Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6
Roman. Originalausgabe
Isabel flieht mit den Wandlern aus Lees Labor. Der sinnt sogleich auf Rache und verfolgt sie bis zu einer Auswilderungsstation in Namibia.
"Ausgefeilte Charaktere, ein interessanter Hintergrund und nicht zuletzt zärtliche und...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Taschenbuch
10.30 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6 “
Isabel flieht mit den Wandlern aus Lees Labor. Der sinnt sogleich auf Rache und verfolgt sie bis zu einer Auswilderungsstation in Namibia.
"Ausgefeilte Charaktere, ein interessanter Hintergrund und nicht zuletzt zärtliche und stürmische Leidenschaft."
FANTASYGUIDE
Klappentext zu „Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6 “
Nach der Flucht der gefangenen Wandler aus seinem Labor sinnt der Geschäftsmann Lee auf Rache. Die Gelegenheit bietet sich ihm, als er die Flüchtigen in einer Auswilderungsstation in Namibia aufspürt. Vor anderthalb Jahren hatte der Wandler Harken die Station verlassen, um die Leiterin Mia zu schützen. Nun ist die Löwenwandlerin dennoch ins Blickfeld seines Feindes geraten. Harken bleibt keine Wahl, als zurückzukehren und die Frau zu retten, die er liebt -
Lese-Probe zu „Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6 “
Ghostwalker - Tag der Rache von Michelle Raven1
Namibia
... mehr
Ein leises Rascheln riss ihn aus dem Schlaf. Leon hob den Kopf und sah sich aufmerksam um. Es dauerte einen Moment, bis er sich daran erinnerte, dass er etliche Kilometer von seinem angestammten Gebiet entfernt war. Sein Blick glitt über die von der Abendsonne rötlich gefärbte Landschaft. Zufrieden ließ er den Kopf auf seine Pfoten sinken und genoss den Anblick der sich im Wind biegenden Gräser unter dem in allen Rottönen leuchtenden Himmel. Er liebte seine Heimat und konnte sich nicht vorstellen, Namibia jemals zu verlassen. Auch wenn das versteckte Leben eines Wandlers nicht einfach war, besonders mit seinen speziellen Fähigkeiten, ließ er sich seine Freude an der Natur nicht nehmen.
Er hatte das Gefühl, dass seine Gaben ihn dazu verpflichteten, sie für andere Wandler einzusetzen und zu versuchen, die verschiedenen Wandlergruppen und -arten zu vereinen. Meistens übernahm er diese selbstgewählte Aufgabe gern, doch ab und zu brauchte er eine Auszeit. Er liebte es, dann tun zu können, wozu er Lust hatte. Zumindest offiziell, denn auch diese Zeit nutzte er stets, um Kontakt zu anderen Wandlergruppen aufzunehmen. Meist beobachtete er sie erst einige Tage, bevor er entschied, wie sie darauf reagieren würden, ihn zu sehen. Für die meisten Wandler war er nur ein Mythos, niemand, der wirklich existierte. Entsprechend ungläubig bis feindselig fielen die Reaktionen aus, wenn er sich zu erkennen gab.
Leon drehte sich auf den Rücken und ließ den warmen Wind über seinen Bauch streichen. Eigentlich war er mit seinem Leben zufrieden, doch in letzter Zeit fühlte er sich zunehmend einsam. Alle anderen in seiner Gruppe waren reine Löwenwandler - auch seine Eltern - und das machte ihn zu einem Außenseiter. Wer wollte schon gerne mit jemandem zusammen sein, der sich jederzeit in Luft auflösen konnte? Und der so oft unterwegs war, dass er manchmal wochenlang nicht zu seiner Gruppe zurückkehrte. Also hielt er sich meist von den anderen fern und versuchte, seinen Platz im Leben zu finden. Ob er wirklich nur ein Zufallsprodukt war, eine Abnormität? Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Bisher hatte er jedenfalls noch niemanden gefunden, der so war wie er. Auch das war ein Grund, immer neue Wandlergruppen aufzuspüren: zu erfahren, ob es noch andere wie ihn gab.
Als wäre es nicht schon schwierig genug, in der heutigen Zeit ein normaler Wandler zu sein. Immer öfter kamen Touristen, Geologen auf der Suche nach Rohstoffvorkommen oder Landentwickler in abgelegene Gebiete und bedrohten das geheime Leben seiner Art. Mehr als einmal hatte es schon Zusammenstöße gegeben, die in seltenen Fällen auch tödlich endeten - meist für die Wandler, weil sie davor zurückschreckten, Menschen zu töten. Schließlich war zumindest ein Teil von ihnen auch Mensch.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sich Leon auf den Bauch und erhob sich. Er schüttelte den Sand aus seiner Mähne und gähnte herzhaft. Auch wenn er nie vergaß, dass er auch ein Mensch war, fühlte er sich in Löwenform freier und zufriedener. Die Probleme schienen dann weiter entfernt. Das war zwar nur eine Illusion, aber er war nicht bereit, seine Auszeit durch die Realität stören zu lassen.
Wieder raschelte es in den Gräsern und Leon hob witternd die Nase. Doch es war keine Antilope oder ein anderes Beutetier, sondern ein Mensch. Stocksteif blieb er stehen, während sein Instinkt ihn zu Flucht oder Angriff drängte. Vielleicht war es einer von diesen Naturfilmern, die ständig irgendwo auftauchten, um Wildtiere auf Film oder Foto zu bannen. Meist spielten die Wandler dann einfach mit, bis sie wieder verschwanden. Doch diesmal hatte Leon keine Lust. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben, war das zu viel verlangt? Während er direkt dorthin blickte, wo er den Mann witterte, stieß er ein lautes Brüllen aus, das jeden vernünftigen Menschen in die Flucht schlagen sollte.
»Worauf wartet ihr noch? Los, bevor er abhaut!«
Leon erstarrte, als er die Stimme irgendwo hinter sich hörte. Anscheinend hatten sich mehrere Menschen unbemerkt an ihn herangeschlichen. Die Überraschung kostete ihn wertvolle Sekunden, bevor er sich herumwarf und losrannte. Er wollte es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen, wenn er nicht wusste, wie viele Gegner es waren und was sie überhaupt von ihm wollten. Es hatte sich jedenfalls nicht so angehört, als handelte es sich um harmlose Touristen, die sich mit einem Foto zufriedengeben würden.
Wenn er es schaffte, zwischen den Büschen in einiger Entfernung zu verschwinden, konnte er sich verwandeln und ihnen damit entgehen. Sein Atem klang laut in seinen Ohren, als er tief geduckt durch das hohe Gras lief. Sein Herz hämmerte im Takt seiner Schritte, Adrenalin breitete sich in seinem Körper aus. Wäre er in seinem Gebiet gewesen, hätte er Dutzende verschiedene Wege gekannt, um ungesehen zu verschwinden. Doch hier war er zum ersten Mal, sodass er sich nur auf seinen Instinkt verlassen konnte.
Um sich herum hörte er die lauten Stimmen seiner Verfolger. »Fangt ihn, schnell!«
»Da hinten ist er!«
»Haltet ihn auf!«
Ein Mann stellte sich ihm in den Weg, die Augen weit aufgerissen, seine Angst deutlich zu riechen. Mit einem wütenden Knurren wich Leon im letzten Moment aus. Dadurch verlor er für einen Augenblick sein Gleichgewicht, bevor er sich wieder fing und Tempo aufnahm. Gerade als er dachte, er hätte seine Verfolger abge hängt, traf ihn etwas an der Seite und seine Muskeln reagierten plötzlich nicht mehr. Seine Schritte wurden langsamer, schwankender, bis er schließlich umfiel. Der Sand war noch warm von der Sonne, als seine Wange darauf landete. Vergebens versuchte Leon, sich wieder aufzurichten oder sich wenigstens zu verwandeln, doch da zu fehlte ihm die Kraft. So konnte er nur hilflos zusehen, wie sich ein Mann über ihn beugte und zufrieden lächelte.
