Taschner, R: Vom 1x1 zum Glück
Warum wir Mathematik für das Leben brauchen
Rudolf Taschner glaubt an die Mathematik. Trotz des schlechten Rufs als Angstfach in der Schule ist ein gutes Grundlagenwissen der Schlüssel zum Erfolg. Nicht nur in der Schule, sondern im ganzen Leben. Eine Aufwertung des mathematischen Unterrichts in...
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Produktinformationen zu „Taschner, R: Vom 1x1 zum Glück “
Rudolf Taschner glaubt an die Mathematik. Trotz des schlechten Rufs als Angstfach in der Schule ist ein gutes Grundlagenwissen der Schlüssel zum Erfolg. Nicht nur in der Schule, sondern im ganzen Leben. Eine Aufwertung des mathematischen Unterrichts in den Schulen ist daher dringend notwendig. Statt mit Angst und Unbehagen sollten Schüler mit Interesse und Neugierde in die nächste Stunde gehen. In „Vom 1x1 zum Glück" zeigt Rudolf Taschner, dass Mathematik nicht trocken und verstaubt sondern interessant und abwechslungsreich ist. Den der Mathematiker aus Leidenschaft ist überzeugt: Es ist nie zu spät Mathematik zu verstehen.
Klappentext zu „Taschner, R: Vom 1x1 zum Glück “
Mathematik hat ein Imageproblem: Kaum einer, der nicht von traumatischen Erlebnissen seiner Schulzeit berichten kann, sogar die Abschaffung von Mathematik als Maturafach wird derzeit ernsthaft erwogen. Doch das Gegenteil ist wahr: Nicht die Vermeidung von Mathematik in der Schule ist angesagt, sondern umfassendes Lernen und Verstehen von Mathematik, das dem Anspruch
Lese-Probe zu „Taschner, R: Vom 1x1 zum Glück “
Rudolf Taschner - Vom 1x1 zum GlückI
Die letzte Stunde
Wer in der Schule unterrichtet, weiß es: Es gibt zwei unvergessliche
und prägende Augenblicke während der langen
Zeit, die man mit den Kindern einer Klasse verbringt. Sie
allein sind Lohn genug dafür, dass man sein berufliches
Leben dem Lehren und Erziehen widmet. Einer dieser
beiden unauslöschlichen Augenblicke ereignet sich bei den
abschließenden Minuten der letzten Stunde.
Ich durfte es selbst wenige Male erleben. Als ich während
meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Mathematikprofessor,
an einer Universität künftige Lehrerinnen und Lehrer
fachlich auszubilden hatte, unterrichtete ich parallel dazu als
Lehrer an einem Gymnasium jeweils eine Klasse in Mathematik.
Dies erlaubte mir, die wissenschaftliche Lehre mit
eigener praktischer Erfahrung des Schulalltags zu bereichern,
was nicht nur für meine Studentinnen und Studenten,
sondern auch für mich aufschlussreich war.
Die letzte Stunde jedenfalls in der achten Klasse, die ich
ganz im Unterschied zu meinem sonst spontanen, nicht sonderlich
organisierten Unterricht peinlich genau inszenierte,
war mir immer besonders wichtig. Schon zu Beginn der
Stunde bat ich ein wenig theatralisch darum, dass man mich
aufmerksam machen soll, wenn in drei Minuten die Glocke
zum Stundenende läuten werde. Ich hätte dann der Klasse
etwas Wichtiges mitzuteilen. „Da wird er uns wohl verraten,
welche Beispiele er zur Matura gibt", wurde von Bank zu
Bank geflüstert - es war damals noch die Zeit, als die schriftlichen
Aufgaben zur Matura nicht zentral erstellt wurden;
ich komme in dem Buch darauf an anderer Stelle zurück.
... mehr
Jedenfalls erzielte ich durch meine Ankündigung am Stundenbeginn
eine leicht nervöse Aufmerksamkeit, während ich
bei einigen Aufgabentypen, die vielleicht bei der schriftlichen
Prüfung auftauchen werden, letzte hilfreiche Hinweise gab
und ein paar Musterbeispiele ein letztes Mal vorrechnete. Die
leise spürbare Anspannung der Kinder - ich nenne sie auch
dann so, wenn sie bereits 18 Jahre alt sind, weil ich sie einst
als echte Kinder kennengelernt hatte und sie dies, jedenfalls
bis zu ihrer Matura, immer für mich blieben - nahm gegen
Stundenende zu, und endlich war es soweit:
„In drei Minuten wird es läuten", wurde von mehreren
Seiten zum Katheder gerufen, „Sie wollten uns doch noch
etwas sagen!"
