Sturmtöchter
Roman
Einst wurde Elizabeths Großvater, ein berühmter Maler, für einen ungeklärten Mord hingerichtet. Umso überraschter ist Elizabeth, als sie von Ginger, der Muse ihres Großvaters, auf deren Familienanwesen eingeladen wird. Doch...
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Produktinformationen zu „Sturmtöchter “
Einst wurde Elizabeths Großvater, ein berühmter Maler, für einen ungeklärten Mord hingerichtet. Umso überraschter ist Elizabeth, als sie von Ginger, der Muse ihres Großvaters, auf deren Familienanwesen eingeladen wird. Doch dann ist Ginger plötzlich abweisend. Kann Elizabeth ihr Vertrauen gewinnen?
Klappentext zu „Sturmtöchter “
Eine unheilvolle Lüge. Eine große Liebe. Ein ungeklärter Todesfall. Australien, 1945: Als die junge Ginger beginnt, für den Maler Rupert Partridge als Aktmodell zu arbeiten, ändert sich ihr Leben schlagartig. Im Herrenhaus des Künstlers wird sie zu seiner großen Inspiration. Doch dann wird Ruperts Tochter tot in den Wäldern gefunden. Alle verurteilen den Maler als Mörder. Gingers Leben als bewunderte Muse ist vorbei. Jahrzehnte später will Ruperts Enkelin Elizabeth herausfinden, was damals wirklich geschah. Sie reist zu dem vernachlässigten Haus ihres Großvaters, um mehr über die faszinierende alte Frau zu erfahren. Doch Ginger ist abweisend. Fragen zur Familiengeschichte weicht sie aus. Elizabeth ist entschlossen, Gingers Vertrauen zu gewinnen. Als sie erkennt, was sie beide verbindet, ist es fast schon zu spät.
Lese-Probe zu „Sturmtöchter “
Sturmtöchter von Josephine Pennicott Prolog
Geheimnisse
Mount Bellwood, Blue Mountains, November 1945
Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.
Im wilden Märchengarten von Currawong Manor hüllte sich traumgleich eine Statue der nackten Göttin Diana in den Bergnebel. Ihr steinerner Körper war mit Rosen bedeckt: cremegelbe, rosafarbene, purpurne und scharlachrote Blütenblätter - sie alle verwelkten zu einem einheitlichen Schlammbraun. Diana hielt Pfeil und Bogen gen Himmel gerichtet und bewachte stolz ihr üppig verziertes Reich, während der gleichgültige Blick ihrer leeren Augenhöhlen die Sterne herauszufordern schien. Die in den Sockel eingemeißelten Tiere schienen dem Heulen eines herrenlosen Hundes im Wald zu lauschen. Es war Neumond, die dunkle Phase des Mondes. Die Schatten wurden länger, als der Abend sich an das Anwesen heranschlich. Eine gefährliche Zeit, um draußen unterwegs zu sein, würden die Alten im nahe gelegenen Dorf Mount Bellwood vielleicht sagen. Ein Schwarm bunter Sittiche sauste wie ein Wirbelwind aus grünen, blauen und dunkelroten Tupfen über den Garten hinweg.
Currawong-Würgerkrähen mit schwarzen Schwingen, Krallenfüßen und scharfen, gebogenen Schnäbeln ließen sich mit feierlichem Schweigen auf den Türmen des Herrenhauses nieder. Die Vögel nisteten dort, seit das Haus im Jahr 1855 erbaut worden war. Im Laufe der Jahre hatten die Einwohner von Mount Bellwood die Tatsache, dass die Vögel dort ihre Nester bauten, mit immer phantastischeren Interpretationen ausgeschmückt. Eine große Anzahl von Krähen prophezeite demnach einen gefürchteten Besucher: Der Tod war auf dem Weg nach Currawong Manor, das auch gerne »die Ruinen« genannt wurde.
... mehr
Der gellende Schrei einer Frau schallte über das Anwesen. Ein schauriger Laut, der sich mehrmals wiederholte. Dann durchschnitten unverständliche Rufe die Luft. Eine Tür wurde aufgerissen, und die schreiende Frau kam herausgerannt. Sie trug ein rotes Seidenkleid mit passender Stola. Immer noch kreischend floh sie in die Owlbone Woods. Und oben auf den Türmen hockten immer noch die Vögel in ihrem unheimlichen vereinten Schweigen.
