Suche
Roman. Deutsche Erstausgabe
Spitzbergen: Im städtischen Kindergarten verschwinden immer wieder Kinder. Sie sind nicht lange fort, erzählen jedoch nicht, wo sie gewesen sind. Eines Tages taucht ein kleines Mädchen nicht mehr auf. Die Spuren führen in die...
Jetzt vorbestellen
versandkostenfrei
Taschenbuch
10.30 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Suche “
Spitzbergen: Im städtischen Kindergarten verschwinden immer wieder Kinder. Sie sind nicht lange fort, erzählen jedoch nicht, wo sie gewesen sind. Eines Tages taucht ein kleines Mädchen nicht mehr auf. Die Spuren führen in die Schächte stillgelegter Kohlengruben.
Klappentext zu „Suche “
Niemand verschwindet einfach so auf SpitzbergenLongyearbyen, die Hauptstadt von Spitzbergen: Im städtischen Kindergarten gehen seltsame Dinge vor sich. Immer wieder verschwinden Kinder von dort. Sie sind nicht lange fort. Die Erzieherinnen sind beunruhigt, nehmen es aber nicht wirklich ernst, dass die Kinder nicht erzählen wollen, wo sie gewesen sind. Eines Tages tritt dann das Gefürchtete ein: Ein kleines Mädchen verschwindet - und taucht nicht mehr auf. Eine hektische Suche beginnt. Die Spuren, die sie hinterließ, führen in die Grubenschächte, hinunter in die Tiefe stillgelegter Kohlengruben auf Spitzbergen. Und bald wird klar, dass sie nicht die Einzige ist, die in der überschaubaren Welt von Spitzbergen verloren ging ...
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Suche “
Suche von Monica KristensenKAPITEL 1
Spuren
Donnerstag, 22. Februar, 13.30 Uhr
... mehr
Er hockte sich hinter einen großen Schneewall und bewegte sich vorsichtig auf den Knien voran. Hinter ihm lagen weitere Schneewehen, die die Straße hinauf zu den Häusern von Blåmyra verdeckten, dort, wo die Junggesellen der Bergbaugesellschaft wohnten. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, doch die Scheinwerferlichter erreichten ihn nicht. In der letzten halben Stunde war kein Fußgänger vorbeigekommen. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand bemerkte, dort, wo er hockte. Er selbst dagegen hatte freie Sicht.
Es war schneidend kalt. Er zog sich die Kapuze fest ums Gesicht und drückte die Pelzkrempe dicht an die Stirn. Nach einer Weile begann sich unten etwas zu regen. Kleine Gestalten tapsten und krabbelten in den Schnee hinaus, der im Laufe der Nacht gefallen war. Er hielt konzentriert Ausschau und entdeckte fast sofort, wonach er suchte. Seine Augen verengten sich vor Freude. Das kleine Bärchen spielte heute auch draußen. Die Kleine kullerte einen Abhang hinunter und war sofort voller Schnee. Sie schaffte es, sich aufzurappeln, fiel wieder hin und geriet außer Sicht, kam aber schnell wieder zum Vorschein. Zwei Kaninchen hüpften und rutschten auf sie zu. Das eine Kaninchen war grün, eines seiner Ohren war halb abgerissen, so dass es über der Wange baumelte. Das andere war blau. Er schaute ihnen noch lange, nachdem sie hinter einem Schuppen am anderen Ende des Spielplatzes verschwunden waren, nach.
Nach ein paar Minuten rutschte er näher. Er wusste, dass sie hinter dem Schuppen über den Zaun klettern konnten. Hier hatte sich eine so hohe Schneewehe aufgetürmt, dass selbst die Kleinsten es über den Zaun schafften. Aber sie wollten nicht immer. Manchmal blieben sie auch nur stehen und schauten ihn mit ihren glänzenden, fragenden Augen an - als verstünden sie nicht, was er wollte, wenn er ihnen zuwinkte, damit sie näher kämen.