„Gut, dass ihr mich erinnert", spielte ich den Überraschten,
„ich habe euch tatsächlich etwas mitzuteilen: Es sind
jetzt die letzten Augenblicke, wo wir in der Klassengemeinschaft
so zusammen sind, wie wir das jahrelang zuvor immer
waren. Danach gibt es nur mehr die schriftlichen Prüfungen
bei der Matura, die ziemlich amtlich ablaufen, und die
mündlichen Prüfungen, bei denen ihr einzeln, jede und
jeder für sich, gefordert sein werdet. Jetzt, in diesen Minuten,
sehen wir einander so zum letzten Mal. Und da ist es mir
wichtig, dass ich euch Folgendes sage:
Ihr seid unsere Hoffnung.
Und mit uns meine ich das Lehrerkollegium, mich eingeschlossen,
aber auch eure Eltern, eure Mütter und Väter, ja
eigentlich alle in euren Augen ältere Menschen in unserem
Staat und unserer Gesellschaft.
Ihr seid unsere Zukunft. Wir haben niemand anderen
als euch, von denen wir erwarten können, dass sie unser
Land weiter gestalten werden.
Wir haben als Lehrerinnen und Lehrer alles, was wir
wissen und können, in euch investiert. Und selbst wenn es
in manchen Momenten pädagogischer Verzweiflung, für die
ich mich jetzt in aller Form entschuldige, vielleicht nicht so
von euch empfunden wurde: Wir setzen alle Jetons unseres
Lebensspiels auf euch. Weil wir erwarten, dass ihr Karrieren
so vernünftig ergreift und euer Leben so sinnvoll gestaltet,
dass es nicht nur euch, sondern auch der ganzen Gemeinschaft
Nutzen bringt. Weil wir davon ausgehen, dass ihr im
Staffellauf des Lebens den Stab von uns übernehmt. Und
weil wir uns wünschen, dass ihr mit dem, was wir euch vermittelten,
glücklich werdet.
Ich hoffe, ich habe euch so viel gegeben, dass ich euch
füglich alles Glück dieser Welt wünschen kann. Das ist es,
was ich euch noch sagen wollte."
Noch waren die drei Minuten nicht vorüber, ich genoss für ein
paar Sekunden die vollkommene Stille, die den Raum erfüllte,
und verließ - zugegeben nicht ganz gesetzeskonform ein
wenig vorzeitig - die von mir überraschte Klasse. Mit solchen
Worten hatte niemand aus der Schar der Kinder gerechnet.
Dennoch habe ich jede einzelne Silbe ernst gemeint.
Mit Mathematik Menschen Wege zum Glück öffnen
zu können: Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass dies
möglich ist.
Und dass sich die Schule darum bemühen muss.
II
Mathematik fürs Leben
- Erster Teil
Zahlen verkünden Macht und Besitz
Das Rechnen wurde erfunden, weil man reich werden oder
wenigstens reich bleiben wollte. Darum ist es attraktiv.
Sicher: Geld allein macht nicht glücklich, aber - wie Marcel
Reich-Ranicki einmal gesagt haben soll - „es ist besser, in
einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn".
Leider wird das viel zu wenig betont. Obwohl man über
das Interesse der Reichen und Mächtigen an Zahlen phantasievolle
Geschichten - sind sie nicht wahr, so sind sie doch
gut erfunden - erzählen kann, die man bis in die frühesten
Epochen der Menschheit verlegt. Es sind Geschichten, die
zeigen, wie wichtig es ist, dass man das Addieren und Subtrahieren,
das Multiplizieren, das Dividieren beherrscht. Nur
damit bewahrt man bei seinem Eigentum den Überblick,
kann es vielleicht sogar vermehren.
Schon in der jüngeren Steinzeit, als Menschen
sesshaft wurden, beginnt das Rechnen. Der Häuptling
eines Stammes will wissen, ob er mehr keulenschlagende
Gefährten hat als der Nachbarstamm. Denn wenn dies der
Fall ist, kann er den Kampf um einen vielversprechenden
Landstrich wagen. Der Häuptling selbst, er ist ja Politiker,
ist des Zählens nicht kundig. Aber er beschäftigt einen
Zählen mit VI für sechs, VII für sieben, VIII für acht und VIIII
für neun weitergeht. Bei der Zahl zehn denkt man an zwei
Hände: ein V wird angeschrieben, das zweite V horizontal
gespiegelt darunter, und schon bekommt man das römische
Zeichen X für zehn.