»Gut gemacht, Leute. Bringt ihn zum Wagen, bevor die Betäubung nachlässt.«
Ein tiefes Grollen stieg in Leons Kehle auf, doch es drang nie an die Oberfläche. Obwohl er dagegen ankämpfte, fielen seine Augen zu. Ein letztes Mal begehrte sein Geist auf, dann versank er in der Dunkelheit.
Die Schmerzen brachten ihn schlagartig wieder zu Bewusstsein. Mühsam schlug Leon die Augen auf und sah sich um. Zuerst verstand er nicht, was er sah, bis er realisierte, dass er kopfüber an einem Gestell hing, das von vier Männern getragen wurde. Seine Beine waren in Höhe der Pfoten mit rauen Seilen an langen Holzstangen befestigt, sein Rücken kam immer wieder mit Dornen und Steinen in Berührung, der Schwanz schleifte auf dem Boden. Das erklärte zumindest die Schmerzen. Seine Pfoten waren bereits taub, weil die Blutzirkulation durch die engen Schnüre und sein Eigengewicht abgeschnitten war. Selbst wenn ihn jemand in diesem Moment losgeschnitten hätte, wäre er vermutlich nicht in der Lage gewesen wegzulaufen. In seine Wut mischte sich Furcht.
Was wollten diese Menschen von ihm? Waren es Jäger, die sich damit brüsten wollten, einen Löwen gefangen zu haben? Würden sie ihn in einem Gebiet aussetzen, in dem es keine Deckung gab und wo sie ihn ohne Probleme abschießen konnten, wie er es von einigen Jägern gehört hatte? Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Einer der Träger blickte sich zu ihm um und riss die Augen auf, als er sah, dass Leon wach war.
»Achtung!« Er sprach Oshivambo, die Sprache der Ovambo, einer einheimischen Bevölkerungsgruppe im Norden Namibias.
Die Männer hielten an und einer stieß einen lauten Pfiff aus. Schnell versammelte sich eine Gruppe Menschen um ihn, einige von ihnen Weiße, und Leon bemühte sich, seine Unruhe nicht zu zeigen. Stattdessen öffnete er sein Maul und ließ sie seine Reißzähne sehen. In jeder anderen Situation hätte er es lustig gefunden, wie schnell die Männer vor ihm zurückwichen. Befriedigt stieß er ein weiteres Grollen aus.
Ein älterer Mann in einem völlig deplatziert wirkenden Anzug trat dicht an ihn heran. Im Gegensatz zu den anderen schien er keine Angst vor seinem Gefangenen zu haben. Im Gegenteil, er lächelte ihn zufrieden an.
»Sehr gut, du bist wach, ich hatte schon befürchtet, die Betäubung wäre zu stark gewesen.«
Verwundert starrte Leon ihn an. Warum redete der Kerl mit ihm, als könnte er ihn verstehen? Er war ein Löwe! Kein Mensch wusste, dass er ein Wandler war, und selbst wenn, wie sollten sie ihn von einem normalen Löwen unterscheiden können? Leon bemühte sich, dem Mann keinerlei Reaktion auf seine Worte zu zeigen.
Der lachte nur. »Ich sehe schon, es wird ein wenig dauern, dich dazu zu bringen, mir das zu geben, was ich will. Aber es wird mir gelingen, das ist sicher. Es wäre einfacher für dich, wenn du mitspielst.« Er gab den Trägern ein Zeichen, weiterzugehen, bevor er sich noch einmal an Leon wandte. »Du hast noch ein wenig Zeit, bis wir am Zielort sind. Überleg es dir.«
Er konnte sich nicht erklären, was der Mann von ihm wollte. Oder woher er überhaupt wissen konnte, dass er kein normaler Löwe war. Seit Tagen hatte er sich in keiner Stadt mehr aufgehalten. Sein Atem stockte, als ihm die Familie einfiel, der er morgens begegnet war. Das kleine Mädchen war von einem Baum gefallen und hatte eine stark blutende Wunde am Bein davongetragen. Er hatte sie dort weinend gefunden und sich ihr langsam in Löwenform genähert. Anstatt sich vor ihm zu fürchten, hatte sie ihn nur mit großen Augen angesehen, während er über die Wunde leckte, um den Selbstheilungsprozess zu beschleunigen. Dann war er von den Eltern des Mädchens entdeckt worden und sie hatten ihn verjagt.
Vermutlich hatten diejenigen, die ihn gefangen genommen hatten, die Familie getroffen und von seinem seltsamen Verhalten gehört. Es war gefährlich, sich mit Menschen einzulassen, doch wie hätte er zusehen können, wie das Kind litt, wenn er in der Lage war, die Schmerzen zu lindern? Die Wunde war einige Stunden später sicher verheilt gewesen.
Aber letztlich spielte es keine Rolle. Wichtig war nur, dass er diesem Fremden möglichst schnell wieder entkam. Nur wie? Vor den Augen der Männer wollte er sich nicht verwandeln, auch wenn ihm das kurzfristig helfen würde. Er konnte nicht zulassen, dass die Menschen Zeugen seiner Fähigkeiten wurden, das würde nur zu noch ernsteren Problemen führen. Auch wenn er am liebsten sofort geflohen wäre, musste er damit warten, bis er unbeobachtet war. Sonst würde er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie und alle anderen Wandler in Gefahr bringen. Das konnte er nicht riskieren, auch wenn es ihn noch so sehr nach Freiheit verlangte. Leon biss die Zähne zusammen, als sich die Träger wieder in Bewegung setzten und sich die Seile mit jedem Schritt tiefer in seine Haut gruben. Beinahe wünschte er sich, immer noch bewusstlos zu sein.
Leon verlor jedes Zeitgefühl, während er durch die Dunkelheit getragen wurde. Seine Katzenaugen erlaubten es ihm, alles genau zu sehen, doch seine Träger stolperten immer wieder und ließen ihn einmal sogar fallen. Von dem Sturz und der Anspannung tat ihm jeder Muskel im Körper weh. Nach scheinbar unendlich langer Zeit - es konnten Minuten oder Stunden gewesen sein - stoppten sie schließlich und setzten ihn auf dem Boden ab. Diesmal etwas sanfter, aber einen rauen Laut konnte er dennoch nicht verhindern.
»Schlagt das Lager auf, wir werden hier übernachten!« Die befehlsgewohnte Stimme des Anführers hallte durch die nächtliche Landschaft.
Leon beobachtete wie ehemals weiße, jetzt mit rotem Sand bedeckte Schuhe näher kamen. Der Mann hockte sich neben ihn und begutachtete seine Verletzungen. »Nehmt ihn von dem Gestell ab. Ich will nicht, dass er irreparabel beschädigt wird - zumindest noch nicht.«
Wie nett. Aber Leon beschwerte sich nicht, denn mehr als alles andere wollte er endlich wieder seine Beine bewegen können. So rührte er sich nicht, als einer der Ovambo die Seile löste und das Blut wieder in seine Pfoten gelangte. Sein Atem stockte, als ein scharfes Stechen und Prickeln einsetzte.