Traute er sich heute, ihnen etwas zu essen zu geben - vielleicht eine Apfelsine? Nein, dazu war es zu kalt. Es war wohl das Sicherste, bei Süßigkeiten zu bleiben. Die mochten sie immer. Er zog sich einen Handschuh aus und wühlte in den tiefen Taschen.
Auf der anderen Seite des Hauses stand die Leiterin des Kindergartens zitternd vor Kälte oben auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür. Sie schaute ängstlich den Fußweg hinauf, der am Kindergarten vorbeiführte. Es war Ende Februar und der Himmel deutlich heller als noch vor ein paar Tagen. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne zum ersten Mal im Jahr zu sehen sein. Die Berge um die kleine Polarstadt herum ragten hoch auf und verschwanden in einem Märchenland von Wolken in Rot und Gelb. Aber die Häuser von Longyearbyen lagen immer noch in tiefen blauen Schatten.
Die Kindergartenleiterin fror in ihrem grob gestrickten Pull over, blieb aber trotzdem draußen stehen und spähte besorgt den Weg zu dem kleinen Markt mit all seinen Lichtern hinauf. Einzelne Gestalten huschten in die Geschäfte oder stolperten aus ihnen heraus, die wenigsten blieben stehen, um sich miteinander zu unterhalten. In der ruhigen kalten Luft waren alle Geräusche deutlich zu hören, wenn auch gedämpft - als wären sie in einer kleinen Schachtel eingefangen.
Wo war dieses anstrengende Mädchen geblieben? War es ihr tatsächlich gelungen, auszubüchsen? Die Leiterin konnte eine gewisse Unruhe nicht abschütteln, gleichzeitig fragte sie sich, wie es Ella gelungen sein sollte, die Außenpforte zu öffnen. Schließlich war sie ganz oben, außer Reichweite von kleinen Kinderfingern, mit einem Schnappschloss versehen. Nein, sie würde sicher wieder auftauchen, genau wie auch die anderen Kinder im Laufe des Winters immer wieder aufgetaucht waren. Es war nur so ärgerlich, nicht zu wissen, wo sie sich versteckten. Und ganz und gar unerklärlich, wie es ihnen gelungen sein sollte, eine Ecke zu finden, in der sie nicht entdeckt wurden. Nicht unbedingt beängstigend. So weit wollte sie nicht gehen. Aber ärgerlich, das schon.
Der Kindergartenleiterin war allerdings klar, dass sie etwas sah, was sie beunruhigte. Auf dem Fußweg hinunter zum Polarhotel verlief eine deutliche Spur. Oder besser gesagt: verliefen zwei Spuren. Eine schnurgerade Linie aus Abdrücken von Erwachsenenschuhen. Und daneben winzig kleine Abdrücke von Kinderschuhen, die sich ab und zu mit den Spuren der großen Schuhe verflochten. Konnte jemand Ella abgeholt und mitgenommen haben, ohne Bescheid zu sagen? In diesem Fall wollte sie persönlich dafür sorgen, dass es das letzte Mal war, dass diese Person sich so unüberlegt verhielt. Die Leiterin war in dieser Hinsicht sehr streng. Sie verlangte rechtzeitig darüber informiert zu werden, wenn jemand anderes als die Eltern die Kinder abholten.
Sie sahen friedlich aus, die beiden Perlenketten von Fußabdrücken, die in den Neuschnee gedrückt waren. Von keinem Windstoß verwischt, zeichneten sie sich perfekt in den Lichtkegeln der Straßenlaternen ab. Der Weg war menschenleer, er führte an dem neuen Krankenhaus vorbei, das in beruhigendes hellgelbes Licht getaucht, direkt gegenüber vom Kindergarten lag. Die Spuren folgten den Schneewällen, so weit sie sehen konnte. Aber inzwischen hatte es wieder angefangen, sacht zu schneien. Kleine Eisnadeln rieselten aus dem blauen Licht herab und drehten sich unentschlossen hin und her. Bald würden die Spuren verschwunden sein.