Zahlen, die kleiner als 50 sind - und dies sind in den
Anfangszeiten des Rechnens gar nicht so kleine Zahlen -,
kann man damit erfassen. Aber mühsam ist es doch. Angenommen,
der Gläubiger hat dem ersten Schuldner VII Sesterzen,
dem zweiten Schuldner XVIII und dem dritten Schuldner
XIIII Sesterzen geliehen. Auf XXXVIIII, also auf 39 Sesterzen als
gesamten Schuldenstand zu schließen, ist schon eine aufwendige
Rechnung. Aber sie will gemacht werden. Denn der Gläubiger
möchte über sein verborgtes Kapital Bescheid wissen.
Und bereits in römischer Zeit hat man für solche Additionen
eigene Rechengeräte erfunden. Man wusste schon damals:
Rechnen ist ein ödes Geschäft. Zuerst verschob man Perlen
oder kleine Steine, Calculi genannt - das Wort Kalkül für
Rechnung kommt daher. Dann konstruierte man ein Gestell,
bei dem die Perlen an Stäben entlanggeführt werden: den
Abakus. Bis heute wird er in Russland und Asien gelegentlich
noch als preiswertes Rechengerät verwendet.
Zahlen geben Sicherheit
Doch gehen wir in noch frühere Zeitalter zurück, drei Jahrtausende
vor Christus: Haran, ein reicher Bauer aus Mesopotamien,
dem Zweistromland, möchte einige seiner Rinder
und Schafe dem Händler Nahor in Ur, der Stadt, aus der
Abraham stammte, verkaufen und dafür Saatgut, Textilien
und Baumaterial erwerben. Um auf Nummer sicher zu
gehen, dass der Knecht, den Haran mit den Tieren zu Nahor
schickt, diese vollzählig beim Händler abliefert, nimmt der
Bauer einen irdenen Topf und wirft für jedes Rind, das er
dem Knecht anvertraut, eine Kugel in den Topf. Und für jedes
Schaf, das er verkaufen will, wirft er eine Scheibe in den Topf.
Zwar kann Haran noch nicht mit Zahlwörtern zählen, aber
die Kugeln und Scheiben leisten das Gleiche. Sodann verschließt
Haran den Topf mit einem Deckel und verschmiert
den Rand von Topf und Deckel mit Lehm. Das verschlossene
Gefäß wird im Feuer gebrannt, sodass der Deckel fest
am Topf geheftet bleibt. Mit diesem Gefäß und den Tieren
schickt Haran den Knecht auf die mehrere Tage dauernde
Reise zu dem Händler in Ur.
Dort endlich angekommen, nimmt Nahor dem Knecht
den Topf aus der Hand. Der Händler weiß aus Erfahrung mit
den Bauern, mit denen er Geschäfte macht, was es mit diesem
Behältnis auf sich hat: Nahor lässt den Topf auf den Steinboden
fallen, dieser zerbricht in Dutzende Scherben und die
Kugeln und Scheiben kommen wieder zum Vorschein. Jetzt
wird gezählt. Kuh - Kugel, Kuh - Kugel: So viele Kugeln,
so viele Kühe müssen abgeliefert werden. Schaf - Scheibe,
Schaf - Scheibe: Bei den Schafen ist es das Gleiche. Und
wehe, wenn eines der Tiere fehlen sollte: Der Knecht müsste
es mit seinem Leben büßen. Natürlich: Wenn die Reise zum
Händler mehrere Tage in Anspruch nahm und eines der
Tiere trächtig war, konnten sogar noch mehr Tiere abgeliefert
werden, als es Kugeln und Scheiben im Topf gab. Dies ist der
entscheidende Unterschied zwischen der Biologie und der
Mathematik: In der Biologie ändert sich alles mit der Zeit.
Die Zahlen hingegen bleiben über alle Zeiten hinweg immer
die gleichen. Sie sind für immer konstant. Nicht die Biologie,
die Mathematik ist die nachhaltigste aller Wissenschaften.
Einzig unser Zugang zu den mathematischen Objekten
wandelt sich. Er wird von Generation zu Generation einfallsreicher.
