Sturz der Tage in die Nacht
Roman
Antje Rávik Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems.
Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin...
Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin...
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Produktinformationen zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Klappentext zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Antje Rávik Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems. Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin Inez. Aber die beiden werden beobachtet. Ohne es zu ahnen, sind sie längst in eine politische Intrige verstrickt. Die geschützte Insel wird zum schutzlosen Ort. Ein Roman, der von einer großen Liebe erzählt, von den Erinnerungen, Legenden und Lügen unserer Gegenwart, aber auch vom Glück, das im Vergänglichen liegt.
Lese-Probe zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Sturz der Tage in die Nacht von Antje Rávic Strubel Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt auch jetzt noch immer.
Es beginnt auf diesem Wasser, auf dem Weg zurück. Die Fähre dreht, und ich sehe mich noch einmal um. Ich versuche, mir einzuprägen, wo ich gewesen bin; die Kate, die Felswand, der Leuchtturm, die schwimmenden Pontons am Strand.
Inez ist schon verschwunden. Sie ist langsam über die spitzen Kiesel den Strand hinaufgegangen zum Café. Im Schatten verwischen sich ihre Konturen. Die Sicht verschwimmt.
Beim Abschied drängte sich einer der Journalisten zwischen uns. Er schüttelte Inez die Hand.
Ich flüsterte ihr hastig zu, dass ich wiederkommen würde.
»Ich freu mich drauf«, sagte Inez. Ihre Stimme hatte diesen rauen Klang verloren, in dem sie nachts mit mir geflüstert hatte. Ihr Lachen war nicht mehr ihr Lachen vom Strand. Ich berührte ihren Unterarm flüchtig. Die Sonnenbrille verdeckte die Hälfte ihres Gesichts.
Das Boot nimmt Fahrt auf. Ich schaue zurück.
Inez und die Insel schwanken.
Weiß blitzt die Ostsee in der Ferne auf. Schaumkämme beherrschen die Wellen. Sie werden breiter, zinken länger aus, greifen tief hinein ins graue Wasser. Sie kämmen die Ostsee in Richtung Strand. Lange Strähnen, die der Wind auseinandertreibt und wieder zusammenschiebt, klatschen ans Ufer. Die Ostsee ist verspielt. Im Grunde ist sie nur ein See, aber sie öffnet sich dem Atlantik weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken. Die Ostsee täuscht das Meer gewissermaßen vor. Um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, bringt sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln. Feuersteine und Lummen.
... mehr
Inez steht am Strand, die Augen mit der Hand abgeschirmt. Sie will den Jungen noch einmal sehen; das Haar bis zum Nacken, seinen offenen Blick, die verwahrlosten Hände. Aber die Fähre hat schon abgedreht. Von Erik ist nicht einmal mehr der Umriss erkennbar.
Sie dreht sich um und fixiert das Café. Die Bemerkung der Journalistin geht ihr durch den Kopf:
»Sie haben doch was miteinander. Sie und der Junge.«
»Wir haben alles«, hat sie geantwortet.
DIE FLINTKUGEL
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt immer unmerklich. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr genau sagen, wann. Der Beginn wird sofort in das Geschehen hinein aufgelöst, in das von der Bootsschraube aufgeworfene Wasser, in den Unsinn, den ich Inez sagte, in das endlose Kreisen der Vögel, die Cirruswolken, den Wind.
In Wahrheit wird es diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben. Ich fange an, danach zu suchen, wo alles unwiderruflich geworden ist. Im Nachhinein. Erst jetzt sieht es so aus, als wären die Ereignisse tatsächlich zwangsläufig aufeinander gefolgt, weil es die Geschichte in der Rückschau so verlangt. Ich suche nach einem entscheidenden Auslöser, weil ich die Wahl gehabt haben möchte, weil ich glauben möchte, dass ich irgendwann tatsächlich vor einer Entscheidung stand. Und das ist vielleicht der Irrtum.
Es hätte mit dem türkisfarbenen Leuchten des Wassers am Ufer beginnen können. Mit dem dürren Schatten, den der Ginsterbusch auf die weißverputzte Wand von Inez' Schlafzimmer wirft. Es hätte mit dem Himmel beginnen können, ein Himmel, der an stillen Mittagen so türkis ist wie das Meer. Dann werden aus den Flecken, die vor der Insel auf dem Wasser treiben, Algen, grüner Schlick, der an der Bootswand hängen bleibt. Später wischt die Gischt ihn wieder ab. Es hätte auch viel früher beginnen können, vor der Reise oder, wenn man an Schicksal glauben will, mit der Geburt. Es hätte damit beginnen können, wie wir, Inez und ich, geboren wurden.
