Tödliche Spur
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Am Weihnachtsabend vor zwei Jahren verschwand Avas kleiner Sohn spurlos
Der kleine Junge wurde zuletzt am Bootsanleger von Church Island gesehen. Auf der kleinen Insel vor der Küste Washingtons glauben alle an einen Unfall. Alle...
Der kleine Junge wurde zuletzt am Bootsanleger von Church Island gesehen. Auf der kleinen Insel vor der Küste Washingtons glauben alle an einen Unfall. Alle...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tödliche Spur “
Am Weihnachtsabend vor zwei Jahren verschwand Avas kleiner Sohn spurlos
Der kleine Junge wurde zuletzt am Bootsanleger von Church Island gesehen. Auf der kleinen Insel vor der Küste Washingtons glauben alle an einen Unfall. Alle außer Ava. Nach zwei Jahren in der Psychiatrie ist die Mutter des Jungen fest entschlossen, sich auf die Spurensuche zu begeben. Dabei dringt sie immer tiefer in ein Netz aus Lügen und Intrigen, aus Rache und Hass vor.
Der kleine Junge wurde zuletzt am Bootsanleger von Church Island gesehen. Auf der kleinen Insel vor der Küste Washingtons glauben alle an einen Unfall. Alle außer Ava. Nach zwei Jahren in der Psychiatrie ist die Mutter des Jungen fest entschlossen, sich auf die Spurensuche zu begeben. Dabei dringt sie immer tiefer in ein Netz aus Lügen und Intrigen, aus Rache und Hass vor.
Klappentext zu „Tödliche Spur “
Weihnachtsabend auf Church Island, einer kleinen Insel vor der Küste Washingtons. Ein kleiner Junge verschwindet spurlos. Da er zuletzt am Bootsanleger gesehen wurde, wird ein tragischer Unfall vermutet. Nur seine Mutter Ava will das nicht glauben, sie erleidet einen Zusammenbruch und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Zwei Jahre später darf Ava nach Hause - und fühlt sich dort seltsam fremd. Sie beschließt, sich auf die Suche nach Spuren zu begeben. Niemals hat sie an die Geschichte des tragischen Unfalls geglaubt, die man ihr immer über das Verschwinden ihres Sohnes erzählt hat. Auf ihrer Suche gerät sie in ein bizarres Netz aus Lügen und Intrigen, Rache und Hass.
Lese-Probe zu „Tödliche Spur “
T Tödliche Spur von Lisa JacksonProlog
... mehr
Wieder dieser Traum.
Es ist ein grauer, nebelverhangener Tag, und ich bin in der Küche, telefoniere mit jemandem ... Dieser Teil ist übrigens jedes Mal anders. Mal spreche ich mit meinem Ehemann Wyatt, dann mit Tanya und manchmal auch mit meiner Mutter, obwohl sie schon lange, lange tot ist. Aber so ist das nun mal. Aus dem Wohnzimmer, das hier in diesem Haus an die Küche grenzt, höre ich den Fernseher. Ein Zeichentrickfilm läuft, und ich weiß, dass Noah auf dem Teppich vor dem Flachbildschirm mit seinem Spielzeug beschäftigt ist.
Ich habe Brot gebacken, die Küche ist noch warm vom Ofen, und ich denke an Thanksgiving. Als ich aus dem Fenster blicke, stelle ich fest, dass es draußen schon fast dunkel ist, die Abenddämmerung senkt sich herab. Es muss kalt sein, die Bäume zittern im Wind, ein paar störrische Blätter hängen noch an den dünnen, skelettartigen Zweigen. Auf der anderen Seite der Bucht sehe ich die Stadt Anchorville, verschleiert vom Nebel.
Hier drinnen, in dem alten Herrenhaus, das mein Ururgroßvater erbaut hat, ist es gemütlich.
Sicher.
Es duftet nach Zimt und Muskat.
Plötzlich bemerke ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor dem Küchenfenster. Es ist sicher Milo, unser Kater, denke ich, doch dann fällt mir ein, dass Milo, eine prächtige Tigerkatze, tot ist, und zwar schon seit Jahren.
Auf einmal wird mir mulmig zumute. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, durch den immer dichter werdenden Nebel, der vom Meer heraufzieht, etwas zu erkennen. Ich weiß, dass da draußen etwas ist, im Garten, hinter der Rosenhecke, wo die windzerzausten Sträucher stehen.
Quiiieeetsch!