So kennt Nahor bereits andere Bauern, die es
geschickter machen als der alte Haran. Die jungen Bauern
nehmen eine Lehmtafel und ritzen in ihr Zeichen ein: Runde
Kreise stehen für die Kugeln, die Haran in den Topf warf,
senkrechte Striche stehen für die Scheiben. Wenn danach
die Lehm- zu einer Tontafel gebrannt wird, sind die so eingetragenen
Zahlen genauso unverwüstlich wie die Kugeln
und Scheiben in Harans verschlossenem Topf. Und zusätzlich
bieten sie den Vorteil, dass der Knecht auf der langen
Reise zum Händler stets überprüfen kann, ob die Tiere in
seiner Herde vollzählig vorhanden sind. Noch heute finden
wir solche Tontafeln in dem von Euphrat und Tigris durchzogenen
Wüstenland mit eingravierten Zeichen. Zwar nicht
Kreise und Striche, wie es in der vereinfachten Geschichte
beschrieben ist, sondern mit Keilschriftzeichen. Doch diese
leisten das Gleiche: Es war das Bestreben der Menschen, über
ihren Besitz gleichsam Buch zu führen, das sie zur Erfindung
von Zahlen, aber auch zur Erfindung der Schrift veranlasste.
Vom Ursprung des Multiplizierens
„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den
Gedanken kam zu sagen: ,Dies ist mein‘, und der Leute fand,
die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre
Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen,
Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht
derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle
herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen
Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch davor, auf diesen
Betrüger zu hören! Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass
die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem
gehört!‘"
1754 erschien die Abhandlung über den Ursprung und die
Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von Jean-
Jacques Rousseau. Obiges Zitat bildet den Ausgangspunkt
seiner Idee vom Naturzustand des Menschen. In diesem
paradiesischen Zustand, so Rousseau, war der Mensch
gleichgültig gegenüber Eigentum. Wäre er es nur geblieben,
klagt der einfältige Rousseau. Dann gäbe es keinen Kampf
um mehr Besitz. Es gäbe nämlich überhaupt keinen Besitz
- und auch keine Zahlen. Denn niemand würde sich genötigt
fühlen, irgendetwas zu zählen.
Tatsächlich gibt es in schwer zugänglichen Winkeln der
Welt immer noch Naturvölker, die von Eigentum und Besitz
und daher auch von Zahlen nichts wissen. Sie kennen neben
Einzelnem nur noch Paare und höchstens Dreiergruppen.
Bei mehr als drei Bäumen sehen Bakairis oder Bororos,
Ureinwohner Brasiliens, einfach nur „viele" Bäume und
greifen sich, um dies zum Ausdruck zu bringen, in die Haare.
Ganz fremd ist auch uns dies nicht: Als Spaziergänger sehen
wir die Bäume im Wald, kommen aber nie auf die Idee, sie
zu zählen. Sie gehören uns auch nicht. Es reicht uns, dass es
viele sind. Allein der Landwirt, der einen Forst sein Eigen
nennt, will über die Zahl seiner Bäume Bescheid wissen.
Ein Stück Land, am besten ein Rechteck, einzuzäunen
und als seinen Besitz zu erklären, damit beginnt, behauptet
Rousseau, die Geschichte als ein stetes Hin und Her
von Reichtum und Armut, von Gewinnern und Verlierern.
Dabei ist der Zaun um das Rechteck gar nicht das Wesentliche.
Das stellen vier Bauern fest, die Zäune um ihre kleinen
rechteckigen Felder anlegen: Der erste Bauer hat ein Feld,
das sieben Klafter lang, aber nur einen Klafter breit ist. Der
zweite ein Feld, das sechs Klafter lang und zwei Klafter breit
ist. Der dritte ein Feld, das fünf Klafter lang und drei Klafter
breit ist. Und der vierte hat ein quadratisches Feld, das vier
Klafter lang und vier Klafter breit ist. Alle vier Felder haben
den gleichen Umfang. Alle vier Bauern brauchen Bretter für
jeweils einen 16 Klafter umfassenden Zaun. In diesem Sinn
sind alle vier Felder gleich groß.
Aber wenn es zur Ernte kommt, ärgert sich der erste
Bauer, weil seine Nachbarbauern weitaus mehr ernten als er,
der dritte und der vierte gar mehr als doppelt so viel. Denn
auf den Umfang der Rechtecke kommt es bei der Ernte nicht
an, sondern auf den Flächeninhalt, den die Rechtecke einnehmen.
Da ist der erste Bauer arm dran, weil sein Feld nur
sieben mal eins, also nur sieben Quadratklafter Fläche besitzt.
(Ein Quadratklafter ist, wie das Wort sagt, der Flächeninhalt
eines Quadrats mit einem Klafter Länge und einem Klafter
Breite.) Der zweite Bauer hat wenigstens ein Feld mit sechs
mal zwei, also mit zwölf Quadratklaftern Flächeninhalt.