Die Insel liegt da wie vor drei Monaten. Eine umgestülpte Untertasse. Auch der Kapitän ist derselbe, ein blasser Mann in einem roten Pullover, der immer eine Tüte Pistazien dabeihat und die Schalen aus dem offenen Fenster wirft. Der Wind treibt sie ab. Im Passagierraum liegt eine Zeitung von gestern, die Dagens Nyheter, die er vom Festland mitbringt, um sich die Wartezeiten zu vertreiben. Im Sommer legt die Fähre gegen elf Uhr morgens vor der Insel an und bringt Touristen und holt sie abends um fünf wieder ab. Im Herbst wird der Fährplan geändert, und die Fähre kommt seltener, und wenn ab Oktober die Stürme über das Plateau fegen, wird die Fährlinie eingestellt, und die Insel bleibt unbewohnt zurück.
Das gelbe Gras steht starr im Frost.
Es ist dieser Herbst gewesen, in dem alles begonnen hat, dieser nördliche Herbst mit seiner schneelosen Kälte, mit seiner erstickend frühen Dunkelheit, dieser Herbst mit seinem grau aufschäumenden Meer und den windgepeitschten Felsen. Es begann in der Nacht, in der es mich hinaus auf die Klippe trieb, die fünfzig, sechzig Meter über der Ostsee aufragt, in der ich dort oben stand und daran dachte, es zu tun, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, die sich im Juni von den Felsen stürzen, denn ich war reich, und dieses Gefühl war grenzenlos, und ich wusste, dass es nicht über den Moment hinaus dauern würde, nicht länger andauerte als diese Minuten, in denen ich hier oben stand und der Wind so eisig war, dass mein Gesicht taub wurde und es mir den Atem zurück in die Lunge drückte. Ich wusste, dass es das war, was mich bis an die Kante der Felsen trieb, nicht Verzweiflung, nicht der Gedanke, entdeckt zu werden, oder die Angst vor dem, was dieser Entdeckung folgte. Wenn ich mich da oben nicht umgedreht hätte zum rotierenden Leuchtfeuer, wenn ich nicht zurückgeschaut und mir vorgestellt hätte, wie sie da lag mit den über die Schultern gerutschten Trägern ihres dünnen Nachthemdes, sondern wenn ich weitergegangen wäre, noch einen Schritt über den Rand der Klippe hinaus, dann wäre dieser Reichtum in mir für immer in der eisigen Kälte aufgehoben gewesen.
»Inez. Betonung auf dem e.«
»Das gefällt mir. Klingt spanisch.«
Der Herbst, nicht der Sommer war es, der mich so ausgeglüht hat, dass ich das Gefühl haben werde, richtungslos über den Asphalt zu treiben, wenn die Fähre mich in einer Stunde in dem verödeten Hafen von Klintehamn absetzen wird, von dem aus ich im Juni aufgebrochen war.
Ich hatte eine Woche auf Gotland verbracht. Ich hatte mir die Stadtmauer von Visby angesehen und das Klostertheater in Roma, ich war nach Fårö, Gotlands nördlicher Spitze, gefahren, die bis vor wenigen Jahren noch militärisches Sperrgebiet gewesen war. An Fårös Stränden ragen Kalksteinsäulen auf. Sie sind schlank und porös und wirken im Nebel wie steif aufgerichtete Leichname. Abends saß ich vor meinem Zelt und sah die Mücken tanzen. Es wurde nicht dunkel. Die Sonne verschwand nur für zwei Stunden hinter dem Horizont, der bis zum Morgen nachglühte. Ich schlief schlecht.
Ich buchte Zeltplätze für eine Nacht. Die Damen an den Rezeptionen händigten mir das Papierschild in Klarsichtfolie aus, das ich außen an mein Zelt hängte als Zeichen dafür, dass ich für den Platz bezahlt hatte. Sie fragten, wie lange ich blieb. Ich fragte, wo die Sanitäranlagen waren und wo ich Kaffee bekam, und tauschte Kleingeld gegen Metallchips, die ich später in die Duschautomaten steckte.