Ein Schatten huscht an der Veranda vorbei. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchte ich, dass etwas Böses hinter den pfeilförmigen Spitzen des schmiedeeisernen Zauns lauert, der das Grundstück umgibt.
Quiiieeetsch! Wumm! Das Tor fliegt auf und schwingt im stürmischen Wind hin und her.
In diesem Augenblick fällt mein Blick auf Noah, meinen Sohn, mit seinem kleinen Kapuzenpullover und den hochgekrempelten Jeans. Er hat sich aus dem Haus gestohlen und spaziert durch das offene Tor aus dem Garten. Fröhlich hüpft er durch die Dämmerung Richtung Anleger, als würde er hinter irgendetwas herjagen, dem Hund oder einem Eichhörnchen vielleicht.
»Nein!«
Ich lasse den Hörer fallen.
Wie in Zeitlupe prallt er gegen mein Wasserglas, dessen Inhalt sich über die Küchenanrichte ergießt.
Ich wirbele herum, bestimmt habe ich mich getäuscht und er sitzt noch auf dem Teppich vor dem Fernseher ... Nein, das Wohnzimmer ist leer, über den Bildschirm flackert irgendein Disneyfilm, Aladin, glaube ich.
»Noah!«, schreie ich aus voller Lunge und wende mich wieder Richtung Küche.
Ich trage ein Nachthemd, und meine Füße fühlen sich an, als steckten sie in Treibsand fest, ich komme nicht schnell genug von der Stelle. Aus den Fenstern, die auf die Bucht blicken, sehe ich, wie der Kleine durch die aufziehende Dunkelheit läuft und sich mehr und mehr dem Wasser nähert.
Ich poche mit der Faust gegen eins der alten Fenster.
Die Scheibe zerspringt.
Glassplitter fliegen durch die Luft.
Blut spritzt.
»Noah!«
Er hört mich nicht. Ich versuche, die Glastür zur Veranda zu öffnen, doch sie lässt sich nicht bewegen. Nicht mal ein winziges Stückchen. Blut läuft an der Scheibe hinab.
Ich quäle mich in Zeitlupe durchs Zimmer, den Gang entlang, rufe nach meinem Sohn, nach Wyatt, bis ich endlich die Haustür erreiche. Sie ist unverschlossen, ein Türflügel schwingt mit einem lauten Ächzen auf. Jetzt stehe ich auf der Vortreppe. »Noah!«
Ich weine. Schluchze. Panik steigt in mir auf, und beinahe wäre ich auf den feuchten Stufen ausgerutscht. Ich laufe an tropfnassen Rhododendren und sturmgepeitschten Kiefern vorbei, die überall auf dieser gottverlassenen Insel stehen, die Insel, die mir für den Großteil meines Lebens ein Zuhause war. »Noah!«, rufe ich wieder, doch meine Stimme geht im Tosen der See unter. Ich kann meinen Jungen nicht mehr sehen, er ist hinter den verwelkten Rosensträuchern verschwunden, als habe ihn der tiefhängende Nebel verschluckt.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ihm nichts zustößt!
Die kühle Luft des Pazifiks lässt mich frösteln, doch das ist nichts, verglichen mit der Kälte, die ich in meinem Herzen empfinde. Ich renne den mit Austern- und Venusmuschelschalen bestreuten Weg entlang, die scharfen Kanten schneiden mir in die nackten Füße, dann stürme ich über den Bootsanleger bis dorthin, wo die glitschigen Planken im Nebel verschwinden. »Noah!« Um Himmels willen! »Noah!«
Niemand da.
Die Pier ist leer.
Er ist verschwunden.
Verschluckt vom Nebel.
»Noah! Noah!« Ich stehe auf dem Anleger und rufe seinen Namen. Tränen laufen mir übers Gesicht, Blut tropft von meiner zerschnittenen Hand ins brackige Wasser. »Noah!«
Die Brandung umspült die Pier und bricht sich tosend am Ufer.
Mein Junge ist fort.
Verschlungen von der See, in Luft aufgelöst - ich weiß es nicht.
»Nein, nein ... nein!« Verzweifelt sinke ich auf die Planken, starre ins Wasser und überlege, ob ich in die dunklen, eisigen Tiefen springen und meinem Leben ein Ende setzen soll.
»Noah ... bitte. Gott, beschütze ihn ...«
Mein Gebet verweht im Wind.
Dann wache ich auf.
Ich liege in meinem Bett, in dem Raum, der schon seit Ewigkeiten mein Schlafzimmer ist.