Die Kindergartenleiterin seufzte und betrat den vollgestopften Flur, in dem bunte Kinderkleidung in den niedrigen Fächern lag und an den Haken hing. Die Kinder waren wegen der Kälte früh wieder vom Spielplatz hereingeholt worden. Ellas Schneeanzug hing nicht an ihrem Haken, aber das musste nichts bedeuten. Die Kinder ließen ihre Sachen einfach überall liegen. Aber Ellas braune Bärenmütze mit den Puschelohren lag auch nicht in ihrem Fach. Und die Stiefel waren nirgends zu entdecken. Ella war so stolz auf die Mütze und ihre rosa Fellstiefel mit dem weißen Pelzrand. Niemand sonst hatte so welche. Es war das Geschenk einer geliebten Oma aus dem Süden, und sie würde sie niemals vergessen. Die Kindergartenleiterin dachte, wenn sie Mütze und Stiefel fände, dann wäre Ella sicher auch nicht weit.
Der Kindergarten lag im Zentrum von Longyearbyen. Die ständigen Bewohner sagten das ohne jede Form von Ironie. Es waren nur die Touristen, die sich darüber amüsierten, dass Bezeichnungen wie Marktplatz oder Zentrum für die bescheidene Anhäufung von Büros, Geschäften und Gaststätten benutzt wurden.
Das lag daran, dass die Besucher nichts verstanden. Sie dachten nicht daran, wie viele Kilometer menschenleerer Straßen es waren von den hintersten Häusern im Adventdalen bis zu den Kränen am Kohlekai. Sie achteten nicht auf die Schatten, die tief auf die Häuser in Blåmyra und auf Skjaeringa fielen. Und sie hatten die Spuren des einen oder anderen Eisbären vergessen, der durch die Stadt gestapft war, auf dem Weg zu eisbedeckten Fjorden, lautlos und fast unsichtbar vor dem fallenden Schnee. Die Einwohner wussten, dass es auch im kleinsten Dorf ein Zentrum gab, in dem es erlaubt war, sich zu entspannen und sicher zu fühlen. Und mitten im Zentrum, zwischen all den Lichtern und dem friedlichen Fußweg, da lagen Kindergarten und Krankenhaus. Niemand hatte hier jemals eine Eisbärenspur gesehen.
Der Weg begann am Polarhotel, führte weiter über den Marktplatz, wo die lebensecht wirkende Bronzestatue von Grubenarbeitern mit Schutzhelmen auf den Köpfen und den Spaten in der Hand stand, zog sich weiter vorbei an dem neuen Base-camp-Haus, das mit seinem seidengrauen Naturpaneel aus Treibholz protzte, er wurde breiter zwischen Rabiesbua und einem Laden, der Sportausrüstung verkaufte, und verschwand zum Schluss im Hilmar Rekstens vei, wo den Fußgängern nicht einmal mehr ein Bürgersteig blieb, auf dem sie sicher hätten weitergehen können. Denn die Bürgersteige, die wurden von den Schneescooterfahrern benutzt.
Der Fußweg wurde nicht groß begangen, höchstens jeweils das kurze Stück vom Parkplatz am Büro der Spitzbergen-Post bis zu dem Gebäude, das Post und Bank beherbergte. Immer mehr Menschen fuhren mit dem Auto zur Arbeit. Ihre Beine benutzten fast nur noch Hundebesitzer und Jogger.
Die dunkle Zeit war auch nicht mehr so wie früher. Früher konnte man andere ständige Einwohner auf der Straße treffen und sich mit ihnen unterhalten. Alle wussten, wer unterwegs war, wohin jeder gegangen war, und im Großen und Ganzen überhaupt, was so vor sich ging. Jetzt war es schwieriger geworden, alles mitzubekommen. Die Polarnacht hatte den Rand der Stadt zurückerobert.
»Hast du Ella gefunden?« Die Erzieherin, die für die größeren Kinder verantwortlich war, war lautlos auf Strumpfsocken in den Flur gekommen und stand plötzlich neben ihr.