Die folgende Geschichte würde Lokführer Henry Kelly im Laufe seines Lebens viele Male all jenen erzählen, die sie hören wollten: Es war der Abendzug von Sydney nach Lithgow. Kelly hatte gerade in Blackheath einen Zwischenhalt eingelegt und war nun auf dem Weg nach Mt Bellwood. Als er an den dunklen Waldschatten der Owlbone Woods entlangfuhr, tauchte urplötzlich eine Frau aus dem Nebel auf und lief direkt vor ihm auf die Gleise. In diesen wenigen endlosen Sekunden nahm er ihr weißes Gesicht wahr, den aufgerissenen Mund, schreiend - ein Alptraumgesicht, umweht von einem roten Tuch. Ihre überraschte Miene, als seine Lok über sie hinwegpflügte, verfolgte ihn seither Tag und Nacht. Die arme Frau streckte noch die Arme aus, als könnte sie, durch irgendein göttliches Wunder, den Zug aufhalten. Henry zitterte, wann immer er die Geschichte erzählte - sogar noch als alter Mann mit über neunzig. Doris Partridge zu überfahren hatte sich wie ein Fluch über sein Leben gelegt. Er fing an zu trinken, um jenen Abend zu vergessen, und trotzdem wachte er nach wie vor mit der Erinnerung daran schweißgebadet und schreiend vor Angst auf. Und an alledem war nur dieser Drecksack Rupert Partridge schuld! Ein Teufel von einem Mann, der sein eigenes Fleisch und Blut getötet und damit so viele Leben zerstört hatte. Sein Spitzname war »Der Teufel der australischen Kunst« - was für eine treffende Bezeichnung! Gott sei Dank hatten sie diesen Lumpen aufgehängt. Sollte er doch in der Hölle schmoren!
Es war eine seltsame und bedauernswerte Angelegenheit, da waren sich alle einig. Weshalb jedoch Rupert überhaupt so verrückt wurde, seiner bildschönen kleinen Shalimar etwas Derartiges anzutun, hatte niemand verstehen können. Nie hatte es in den Bergen ein schöneres Kind gegeben - auch da waren sich alle einig. Doch auf Rupert Partridges Anwesen Currawong Manor war es immer schon ein wenig seltsam zugegangen, und wer vernünftig war, hielt sich vom Haus und von den Owlbone Woods fern. Auch Henry Kelly versuchte, die Leute mit seinen betrunkenen Schimpftiraden davor zu warnen, doch die meisten wurden nicht schlau aus dem, was der verrückte alte Mann da faselte. Schließlich brachten ihn seine Kinder nach Katoomba ins Altenheim, wo ihn seine Alpträume weiter plagten, auch wenn die Medikamente sie ein wenig linderten.
Wahrheit, Legenden, zerbrochene Träume und Lügen - sie waren so untrennbar und unbegreiflich miteinander verwoben wie Nebelschwaden in den Bergen, wie Geschichte, Mythologie oder Traum. Die verbotenen Orte schwiegen, und doch verharrten sie abwartend in ihrem Schmerz, hielten sich fest an den Mysterien von Mond und Erde. Bei manchen Geheimnissen tut man besser daran, sie ungestört schlummern zu lassen. Die Tiere des Busches verstanden diese uralte Wahrheit.
Die Nacht war weich und weise. Begleitet vom Abenddunst folgte sie der Dämmerung, wand sich um Diana und ihr regloses steinernes Gesicht, umarmte knochenweiße Eukalyptusbäume. Wie Geisterhüter bewachten die Bäume auf ewig das Land, seine Geschichten und seine Träume, mit ihren mageren Stämmen und ihrer struppigen Rinde, die sich wie Menschenhaut in Schichten löste und ihren reinen, jungfräulichen, im Verborgenen leuchtenden Kern offenbarte.
Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.
1. Kapitel
Beerdigung einer Blume Mt Bellwood, Blue Mountains, Mai 2000
Elizabeth beobachtete die Gruppe von Leuten, die sich vor St Rita's Catholic Church, der kleinen Steinkirche von Mt Bellwood, im Schneeregen versammelt hatten. Am liebsten würde sie im gemütlichen silbernen Volvo ihrer Freundin Fleur sitzen bleiben, dachte sie bei sich. Es war geplant, dass Fleur sie im Anschluss an die Beerdigung weiter nach Currawong Manor fahren würde, wo Elizabeth die nächste Zeit über wohnen wollte, während sie an einem Fotoprojekt arbeitete. Auf Currawong hatte nämlich Mitte der vierziger Jahre ihr Großvater, der Künstler Rupert Partridge, zusammen mit seiner Familie und seinen drei berühmten Aktmodellen, den sogenannten »Flowers«, gelebt.