»Leider ist das nötig, weil ich weiß, dass du die erstbeste Gelegenheit zur Flucht nutzen würdest.« Er wandte sich zu dem Ovambo um. »Fessel alle vier Beine zusammen, aber ohne den Blutfluss abzuschneiden. Keine Betäubung. Es reicht, wenn er nicht laufen kann.«
Leon unterdrückte einen Schmerzensschrei, als seine Beine vor dem Körper zusammengebunden wurden. Auf der Seite liegend hatte er so keine Möglichkeit, aufzustehen. Vor allem fehlte ihm nach der Betäubung und der Tortur des langen Weges noch die Kraft, etwas gegen seinen Peiniger zu unternehmen. Schwer atmend sah er zu, wie der Anführer den Männern Befehle erteilte und sich dann am Lagerfeuer niederließ, während Zelte aufgebaut und Essen gekocht wurde. Leon kannte sich damit nicht aus, aber eine solche Expedition musste viel Geld kosten, zumal in dieser Gegend die Jagd auf Wildtiere verboten war und der Auftraggeber sich gleichzeitig auch das Schweigen der Männer erkaufen musste. Anscheinend hatte sein Gegner also viel Geld. Aber das erklärte noch nicht, wie er ihn hatte finden können und woher er wusste, dass er ihn verstehen konnte. Oder hatte er bereits andere Wandler eingefangen und dazu gebracht, sich zu verwandeln? Sein Magen zog sich zusammen, als er darüber nachdachte, was das für seine Spezies bedeuten würde.
Der Geruch des Essens stieg in seine Nase und ließ das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen und das rächte sich jetzt. Aber er hatte ja nicht ahnen können, dass er den Abend in Gefangenschaft verbringen würde. Seine Hoffnung, dass er in einem unbeobachteten Moment entkommen konnte, verflog. Ständig saß einer der Männer bei ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Bei dem ersten machte er sich einen Spaß daraus, ihm Angst einzujagen, aber selbst dazu hatte er irgendwann keine Lust mehr. Auch wenn seine Pfoten jetzt wieder durchblutet waren, wusste er, dass es ihm schwerfallen würde zu laufen. Durch die unnatürliche Haltung waren seine Muskeln steif geworden und damit war eine schnelle Flucht ausgeschlossen.
Doch würde seine Kraft ausreichen, um seine Gabe zu nutzen und sich lange genug unsichtbar zu machen? Es kostete jedes Mal einen immensen Aufwand an Energie, seine Moleküle auseinanderzusprengen und später wieder zusammenzusetzen. Also musste er seine Kraft sparen, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Leon legte den Kopf zurück ins Gras und schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt, durch den er die Menschen beobachten konnte.
Nach dem Essen gönnte sich der Anführer noch eine stinkende Zigarre, bevor er aufstand und sich vor Leon aufbaute. Seine Lakaien schickte er weg, sie waren allein. »So, dann wollen wir mal sehen, ob wir den Richtigen erwischt haben. Meine Kontakte sagen mir, dass du derjenige bist, den sie den Heilsbringer nennen, stimmt das?«
Leon rührte sich nicht, obwohl sein Herz schneller pochte. ›Heilsbringer‹ war er von den Einwohnern einer kleinen Siedlung genannt worden, nachdem er vor einigen Monaten deren Schamanen geholfen hatte, der sich bei einer Zeremonie in der Steppe schwer verbrannt hatte. Vielleicht hätte Leon das nicht tun sollen, aber der Mann wäre ohne Behandlung sicher gestorben. Deshalb hatte Leon sich ihm vorsichtig in Löwenform genähert und über die Brandwunden geleckt, um die Selbstheilungsprozesse zu beschleunigen. Er war einige Tage bei dem fiebernden Mann geblieben und erst gegangen, nachdem er sicher war, dass er durchkommen würde.
Der Schamane, der trotz seines Zustands die Behandlung mitbekommen hatte, bestand später darauf, dass Leon ein Heilsbringer war und göttliche Kräfte haben musste. Wahrscheinlich glaubte er an die alten Legenden, die von Tiermenschen mit heilenden Fähigkeiten berichteten. Hatte der Schamane diesem Verbrecher womöglich davon erzählt und der hatte seine Schlüsse daraus gezogen? Denn so, wie er mit Leon sprach, schien sein Entführer zumindest zu ahnen, dass er weit mehr war als ein normaler Löwe.
Durch die Augenschlitze sah er, wie der Mann sich bückte und einen langen Stock aufhob. Seine Muskeln zogen sich in Erwartung dessen, was jetzt kommen würde, zusammen. Beinahe spielerisch stupste ihm der Anführer in die Seite.
»Sicher, dass du nicht mit mir reden willst? Es wäre für dich bedeutend angenehmer, glaub mir.«
Wieder reagierte Leon nicht auf die Worte seines Gegners und erntete dafür einen Schlag auf die Rippen. Sein Kopf ruckte hoch und er stieß ein warnendes Brüllen aus.
Der Mensch zeigte sich davon unbeeindruckt. »Du kannst mir glauben, dass ich die Sache lieber auf zivilisierte Weise regeln möchte. Aber ich werde alles tun, was nötig ist, um mein Ziel zu erreichen.« Etwas wie Verzweiflung blitzte für einen Sekundenbruchteil in seinem Gesicht auf, machte aber sofort wieder der überheblichen Miene Platz. »Es ist zu wichtig.«
Was auch immer der Kerl erreichen wollte, Leon hatte nicht vor, dabei mitzuspielen. Erst recht nicht, wenn er dafür seiner Freiheit beraubt wurde. Einige der Ovambos blickten aus einiger Entfernung unbehaglich zu ihnen hinüber. Sie waren zu weit weg, um zu hören, was der Verbrecher sagte und hatten anscheinend nicht vor, helfend einzugreifen. Vermutlich hielten sie ihn für verrückt, mit einem Tier zu reden.
Der Weiße krempelte sich die Ärmel hoch. Sein Blick löste sich dabei keine Sekunde von Leons. »Letzte Gelegenheit. Ich bekomme sowieso, was ich will, aber es muss nicht wehtun.« Als er sich nicht rührte, seufzte der Mann tief auf. Er winkte einen seiner weißen Kumpane herbei. »Leg einen Eisenstock zwischen die Kohlen.« Mit einem Grinsen entfernte sich der Mann wieder.
Leon versuchte gegen die Trockenheit in seinem Mund anzuschlucken. Es hörte sich nicht so an, als würde der Mensch in absehbarer Zeit von ihm ablassen. Aber bei so vielen Zeugen konnte er sich nicht verwandeln und verschwinden, deshalb musste er wohl oder übel ertragen, was ihm angetan wurde, ohne etwas dagegen ausrichten zu können.
Sein Gegner stieß ihm den Stock in den Bauch. Leon krümmte sich zusammen, doch der Schmerz ließ nur langsam nach. Hechelnd presste er seine Wange in den Sand und bemühte sich, wieder Luft zu bekommen. Seine Beine zuckten hilflos in dem Versuch, den Fesseln zu entkommen.
»Also noch mal von vorne: Ich möchte wissen, ob du derjenige bist, den sie den Heilsbringer nennen. Du brauchst dich nur zu verwandeln und mir zu antworten und schon höre ich auf. Wenn du dich gut benimmst, lasse ich dich sogar wieder frei, wenn die Sache erledigt ist.«
Ja, sicher. Leon konnte gerade noch ein Schnauben unterdrücken, das ihn verraten hätte. Stattdessen schloss er die Augen und ignorierte seinen Peiniger. Allerdings gelang ihm das nicht lange, denn nach einigen weiteren Schlägen auf seine Beine und Pfoten kam der Lakai mit einem an der Spitze glühenden Metallstab zurück. Nachdem er dicke Handschuhe übergezogen hatte, stellte der Anführer sich mit der Stange vor ihn, die glühende Spitze gefährlich nah an Leons Fell. Instinktiv versuchte er, sich rückwärts zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, während sein Blick auf dem Stab lag. Automatisch zog er die Beine an, um seine empfindlichsten Stellen zu schützen.
Der Mensch lachte über seine Bemühungen. »Es ist völlig zwecklos, ich bekomme sowieso, was ich will. Aber wir können uns die wirklich schmerzhaften Gebiete auch noch ein wenig aufsparen.« Die Hand mit dem Stock senkte sich.