Die Kindergartenleiterin zögerte. Sie wollte ihre Angestellte nicht unnötig beunruhigen. »Draußen vor der Treppe waren Spuren von Kinderschuhen, aber sie kann ja nicht ... und selbst wenn sie irgendwie das Schloss von innen aufgekriegt hätte, würde sie es nicht schaffen, es wieder von außen zu schließen. Da oben kommt sie gar nicht dran. Aber natürlich kann ein Erwachsener ...« Sie sah bedrückt ihre Angestellte an. »Hast du alle Räume durchsucht? Auch die Toiletten?«
»Ich war überall. Und ich habe auch ihren Vater angerufen. Aber der ist nicht ans Handy gegangen. Er ist wohl unter Tage.«
»Hast du Tone etwas gesagt?« Die Leiterin schaute sich eilig um.
»Nein, die ist bei den Kleinen. Sie sieht ausnahmsweise mal richtig zufrieden aus. Ich habe nicht das Herz gehabt, ihr zu sagen, dass ihre Tochter sich davongeschlichen hat, wieder einmal. Letztes Mal war sie ganz außer sich.«
Die Kindergärtnerin hob einen Handschuh vom Boden auf und legte ihn ins Regal. »Hast du eine Idee, wo sie abgeblieben sein könnte? Ich bin der Meinung, dass ich wirklich überall gesucht habe. Sogar im Besenschrank.«
Sie schauten einander wortlos an.
Der Mann hinter dem Schneewall war sich sicher, dass ihn niemand sehen konnte. Er dachte an die Kinder und deren rote Bäckchen. Rote Nasen und Wangen und das leise Schnauben, wenn sie die nassen Tropfen auf der Oberlippe hochzogen. Die unbeholfenen Bewegungen in den Schneeanzügen und die glänzenden Augen, die ihn offen und neugierig anschauten. Als wäre er nicht anders als die anderen Erwachsenen, die ihnen begegneten. Er sehnte sich danach, die kleinen Körper an sich zu drücken. Aber er streckte nicht einmal die Hand aus, um sie an ihren eifrigen Gesichtern zu berühren.
Die Kinder liebten seine Süßigkeiten, aber es gelang ihm trotzdem nicht, sie zu überreden, auf die andere Seite des Zauns zu kommen. Und selbst auf den Spielplatz zu klettern, das traute er sich nicht. Er konnte die Gestalten hinter den hell erleuchteten Fenstern des Kindergartens hin und her gehen sehen. Einmal war eine der Frauen lange hinter einer Gardine gestanden und hatte in seine Richtung geblickt. Er war wie zu Eis erstarrt und hatte gehofft, dass er mit dem Schatten hinter dem Schneewall verschmolz.
Nichts war passiert. Keine Tür war aufgerissen und gegen die Hauswand gedonnert worden. Keine wütenden Stimmen hatten ihn quer über den Spielplatz angeschrien und gefragt, was er da treibe.
Die Stunden vergingen. Der Mann hinter dem Schneewall fror, aber er rührte sich trotzdem kaum von der Stelle. Und plötzlich war er verschwunden.
Die Leiterin des Kindergartens zog sich warme Kleidung und Stiefel an und ging hinaus auf die Treppe auf der Rückseite des Hauses. Vor ihr lag der Spielplatz mit seinen Rutschen, Schaukeln und dem Klettergerüst. In den blauen Schatten am Zaun zur Straße lag ein vergessenes Rutschbrett. Ella war nicht zu sehen. Sie rief ihren Namen vorsichtig, fast ein wenig verlegen. Wenn nun jemand des Weges kam? Was sollten die Leute denken, wenn sie sie hier stehen sahen und ins Blaue rufen? Ihre Stimme trug nicht weit. Es war, als gäbe sie auf halbem Weg über den Platz auf und sänke hinab in den Neuschnee.