»Was für eine hübsche kleine Kirche«, meinte Fleur. »Hast du denn zwischen all den Regenschirmen schon jemanden entdeckt, den du kennst?«
Als Elizabeth den Blick über die mehrheitlich schwarz gekleideten Personen schweifen ließ, war sie erneut dankbar dafür, dass Fleur trotz ihres vollen Terminkalenders angeboten hatte, sie zur Beerdigung einer Frau zu begleiten, die keine von ihnen beiden persönlich gekannt hatte. Kitty Collins war eine der »Blumen« des skandalösen Aktmodelltrios gewesen, und heute fand Kittys Feuerbestattung statt.
Ginger Lawson, ebenfalls ein ehemaliges Flower-Mädchen, sowie Holly Shaw, die jetzige Besitzerin von Currawong Manor, waren es gewesen, die Elizabeth dazu ermuntert hatten, sich als Fotografin für das Buchprojekt Flowers of the Ruins: Die Aktmodelle von Currawong Manor zu bewerben. Es handelte sich dabei um einen aufwendigen Bildband, der im Verlag Dean & Wills erscheinen und Fotos, Tagebuchauszüge, Briefe und Artikel über die drei jungen Frauen enthalten sollte, die dem Künstler Modell gestanden hatten, bevor 1945 der Mord an dessen Tochter Shalimar geschah. Zwei andere Journalisten hatten sich dieses Themas zwar in der Vergangenheit bereits angenommen, aber ihre Bücher waren inzwischen vergriffen. Seit dem Kinofilm Verführung der Sirenen - eine Komödie über den australischen Maler Norman Lindsay und seine Aktmodelle - war das Interesse an der Thematik wiedererwacht. Wie hatte Holly Shaw es scherzhaft formuliert? »Ohne Elle Macphersons Brüste würde sich ja kein Schwein für Norman interessieren. Wir hingegen haben einen echten Mord, eine Hinrichtung und Brüste zu bieten!«
Es kam Elizabeth so vor, als wäre Hollys Angebot, einige Zeit auf dem ehemaligen Anwesen ihres Großvaters zu verbringen, das einzig Gute, was ihr in den vergangenen paar Jahren widerfahren war. Obwohl ihre Arbeiten in der ständigen Sammlung des Museum of Contemporary Art und der Art Gallery of New South Wales in Sydney vertreten waren und die einflussreiche amerikanische Kunstzeitschrift Visions sie als »eine australische Künstlerin, die es im Auge zu behalten gilt« bezeichnet hatte, war sie jüngst von einem führenden Kunstkritiker sowie von Kirchen- und Gemeindeverbänden mächtig an den Pranger gestellt worden. Von Kinderpornographie über Sensationsgier bis hin zu Mediengeilheit hatte man ihr so ziemlich alles vorgeworfen.
Elizabeths geheimnisvolle, traumbildhafte Fotografien, die sie mit ihrer »Linda« aufnahm, einer antiken Kamera ihres Großvaters, hatten inzwischen aber auch eine ganze Menge Anhänger gefunden. Elizabeth verwendete für ihre Fotos bevorzugt Glasplatten statt Filme, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich gewesen war. Es handelte sich um einen mühsamen Prozess, der sich aber der weichen, zeitlosen Aufnahmen wegen lohnte, die sich von den heutigen, meist scharf fokussierten Bildern der Fotoszene deutlich abhoben. Liebhaber ihrer Werke lobten ihr poetisches, elegantes, melancholisches Portfolio aus Landschaften und Porträts in der Kollodium-Nassplattentechnik, die 1851 von Frederick Scott Archer in England entwickelt worden war.
Die schlechte Presse in jüngster Vergangenheit schien dies alles jedoch zu überschatten, vor allem seit ihrer letzten Ausstellung, bei der sie nicht nur Aktfotografien kleiner Kinder und alter Menschen, sondern auch Bilder von Toten im Leichenschauhaus gezeigt hatte.