Ein Schauder lief durch Leons Körper, er presste die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Das heiße Eisen glitt über seine Seite und der Schmerz wurde unerträglich. Leon stieß ein Brüllen aus, das Wut und Schmerz in sich vereinte. Erschreckt wichen die Ovambos noch weiter zurück, doch das nahm Leon nur durch einen Schleier wahr. Der Geruch von verbrannten Haaren und Fleisch lag in der Luft. Nur langsam wurde er sich bewusst, dass sein Gegner den Stock angehoben hatte, und auf etwas zu warten schien.
Mühsam hob Leon seinen Kopf und grollte den Mann warnend an. Unwillkürlich trat der einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fing. Wut ersetzte den Ekel, der noch kurz davor deutlich zu sehen gewesen war. Noch einmal senkte er die Spitze des Stocks und diesmal hörte er nicht auf, bis Leon halb bewusstlos vor Schmerzen am Boden lag. Seine Seite brannte wie Feuer, doch er brachte nicht einmal die Kraft auf, den Schaden zu begutachten. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, gleichmäßig zu atmen und den Kampf gegen die Bewusstlosigkeit zu gewinnen. Er wollte diesem Sadisten nicht die Genugtuung geben, ihn besiegt zu haben. Vor allem aber durfte er die Kontrolle über seine Gestalt nicht aufgeben.
Einer der weißen Kumpane trat neben den Anführer und spuckte verächtlich in Leons Richtung. »Warum knallen wir ihn nicht einfach ab?«
Der ältere Mann drehte sich zu ihm um und versetzte ihm ohne Vorwarnung einen Fausthieb gegen das Kinn. »Ich entscheide, was mit ihm geschieht, schließlich zahle ich diese ganze Expedition. Wenn ich mitbekomme, dass du auch nur einen Finger gegen den Löwen hebst, wirst du es bereuen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Ohne ein Wort zu verlieren, drehte sich der Verlierer um und verschwand aus Leons Blickfeld.
»Du da.« Der Anführer winkte einen der Ovambo heran. »Gib dem Löwen Wasser und Futter. Aber nicht zu viel, ich möchte nicht, dass er auf dumme Ideen kommt.« Mit einem Nicken nahm dieser den Befehl zur Kenntnis. Der Verbrecher drehte sich um und nahm anscheinend erst jetzt den Menschenauflauf hinter sich wahr. »Okay, die Show ist vorbei, alle zurück an eure Plätze!«
Während sich alle im Lager verstreuten, beugte sich sein Peiniger zu Leon hinunter. »Überleg dir gut, ob du nicht doch lieber mit mir zusammenarbeiten willst. Ich habe nicht viel Zeit und bin bereit, so weit zu gehen, wie es sein muss, um das zu bekommen, was ich benötige.«
Leon hätte gerne gewusst, was genau das war, aber er würde sich sicher nicht verwandeln, um diese Frage zu stellen. Daher schloss er einfach nur die Augen und hoffte, dass der Verbrecher das als seine Antwort nahm. Anscheinend funktionierte es, denn als er das nächste Mal seine Lider hob, war der Mensch verschwunden. Dafür stand der Ovambo mit einer Schale Wasser in den Händen vor ihm. Seinem unsicheren Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er zu befürchten, dass Leon sich auf ihn stürzen würde, wenn er ihm zu nahe kam. Doch dazu war er im Moment einfach zu schwach, und außerdem hätte er sich nie schnell genug befreien können, ohne die anderen auf sich aufmerksam zu machen.
Daher blieb er still liegen und verfolgte nur mit den Augen, wie der Mann sich schließlich traute, die Schüssel in der Nähe seines Kopfes abzusetzen. Den Blick weiterhin auf Leon gerichtet, zog er sich wieder zurück. Mühsam rutschte Leon ein Stück vor und hob den Kopf. Als seine Zunge das erste Mal in das Wasser tauchte, stöhnte er genüsslich auf. Er war fast verdurstet! Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, sank er matt zurück. Wenn es schon so viel Kraft kostete, einfach nur zu trinken, wie sollte er dann fliehen können? Er würde sich irgendwo verstecken müssen, bis die Wunden verheilt waren.
Seine Muskeln zuckten und der Schmerz an seiner Seite erinnerte ihn wieder daran, dass er nun gezeichnet war und es für mögliche Verfolger noch leichter sein würde, ihn zu erkennen. Ein dumpfes Grollen stieg in seiner Kehle auf. Welches Recht hatten diese Kerle, Tiere einfach einzufangen und zu quälen? Nach seiner Sprechweise zu urteilen, kam der Anführer nicht aus dieser Gegend, vielleicht sogar nicht einmal aus Afrika. Er tauchte hier auf, wedelte mit seinem Geld und glaubte, dass er alles bekommen würde, was er wollte. Doch so leicht würde er es ihm nicht machen.
Der Ovambo kehrte mit einigen Brocken Fleisch zurück, die er Leon von weitem zuwarf, als er seinen mörderischen Blick sah. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, verschlang Leon die wenigen Bissen.
»Es tut mir leid.«
Die Worte waren beinahe ein Flüstern, aber für Leon gut zu verstehen. Er hob den Kopf und sah den Ovambo genauer an. Er roch nach Angst, doch sein Gesichtsausdruck zeugte von Stärke. Leon neigte leicht den Kopf, bevor er ihn wieder in den Sand sinken ließ und die Augen schloss.
Die nächsten Stunden döste er, während er mit einem Ohr auf die Bewegungen im Lager lauschte. Endlich war alles ruhig, die meisten Menschen waren in ihre Zelte gekrochen und schliefen. Ein paar bewachten das Lager und einer hatte den undankbaren Dienst, auf Leon aufzupassen. Schon nach wenigen Minuten fielen dem Mann die Augen zu. Jetzt! Ohne einen Laut von sich zu geben, begann Leon die Verwandlung. Durch seine Schwäche dauerte es länger als gewöhnlich, aber schließlich bestand er nur noch aus Molekülen. So konnte niemand seinen Pfotenabdrücken folgen.
Langsam bewegte er sich vorwärts und schwebte durch das Lager in die Wildnis hinaus. Erst als er in ein felsiges Gebiet kam, wo er sicher war, dass niemand seine Spuren verfolgen konnte, verwandelte er sich wieder in einen Löwen.
Die Verwandlung dauerte lange und schließlich blieb er schwer atmend auf den Felsen liegen. Er brauchte dringend Nahrung, aber in diesem Zustand würde er nicht jagen können. Also wartete er nur so lange, bis er wieder ein wenig Kraft gesammelt hatte und stemmte sich dann hoch. Ein reißender Schmerz fuhr durch seine Seite, aber er ignorierte ihn. Mit unsicheren Schritten lief er los, mehr als einmal gaben seine Beine nach und er hatte Mühe, einen Sturz zu verhindern. Nach einigen hundert Metern schaffte er es, einen Trott zu finden, der ihn wesentlich schneller vorwärtsbrachte, als er sich in unsichtbarem Zustand bewegen konnte.
Leon wusste nicht, wie weit er gelaufen war, als seine Muskeln versagten und er ohne Vorwarnung zusammensackte. Er blinzelte in den Himmel und bemerkte, dass er die ganze Nacht durchgelaufen war. Inzwischen brach der Tag an und ohne einen schattigen Platz und Wasser hatte er in der Hitze keine Überlebenschance. Doch sosehr er es auch versuchte, er schaffte es nicht, wieder auf die Beine zu kommen. Sollte er tatsächlich hier, ohne seine Familie sterben? Es machte ihn traurig, jetzt schon gehen zu müssen und seine Aufgabe nicht erledigt zu haben, aber immerhin war es ihm gelungen, diesem elenden Mistkerl zu entkommen, der ihn offensichtlich für seine Zwecke nutzen wollte. Er überlegte kurz, ob er sich in seine Menschenform verwandeln sollte, aber damit wäre er noch weniger gegen die afrikanische Sonne geschützt.