Der Schuppen lag im Schatten. Die Tür war mit einem rostigen alten Metallhaken verschlossen. Den hätte Ella nicht allein öffnen können. Aber wenn nun eines der Kinder sie da drinnen eingesperrt hatte? Und niemand gehört hatte, wie sie um Hilfe rief? Die Leiterin schob all die schrecklichen Alternativen zur Seite, als sie schnelle Schritte die Treppe hinunterlaufen hörte.
...
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Er hockte sich hinter einen großen Schneewall und bewegte sich vorsichtig auf den Knien voran. Hinter ihm lagen weitere Schneewehen, die die Straße hinauf zu den Häusern von Blåmyra verdeckten, dort, wo die Junggesellen der Bergbaugesellschaft wohnten. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, doch die Scheinwerferlichter erreichten ihn nicht. In der letzten halben Stunde war kein Fußgänger vorbeigekommen. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand bemerkte, dort, wo er hockte. Er selbst dagegen hatte freie Sicht.
Es war schneidend kalt. Er zog sich die Kapuze fest ums Gesicht und drückte die Pelzkrempe dicht an die Stirn. Nach einer Weile begann sich unten etwas zu regen. Kleine Gestalten tapsten und krabbelten in den Schnee hinaus, der im Laufe der Nacht gefallen war. Er hielt konzentriert Ausschau und entdeckte fast sofort, wonach er suchte. Seine Augen verengten sich vor Freude. Das kleine Bärchen spielte heute auch draußen. Die Kleine kullerte einen Abhang hinunter und war sofort voller Schnee. Sie schaffte es, sich aufzurappeln, fiel wieder hin und geriet außer Sicht, kam aber schnell wieder zum Vorschein. Zwei Kaninchen hüpften und rutschten auf sie zu. Das eine Kaninchen war grün, eines seiner Ohren war halb abgerissen, so dass es über der Wange baumelte. Das andere war blau. Er schaute ihnen noch lange, nachdem sie hinter einem Schuppen am anderen Ende des Spielplatzes verschwunden waren, nach.
Nach ein paar Minuten rutschte er näher. Er wusste, dass sie hinter dem Schuppen über den Zaun klettern konnten. Hier hatte sich eine so hohe Schneewehe aufgetürmt, dass selbst die Kleinsten es über den Zaun schafften. Aber sie wollten nicht immer. Manchmal blieben sie auch nur stehen und schauten ihn mit ihren glänzenden, fragenden Augen an - als verstünden sie nicht, was er wollte, wenn er ihnen zuwinkte, damit sie näher kämen.
Traute er sich heute, ihnen etwas zu essen zu geben - vielleicht eine Apfelsine? Nein, dazu war es zu kalt. Es war wohl das Sicherste, bei Süßigkeiten zu bleiben. Die mochten sie immer. Er zog sich einen Handschuh aus und wühlte in den tiefen Taschen.
Auf der anderen Seite des Hauses stand die Leiterin des Kindergartens zitternd vor Kälte oben auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür. Sie schaute ängstlich den Fußweg hinauf, der am Kindergarten vorbeiführte. Es war Ende Februar und der Himmel deutlich heller als noch vor ein paar Tagen. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne zum ersten Mal im Jahr zu sehen sein. Die Berge um die kleine Polarstadt herum ragten hoch auf und verschwanden in einem Märchenland von Wolken in Rot und Gelb. Aber die Häuser von Longyearbyen lagen immer noch in tiefen blauen Schatten.
Die Kindergartenleiterin fror in ihrem grob gestrickten Pull over, blieb aber trotzdem draußen stehen und spähte besorgt den Weg zu dem kleinen Markt mit all seinen Lichtern hinauf. Einzelne Gestalten huschten in die Geschäfte oder stolperten aus ihnen heraus, die wenigsten blieben stehen, um sich miteinander zu unterhalten. In der ruhigen kalten Luft waren alle Geräusche deutlich zu hören, wenn auch gedämpft - als wären sie in einer kleinen Schachtel eingefangen.