»Liz, alles klar bei dir?« Fleurs Stimme holte Elizabeth in die Gegenwart zurück, wo der Graupelschauer unvermindert aufs Autodach prasselte. »Du grämst dich doch hoffentlich nicht immer noch, weil dich dieser bescheuerte Kritikerheini und die Kirchenfuzzis als sensationsgeile Kinderpornographin bezeichnet haben?«
Trotz ihrer melancholischen Stimmung musste Elizabeth lachen. »O Gott, so formuliert klingt das echt furchtbar!«
»Ich hoffe sehr, du hast dich aus den richtigen Gründen entschieden, Hollys Angebot anzunehmen«, sagte Fleur geradeheraus, »und willst nicht einfach nur flüchten und dich hier oben verkriechen, weil Lois die ganze Publicity um deine Ausstellung herum so peinlich ist?«
»Du weißt doch, wie sehr meine Mutter alles Makabre und Kontroverse hasst. Sie sieht darin eine Art Verbindung zu Ruperts Werken. Und von allem, was mit den Ereignissen von damals auf Currawong Manor zu tun hat, will sie erst recht absolut nichts wissen. Rupert Partridge ist definitiv eine Leiche in unserem fest versiegelten Familienkeller, die einen ja nie interessieren darf. Für meine Mutter ist ihr Vater ein Perverser und ein Mörder, und die Tatsache, dass er 1950 am Galgen starb, wird von ihr eisern totgeschwiegen. Deshalb hasst sie ja auch die meisten meiner Arbeiten.« Elizabeth spürte, wie die vertraute Bitterkeit sie zittern ließ.
»Liz, ich weiß, dass Lois unheimlich stolz auf dich ist und auf alles, was du erreicht hast«, sagte Fleur leise. »Sie hat mir gegenüber im Lauf der Jahre so oft erwähnt, was für eine begabte Tochter sie hat. Wegen ihrer eigenen traumatischen Kindheit fällt es ihr nur einfach schwer, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen - die vielen Heime und Pflegefamilien, die sie durchlaufen musste.« Sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr. »Vermutlich kenne ich die Antwort bereits, aber hat sie denn vor, heute hier zu erscheinen?«
»Natürlich wird Mum nicht kommen. Ja, sie hatte eine schreckliche Kindheit, aber gibt ihr das automatisch das Recht, eine furchtbare Mutter zu sein? Und warum zeigt sie dann nicht mehr Interesse an meiner Arbeit?«, gab Elizabeth zurück. »Aber jetzt hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, weshalb ich dieses Angebot mit Currawong Manor angenommen habe. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich fährst. Und woher willst du eigentlich wissen, dass ich nicht bloß deshalb zugesagt habe, weil sie Nick Cash als Autor gewinnen konnten?«
»Begeistert bin ich ja nicht gerade, dich da oben in den Bergen mit diesem Nick Cash allein zu lassen«, erwiderte Fleur. »Er soll schon ein ziemlicher Frauenheld sein.«
»Du bist ja genauso schlimm wie Lois.« Elizabeth zog eine Grimasse. »Ich werde mich in seiner Gegenwart gerade noch beherrschen können. Übrigens hab ich ihn mal bei einer Filmpremiere fotografiert, als er noch mit diesem Seifenopern-Starlet Elsa Varino verheiratet war. Ich finde ihn jedenfalls ziemlich sexy, aber ich hatte ja schon immer ein Faible für Männer in Leder.«
Elizabeth war tatsächlich hocherfreut gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass Nick Cash mit ihr an Flowers of the Ruins arbeiten würde. Inzwischen schrieb er hauptberuflich Bücher über wahre Kriminalfälle, aber in den Siebzigern hatte er in einer ihrer Lieblingsbands gespielt.
Durch die nasse Windschutzscheibe betrachtet waren die Trauergäste nur verschwommene schwarze Schemen im grauen Zwielicht des Winternachmittags, die ihre Schirme ausschüttelten, bevor sie die Kirche betraten. »Bist du immer noch traurig, dass du Kitty nicht mehr kennengelernt hast?«
Elizabeth schüttelte den Kopf, da sie Fleur nicht noch mit weiteren emotionalen Dramen belasten wollte.
»Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen«, verkündete Fleur in ihrer pragmatischen Art. »Woher hättest du denn wissen sollen, dass die arme Frau bald stirbt. Du hattest so viel um die Ohren mit der Ausstellung und diesem verdammten Verriss von Jeremy Morrison.«
Seit Holly ihr telefonisch die Nachricht von Kittys Tod überbracht hatte, bereute Elizabeth, dass sie Kitty nicht aufgesucht hatte, als sie noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch die bösartigen Reaktionen auf ihre Ausstellung hatten sie dermaßen belastet, dass sie kaum in der Lage gewesen war, zu essen oder zu schlafen. Als Kitty während dieser Zeit unerwartet Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, weil sie »mit Ruperts Enkeltochter etwas von großer Wichtigkeit besprechen wollte«, hatte sie die alte Dame vertröstet. Nun wetteiferte das Bedauern darüber mit ihrem sonstigen Stress, wenn es darum ging, Elizabeth den Schlaf zu rauben. Mit Kittys Tod war eine weitere Verbindung zur Vergangenheit und zu ihrem Großvater unwiderruflich zerrissen, und so freute sie sich umso mehr darauf, Ginger Lawson, die ehemals Dritte im Bunde, endlich kennenzulernen und mit ihr an diesem Buch zu arbeiten.
»Lass gut sein, Liz«, beharrte Fleur. »Kitty hätte dir vermutlich sowieso nichts Wesentliches zu erzählen gehabt. Und da du es jetzt nie erfahren wirst, vergisst du es am besten einfach.«
»Trotzdem ist es irgendwie erschütternd, wenn man sich überlegt, dass die bezaubernde Blondine von damals, die Rupert wie besessen gemalt und fotografiert hat, am Ende in einem Backpacker Hostel gestorben ist.«
© List Verlag
Der gellende Schrei einer Frau schallte über das Anwesen. Ein schauriger Laut, der sich mehrmals wiederholte. Dann durchschnitten unverständliche Rufe die Luft. Eine Tür wurde aufgerissen, und die schreiende Frau kam herausgerannt. Sie trug ein rotes Seidenkleid mit passender Stola. Immer noch kreischend floh sie in die Owlbone Woods. Und oben auf den Türmen hockten immer noch die Vögel in ihrem unheimlichen vereinten Schweigen.
Die folgende Geschichte würde Lokführer Henry Kelly im Laufe seines Lebens viele Male all jenen erzählen, die sie hören wollten: Es war der Abendzug von Sydney nach Lithgow. Kelly hatte gerade in Blackheath einen Zwischenhalt eingelegt und war nun auf dem Weg nach Mt Bellwood. Als er an den dunklen Waldschatten der Owlbone Woods entlangfuhr, tauchte urplötzlich eine Frau aus dem Nebel auf und lief direkt vor ihm auf die Gleise. In diesen wenigen endlosen Sekunden nahm er ihr weißes Gesicht wahr, den aufgerissenen Mund, schreiend - ein Alptraumgesicht, umweht von einem roten Tuch. Ihre überraschte Miene, als seine Lok über sie hinwegpflügte, verfolgte ihn seither Tag und Nacht. Die arme Frau streckte noch die Arme aus, als könnte sie, durch irgendein göttliches Wunder, den Zug aufhalten. Henry zitterte, wann immer er die Geschichte erzählte - sogar noch als alter Mann mit über neunzig. Doris Partridge zu überfahren hatte sich wie ein Fluch über sein Leben gelegt. Er fing an zu trinken, um jenen Abend zu vergessen, und trotzdem wachte er nach wie vor mit der Erinnerung daran schweißgebadet und schreiend vor Angst auf. Und an alledem war nur dieser Drecksack Rupert Partridge schuld! Ein Teufel von einem Mann, der sein eigenes Fleisch und Blut getötet und damit so viele Leben zerstört hatte. Sein Spitzname war »Der Teufel der australischen Kunst« - was für eine treffende Bezeichnung! Gott sei Dank hatten sie diesen Lumpen aufgehängt. Sollte er doch in der Hölle schmoren!