Und die Flächeninhalte der Felder des dritten und des vierten
Bauern betragen fünf mal drei, also 15, und vier mal vier,
also gar 16 Quadratklafter. Darum war seit jeher das Multiplizieren
so wichtig: Die Flächeninhalte von Rechtecken
kann man damit ausrechnen, wenn man deren Längen und
Breiten kennt.
Natürlich wussten die Landwirte schon seit grauer
Vorzeit, dass der Umfang ihrer Felder kaum eine Rolle spielt,
sondern nur deren Flächeninhalt. Zwar kommt in manchen
Volksschulbüchern noch immer die Aufgabe vor: „Ein Bauer
umzäunt sein Feld. Es ist 30 Meter lang und zehn Meter
breit. Wie lang ist der Zaun?" Aber eine Fahrt übers Land
belehrt, dass dieses Beispiel kaum Realitätsbezug hat. Felder
sind nicht umzäunt. Wozu auch? Wenn ein Bauer argwöhnt,
dass ihm der Nachbar ein Stück von einem seiner Felder
wegnimmt, also etwas von seiner Fläche - und natürlich nicht
von seinem Umfang - stiehlt, ruft er sofort den „Geometer".
Damit ist ein Vermessungsingenieur gemeint, der mit seinen
mathematischen Kenntnissen feststellt, ob der Argwohn des
Bauern berechtigt ist oder nicht. Landwirte verlassen sich
auf die Mathematik. Sie tun gut daran.
©BRANDSTÄTTER
Jedenfalls erzielte ich durch meine Ankündigung am Stundenbeginn
eine leicht nervöse Aufmerksamkeit, während ich
bei einigen Aufgabentypen, die vielleicht bei der schriftlichen
Prüfung auftauchen werden, letzte hilfreiche Hinweise gab
und ein paar Musterbeispiele ein letztes Mal vorrechnete. Die
leise spürbare Anspannung der Kinder - ich nenne sie auch
dann so, wenn sie bereits 18 Jahre alt sind, weil ich sie einst
als echte Kinder kennengelernt hatte und sie dies, jedenfalls
bis zu ihrer Matura, immer für mich blieben - nahm gegen
Stundenende zu, und endlich war es soweit:
„In drei Minuten wird es läuten", wurde von mehreren
Seiten zum Katheder gerufen, „Sie wollten uns doch noch
etwas sagen!"
„Gut, dass ihr mich erinnert", spielte ich den Überraschten,
„ich habe euch tatsächlich etwas mitzuteilen: Es sind
jetzt die letzten Augenblicke, wo wir in der Klassengemeinschaft
so zusammen sind, wie wir das jahrelang zuvor immer
waren. Danach gibt es nur mehr die schriftlichen Prüfungen
bei der Matura, die ziemlich amtlich ablaufen, und die
mündlichen Prüfungen, bei denen ihr einzeln, jede und
jeder für sich, gefordert sein werdet. Jetzt, in diesen Minuten,
sehen wir einander so zum letzten Mal. Und da ist es mir
wichtig, dass ich euch Folgendes sage:
Ihr seid unsere Hoffnung.
Und mit uns meine ich das Lehrerkollegium, mich eingeschlossen,
aber auch eure Eltern, eure Mütter und Väter, ja
eigentlich alle in euren Augen ältere Menschen in unserem
Staat und unserer Gesellschaft.
Ihr seid unsere Zukunft. Wir haben niemand anderen
als euch, von denen wir erwarten können, dass sie unser
Land weiter gestalten werden.
Wir haben als Lehrerinnen und Lehrer alles, was wir
wissen und können, in euch investiert. Und selbst wenn es
in manchen Momenten pädagogischer Verzweiflung, für die
ich mich jetzt in aller Form entschuldige, vielleicht nicht so
von euch empfunden wurde: Wir setzen alle Jetons unseres
Lebensspiels auf euch. Weil wir erwarten, dass ihr Karrieren
so vernünftig ergreift und euer Leben so sinnvoll gestaltet,
dass es nicht nur euch, sondern auch der ganzen Gemeinschaft
Nutzen bringt. Weil wir davon ausgehen, dass ihr im
Staffellauf des Lebens den Stab von uns übernehmt. Und
weil wir uns wünschen, dass ihr mit dem, was wir euch vermittelten,
glücklich werdet.
Ich hoffe, ich habe euch so viel gegeben, dass ich euch
füglich alles Glück dieser Welt wünschen kann. Das ist es,
was ich euch noch sagen wollte."
Noch waren die drei Minuten nicht vorüber, ich genoss für ein
paar Sekunden die vollkommene Stille, die den Raum erfüllte,
und verließ - zugegeben nicht ganz gesetzeskonform ein
wenig vorzeitig - die von mir überraschte Klasse. Mit solchen
Worten hatte niemand aus der Schar der Kinder gerechnet.