Wo war dieses anstrengende Mädchen geblieben? War es ihr tatsächlich gelungen, auszubüchsen? Die Leiterin konnte eine gewisse Unruhe nicht abschütteln, gleichzeitig fragte sie sich, wie es Ella gelungen sein sollte, die Außenpforte zu öffnen. Schließlich war sie ganz oben, außer Reichweite von kleinen Kinderfingern, mit einem Schnappschloss versehen. Nein, sie würde sicher wieder auftauchen, genau wie auch die anderen Kinder im Laufe des Winters immer wieder aufgetaucht waren. Es war nur so ärgerlich, nicht zu wissen, wo sie sich versteckten. Und ganz und gar unerklärlich, wie es ihnen gelungen sein sollte, eine Ecke zu finden, in der sie nicht entdeckt wurden. Nicht unbedingt beängstigend. So weit wollte sie nicht gehen. Aber ärgerlich, das schon.
Der Kindergartenleiterin war allerdings klar, dass sie etwas sah, was sie beunruhigte. Auf dem Fußweg hinunter zum Polarhotel verlief eine deutliche Spur. Oder besser gesagt: verliefen zwei Spuren. Eine schnurgerade Linie aus Abdrücken von Erwachsenenschuhen. Und daneben winzig kleine Abdrücke von Kinderschuhen, die sich ab und zu mit den Spuren der großen Schuhe verflochten. Konnte jemand Ella abgeholt und mitgenommen haben, ohne Bescheid zu sagen? In diesem Fall wollte sie persönlich dafür sorgen, dass es das letzte Mal war, dass diese Person sich so unüberlegt verhielt. Die Leiterin war in dieser Hinsicht sehr streng. Sie verlangte rechtzeitig darüber informiert zu werden, wenn jemand anderes als die Eltern die Kinder abholten.
Sie sahen friedlich aus, die beiden Perlenketten von Fußabdrücken, die in den Neuschnee gedrückt waren. Von keinem Windstoß verwischt, zeichneten sie sich perfekt in den Lichtkegeln der Straßenlaternen ab. Der Weg war menschenleer, er führte an dem neuen Krankenhaus vorbei, das in beruhigendes hellgelbes Licht getaucht, direkt gegenüber vom Kindergarten lag. Die Spuren folgten den Schneewällen, so weit sie sehen konnte. Aber inzwischen hatte es wieder angefangen, sacht zu schneien. Kleine Eisnadeln rieselten aus dem blauen Licht herab und drehten sich unentschlossen hin und her. Bald würden die Spuren verschwunden sein.
Die Kindergartenleiterin seufzte und betrat den vollgestopften Flur, in dem bunte Kinderkleidung in den niedrigen Fächern lag und an den Haken hing. Die Kinder waren wegen der Kälte früh wieder vom Spielplatz hereingeholt worden. Ellas Schneeanzug hing nicht an ihrem Haken, aber das musste nichts bedeuten. Die Kinder ließen ihre Sachen einfach überall liegen. Aber Ellas braune Bärenmütze mit den Puschelohren lag auch nicht in ihrem Fach. Und die Stiefel waren nirgends zu entdecken. Ella war so stolz auf die Mütze und ihre rosa Fellstiefel mit dem weißen Pelzrand. Niemand sonst hatte so welche. Es war das Geschenk einer geliebten Oma aus dem Süden, und sie würde sie niemals vergessen. Die Kindergartenleiterin dachte, wenn sie Mütze und Stiefel fände, dann wäre Ella sicher auch nicht weit.
Der Kindergarten lag im Zentrum von Longyearbyen. Die ständigen Bewohner sagten das ohne jede Form von Ironie. Es waren nur die Touristen, die sich darüber amüsierten, dass Bezeichnungen wie Marktplatz oder Zentrum für die bescheidene Anhäufung von Büros, Geschäften und Gaststätten benutzt wurden.