Es war eine seltsame und bedauernswerte Angelegenheit, da waren sich alle einig. Weshalb jedoch Rupert überhaupt so verrückt wurde, seiner bildschönen kleinen Shalimar etwas Derartiges anzutun, hatte niemand verstehen können. Nie hatte es in den Bergen ein schöneres Kind gegeben - auch da waren sich alle einig. Doch auf Rupert Partridges Anwesen Currawong Manor war es immer schon ein wenig seltsam zugegangen, und wer vernünftig war, hielt sich vom Haus und von den Owlbone Woods fern. Auch Henry Kelly versuchte, die Leute mit seinen betrunkenen Schimpftiraden davor zu warnen, doch die meisten wurden nicht schlau aus dem, was der verrückte alte Mann da faselte. Schließlich brachten ihn seine Kinder nach Katoomba ins Altenheim, wo ihn seine Alpträume weiter plagten, auch wenn die Medikamente sie ein wenig linderten.
Wahrheit, Legenden, zerbrochene Träume und Lügen - sie waren so untrennbar und unbegreiflich miteinander verwoben wie Nebelschwaden in den Bergen, wie Geschichte, Mythologie oder Traum. Die verbotenen Orte schwiegen, und doch verharrten sie abwartend in ihrem Schmerz, hielten sich fest an den Mysterien von Mond und Erde. Bei manchen Geheimnissen tut man besser daran, sie ungestört schlummern zu lassen. Die Tiere des Busches verstanden diese uralte Wahrheit.
Die Nacht war weich und weise. Begleitet vom Abenddunst folgte sie der Dämmerung, wand sich um Diana und ihr regloses steinernes Gesicht, umarmte knochenweiße Eukalyptusbäume. Wie Geisterhüter bewachten die Bäume auf ewig das Land, seine Geschichten und seine Träume, mit ihren mageren Stämmen und ihrer struppigen Rinde, die sich wie Menschenhaut in Schichten löste und ihren reinen, jungfräulichen, im Verborgenen leuchtenden Kern offenbarte.
Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.
1. Kapitel
Beerdigung einer Blume Mt Bellwood, Blue Mountains, Mai 2000
Elizabeth beobachtete die Gruppe von Leuten, die sich vor St Rita's Catholic Church, der kleinen Steinkirche von Mt Bellwood, im Schneeregen versammelt hatten. Am liebsten würde sie im gemütlichen silbernen Volvo ihrer Freundin Fleur sitzen bleiben, dachte sie bei sich. Es war geplant, dass Fleur sie im Anschluss an die Beerdigung weiter nach Currawong Manor fahren würde, wo Elizabeth die nächste Zeit über wohnen wollte, während sie an einem Fotoprojekt arbeitete. Auf Currawong hatte nämlich Mitte der vierziger Jahre ihr Großvater, der Künstler Rupert Partridge, zusammen mit seiner Familie und seinen drei berühmten Aktmodellen, den sogenannten »Flowers«, gelebt.
»Was für eine hübsche kleine Kirche«, meinte Fleur. »Hast du denn zwischen all den Regenschirmen schon jemanden entdeckt, den du kennst?«
Als Elizabeth den Blick über die mehrheitlich schwarz gekleideten Personen schweifen ließ, war sie erneut dankbar dafür, dass Fleur trotz ihres vollen Terminkalenders angeboten hatte, sie zur Beerdigung einer Frau zu begleiten, die keine von ihnen beiden persönlich gekannt hatte. Kitty Collins war eine der »Blumen« des skandalösen Aktmodelltrios gewesen, und heute fand Kittys Feuerbestattung statt.
Ginger Lawson, ebenfalls ein ehemaliges Flower-Mädchen, sowie Holly Shaw, die jetzige Besitzerin von Currawong Manor, waren es gewesen, die Elizabeth dazu ermuntert hatten, sich als Fotografin für das Buchprojekt Flowers of the Ruins: Die Aktmodelle von Currawong Manor zu bewerben. Es handelte sich dabei um einen aufwendigen Bildband, der im Verlag Dean & Wills erscheinen und Fotos, Tagebuchauszüge, Briefe und Artikel über die drei jungen Frauen enthalten sollte, die dem Künstler Modell gestanden hatten, bevor 1945 der Mord an dessen Tochter Shalimar geschah. Zwei andere Journalisten hatten sich dieses Themas zwar in der Vergangenheit bereits angenommen, aber ihre Bücher waren inzwischen vergriffen. Seit dem Kinofilm Verführung der Sirenen - eine Komödie über den australischen Maler Norman Lindsay und seine Aktmodelle - war das Interesse an der Thematik wiedererwacht. Wie hatte Holly Shaw es scherzhaft formuliert? »Ohne Elle Macphersons Brüste würde sich ja kein Schwein für Norman interessieren. Wir hingegen haben einen echten Mord, eine Hinrichtung und Brüste zu bieten!«
Es kam Elizabeth so vor, als wäre Hollys Angebot, einige Zeit auf dem ehemaligen Anwesen ihres Großvaters zu verbringen, das einzig Gute, was ihr in den vergangenen paar Jahren widerfahren war. Obwohl ihre Arbeiten in der ständigen Sammlung des Museum of Contemporary Art und der Art Gallery of New South Wales in Sydney vertreten waren und die einflussreiche amerikanische Kunstzeitschrift Visions sie als »eine australische Künstlerin, die es im Auge zu behalten gilt« bezeichnet hatte, war sie jüngst von einem führenden Kunstkritiker sowie von Kirchen- und Gemeindeverbänden mächtig an den Pranger gestellt worden. Von Kinderpornographie über Sensationsgier bis hin zu Mediengeilheit hatte man ihr so ziemlich alles vorgeworfen.