Dennoch habe ich jede einzelne Silbe ernst gemeint.
Mit Mathematik Menschen Wege zum Glück öffnen
zu können: Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass dies
möglich ist.
Und dass sich die Schule darum bemühen muss.
II
Mathematik fürs Leben
- Erster Teil
Zahlen verkünden Macht und Besitz
Das Rechnen wurde erfunden, weil man reich werden oder
wenigstens reich bleiben wollte. Darum ist es attraktiv.
Sicher: Geld allein macht nicht glücklich, aber - wie Marcel
Reich-Ranicki einmal gesagt haben soll - „es ist besser, in
einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn".
Leider wird das viel zu wenig betont. Obwohl man über
das Interesse der Reichen und Mächtigen an Zahlen phantasievolle
Geschichten - sind sie nicht wahr, so sind sie doch
gut erfunden - erzählen kann, die man bis in die frühesten
Epochen der Menschheit verlegt. Es sind Geschichten, die
zeigen, wie wichtig es ist, dass man das Addieren und Subtrahieren,
das Multiplizieren, das Dividieren beherrscht. Nur
damit bewahrt man bei seinem Eigentum den Überblick,
kann es vielleicht sogar vermehren.
Schon in der jüngeren Steinzeit, als Menschen
sesshaft wurden, beginnt das Rechnen. Der Häuptling
eines Stammes will wissen, ob er mehr keulenschlagende
Gefährten hat als der Nachbarstamm. Denn wenn dies der
Fall ist, kann er den Kampf um einen vielversprechenden
Landstrich wagen. Der Häuptling selbst, er ist ja Politiker,
ist des Zählens nicht kundig. Aber er beschäftigt einen
Zählen mit VI für sechs, VII für sieben, VIII für acht und VIIII
für neun weitergeht. Bei der Zahl zehn denkt man an zwei
Hände: ein V wird angeschrieben, das zweite V horizontal
gespiegelt darunter, und schon bekommt man das römische
Zeichen X für zehn.
Zahlen, die kleiner als 50 sind - und dies sind in den
Anfangszeiten des Rechnens gar nicht so kleine Zahlen -,
kann man damit erfassen. Aber mühsam ist es doch. Angenommen,
der Gläubiger hat dem ersten Schuldner VII Sesterzen,
dem zweiten Schuldner XVIII und dem dritten Schuldner
XIIII Sesterzen geliehen. Auf XXXVIIII, also auf 39 Sesterzen als
gesamten Schuldenstand zu schließen, ist schon eine aufwendige
Rechnung. Aber sie will gemacht werden. Denn der Gläubiger
möchte über sein verborgtes Kapital Bescheid wissen.
Und bereits in römischer Zeit hat man für solche Additionen
eigene Rechengeräte erfunden. Man wusste schon damals:
Rechnen ist ein ödes Geschäft. Zuerst verschob man Perlen
oder kleine Steine, Calculi genannt - das Wort Kalkül für
Rechnung kommt daher. Dann konstruierte man ein Gestell,
bei dem die Perlen an Stäben entlanggeführt werden: den
Abakus. Bis heute wird er in Russland und Asien gelegentlich
noch als preiswertes Rechengerät verwendet.
Zahlen geben Sicherheit
Doch gehen wir in noch frühere Zeitalter zurück, drei Jahrtausende
vor Christus: Haran, ein reicher Bauer aus Mesopotamien,
dem Zweistromland, möchte einige seiner Rinder
und Schafe dem Händler Nahor in Ur, der Stadt, aus der
Abraham stammte, verkaufen und dafür Saatgut, Textilien
und Baumaterial erwerben. Um auf Nummer sicher zu
gehen, dass der Knecht, den Haran mit den Tieren zu Nahor
schickt, diese vollzählig beim Händler abliefert, nimmt der
Bauer einen irdenen Topf und wirft für jedes Rind, das er
dem Knecht anvertraut, eine Kugel in den Topf. Und für jedes
Schaf, das er verkaufen will, wirft er eine Scheibe in den Topf.
Zwar kann Haran noch nicht mit Zahlwörtern zählen, aber
die Kugeln und Scheiben leisten das Gleiche. Sodann verschließt
Haran den Topf mit einem Deckel und verschmiert
den Rand von Topf und Deckel mit Lehm. Das verschlossene
Gefäß wird im Feuer gebrannt, sodass der Deckel fest
am Topf geheftet bleibt. Mit diesem Gefäß und den Tieren
schickt Haran den Knecht auf die mehrere Tage dauernde
Reise zu dem Händler in Ur.