Das lag daran, dass die Besucher nichts verstanden. Sie dachten nicht daran, wie viele Kilometer menschenleerer Straßen es waren von den hintersten Häusern im Adventdalen bis zu den Kränen am Kohlekai. Sie achteten nicht auf die Schatten, die tief auf die Häuser in Blåmyra und auf Skjaeringa fielen. Und sie hatten die Spuren des einen oder anderen Eisbären vergessen, der durch die Stadt gestapft war, auf dem Weg zu eisbedeckten Fjorden, lautlos und fast unsichtbar vor dem fallenden Schnee. Die Einwohner wussten, dass es auch im kleinsten Dorf ein Zentrum gab, in dem es erlaubt war, sich zu entspannen und sicher zu fühlen. Und mitten im Zentrum, zwischen all den Lichtern und dem friedlichen Fußweg, da lagen Kindergarten und Krankenhaus. Niemand hatte hier jemals eine Eisbärenspur gesehen.
Der Weg begann am Polarhotel, führte weiter über den Marktplatz, wo die lebensecht wirkende Bronzestatue von Grubenarbeitern mit Schutzhelmen auf den Köpfen und den Spaten in der Hand stand, zog sich weiter vorbei an dem neuen Base-camp-Haus, das mit seinem seidengrauen Naturpaneel aus Treibholz protzte, er wurde breiter zwischen Rabiesbua und einem Laden, der Sportausrüstung verkaufte, und verschwand zum Schluss im Hilmar Rekstens vei, wo den Fußgängern nicht einmal mehr ein Bürgersteig blieb, auf dem sie sicher hätten weitergehen können. Denn die Bürgersteige, die wurden von den Schneescooterfahrern benutzt.
Der Fußweg wurde nicht groß begangen, höchstens jeweils das kurze Stück vom Parkplatz am Büro der Spitzbergen-Post bis zu dem Gebäude, das Post und Bank beherbergte. Immer mehr Menschen fuhren mit dem Auto zur Arbeit. Ihre Beine benutzten fast nur noch Hundebesitzer und Jogger.
Die dunkle Zeit war auch nicht mehr so wie früher. Früher konnte man andere ständige Einwohner auf der Straße treffen und sich mit ihnen unterhalten. Alle wussten, wer unterwegs war, wohin jeder gegangen war, und im Großen und Ganzen überhaupt, was so vor sich ging. Jetzt war es schwieriger geworden, alles mitzubekommen. Die Polarnacht hatte den Rand der Stadt zurückerobert.
»Hast du Ella gefunden?« Die Erzieherin, die für die größeren Kinder verantwortlich war, war lautlos auf Strumpfsocken in den Flur gekommen und stand plötzlich neben ihr.
Die Kindergartenleiterin zögerte. Sie wollte ihre Angestellte nicht unnötig beunruhigen. »Draußen vor der Treppe waren Spuren von Kinderschuhen, aber sie kann ja nicht ... und selbst wenn sie irgendwie das Schloss von innen aufgekriegt hätte, würde sie es nicht schaffen, es wieder von außen zu schließen. Da oben kommt sie gar nicht dran. Aber natürlich kann ein Erwachsener ...« Sie sah bedrückt ihre Angestellte an. »Hast du alle Räume durchsucht? Auch die Toiletten?«
»Ich war überall. Und ich habe auch ihren Vater angerufen. Aber der ist nicht ans Handy gegangen. Er ist wohl unter Tage.«
»Hast du Tone etwas gesagt?« Die Leiterin schaute sich eilig um.
»Nein, die ist bei den Kleinen. Sie sieht ausnahmsweise mal richtig zufrieden aus. Ich habe nicht das Herz gehabt, ihr zu sagen, dass ihre Tochter sich davongeschlichen hat, wieder einmal. Letztes Mal war sie ganz außer sich.«
Die Kindergärtnerin hob einen Handschuh vom Boden auf und legte ihn ins Regal. »Hast du eine Idee, wo sie abgeblieben sein könnte? Ich bin der Meinung, dass ich wirklich überall gesucht habe. Sogar im Besenschrank.«
Sie schauten einander wortlos an.