Elizabeths geheimnisvolle, traumbildhafte Fotografien, die sie mit ihrer »Linda« aufnahm, einer antiken Kamera ihres Großvaters, hatten inzwischen aber auch eine ganze Menge Anhänger gefunden. Elizabeth verwendete für ihre Fotos bevorzugt Glasplatten statt Filme, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich gewesen war. Es handelte sich um einen mühsamen Prozess, der sich aber der weichen, zeitlosen Aufnahmen wegen lohnte, die sich von den heutigen, meist scharf fokussierten Bildern der Fotoszene deutlich abhoben. Liebhaber ihrer Werke lobten ihr poetisches, elegantes, melancholisches Portfolio aus Landschaften und Porträts in der Kollodium-Nassplattentechnik, die 1851 von Frederick Scott Archer in England entwickelt worden war.
Die schlechte Presse in jüngster Vergangenheit schien dies alles jedoch zu überschatten, vor allem seit ihrer letzten Ausstellung, bei der sie nicht nur Aktfotografien kleiner Kinder und alter Menschen, sondern auch Bilder von Toten im Leichenschauhaus gezeigt hatte.
»Liz, alles klar bei dir?« Fleurs Stimme holte Elizabeth in die Gegenwart zurück, wo der Graupelschauer unvermindert aufs Autodach prasselte. »Du grämst dich doch hoffentlich nicht immer noch, weil dich dieser bescheuerte Kritikerheini und die Kirchenfuzzis als sensationsgeile Kinderpornographin bezeichnet haben?«
Trotz ihrer melancholischen Stimmung musste Elizabeth lachen. »O Gott, so formuliert klingt das echt furchtbar!«
»Ich hoffe sehr, du hast dich aus den richtigen Gründen entschieden, Hollys Angebot anzunehmen«, sagte Fleur geradeheraus, »und willst nicht einfach nur flüchten und dich hier oben verkriechen, weil Lois die ganze Publicity um deine Ausstellung herum so peinlich ist?«
»Du weißt doch, wie sehr meine Mutter alles Makabre und Kontroverse hasst. Sie sieht darin eine Art Verbindung zu Ruperts Werken. Und von allem, was mit den Ereignissen von damals auf Currawong Manor zu tun hat, will sie erst recht absolut nichts wissen. Rupert Partridge ist definitiv eine Leiche in unserem fest versiegelten Familienkeller, die einen ja nie interessieren darf. Für meine Mutter ist ihr Vater ein Perverser und ein Mörder, und die Tatsache, dass er 1950 am Galgen starb, wird von ihr eisern totgeschwiegen. Deshalb hasst sie ja auch die meisten meiner Arbeiten.« Elizabeth spürte, wie die vertraute Bitterkeit sie zittern ließ.