Dort endlich angekommen, nimmt Nahor dem Knecht
den Topf aus der Hand. Der Händler weiß aus Erfahrung mit
den Bauern, mit denen er Geschäfte macht, was es mit diesem
Behältnis auf sich hat: Nahor lässt den Topf auf den Steinboden
fallen, dieser zerbricht in Dutzende Scherben und die
Kugeln und Scheiben kommen wieder zum Vorschein. Jetzt
wird gezählt. Kuh - Kugel, Kuh - Kugel: So viele Kugeln,
so viele Kühe müssen abgeliefert werden. Schaf - Scheibe,
Schaf - Scheibe: Bei den Schafen ist es das Gleiche. Und
wehe, wenn eines der Tiere fehlen sollte: Der Knecht müsste
es mit seinem Leben büßen. Natürlich: Wenn die Reise zum
Händler mehrere Tage in Anspruch nahm und eines der
Tiere trächtig war, konnten sogar noch mehr Tiere abgeliefert
werden, als es Kugeln und Scheiben im Topf gab. Dies ist der
entscheidende Unterschied zwischen der Biologie und der
Mathematik: In der Biologie ändert sich alles mit der Zeit.
Die Zahlen hingegen bleiben über alle Zeiten hinweg immer
die gleichen. Sie sind für immer konstant. Nicht die Biologie,
die Mathematik ist die nachhaltigste aller Wissenschaften.
Einzig unser Zugang zu den mathematischen Objekten
wandelt sich. Er wird von Generation zu Generation einfallsreicher.
So kennt Nahor bereits andere Bauern, die es
geschickter machen als der alte Haran. Die jungen Bauern
nehmen eine Lehmtafel und ritzen in ihr Zeichen ein: Runde
Kreise stehen für die Kugeln, die Haran in den Topf warf,
senkrechte Striche stehen für die Scheiben. Wenn danach
die Lehm- zu einer Tontafel gebrannt wird, sind die so eingetragenen
Zahlen genauso unverwüstlich wie die Kugeln
und Scheiben in Harans verschlossenem Topf. Und zusätzlich
bieten sie den Vorteil, dass der Knecht auf der langen
Reise zum Händler stets überprüfen kann, ob die Tiere in
seiner Herde vollzählig vorhanden sind. Noch heute finden
wir solche Tontafeln in dem von Euphrat und Tigris durchzogenen
Wüstenland mit eingravierten Zeichen. Zwar nicht
Kreise und Striche, wie es in der vereinfachten Geschichte
beschrieben ist, sondern mit Keilschriftzeichen. Doch diese
leisten das Gleiche: Es war das Bestreben der Menschen, über
ihren Besitz gleichsam Buch zu führen, das sie zur Erfindung
von Zahlen, aber auch zur Erfindung der Schrift veranlasste.
Vom Ursprung des Multiplizierens
„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den
Gedanken kam zu sagen: ,Dies ist mein‘, und der Leute fand,
die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre
Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen,
Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht
derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle
herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen
Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch davor, auf diesen
Betrüger zu hören! Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass
die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem
gehört!‘"
1754 erschien die Abhandlung über den Ursprung und die
Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von Jean-
Jacques Rousseau. Obiges Zitat bildet den Ausgangspunkt
seiner Idee vom Naturzustand des Menschen. In diesem
paradiesischen Zustand, so Rousseau, war der Mensch
gleichgültig gegenüber Eigentum. Wäre er es nur geblieben,
klagt der einfältige Rousseau. Dann gäbe es keinen Kampf
um mehr Besitz. Es gäbe nämlich überhaupt keinen Besitz
- und auch keine Zahlen. Denn niemand würde sich genötigt
fühlen, irgendetwas zu zählen.
Tatsächlich gibt es in schwer zugänglichen Winkeln der
Welt immer noch Naturvölker, die von Eigentum und Besitz
und daher auch von Zahlen nichts wissen. Sie kennen neben
Einzelnem nur noch Paare und höchstens Dreiergruppen.
Bei mehr als drei Bäumen sehen Bakairis oder Bororos,
Ureinwohner Brasiliens, einfach nur „viele" Bäume und
greifen sich, um dies zum Ausdruck zu bringen, in die Haare.
Ganz fremd ist auch uns dies nicht: Als Spaziergänger sehen
wir die Bäume im Wald, kommen aber nie auf die Idee, sie
zu zählen. Sie gehören uns auch nicht. Es reicht uns, dass es
viele sind. Allein der Landwirt, der einen Forst sein Eigen
nennt, will über die Zahl seiner Bäume Bescheid wissen.