Die Damen an der Rezeption waren einsilbig. Jungen wie mich sahen sie jeden Tag. Sie waren gerade mit der Schule fertig und lagerten vor ihren Zelten, tranken Lättöl und verbrachten die Tage damit, über Musikgruppen und ihre Zukunft als DJs oder Surflehrer zu reden, wenn sie sich nicht schon morgens die Ohren mit ihren iPods verstöpselt hatten. Ich stellte mir meine Zukunft nicht in einem Club vor. Ich stellte mir nicht vor, halbnackt auf einer Bühne im Stroboskoplicht zu stehen oder auf einem Brett Wind und Wellen ausgeliefert zu sein, ich stellte mir meine Zukunft in jedem Fall bekleidet vor, angezogen, mit Hemd und Krawatte, auch wenn ich jetzt noch in Jeans und Kapuzenshirt herumlief. Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nach dem Abitur hatte ich es mit Jura probiert, mich nach zwei Jahren aber für Soziologie eingeschrieben und bald festgestellt, dass beides nicht das Richtige war. Auf einer Party hatte ich aus einem Tarotspiel die neun Stäbe gezogen. Seither musste ich an diese Karte denken, sobald man mich fragte, was ich jetzt machen würde, und weil ich immer mal gar nichts machte, wurde ich häufig gefragt. Neun Stäbe bedeuten Kraft, Vernunft und Selbstkontrolle, und seit ich diese Karte gezogen hatte, wusste ich, dass meine Entscheidung diesmal richtig war.
Bis vor drei Monaten klappte das noch. Da wusste ich noch, dass ich mir zuerst eine Auszeit gönnen würde. Ich wollte ein paar Wochen Ruhe, um dann gestärkt das neue Studium anzugehen und es schnell zu beenden. Krawatten und die Art Anzüge, die ich mir vorstellte, kosten Geld. Auch meine beiden besten Kumpel aus Schulzeiten hatten sich vorübergehend abgesetzt. Sie waren auf Weltreisen unterwegs. Hinterher würden sie mit ihren exotischen Abenteuern protzen und mich fragen, ob ich mich nicht zu Tode gelangweilt hätte da oben im menschenleeren Norden. Ich beneidete sie nicht.
Ich war nach Gotland gefahren. Ich war durch die Landschaft gestreift, und die Landschaft mit ihrem Kalkstein, ihrem struppigen Bewuchs, mit ihren verlassen daliegenden Plateaus, den versandeten Tümpeln und Klappersteinfeldern, auf denen es hunderte Millionen Jahre alte Fossilien gab, hatten mich in Trance versetzt. Ich ließ mich treiben.
Es war die Zeit nach meinem Aushilfsjob in einem Jugendprojekt; verglichen mit dem Zivildienst im Altenheim war das eine leichte Arbeit gewesen, auch wenn es täglich neun Stunden Lärm bedeutete, Drogen bedeutete, Messerstechereien und täglich entweder die Polizei oder das Jugendamt, täglich Rap oder Techno, täglich die Frage, ob du ein Hopper oder ein Emo bist, denn Emos sind schwarzgekleidete Schwulis, schwule Chorkinder, du Arsch, auch das täglich, täglich ich hab deine Mutter gefickt, überhaupt deine Mudder und willste was aufs Maul, und erst hier, unter Kiefern und Ostseewind, ließ die Erinnerung daran nach. Die Einsamkeit, die langen Tage, die Stille in den kleinen Ortschaften entspannten mich.
Am Ende der Woche hatte ich in einem Touristenbüro einen Tagesausflug gebucht; eine geführte Tour auf eine Insel, die der Westküste Gotlands vorgelagert war. Ich hatte Lust, wieder mit jemandem zu reden. Wo es hinging, interessierte mich nicht.
