrere hunderttausend gewesen -, und noch vielerschreckender, worauf man in Newsgroups und scheinbar geschlossenen Bereichenstoßen konnte, wenn man nur ein wenig hartnäckig war.
Es drehteihm jedes Mal den Magen um, wenn er sich damit beschäftigte - mit derMöglichkeit, dass Akuyi einem Menschenhändlerring zum Opfer gefallen seinkönnte. Aber das war es nicht, was ihn erschrocken stehen bleiben ließ, alssein Blick auf den großen Flachbildschirm an der Wand fi el. Es war wie dasEintauchen in seinen Traum, es war, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen derRealität und dem, was er im Schlaf zusammenfantasiert hatte. Der Monitor zeigtekeine Datenbankabfrage, keinen Text, keine Computergrafik, er war plötzlich zumFenster in eine andere Welt geworden. In eine Welt, in der ein Unwetter tobte.Dunkle Wolken hingen am Himmel, wurden von einem heftigen Windauseinandergerissen, formierten sich wieder, verwirbelten erneut - eindüsterer, gefährlicher Anblick, der jeden, der ihm in freier Natur begegnetwäre, in aller Hast einen Unterschlupf hätte suchen lassen. Ein Blitz fuhrdurch die unruhige Wolkendecke, zerriss die Dunkelheit, leuchtete die Szene füreinen Moment gnadenlos aus.
Es hättefür Dirk keine Überraschung sein dürfen, was der Blitz enthüllte. Er hättedarauf vorbereitet sein, es mit einem Achselzucken abtun müssen.
DasGegenteil war der Fall.
SeineBeine gaben plötzlich nach, und er musste einen hastigen Schritt nach vornemachen, um sich an der Lehne seines Schreibtischstuhls festzuhalten. Die zweiHügel waren nun wieder vom Regengrau verdeckt, aber es schien, als leuchtetensie noch für eine Weile nach, nachdem der Blitz seine Energie verschwendethatte. Als gelänge es ihnen nicht, sich vollständig seinem Blick zu entziehen.Es waren die Hügel aus seinem Traum, eine Gegend, die er vor dieserschrecklichen Nacht noch nie gesehen hatte, weder im Wach- noch imSchlafzustand, zumindest, soweit er sich erinnern konnte.
Ein kalterSchauer überlief ihn. Er dachte an all die merkwürdigen Geschichten, die Kinahihm über ihre Heimat erzählt hatte. Über die Heimat aller Menschen, wie sieimmer wieder betont hatte. Über den Kontinent, auf dem jene beiden Hügeleinander gegenüberlagen wie zwei verfeindete Brüder, die sich belauerten undnur auf die Gelegenheit zum Zuschlagen warteten.
Dirk tratnoch einen Schritt vor und ließ sich in den Stuhl fallen, der daraufhin einStück zurückrollte und ein paar achtlos auf den Boden geworfene Rechnungenzerknüllte.
Nein,Kinah hatte ihm nicht von diesen Hügeln erzählt, niemals, und doch wusste ermit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie in Afrika lagen. Er rollte denStuhl so weit es ging an den kleinen Schreibtisch, den er sich hier imSchlafzimmer gegönnt hatte, ursprünglich nur, um vor dem Schlafengehen noch einbisschen zu programmieren oder sich mit einem Ego-Shooter zu entspannen. Ganzvorsichtig streckte er die Hand aus. Die Szenerie vor ihm wirkte derartplastisch, als sähe er sie nicht auf einem Monitor, sondern wäre aufgeheimnisvolle Weise in der Lage, durch den flachen Schirm hindurch auf denAusschnitt einer realen, weit entfernten, von einem heftigen Unwettergebeutelten Landschaft zu blicken. Er glaubte sogar, die kalte Luft zu spüren,die der Sturm über das Land blies, und das Prasseln des Regens zu hören, obwohler die Lautsprecher wie gewöhnlich gar nicht eingeschaltet hatte.