Kurz bevor sich seine Augen zum letzten Mal schlossen, glaubte er, den Ovambo, der ihm das Essen gebracht hatte, zu sehen. Doch das musste eine Täuschung sein. Niemand konnte ihm gefolgt sein. Der Schlaf überkam ihn und alles um ihn herum versank in der Bedeutungslosigkeit.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Ein leises Rascheln riss ihn aus dem Schlaf. Leon hob den Kopf und sah sich aufmerksam um. Es dauerte einen Moment, bis er sich daran erinnerte, dass er etliche Kilometer von seinem angestammten Gebiet entfernt war. Sein Blick glitt über die von der Abendsonne rötlich gefärbte Landschaft. Zufrieden ließ er den Kopf auf seine Pfoten sinken und genoss den Anblick der sich im Wind biegenden Gräser unter dem in allen Rottönen leuchtenden Himmel. Er liebte seine Heimat und konnte sich nicht vorstellen, Namibia jemals zu verlassen. Auch wenn das versteckte Leben eines Wandlers nicht einfach war, besonders mit seinen speziellen Fähigkeiten, ließ er sich seine Freude an der Natur nicht nehmen.
Er hatte das Gefühl, dass seine Gaben ihn dazu verpflichteten, sie für andere Wandler einzusetzen und zu versuchen, die verschiedenen Wandlergruppen und -arten zu vereinen. Meistens übernahm er diese selbstgewählte Aufgabe gern, doch ab und zu brauchte er eine Auszeit. Er liebte es, dann tun zu können, wozu er Lust hatte. Zumindest offiziell, denn auch diese Zeit nutzte er stets, um Kontakt zu anderen Wandlergruppen aufzunehmen. Meist beobachtete er sie erst einige Tage, bevor er entschied, wie sie darauf reagieren würden, ihn zu sehen. Für die meisten Wandler war er nur ein Mythos, niemand, der wirklich existierte. Entsprechend ungläubig bis feindselig fielen die Reaktionen aus, wenn er sich zu erkennen gab.
Leon drehte sich auf den Rücken und ließ den warmen Wind über seinen Bauch streichen. Eigentlich war er mit seinem Leben zufrieden, doch in letzter Zeit fühlte er sich zunehmend einsam. Alle anderen in seiner Gruppe waren reine Löwenwandler - auch seine Eltern - und das machte ihn zu einem Außenseiter. Wer wollte schon gerne mit jemandem zusammen sein, der sich jederzeit in Luft auflösen konnte? Und der so oft unterwegs war, dass er manchmal wochenlang nicht zu seiner Gruppe zurückkehrte. Also hielt er sich meist von den anderen fern und versuchte, seinen Platz im Leben zu finden. Ob er wirklich nur ein Zufallsprodukt war, eine Abnormität? Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Bisher hatte er jedenfalls noch niemanden gefunden, der so war wie er. Auch das war ein Grund, immer neue Wandlergruppen aufzuspüren: zu erfahren, ob es noch andere wie ihn gab.
Als wäre es nicht schon schwierig genug, in der heutigen Zeit ein normaler Wandler zu sein. Immer öfter kamen Touristen, Geologen auf der Suche nach Rohstoffvorkommen oder Landentwickler in abgelegene Gebiete und bedrohten das geheime Leben seiner Art. Mehr als einmal hatte es schon Zusammenstöße gegeben, die in seltenen Fällen auch tödlich endeten - meist für die Wandler, weil sie davor zurückschreckten, Menschen zu töten. Schließlich war zumindest ein Teil von ihnen auch Mensch.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sich Leon auf den Bauch und erhob sich. Er schüttelte den Sand aus seiner Mähne und gähnte herzhaft. Auch wenn er nie vergaß, dass er auch ein Mensch war, fühlte er sich in Löwenform freier und zufriedener. Die Probleme schienen dann weiter entfernt. Das war zwar nur eine Illusion, aber er war nicht bereit, seine Auszeit durch die Realität stören zu lassen.
Wieder raschelte es in den Gräsern und Leon hob witternd die Nase. Doch es war keine Antilope oder ein anderes Beutetier, sondern ein Mensch. Stocksteif blieb er stehen, während sein Instinkt ihn zu Flucht oder Angriff drängte. Vielleicht war es einer von diesen Naturfilmern, die ständig irgendwo auftauchten, um Wildtiere auf Film oder Foto zu bannen. Meist spielten die Wandler dann einfach mit, bis sie wieder verschwanden. Doch diesmal hatte Leon keine Lust. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben, war das zu viel verlangt? Während er direkt dorthin blickte, wo er den Mann witterte, stieß er ein lautes Brüllen aus, das jeden vernünftigen Menschen in die Flucht schlagen sollte.
»Worauf wartet ihr noch? Los, bevor er abhaut!«
Leon erstarrte, als er die Stimme irgendwo hinter sich hörte. Anscheinend hatten sich mehrere Menschen unbemerkt an ihn herangeschlichen. Die Überraschung kostete ihn wertvolle Sekunden, bevor er sich herumwarf und losrannte. Er wollte es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen, wenn er nicht wusste, wie viele Gegner es waren und was sie überhaupt von ihm wollten. Es hatte sich jedenfalls nicht so angehört, als handelte es sich um harmlose Touristen, die sich mit einem Foto zufriedengeben würden.
Wenn er es schaffte, zwischen den Büschen in einiger Entfernung zu verschwinden, konnte er sich verwandeln und ihnen damit entgehen. Sein Atem klang laut in seinen Ohren, als er tief geduckt durch das hohe Gras lief. Sein Herz hämmerte im Takt seiner Schritte, Adrenalin breitete sich in seinem Körper aus. Wäre er in seinem Gebiet gewesen, hätte er Dutzende verschiedene Wege gekannt, um ungesehen zu verschwinden. Doch hier war er zum ersten Mal, sodass er sich nur auf seinen Instinkt verlassen konnte.
Um sich herum hörte er die lauten Stimmen seiner Verfolger. »Fangt ihn, schnell!«
»Da hinten ist er!«
»Haltet ihn auf!«
Ein Mann stellte sich ihm in den Weg, die Augen weit aufgerissen, seine Angst deutlich zu riechen. Mit einem wütenden Knurren wich Leon im letzten Moment aus. Dadurch verlor er für einen Augenblick sein Gleichgewicht, bevor er sich wieder fing und Tempo aufnahm. Gerade als er dachte, er hätte seine Verfolger abge hängt, traf ihn etwas an der Seite und seine Muskeln reagierten plötzlich nicht mehr. Seine Schritte wurden langsamer, schwankender, bis er schließlich umfiel. Der Sand war noch warm von der Sonne, als seine Wange darauf landete. Vergebens versuchte Leon, sich wieder aufzurichten oder sich wenigstens zu verwandeln, doch da zu fehlte ihm die Kraft. So konnte er nur hilflos zusehen, wie sich ein Mann über ihn beugte und zufrieden lächelte.
»Gut gemacht, Leute. Bringt ihn zum Wagen, bevor die Betäubung nachlässt.«
Ein tiefes Grollen stieg in Leons Kehle auf, doch es drang nie an die Oberfläche. Obwohl er dagegen ankämpfte, fielen seine Augen zu. Ein letztes Mal begehrte sein Geist auf, dann versank er in der Dunkelheit.