Im ersten Augenblick verspüre ich Erleichterung. Ein Traum ... es war nur ein Traum. Ein schrecklicher Alptraum. Dann trifft mich die Erkenntnis, dass ich mich irre.
Plötzlich ist mein Herz wieder schwer.
Tränen brennen in meinen Augen.
Ich weiß es.
Ich weiß, dass mein Sohn wirklich fort ist. Verschwunden. Es ist jetzt zwei Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
Auf dem Anleger?
In seinem Bettchen?
Beim Spielen, draußen, unter den Tannen?
Du liebe Güte, denke ich niedergeschlagen und mit schmerzendem Herzen.
Ich kann mich nicht erinnern.
Kapitel eins
Ich meine es ernst, du darfst das keiner Menschenseele erzählen «, flüsterte eine rauchige Frauenstimme. »Ich könnte meinen Job verlieren.«
Ava Garrison öffnete ein schlaftrübes Auge. Von ihrem Bett aus hörte sie die Stimme hinter der schweren Eichentür, die einen Spaltbreit offen stand.
»Sie hat keine Ahnung, was los ist«, stimmte eine weitere Frau zu. Ihre Stimme war tiefer als die erste, und Ava meinte zu wissen, wem sie gehörte. Pochender Kopfschmerz machte sich hinter ihren Augen bemerkbar, wie immer, wenn sie einen Alptraum gehabt hatte. Der Schmerz würde nachlassen, doch in den ersten Minuten nach dem Aufwachen hatte sie stets das Gefühl, eine Horde eisenbeschlagener Pferde galoppiere durch ihr Gehirn.
Sie holte tief Luft und blinzelte. Im Zimmer war es dunkel, die Vorhänge waren vorgezogen, das Rumpeln der uralten Heizung übertönte das Gespräch der beiden Frauen. Ava konnte nur einzelne Fetzen verstehen.
»Schscht ... sie müsste bald aufwachen ...«, sagte die rauchige Stimme. Ava versuchte, sie einer Person zuzuordnen, und kam auf Demetria, Jewel-Annes griesgrämige Pflegerin. Obwohl sie noch keine dreißig war, trug die großgewachsene, hagere Demetria stets einen mürrisch-strengen Ausdruck zur Schau, der zu ihrem schwarz gefärbten, straff im Nacken zusammengefassten Haar passte. Ihr einziges Zugeständnis an die Launen der Jugend war eine Tätowierung, eine tintenblaue Ranke, die sich unter der breiten Schildpatthaarspange hervorringelte und hinter ihrem Ohr auslief. Das Tattoo erinnerte Ava an einen schüchternen Kraken, der vorsichtig einen Arm aus seinem Versteck hervorstreckte.
»Also, was gibt's? Was ist los mit ihr?«, fragte die zweite, tiefere Stimme ein wenig barsch. Oh, mein Gott, gehörte sie tatsächlich Khloe? Ava verspürte einen Stich ob dieses Vertrauensbruchs. War es möglich, dass Khloe sie so hinterging? Sie wusste, dass die beiden Frauen über sie sprachen. Khloe war einst ihre beste Freundin gewesen, sie waren zusammen auf dieser abgeschiedenen Insel aufgewachsen. Doch das war schon Jahre her, lange bevor sich die frische, unbekümmerte Khloe in eine unglückliche Seele verwandelt hatte. Sie konnte einfach nicht ihre große Liebe vergessen, die bei einem Unfall so abrupt aus dem Leben gerissen worden war.
Weiteres Geflüster ...
Natürlich. Es war fast so, als wollten die zwei, dass sie ihr Gespräch mit anhörte.
Ava bekam nur einzelne Fetzen mit, die ebenso zusammenhanglos wie wahr waren.
»... verliert langsam den Verstand ...« Khloe?
»Das geht doch schon seit Jahren so. Armer Mr. Garrison.«
Die rauchige Stimme.
Armer Mr. Garrison? Meinte sie das ernst?
Khloe, wenn sie es denn war, stimmte ihr zu. »Er leidet wirklich sehr.«
Wyatt? Leiden? Ach. Der Mann, der sich alle Mühe gibt, dir auszuweichen, weg ist, immer nur weg? Der Mann, von dem du dich bei mehr als einer Gelegenheit hast scheiden lassen wollen? Ava bezweifelte, dass ihr Ehemann auch nur einen einzigen Tag seines Lebens gelitten hatte. Am liebsten hätte sie sich bemerkbar gemacht, doch sie wollte hören, was die Frauen noch sagten, welcher Klatsch in den langen Fluren von Neptune's Gate kursierte, diesem hundert Jahre alten Haus, errichtet und benannt von ihrem Ururgroßvater.