Er fuhrsich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren rissig, und sein Mund fühlte sichtrocken an. Er hatte viel zu tief in die Flasche geguckt. Dieser verfluchteAlkohol. Er war dabei, sich um den Verstand zu saufen, das war alles. Das, waser da vor sich sah, war eine raffinierte 3-D-Animation oder ein Film, dem mannachträglich im Computer Tiefenwirkung verpasst hatte. Wahrscheinlich lief erin einer Endlosschleife schon seit gestern Abend, mit dem immer wiederzuckenden Blitz und der ewig gleichen, durcheinanderwirbelnden Wolkendecke. Undnatürlich hatte Dirk in seinem Suff auf dieses künstlich aufbereitete Unwettergestarrt, eine Flasche in der rechten Hand, die linke um die Armlehne gekrallt,wie er es in letzter Zeit so häufig tat.
DasFilmchen hatte sich in sein Unterbewusstsein eingebrannt, und er hatte es inden Schlaf mitgenommen, so einfach war das. Der ganze Traum war nichts weiterals eine Erinnerung an das, was er vor dem Wegdämmern als Letztes gesehenhatte, durchzogen von seiner Angst um Akuyi.
Ein kalterHauch streifte sein Gesicht, und er drehte den Kopf ein Stück und schlangzitternd die Arme um den Oberkörper. Es war kalt, so fürchterlich kalt, unddas, obwohl er schwachsinnigerweise die Heizung auf Kinahs Lieblingstemperatureingestellt hatte und es eher schweißtreibende Wärme hätte sein sollen, die ihnplagte. Doch die Kälte drang durch seine schon seit vielen Tagen nicht mehrgewechselte Kleidung und ließ ihn beben. Aber das war es nicht, was seinen Atembeschleunigte. Etwas kratzte am Rande seines Bewusstseins wie dürre, harteFinger, die Einlass begehrten und von ihm verlangten, dass er nicht längerweg-, sondern vielmehr genau hinsah. Egal, was Akuyi passiert war: Sie war ihmvon dem genommen worden, was Kinah aus ihrer Heimat mitgebracht hatte, von alldem faulen Zauber, der erst Kinahs Herz und dann dasjenige ihrer gemeinsamenTochter vergiftet hatte. Akuyi hatte sich in eine Gefahr begeben, die etwas mitihrer Herkunft zu tun hatte und mit all den Büchern und dem Krempel, die sie inden letzten Wochen in ihrem Zimmer aufgehäuft hatte. Das war es.
Er schobden Stuhl wieder ein Stück zurück. Er war während der vergangenen Wochen nichtnur einmal unruhig aufgesprungen und in Akuyis Zimmer gegangen, um alles zudurchstöbern, was sie ihm so chaotisch hinterlassen hatte. Er hatte versucht,Ordnung in ihre Sachen zu bringen, sie nach logischen Kriterien zu sortieren:Bücher und Schreibutensilien; CDs und DVDs; ausrangierte, in irgendwelche Eckengeworfene Kuscheltiere und natürlich die afrikanischen Bilder, Artefakte undKitschgegenstände, von denen sie erschreckend viele in ihrem Zimmer hatte. Das,was er gesucht hatte - ein Tagebuch, eine Ton- oder Bildaufzeichnung, eineflüchtig hingekritzelte Notiz in einem Buch oder auf einem Fetzen Papier -etwas, das Aufschluss darüber gab, wohin sie verschwunden war (freiwillig, wieihm eine böse innere Stimme zuflüstern wollte, und nicht verschleppt vonirgendwelchen bösen Jungs), hatte er nicht gefunden.
SeinFehler war es gewesen, Akuyis chaotische Ordnung zu zerstören.
Denndiesem Chaos hatte eine Logik innegewohnt, die er zwar gespürt, aber nicht zudeuten gewusst hatte. Er musste den Originalzustand wiederherstellen, so gut esihm möglich war, und sich dann noch einmal an die Suche machen. Zum Glück warer schlau genug gewesen, Akuyis Zimmer aus jeder nur denkbaren Perspektive zufotografieren, bevor er sich daran zu schaffen gemacht hatte.
© Verlagsgruppe DroemerKnaur
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 2007, 632 Seiten, Maße: 14,4 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426661683
- ISBN-13: 9783426661680
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