Die Schmerzen brachten ihn schlagartig wieder zu Bewusstsein. Mühsam schlug Leon die Augen auf und sah sich um. Zuerst verstand er nicht, was er sah, bis er realisierte, dass er kopfüber an einem Gestell hing, das von vier Männern getragen wurde. Seine Beine waren in Höhe der Pfoten mit rauen Seilen an langen Holzstangen befestigt, sein Rücken kam immer wieder mit Dornen und Steinen in Berührung, der Schwanz schleifte auf dem Boden. Das erklärte zumindest die Schmerzen. Seine Pfoten waren bereits taub, weil die Blutzirkulation durch die engen Schnüre und sein Eigengewicht abgeschnitten war. Selbst wenn ihn jemand in diesem Moment losgeschnitten hätte, wäre er vermutlich nicht in der Lage gewesen wegzulaufen. In seine Wut mischte sich Furcht.
Was wollten diese Menschen von ihm? Waren es Jäger, die sich damit brüsten wollten, einen Löwen gefangen zu haben? Würden sie ihn in einem Gebiet aussetzen, in dem es keine Deckung gab und wo sie ihn ohne Probleme abschießen konnten, wie er es von einigen Jägern gehört hatte? Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Einer der Träger blickte sich zu ihm um und riss die Augen auf, als er sah, dass Leon wach war.
»Achtung!« Er sprach Oshivambo, die Sprache der Ovambo, einer einheimischen Bevölkerungsgruppe im Norden Namibias.
Die Männer hielten an und einer stieß einen lauten Pfiff aus. Schnell versammelte sich eine Gruppe Menschen um ihn, einige von ihnen Weiße, und Leon bemühte sich, seine Unruhe nicht zu zeigen. Stattdessen öffnete er sein Maul und ließ sie seine Reißzähne sehen. In jeder anderen Situation hätte er es lustig gefunden, wie schnell die Männer vor ihm zurückwichen. Befriedigt stieß er ein weiteres Grollen aus.
Ein älterer Mann in einem völlig deplatziert wirkenden Anzug trat dicht an ihn heran. Im Gegensatz zu den anderen schien er keine Angst vor seinem Gefangenen zu haben. Im Gegenteil, er lächelte ihn zufrieden an.
»Sehr gut, du bist wach, ich hatte schon befürchtet, die Betäubung wäre zu stark gewesen.«
Verwundert starrte Leon ihn an. Warum redete der Kerl mit ihm, als könnte er ihn verstehen? Er war ein Löwe! Kein Mensch wusste, dass er ein Wandler war, und selbst wenn, wie sollten sie ihn von einem normalen Löwen unterscheiden können? Leon bemühte sich, dem Mann keinerlei Reaktion auf seine Worte zu zeigen.
Der lachte nur. »Ich sehe schon, es wird ein wenig dauern, dich dazu zu bringen, mir das zu geben, was ich will. Aber es wird mir gelingen, das ist sicher. Es wäre einfacher für dich, wenn du mitspielst.« Er gab den Trägern ein Zeichen, weiterzugehen, bevor er sich noch einmal an Leon wandte. »Du hast noch ein wenig Zeit, bis wir am Zielort sind. Überleg es dir.«
Er konnte sich nicht erklären, was der Mann von ihm wollte. Oder woher er überhaupt wissen konnte, dass er kein normaler Löwe war. Seit Tagen hatte er sich in keiner Stadt mehr aufgehalten. Sein Atem stockte, als ihm die Familie einfiel, der er morgens begegnet war. Das kleine Mädchen war von einem Baum gefallen und hatte eine stark blutende Wunde am Bein davongetragen. Er hatte sie dort weinend gefunden und sich ihr langsam in Löwenform genähert. Anstatt sich vor ihm zu fürchten, hatte sie ihn nur mit großen Augen angesehen, während er über die Wunde leckte, um den Selbstheilungsprozess zu beschleunigen. Dann war er von den Eltern des Mädchens entdeckt worden und sie hatten ihn verjagt.
Vermutlich hatten diejenigen, die ihn gefangen genommen hatten, die Familie getroffen und von seinem seltsamen Verhalten gehört. Es war gefährlich, sich mit Menschen einzulassen, doch wie hätte er zusehen können, wie das Kind litt, wenn er in der Lage war, die Schmerzen zu lindern? Die Wunde war einige Stunden später sicher verheilt gewesen.
Aber letztlich spielte es keine Rolle. Wichtig war nur, dass er diesem Fremden möglichst schnell wieder entkam. Nur wie? Vor den Augen der Männer wollte er sich nicht verwandeln, auch wenn ihm das kurzfristig helfen würde. Er konnte nicht zulassen, dass die Menschen Zeugen seiner Fähigkeiten wurden, das würde nur zu noch ernsteren Problemen führen. Auch wenn er am liebsten sofort geflohen wäre, musste er damit warten, bis er unbeobachtet war. Sonst würde er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie und alle anderen Wandler in Gefahr bringen. Das konnte er nicht riskieren, auch wenn es ihn noch so sehr nach Freiheit verlangte. Leon biss die Zähne zusammen, als sich die Träger wieder in Bewegung setzten und sich die Seile mit jedem Schritt tiefer in seine Haut gruben. Beinahe wünschte er sich, immer noch bewusstlos zu sein.
Leon verlor jedes Zeitgefühl, während er durch die Dunkelheit getragen wurde. Seine Katzenaugen erlaubten es ihm, alles genau zu sehen, doch seine Träger stolperten immer wieder und ließen ihn einmal sogar fallen. Von dem Sturz und der Anspannung tat ihm jeder Muskel im Körper weh. Nach scheinbar unendlich langer Zeit - es konnten Minuten oder Stunden gewesen sein - stoppten sie schließlich und setzten ihn auf dem Boden ab. Diesmal etwas sanfter, aber einen rauen Laut konnte er dennoch nicht verhindern.
»Schlagt das Lager auf, wir werden hier übernachten!« Die befehlsgewohnte Stimme des Anführers hallte durch die nächtliche Landschaft.
Leon beobachtete wie ehemals weiße, jetzt mit rotem Sand bedeckte Schuhe näher kamen. Der Mann hockte sich neben ihn und begutachtete seine Verletzungen. »Nehmt ihn von dem Gestell ab. Ich will nicht, dass er irreparabel beschädigt wird - zumindest noch nicht.«
Wie nett. Aber Leon beschwerte sich nicht, denn mehr als alles andere wollte er endlich wieder seine Beine bewegen können. So rührte er sich nicht, als einer der Ovambo die Seile löste und das Blut wieder in seine Pfoten gelangte. Sein Atem stockte, als ein scharfes Stechen und Prickeln einsetzte.
»Leider ist das nötig, weil ich weiß, dass du die erstbeste Gelegenheit zur Flucht nutzen würdest.« Er wandte sich zu dem Ovambo um. »Fessel alle vier Beine zusammen, aber ohne den Blutfluss abzuschneiden. Keine Betäubung. Es reicht, wenn er nicht laufen kann.«
Leon unterdrückte einen Schmerzensschrei, als seine Beine vor dem Körper zusammengebunden wurden. Auf der Seite liegend hatte er so keine Möglichkeit, aufzustehen. Vor allem fehlte ihm nach der Betäubung und der Tortur des langen Weges noch die Kraft, etwas gegen seinen Peiniger zu unternehmen. Schwer atmend sah er zu, wie der Anführer den Männern Befehle erteilte und sich dann am Lagerfeuer niederließ, während Zelte aufgebaut und Essen gekocht wurde. Leon kannte sich damit nicht aus, aber eine solche Expedition musste viel Geld kosten, zumal in dieser Gegend die Jagd auf Wildtiere verboten war und der Auftraggeber sich gleichzeitig auch das Schweigen der Männer erkaufen musste. Anscheinend hatte sein Gegner also viel Geld. Aber das erklärte noch nicht, wie er ihn hatte finden können und woher er wusste, dass er ihn verstehen konnte. Oder hatte er bereits andere Wandler eingefangen und dazu gebracht, sich zu verwandeln? Sein Magen zog sich zusammen, als er darüber nachdachte, was das für seine Spezies bedeuten würde.