Im Hafen von Klintehamn stand ein Kiosk, in dem schon lange nichts mehr verkauft wurde. Die Fenster waren vernagelt, eine verwaschene Preisliste für Lachs und Heringe hing noch am Holz. Der Parkplatz war schattenlos und leer. Am Kai, an dem das Boot zur Insel ablegen sollte, warteten zwei Frauen mit Wanderstöcken und Knickerbocker, Finninen, wie sich herausstellte. Andere Fahrgäste waren nicht zu sehen. Die Finninen verstanden kein Englisch. Sie sprachen schwedisch mit mir. Vielleicht dachten sie, es würde die Verständigung erleichtern, wenn beide Seiten eine ihnen fremde Sprache benutzten. Das war nicht der Fall. Sie glotzten mich an, als sie kapierten, dass ich nichts verstand. Später banden sie ihre Kopftücher ab. Die Haare darunter sahen aus wie das trockene Moosgeflecht, das sich hier zäh auf den Felsen hielt. Im Passagierraum der Fähre saß eine Familie. Die Großeltern sahen vor sich auf den Tisch, die Mutter schlief, dem Kleinkind lief Rotz übers Kinn.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Inez steht am Strand, die Augen mit der Hand abgeschirmt. Sie will den Jungen noch einmal sehen; das Haar bis zum Nacken, seinen offenen Blick, die verwahrlosten Hände. Aber die Fähre hat schon abgedreht. Von Erik ist nicht einmal mehr der Umriss erkennbar.
Sie dreht sich um und fixiert das Café. Die Bemerkung der Journalistin geht ihr durch den Kopf:
»Sie haben doch was miteinander. Sie und der Junge.«
»Wir haben alles«, hat sie geantwortet.
DIE FLINTKUGEL
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt immer unmerklich. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr genau sagen, wann. Der Beginn wird sofort in das Geschehen hinein aufgelöst, in das von der Bootsschraube aufgeworfene Wasser, in den Unsinn, den ich Inez sagte, in das endlose Kreisen der Vögel, die Cirruswolken, den Wind.
In Wahrheit wird es diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben. Ich fange an, danach zu suchen, wo alles unwiderruflich geworden ist. Im Nachhinein. Erst jetzt sieht es so aus, als wären die Ereignisse tatsächlich zwangsläufig aufeinander gefolgt, weil es die Geschichte in der Rückschau so verlangt. Ich suche nach einem entscheidenden Auslöser, weil ich die Wahl gehabt haben möchte, weil ich glauben möchte, dass ich irgendwann tatsächlich vor einer Entscheidung stand. Und das ist vielleicht der Irrtum.
Es hätte mit dem türkisfarbenen Leuchten des Wassers am Ufer beginnen können. Mit dem dürren Schatten, den der Ginsterbusch auf die weißverputzte Wand von Inez' Schlafzimmer wirft. Es hätte mit dem Himmel beginnen können, ein Himmel, der an stillen Mittagen so türkis ist wie das Meer. Dann werden aus den Flecken, die vor der Insel auf dem Wasser treiben, Algen, grüner Schlick, der an der Bootswand hängen bleibt. Später wischt die Gischt ihn wieder ab. Es hätte auch viel früher beginnen können, vor der Reise oder, wenn man an Schicksal glauben will, mit der Geburt. Es hätte damit beginnen können, wie wir, Inez und ich, geboren wurden.
Die Insel liegt da wie vor drei Monaten. Eine umgestülpte Untertasse. Auch der Kapitän ist derselbe, ein blasser Mann in einem roten Pullover, der immer eine Tüte Pistazien dabeihat und die Schalen aus dem offenen Fenster wirft. Der Wind treibt sie ab. Im Passagierraum liegt eine Zeitung von gestern, die Dagens Nyheter, die er vom Festland mitbringt, um sich die Wartezeiten zu vertreiben. Im Sommer legt die Fähre gegen elf Uhr morgens vor der Insel an und bringt Touristen und holt sie abends um fünf wieder ab. Im Herbst wird der Fährplan geändert, und die Fähre kommt seltener, und wenn ab Oktober die Stürme über das Plateau fegen, wird die Fährlinie eingestellt, und die Insel bleibt unbewohnt zurück.
Das gelbe Gras steht starr im Frost.