»Liz, ich weiß, dass Lois unheimlich stolz auf dich ist und auf alles, was du erreicht hast«, sagte Fleur leise. »Sie hat mir gegenüber im Lauf der Jahre so oft erwähnt, was für eine begabte Tochter sie hat. Wegen ihrer eigenen traumatischen Kindheit fällt es ihr nur einfach schwer, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen - die vielen Heime und Pflegefamilien, die sie durchlaufen musste.« Sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr. »Vermutlich kenne ich die Antwort bereits, aber hat sie denn vor, heute hier zu erscheinen?«
»Natürlich wird Mum nicht kommen. Ja, sie hatte eine schreckliche Kindheit, aber gibt ihr das automatisch das Recht, eine furchtbare Mutter zu sein? Und warum zeigt sie dann nicht mehr Interesse an meiner Arbeit?«, gab Elizabeth zurück. »Aber jetzt hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, weshalb ich dieses Angebot mit Currawong Manor angenommen habe. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich fährst. Und woher willst du eigentlich wissen, dass ich nicht bloß deshalb zugesagt habe, weil sie Nick Cash als Autor gewinnen konnten?«
»Begeistert bin ich ja nicht gerade, dich da oben in den Bergen mit diesem Nick Cash allein zu lassen«, erwiderte Fleur. »Er soll schon ein ziemlicher Frauenheld sein.«
»Du bist ja genauso schlimm wie Lois.« Elizabeth zog eine Grimasse. »Ich werde mich in seiner Gegenwart gerade noch beherrschen können. Übrigens hab ich ihn mal bei einer Filmpremiere fotografiert, als er noch mit diesem Seifenopern-Starlet Elsa Varino verheiratet war. Ich finde ihn jedenfalls ziemlich sexy, aber ich hatte ja schon immer ein Faible für Männer in Leder.«
Elizabeth war tatsächlich hocherfreut gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass Nick Cash mit ihr an Flowers of the Ruins arbeiten würde. Inzwischen schrieb er hauptberuflich Bücher über wahre Kriminalfälle, aber in den Siebzigern hatte er in einer ihrer Lieblingsbands gespielt.
Durch die nasse Windschutzscheibe betrachtet waren die Trauergäste nur verschwommene schwarze Schemen im grauen Zwielicht des Winternachmittags, die ihre Schirme ausschüttelten, bevor sie die Kirche betraten. »Bist du immer noch traurig, dass du Kitty nicht mehr kennengelernt hast?«
Elizabeth schüttelte den Kopf, da sie Fleur nicht noch mit weiteren emotionalen Dramen belasten wollte.
»Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen«, verkündete Fleur in ihrer pragmatischen Art. »Woher hättest du denn wissen sollen, dass die arme Frau bald stirbt. Du hattest so viel um die Ohren mit der Ausstellung und diesem verdammten Verriss von Jeremy Morrison.«
Seit Holly ihr telefonisch die Nachricht von Kittys Tod überbracht hatte, bereute Elizabeth, dass sie Kitty nicht aufgesucht hatte, als sie noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch die bösartigen Reaktionen auf ihre Ausstellung hatten sie dermaßen belastet, dass sie kaum in der Lage gewesen war, zu essen oder zu schlafen. Als Kitty während dieser Zeit unerwartet Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, weil sie »mit Ruperts Enkeltochter etwas von großer Wichtigkeit besprechen wollte«, hatte sie die alte Dame vertröstet. Nun wetteiferte das Bedauern darüber mit ihrem sonstigen Stress, wenn es darum ging, Elizabeth den Schlaf zu rauben. Mit Kittys Tod war eine weitere Verbindung zur Vergangenheit und zu ihrem Großvater unwiderruflich zerrissen, und so freute sie sich umso mehr darauf, Ginger Lawson, die ehemals Dritte im Bunde, endlich kennenzulernen und mit ihr an diesem Buch zu arbeiten.
»Lass gut sein, Liz«, beharrte Fleur. »Kitty hätte dir vermutlich sowieso nichts Wesentliches zu erzählen gehabt. Und da du es jetzt nie erfahren wirst, vergisst du es am besten einfach.«
»Trotzdem ist es irgendwie erschütternd, wenn man sich überlegt, dass die bezaubernde Blondine von damals, die Rupert wie besessen gemalt und fotografiert hat, am Ende in einem Backpacker Hostel gestorben ist.«
© List Verlag
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Autoren-Porträt von Josephine Pennicott
Josephine Pennicott kam in Tasmanien zur Welt und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Papua-Neuguinea. Nach ihrem Kunststudium arbeitete sie als Krankenschwester und schrieb nebenbei sehr erfolgreich Krimis und Fantasy-Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Sydney.
Bibliographische Angaben
- Autor: Josephine Pennicott
- 2014, 400 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Walther, Julia
- Übersetzer: Julia Walther
- Verlag: List
- ISBN-10: 347135087X
- ISBN-13: 9783471350874
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
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