Neptune's Gate - die Pforte des römischen Meeresgottes.
»Nun, etwas muss doch passieren, die sind doch reicher als Gott!«, murmelte eine der Frauen. Ihre Worte verklangen, als würde sie sich von der Tür entfernen.
»Um Himmels willen, sprich leise! Die Familie sorgt immerhin dafür, dass sie die bestmögliche Pflege bekommt ...«
Die Familie?
Avas Kopf hämmerte, als sie die dicke Federdecke abwarf und mit nackten Füßen auf den flauschigen Teppich trat, der auf dem Hartholzboden lag. Tannen ... Der Boden war aus Tannenholz, fiel ihr ein, die Planken zugesägt von der Sägemühle, die einst das Herz von Church Island gewesen war. Derselbe Ururgroßvater, der Neptune's Gate erbaut hatte, hatte auch der Insel ihren Namen gegeben.
in Schritt, zwei ... Ava verlor das Gleichgewicht und klammerte sich an den hohen Bettpfosten.
»Die Familie braucht Antworten ...«
»Brauchen wir die nicht alle?« Ein leises, boshaftes Kichern.
Bitte, lieber Gott, mach, dass das nicht Khloe ist.
»Aber uns gehört nichts von dieser verfluchten Insel.«
»Das wäre was ... wenn sie uns gehörte, meine ich.« Die Stimme klang sehnsüchtig.
Ava machte einen weiteren Schritt und spürte, wie ihr übel wurde. Sie schmeckte Galle auf der Zunge und fürchtete schon, sich übergeben zu müssen, doch dann schluckte sie mühsam, holte tief Luft und unterdrückte den Brechreiz.
»Sie ist völlig durchgedreht, trotzdem wird er sie nicht verlassen «, sagte eine der beiden Frauen jetzt. Ava verharrte in der Bewegung und verfluchte im Stillen ihre getrübte Erinnerung, ihr umwölktes Gehirn.
Früher einmal war sie blitzgescheit gewesen, hatte stets zu den Klassenbesten gezählt. Und später war sie eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen.
Mit zusammengebissenen Zähnen tappte sie weiter bis zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. Zwei Frauen gingen zur Treppe in der Mitte der Galerie. Keine von beiden war Khloe, wie Ava befürchtet hatte. Ava sah Virginia Zanders, Khloes Mutter, eine Frau, in die ihre Tochter zweimal hineingepasst hätte. Sie war die Köchin von Neptune's Gate. Die andere Frau war Graciela, die aushilfsweise als Hausmädchen arbeitete. Als habe sie gespürt, dass Ava in der Tür stand, warf sie einen Blick über die Schulter. Ihr Lächeln war so sacharinsüß wie der Eistee, den Virginia an heißen Sommertagen zubereitete. Anders als ihre Begleiterin war Graciela klein und zierlich, ihr glänzend schwarzes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Wenn sie wollte, konnte Graciela so strahlend lächeln, dass es den Zuckerguss eines M&M's zum Schmelzen gebracht hätte. Heute erinnerten ihre Lippen eher die der Grinsekatze aus Alice im Wunderland -als hüte sie irgendein großes, dunkles Geheimnis.
Über ihren Arbeitgeber. Oder ihre Arbeitgeberin.
Die Härchen auf Avas Unterarmen sträubten sich. Ein Frösteln rieselte ihr das Rückgrat hinunter. Gracielas dunkle Augen funkelten rätselhaft, dann verschwand sie mit Virginia die Treppe hinunter. Ihre Schritte verklangen.
Mit einem Ruck zog Ava die Tür zu und wollte automatisch absperren, aber das Schloss fehlte. An seiner Stelle hatte man eine optisch passende Scheibe angebracht, um das Loch in der Tür zu verdecken.
»Gott steh mir bei«, flüsterte sie, überlegte kurz, ob sie die Kommode davorschieben sollte, doch dann lehnte sie sich bloß mit dem Rücken gegen das Türblatt und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Lass dich nicht unterkriegen. Lass nicht zu, dass sie dich zum Opfer machen. Wehr dich!