Es ist dieser Herbst gewesen, in dem alles begonnen hat, dieser nördliche Herbst mit seiner schneelosen Kälte, mit seiner erstickend frühen Dunkelheit, dieser Herbst mit seinem grau aufschäumenden Meer und den windgepeitschten Felsen. Es begann in der Nacht, in der es mich hinaus auf die Klippe trieb, die fünfzig, sechzig Meter über der Ostsee aufragt, in der ich dort oben stand und daran dachte, es zu tun, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, die sich im Juni von den Felsen stürzen, denn ich war reich, und dieses Gefühl war grenzenlos, und ich wusste, dass es nicht über den Moment hinaus dauern würde, nicht länger andauerte als diese Minuten, in denen ich hier oben stand und der Wind so eisig war, dass mein Gesicht taub wurde und es mir den Atem zurück in die Lunge drückte. Ich wusste, dass es das war, was mich bis an die Kante der Felsen trieb, nicht Verzweiflung, nicht der Gedanke, entdeckt zu werden, oder die Angst vor dem, was dieser Entdeckung folgte. Wenn ich mich da oben nicht umgedreht hätte zum rotierenden Leuchtfeuer, wenn ich nicht zurückgeschaut und mir vorgestellt hätte, wie sie da lag mit den über die Schultern gerutschten Trägern ihres dünnen Nachthemdes, sondern wenn ich weitergegangen wäre, noch einen Schritt über den Rand der Klippe hinaus, dann wäre dieser Reichtum in mir für immer in der eisigen Kälte aufgehoben gewesen.
»Inez. Betonung auf dem e.«
»Das gefällt mir. Klingt spanisch.«
Der Herbst, nicht der Sommer war es, der mich so ausgeglüht hat, dass ich das Gefühl haben werde, richtungslos über den Asphalt zu treiben, wenn die Fähre mich in einer Stunde in dem verödeten Hafen von Klintehamn absetzen wird, von dem aus ich im Juni aufgebrochen war.
Ich hatte eine Woche auf Gotland verbracht. Ich hatte mir die Stadtmauer von Visby angesehen und das Klostertheater in Roma, ich war nach Fårö, Gotlands nördlicher Spitze, gefahren, die bis vor wenigen Jahren noch militärisches Sperrgebiet gewesen war. An Fårös Stränden ragen Kalksteinsäulen auf. Sie sind schlank und porös und wirken im Nebel wie steif aufgerichtete Leichname. Abends saß ich vor meinem Zelt und sah die Mücken tanzen. Es wurde nicht dunkel. Die Sonne verschwand nur für zwei Stunden hinter dem Horizont, der bis zum Morgen nachglühte. Ich schlief schlecht.
Ich buchte Zeltplätze für eine Nacht. Die Damen an den Rezeptionen händigten mir das Papierschild in Klarsichtfolie aus, das ich außen an mein Zelt hängte als Zeichen dafür, dass ich für den Platz bezahlt hatte. Sie fragten, wie lange ich blieb. Ich fragte, wo die Sanitäranlagen waren und wo ich Kaffee bekam, und tauschte Kleingeld gegen Metallchips, die ich später in die Duschautomaten steckte.
Die Damen an der Rezeption waren einsilbig. Jungen wie mich sahen sie jeden Tag. Sie waren gerade mit der Schule fertig und lagerten vor ihren Zelten, tranken Lättöl und verbrachten die Tage damit, über Musikgruppen und ihre Zukunft als DJs oder Surflehrer zu reden, wenn sie sich nicht schon morgens die Ohren mit ihren iPods verstöpselt hatten. Ich stellte mir meine Zukunft nicht in einem Club vor. Ich stellte mir nicht vor, halbnackt auf einer Bühne im Stroboskoplicht zu stehen oder auf einem Brett Wind und Wellen ausgeliefert zu sein, ich stellte mir meine Zukunft in jedem Fall bekleidet vor, angezogen, mit Hemd und Krawatte, auch wenn ich jetzt noch in Jeans und Kapuzenshirt herumlief. Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nach dem Abitur hatte ich es mit Jura probiert, mich nach zwei Jahren aber für Soziologie eingeschrieben und bald festgestellt, dass beides nicht das Richtige war. Auf einer Party hatte ich aus einem Tarotspiel die neun Stäbe gezogen. Seither musste ich an diese Karte denken, sobald man mich fragte, was ich jetzt machen würde, und weil ich immer mal gar nichts machte, wurde ich häufig gefragt. Neun Stäbe bedeuten Kraft, Vernunft und Selbstkontrolle, und seit ich diese Karte gezogen hatte, wusste ich, dass meine Entscheidung diesmal richtig war.