Ein Stück Land, am besten ein Rechteck, einzuzäunen
und als seinen Besitz zu erklären, damit beginnt, behauptet
Rousseau, die Geschichte als ein stetes Hin und Her
von Reichtum und Armut, von Gewinnern und Verlierern.
Dabei ist der Zaun um das Rechteck gar nicht das Wesentliche.
Das stellen vier Bauern fest, die Zäune um ihre kleinen
rechteckigen Felder anlegen: Der erste Bauer hat ein Feld,
das sieben Klafter lang, aber nur einen Klafter breit ist. Der
zweite ein Feld, das sechs Klafter lang und zwei Klafter breit
ist. Der dritte ein Feld, das fünf Klafter lang und drei Klafter
breit ist. Und der vierte hat ein quadratisches Feld, das vier
Klafter lang und vier Klafter breit ist. Alle vier Felder haben
den gleichen Umfang. Alle vier Bauern brauchen Bretter für
jeweils einen 16 Klafter umfassenden Zaun. In diesem Sinn
sind alle vier Felder gleich groß.
Aber wenn es zur Ernte kommt, ärgert sich der erste
Bauer, weil seine Nachbarbauern weitaus mehr ernten als er,
der dritte und der vierte gar mehr als doppelt so viel. Denn
auf den Umfang der Rechtecke kommt es bei der Ernte nicht
an, sondern auf den Flächeninhalt, den die Rechtecke einnehmen.
Da ist der erste Bauer arm dran, weil sein Feld nur
sieben mal eins, also nur sieben Quadratklafter Fläche besitzt.
(Ein Quadratklafter ist, wie das Wort sagt, der Flächeninhalt
eines Quadrats mit einem Klafter Länge und einem Klafter
Breite.) Der zweite Bauer hat wenigstens ein Feld mit sechs
mal zwei, also mit zwölf Quadratklaftern Flächeninhalt.
Und die Flächeninhalte der Felder des dritten und des vierten
Bauern betragen fünf mal drei, also 15, und vier mal vier,
also gar 16 Quadratklafter. Darum war seit jeher das Multiplizieren
so wichtig: Die Flächeninhalte von Rechtecken
kann man damit ausrechnen, wenn man deren Längen und
Breiten kennt.
Natürlich wussten die Landwirte schon seit grauer
Vorzeit, dass der Umfang ihrer Felder kaum eine Rolle spielt,
sondern nur deren Flächeninhalt. Zwar kommt in manchen
Volksschulbüchern noch immer die Aufgabe vor: „Ein Bauer
umzäunt sein Feld. Es ist 30 Meter lang und zehn Meter
breit. Wie lang ist der Zaun?" Aber eine Fahrt übers Land
belehrt, dass dieses Beispiel kaum Realitätsbezug hat. Felder
sind nicht umzäunt. Wozu auch? Wenn ein Bauer argwöhnt,
dass ihm der Nachbar ein Stück von einem seiner Felder
wegnimmt, also etwas von seiner Fläche - und natürlich nicht
von seinem Umfang - stiehlt, ruft er sofort den „Geometer".
Damit ist ein Vermessungsingenieur gemeint, der mit seinen
mathematischen Kenntnissen feststellt, ob der Argwohn des
Bauern berechtigt ist oder nicht. Landwirte verlassen sich
auf die Mathematik. Sie tun gut daran.
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Autoren-Porträt von Rudolf Taschner
Taschner, RudolfDass Mathematik glücklich macht, beweist Rudolf Taschner seit Jahren in dem von seiner Frau Bianca und ihm im Wiener Museumsquartier geleiteten Projekt math.space: Der Mathematiker aus Leidenschaft erklärt sein Lebensthema unterhaltsam und leichtfüßig - und damit für alle zugänglich.Taschner, RudolfDass Mathematik glücklich macht, beweist Rudolf Taschner seit Jahren in dem von seiner Frau Bianca und ihm im Wiener Museumsquartier geleiteten Projekt math.space: Der Mathematiker aus Leidenschaft erklärt sein Lebensthema unterhaltsam und leichtfüßig - und damit für alle zugänglich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rudolf Taschner
- 2017, 160 Seiten, Maße: 14,3 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BRANDSTÄTTER
- ISBN-10: 3710601673
- ISBN-13: 9783710601675
- Erscheinungsdatum: 17.08.2017
Kommentar zu "Taschner, R: Vom 1x1 zum Glück"
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