Der Mann hinter dem Schneewall war sich sicher, dass ihn niemand sehen konnte. Er dachte an die Kinder und deren rote Bäckchen. Rote Nasen und Wangen und das leise Schnauben, wenn sie die nassen Tropfen auf der Oberlippe hochzogen. Die unbeholfenen Bewegungen in den Schneeanzügen und die glänzenden Augen, die ihn offen und neugierig anschauten. Als wäre er nicht anders als die anderen Erwachsenen, die ihnen begegneten. Er sehnte sich danach, die kleinen Körper an sich zu drücken. Aber er streckte nicht einmal die Hand aus, um sie an ihren eifrigen Gesichtern zu berühren.
Die Kinder liebten seine Süßigkeiten, aber es gelang ihm trotzdem nicht, sie zu überreden, auf die andere Seite des Zauns zu kommen. Und selbst auf den Spielplatz zu klettern, das traute er sich nicht. Er konnte die Gestalten hinter den hell erleuchteten Fenstern des Kindergartens hin und her gehen sehen. Einmal war eine der Frauen lange hinter einer Gardine gestanden und hatte in seine Richtung geblickt. Er war wie zu Eis erstarrt und hatte gehofft, dass er mit dem Schatten hinter dem Schneewall verschmolz.
Nichts war passiert. Keine Tür war aufgerissen und gegen die Hauswand gedonnert worden. Keine wütenden Stimmen hatten ihn quer über den Spielplatz angeschrien und gefragt, was er da treibe.
Die Stunden vergingen. Der Mann hinter dem Schneewall fror, aber er rührte sich trotzdem kaum von der Stelle. Und plötzlich war er verschwunden.
Die Leiterin des Kindergartens zog sich warme Kleidung und Stiefel an und ging hinaus auf die Treppe auf der Rückseite des Hauses. Vor ihr lag der Spielplatz mit seinen Rutschen, Schaukeln und dem Klettergerüst. In den blauen Schatten am Zaun zur Straße lag ein vergessenes Rutschbrett. Ella war nicht zu sehen. Sie rief ihren Namen vorsichtig, fast ein wenig verlegen. Wenn nun jemand des Weges kam? Was sollten die Leute denken, wenn sie sie hier stehen sahen und ins Blaue rufen? Ihre Stimme trug nicht weit. Es war, als gäbe sie auf halbem Weg über den Platz auf und sänke hinab in den Neuschnee.
Der Schuppen lag im Schatten. Die Tür war mit einem rostigen alten Metallhaken verschlossen. Den hätte Ella nicht allein öffnen können. Aber wenn nun eines der Kinder sie da drinnen eingesperrt hatte? Und niemand gehört hatte, wie sie um Hilfe rief? Die Leiterin schob all die schrecklichen Alternativen zur Seite, als sie schnelle Schritte die Treppe hinunterlaufen hörte.
...
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Monica Kristensen
Monica Kristensen ist eine der bekanntesten norwegischen Polarforscherinnen, sie leitete zahlreiche Expeditionen in arktische und antarktische Gebiete. Von 1998-2003 war sie Direktorin der Kings Bay GmbH, der Kohlebergwerkgesellschaft in Ny-Ålesund auf Spitzbergen. Darüber hinaus promovierte sie an der Universität von Cambridge in Glaziologie. Für ihre Forschungsarbeiten erhielt sie mehrere bedeutende wissenschaftliche Auszeichnungen, darunter die Goldmedaille der Royal Geographical Society. "Die Suche" ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Gegenwärtig schreibt sie an ihrem vierten Krimi aus Spitzbergen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Monica Kristensen
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 336 Seiten, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Hildebrandt, Christel
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442744342
- ISBN-13: 9783442744343
- Erscheinungsdatum: 03.01.2012
Rezension zu „Suche “
"Monica Kristensen ist mit ,Suche' ein wirklich packender Krimi gelungen, der voller Spannung und dramaturgisch sehr gut erzählt ist."
Pressezitat
"Kaufen, lesen!" Peter Hetzel, Sat1 Frühstücksfernsehen
Kommentar zu "Suche"