Der Geruch des Essens stieg in seine Nase und ließ das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen und das rächte sich jetzt. Aber er hatte ja nicht ahnen können, dass er den Abend in Gefangenschaft verbringen würde. Seine Hoffnung, dass er in einem unbeobachteten Moment entkommen konnte, verflog. Ständig saß einer der Männer bei ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Bei dem ersten machte er sich einen Spaß daraus, ihm Angst einzujagen, aber selbst dazu hatte er irgendwann keine Lust mehr. Auch wenn seine Pfoten jetzt wieder durchblutet waren, wusste er, dass es ihm schwerfallen würde zu laufen. Durch die unnatürliche Haltung waren seine Muskeln steif geworden und damit war eine schnelle Flucht ausgeschlossen.
Doch würde seine Kraft ausreichen, um seine Gabe zu nutzen und sich lange genug unsichtbar zu machen? Es kostete jedes Mal einen immensen Aufwand an Energie, seine Moleküle auseinanderzusprengen und später wieder zusammenzusetzen. Also musste er seine Kraft sparen, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Leon legte den Kopf zurück ins Gras und schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt, durch den er die Menschen beobachten konnte.
Nach dem Essen gönnte sich der Anführer noch eine stinkende Zigarre, bevor er aufstand und sich vor Leon aufbaute. Seine Lakaien schickte er weg, sie waren allein. »So, dann wollen wir mal sehen, ob wir den Richtigen erwischt haben. Meine Kontakte sagen mir, dass du derjenige bist, den sie den Heilsbringer nennen, stimmt das?«
Leon rührte sich nicht, obwohl sein Herz schneller pochte. ›Heilsbringer‹ war er von den Einwohnern einer kleinen Siedlung genannt worden, nachdem er vor einigen Monaten deren Schamanen geholfen hatte, der sich bei einer Zeremonie in der Steppe schwer verbrannt hatte. Vielleicht hätte Leon das nicht tun sollen, aber der Mann wäre ohne Behandlung sicher gestorben. Deshalb hatte Leon sich ihm vorsichtig in Löwenform genähert und über die Brandwunden geleckt, um die Selbstheilungsprozesse zu beschleunigen. Er war einige Tage bei dem fiebernden Mann geblieben und erst gegangen, nachdem er sicher war, dass er durchkommen würde.
Der Schamane, der trotz seines Zustands die Behandlung mitbekommen hatte, bestand später darauf, dass Leon ein Heilsbringer war und göttliche Kräfte haben musste. Wahrscheinlich glaubte er an die alten Legenden, die von Tiermenschen mit heilenden Fähigkeiten berichteten. Hatte der Schamane diesem Verbrecher womöglich davon erzählt und der hatte seine Schlüsse daraus gezogen? Denn so, wie er mit Leon sprach, schien sein Entführer zumindest zu ahnen, dass er weit mehr war als ein normaler Löwe.
Durch die Augenschlitze sah er, wie der Mann sich bückte und einen langen Stock aufhob. Seine Muskeln zogen sich in Erwartung dessen, was jetzt kommen würde, zusammen. Beinahe spielerisch stupste ihm der Anführer in die Seite.
»Sicher, dass du nicht mit mir reden willst? Es wäre für dich bedeutend angenehmer, glaub mir.«
Wieder reagierte Leon nicht auf die Worte seines Gegners und erntete dafür einen Schlag auf die Rippen. Sein Kopf ruckte hoch und er stieß ein warnendes Brüllen aus.
Der Mensch zeigte sich davon unbeeindruckt. »Du kannst mir glauben, dass ich die Sache lieber auf zivilisierte Weise regeln möchte. Aber ich werde alles tun, was nötig ist, um mein Ziel zu erreichen.« Etwas wie Verzweiflung blitzte für einen Sekundenbruchteil in seinem Gesicht auf, machte aber sofort wieder der überheblichen Miene Platz. »Es ist zu wichtig.«
Was auch immer der Kerl erreichen wollte, Leon hatte nicht vor, dabei mitzuspielen. Erst recht nicht, wenn er dafür seiner Freiheit beraubt wurde. Einige der Ovambos blickten aus einiger Entfernung unbehaglich zu ihnen hinüber. Sie waren zu weit weg, um zu hören, was der Verbrecher sagte und hatten anscheinend nicht vor, helfend einzugreifen. Vermutlich hielten sie ihn für verrückt, mit einem Tier zu reden.
Der Weiße krempelte sich die Ärmel hoch. Sein Blick löste sich dabei keine Sekunde von Leons. »Letzte Gelegenheit. Ich bekomme sowieso, was ich will, aber es muss nicht wehtun.« Als er sich nicht rührte, seufzte der Mann tief auf. Er winkte einen seiner weißen Kumpane herbei. »Leg einen Eisenstock zwischen die Kohlen.« Mit einem Grinsen entfernte sich der Mann wieder.
Leon versuchte gegen die Trockenheit in seinem Mund anzuschlucken. Es hörte sich nicht so an, als würde der Mensch in absehbarer Zeit von ihm ablassen. Aber bei so vielen Zeugen konnte er sich nicht verwandeln und verschwinden, deshalb musste er wohl oder übel ertragen, was ihm angetan wurde, ohne etwas dagegen ausrichten zu können.
Sein Gegner stieß ihm den Stock in den Bauch. Leon krümmte sich zusammen, doch der Schmerz ließ nur langsam nach. Hechelnd presste er seine Wange in den Sand und bemühte sich, wieder Luft zu bekommen. Seine Beine zuckten hilflos in dem Versuch, den Fesseln zu entkommen.
»Also noch mal von vorne: Ich möchte wissen, ob du derjenige bist, den sie den Heilsbringer nennen. Du brauchst dich nur zu verwandeln und mir zu antworten und schon höre ich auf. Wenn du dich gut benimmst, lasse ich dich sogar wieder frei, wenn die Sache erledigt ist.«
Ja, sicher. Leon konnte gerade noch ein Schnauben unterdrücken, das ihn verraten hätte. Stattdessen schloss er die Augen und ignorierte seinen Peiniger. Allerdings gelang ihm das nicht lange, denn nach einigen weiteren Schlägen auf seine Beine und Pfoten kam der Lakai mit einem an der Spitze glühenden Metallstab zurück. Nachdem er dicke Handschuhe übergezogen hatte, stellte der Anführer sich mit der Stange vor ihn, die glühende Spitze gefährlich nah an Leons Fell. Instinktiv versuchte er, sich rückwärts zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, während sein Blick auf dem Stab lag. Automatisch zog er die Beine an, um seine empfindlichsten Stellen zu schützen.
Der Mensch lachte über seine Bemühungen. »Es ist völlig zwecklos, ich bekomme sowieso, was ich will. Aber wir können uns die wirklich schmerzhaften Gebiete auch noch ein wenig aufsparen.« Die Hand mit dem Stock senkte sich.
Ein Schauder lief durch Leons Körper, er presste die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Das heiße Eisen glitt über seine Seite und der Schmerz wurde unerträglich. Leon stieß ein Brüllen aus, das Wut und Schmerz in sich vereinte. Erschreckt wichen die Ovambos noch weiter zurück, doch das nahm Leon nur durch einen Schleier wahr. Der Geruch von verbrannten Haaren und Fleisch lag in der Luft. Nur langsam wurde er sich bewusst, dass sein Gegner den Stock angehoben hatte, und auf etwas zu warten schien.
Mühsam hob Leon seinen Kopf und grollte den Mann warnend an. Unwillkürlich trat der einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fing. Wut ersetzte den Ekel, der noch kurz davor deutlich zu sehen gewesen war. Noch einmal senkte er die Spitze des Stocks und diesmal hörte er nicht auf, bis Leon halb bewusstlos vor Schmerzen am Boden lag. Seine Seite brannte wie Feuer, doch er brachte nicht einmal die Kraft auf, den Schaden zu begutachten. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, gleichmäßig zu atmen und den Kampf gegen die Bewusstlosigkeit zu gewinnen. Er wollte diesem Sadisten nicht die Genugtuung geben, ihn besiegt zu haben. Vor allem aber durfte er die Kontrolle über seine Gestalt nicht aufgeben.