Bis vor drei Monaten klappte das noch. Da wusste ich noch, dass ich mir zuerst eine Auszeit gönnen würde. Ich wollte ein paar Wochen Ruhe, um dann gestärkt das neue Studium anzugehen und es schnell zu beenden. Krawatten und die Art Anzüge, die ich mir vorstellte, kosten Geld. Auch meine beiden besten Kumpel aus Schulzeiten hatten sich vorübergehend abgesetzt. Sie waren auf Weltreisen unterwegs. Hinterher würden sie mit ihren exotischen Abenteuern protzen und mich fragen, ob ich mich nicht zu Tode gelangweilt hätte da oben im menschenleeren Norden. Ich beneidete sie nicht.
Ich war nach Gotland gefahren. Ich war durch die Landschaft gestreift, und die Landschaft mit ihrem Kalkstein, ihrem struppigen Bewuchs, mit ihren verlassen daliegenden Plateaus, den versandeten Tümpeln und Klappersteinfeldern, auf denen es hunderte Millionen Jahre alte Fossilien gab, hatten mich in Trance versetzt. Ich ließ mich treiben.
Es war die Zeit nach meinem Aushilfsjob in einem Jugendprojekt; verglichen mit dem Zivildienst im Altenheim war das eine leichte Arbeit gewesen, auch wenn es täglich neun Stunden Lärm bedeutete, Drogen bedeutete, Messerstechereien und täglich entweder die Polizei oder das Jugendamt, täglich Rap oder Techno, täglich die Frage, ob du ein Hopper oder ein Emo bist, denn Emos sind schwarzgekleidete Schwulis, schwule Chorkinder, du Arsch, auch das täglich, täglich ich hab deine Mutter gefickt, überhaupt deine Mudder und willste was aufs Maul, und erst hier, unter Kiefern und Ostseewind, ließ die Erinnerung daran nach. Die Einsamkeit, die langen Tage, die Stille in den kleinen Ortschaften entspannten mich.
Am Ende der Woche hatte ich in einem Touristenbüro einen Tagesausflug gebucht; eine geführte Tour auf eine Insel, die der Westküste Gotlands vorgelagert war. Ich hatte Lust, wieder mit jemandem zu reden. Wo es hinging, interessierte mich nicht.
Im Hafen von Klintehamn stand ein Kiosk, in dem schon lange nichts mehr verkauft wurde. Die Fenster waren vernagelt, eine verwaschene Preisliste für Lachs und Heringe hing noch am Holz. Der Parkplatz war schattenlos und leer. Am Kai, an dem das Boot zur Insel ablegen sollte, warteten zwei Frauen mit Wanderstöcken und Knickerbocker, Finninen, wie sich herausstellte. Andere Fahrgäste waren nicht zu sehen. Die Finninen verstanden kein Englisch. Sie sprachen schwedisch mit mir. Vielleicht dachten sie, es würde die Verständigung erleichtern, wenn beide Seiten eine ihnen fremde Sprache benutzten. Das war nicht der Fall. Sie glotzten mich an, als sie kapierten, dass ich nichts verstand. Später banden sie ihre Kopftücher ab. Die Haare darunter sahen aus wie das trockene Moosgeflecht, das sich hier zäh auf den Felsen hielt. Im Passagierraum der Fähre saß eine Familie. Die Großeltern sahen vor sich auf den Tisch, die Mutter schlief, dem Kleinkind lief Rotz übers Kinn.
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Autoren-Porträt von Antje Rávik Strubel
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essayband »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam (www.antjestrubel.de)
Bibliographische Angaben
- Autor: Antje Rávik Strubel
- 2013, 2. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,6 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596193087
- ISBN-13: 9783596193080
- Erscheinungsdatum: 23.08.2013
Rezension zu „Sturz der Tage in die Nacht “
ein beeindruckender Roman [...]. Überzeugend gelingt es der Autorin in 'Sturz der Tage in die Nacht', Naturbeobachtungen ins Verhältnis zur Historie zu stellen. Michael Opitz Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20120123
Pressezitat
ein beeindruckender Roman [...]. Überzeugend gelingt es der Autorin in 'Sturz der Tage in die Nacht', Naturbeobachtungen ins Verhältnis zur Historie zu stellen. Michael Opitz Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20120123
Kommentar zu "Sturz der Tage in die Nacht"