Einer der weißen Kumpane trat neben den Anführer und spuckte verächtlich in Leons Richtung. »Warum knallen wir ihn nicht einfach ab?«
Der ältere Mann drehte sich zu ihm um und versetzte ihm ohne Vorwarnung einen Fausthieb gegen das Kinn. »Ich entscheide, was mit ihm geschieht, schließlich zahle ich diese ganze Expedition. Wenn ich mitbekomme, dass du auch nur einen Finger gegen den Löwen hebst, wirst du es bereuen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Ohne ein Wort zu verlieren, drehte sich der Verlierer um und verschwand aus Leons Blickfeld.
»Du da.« Der Anführer winkte einen der Ovambo heran. »Gib dem Löwen Wasser und Futter. Aber nicht zu viel, ich möchte nicht, dass er auf dumme Ideen kommt.« Mit einem Nicken nahm dieser den Befehl zur Kenntnis. Der Verbrecher drehte sich um und nahm anscheinend erst jetzt den Menschenauflauf hinter sich wahr. »Okay, die Show ist vorbei, alle zurück an eure Plätze!«
Während sich alle im Lager verstreuten, beugte sich sein Peiniger zu Leon hinunter. »Überleg dir gut, ob du nicht doch lieber mit mir zusammenarbeiten willst. Ich habe nicht viel Zeit und bin bereit, so weit zu gehen, wie es sein muss, um das zu bekommen, was ich benötige.«
Leon hätte gerne gewusst, was genau das war, aber er würde sich sicher nicht verwandeln, um diese Frage zu stellen. Daher schloss er einfach nur die Augen und hoffte, dass der Verbrecher das als seine Antwort nahm. Anscheinend funktionierte es, denn als er das nächste Mal seine Lider hob, war der Mensch verschwunden. Dafür stand der Ovambo mit einer Schale Wasser in den Händen vor ihm. Seinem unsicheren Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er zu befürchten, dass Leon sich auf ihn stürzen würde, wenn er ihm zu nahe kam. Doch dazu war er im Moment einfach zu schwach, und außerdem hätte er sich nie schnell genug befreien können, ohne die anderen auf sich aufmerksam zu machen.
Daher blieb er still liegen und verfolgte nur mit den Augen, wie der Mann sich schließlich traute, die Schüssel in der Nähe seines Kopfes abzusetzen. Den Blick weiterhin auf Leon gerichtet, zog er sich wieder zurück. Mühsam rutschte Leon ein Stück vor und hob den Kopf. Als seine Zunge das erste Mal in das Wasser tauchte, stöhnte er genüsslich auf. Er war fast verdurstet! Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, sank er matt zurück. Wenn es schon so viel Kraft kostete, einfach nur zu trinken, wie sollte er dann fliehen können? Er würde sich irgendwo verstecken müssen, bis die Wunden verheilt waren.
Seine Muskeln zuckten und der Schmerz an seiner Seite erinnerte ihn wieder daran, dass er nun gezeichnet war und es für mögliche Verfolger noch leichter sein würde, ihn zu erkennen. Ein dumpfes Grollen stieg in seiner Kehle auf. Welches Recht hatten diese Kerle, Tiere einfach einzufangen und zu quälen? Nach seiner Sprechweise zu urteilen, kam der Anführer nicht aus dieser Gegend, vielleicht sogar nicht einmal aus Afrika. Er tauchte hier auf, wedelte mit seinem Geld und glaubte, dass er alles bekommen würde, was er wollte. Doch so leicht würde er es ihm nicht machen.
Der Ovambo kehrte mit einigen Brocken Fleisch zurück, die er Leon von weitem zuwarf, als er seinen mörderischen Blick sah. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, verschlang Leon die wenigen Bissen.
»Es tut mir leid.«
Die Worte waren beinahe ein Flüstern, aber für Leon gut zu verstehen. Er hob den Kopf und sah den Ovambo genauer an. Er roch nach Angst, doch sein Gesichtsausdruck zeugte von Stärke. Leon neigte leicht den Kopf, bevor er ihn wieder in den Sand sinken ließ und die Augen schloss.
Die nächsten Stunden döste er, während er mit einem Ohr auf die Bewegungen im Lager lauschte. Endlich war alles ruhig, die meisten Menschen waren in ihre Zelte gekrochen und schliefen. Ein paar bewachten das Lager und einer hatte den undankbaren Dienst, auf Leon aufzupassen. Schon nach wenigen Minuten fielen dem Mann die Augen zu. Jetzt! Ohne einen Laut von sich zu geben, begann Leon die Verwandlung. Durch seine Schwäche dauerte es länger als gewöhnlich, aber schließlich bestand er nur noch aus Molekülen. So konnte niemand seinen Pfotenabdrücken folgen.
Langsam bewegte er sich vorwärts und schwebte durch das Lager in die Wildnis hinaus. Erst als er in ein felsiges Gebiet kam, wo er sicher war, dass niemand seine Spuren verfolgen konnte, verwandelte er sich wieder in einen Löwen.
Die Verwandlung dauerte lange und schließlich blieb er schwer atmend auf den Felsen liegen. Er brauchte dringend Nahrung, aber in diesem Zustand würde er nicht jagen können. Also wartete er nur so lange, bis er wieder ein wenig Kraft gesammelt hatte und stemmte sich dann hoch. Ein reißender Schmerz fuhr durch seine Seite, aber er ignorierte ihn. Mit unsicheren Schritten lief er los, mehr als einmal gaben seine Beine nach und er hatte Mühe, einen Sturz zu verhindern. Nach einigen hundert Metern schaffte er es, einen Trott zu finden, der ihn wesentlich schneller vorwärtsbrachte, als er sich in unsichtbarem Zustand bewegen konnte.
Leon wusste nicht, wie weit er gelaufen war, als seine Muskeln versagten und er ohne Vorwarnung zusammensackte. Er blinzelte in den Himmel und bemerkte, dass er die ganze Nacht durchgelaufen war. Inzwischen brach der Tag an und ohne einen schattigen Platz und Wasser hatte er in der Hitze keine Überlebenschance. Doch sosehr er es auch versuchte, er schaffte es nicht, wieder auf die Beine zu kommen. Sollte er tatsächlich hier, ohne seine Familie sterben? Es machte ihn traurig, jetzt schon gehen zu müssen und seine Aufgabe nicht erledigt zu haben, aber immerhin war es ihm gelungen, diesem elenden Mistkerl zu entkommen, der ihn offensichtlich für seine Zwecke nutzen wollte. Er überlegte kurz, ob er sich in seine Menschenform verwandeln sollte, aber damit wäre er noch weniger gegen die afrikanische Sonne geschützt.
Kurz bevor sich seine Augen zum letzten Mal schlossen, glaubte er, den Ovambo, der ihm das Essen gebracht hatte, zu sehen. Doch das musste eine Täuschung sein. Niemand konnte ihm gefolgt sein. Der Schlaf überkam ihn und alles um ihn herum versank in der Bedeutungslosigkeit.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
... weniger
Autoren-Porträt von Michelle Raven
Michaela Rabe wurde 1972 in Hannover geboren und studierte Bibliothekswesen. Sie arbeitet als Bibliotheksleiterin in Niedersachsen. 2002 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Michelle Raven ihren ersten Roman. Inzwischen gehört sie zu Deutschlands erfolgreichsten Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michelle Raven
- 2012, 2. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802585097
- ISBN-13: 9783802585098
Kommentare zu "Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Tag der Rache / Ghostwalker Bd.6".
Kommentar verfassen