»Wogegen?«, fragte sie ins dunkle Zimmer hinein, dann tappte sie hinüber zu den Fenstern, abermals verärgert über ihren benebelten Zustand. Wann war sie ein solcher Schwächling geworden? Wann? War sie nicht immer stark gewesen? Unabhängig? Ein Mädchen, das mit seiner Stute auf den Klippen oberhalb des Meeres entlanggaloppiert war, das die steilsten Gipfel auf dieser Insel erklommen hatte, das nackt in den eisigen, schäumenden Wassern des Pazifiks geschwommen war, dort, wo sie in die Bucht hineinstrudelten? Sie war gesurft, geklettert und ... und nun kam es ihr so vor, als sei das tausend, nein, Millionen Jahre her. Mindestens.
Jetzt war sie hier gefangen, in diesem Zimmer, während all die gesichtslosen Leute um sie herum mit gedämpften Stimmen sprachen und davon ausgingen, sie könne sie nicht hören, doch sie hörte sie. Natürlich hörte sie sie!
Manchmal fragte sie sich, ob die anderen wussten, dass sie wach war, ob sie das absichtlich taten. Vielleicht waren ihre ganzen Beileidsbekundungen, das Mitgefühl, das sie ihr entgegenbrachten, nichts als Fassade, und sie war gefangen in diesem grauenvollen Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab.
Sie vertraute niemandem. Doch dann fiel ihr ein, dass all das zu ihrem Krankheitsbild gehörte, zu ihrer Paranoia.
Taumelnd kehrte sie zum Bett zurück und ließ sich auf die weiche Matratze mit der teuren Bettwäsche fallen. Hoffentlich klang der Kopfschmerz bald ab. Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch das tat so weh, dass sie anfing zu zittern. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Niemand sollte so leiden müssen. Gab es dafür keine Schmerztabletten? Migränemittel? Andererseits nahm sie schon so viele Medikamente, weshalb sie sich manchmal fragte, ob der Kopfschmerz nicht genau daher rührte.
Sie verstand nicht, warum offenbar alle darauf aus waren, sie zu quälen, sie glauben zu machen, sie sei verrückt. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich das nicht nur einbildete. Alle steckten unter einer Decke: die Pflegerinnen, die Ärzte, das Hausmädchen, die Anwälte und Wyatt, ja, allen voran ihr Ehemann.
Mein Gott, klang das paranoid.
Vielleicht war sie tatsächlich verrückt.
Sämtliche Kräfte zusammennehmend, stieg Ava erneut aus dem Bett. Irgendwann würde der Schmerz schon vergehen. Das tat er doch immer. Nur beim Aufstehen war es die Hölle. Vorsichtig durchquerte sie das Zimmer, trat an eines der Fenster, schob die Vorhänge zurück und öffnete die Jalousien.
Es war ein grauer, trüber Tag, genau wie damals, als ... als Noah ...
Nein, denk nicht daran! Es bringt nichts, wenn du dich immer wieder mit der Erinnerung an die schlimmsten Momente deines Lebens peinigst!
Sie blinzelte, zwang ihre Gedanken, in die Gegenwart zurückzukehren, und starrte durch das schlierige Bleiglas im ersten Stock dieses alten, ehedem prachtvollen Herrenhauses. Der Herbst ging in den Winter über, und sie kniff die Augen gegen das Zwielicht zusammen. Ihr Blick fiel auf den Anleger, der umwabert war von Nebelschwaden.
Es war gar nicht Morgen, es war fast Abend, wurde ihr klar, wenngleich ihr das merkwürdig vorkam. Hatte sie tatsächlich so lange geschlafen, Stunden ... Tage vielleicht?
Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf, jetzt bist du ja wach.
Sie legte eine Hand auf die kühle Scheibe. Langsam nahm sie die Umgebung deutlicher wahr. Das Holz des Bootshauses am Ufer war mit den Jahren grau geworden, der Anleger, der daneben in das vom Wind aufgewühlte Wasser der Bucht führte, ebenfalls. Die Flut kam, schäumende Wellen rollten an die Küste.
Genau wie an jenem Tag ...
Ein Schauder, kalt wie die Tiefen des Meeres, überlief sie, ein Frösteln, das tief aus ihrem Innern kam.
Das Fenster beschlug von ihrem Atem, als sie die Stirn gegen das Glas lehnte.
Sie spürte den vertrauten Kloß in ihrem Hals, wusste, was nun kommen würde.
»Bitte ...«
Die Augen zusammengekniffen, starrte sie auf das Ende der Pier.
Und da war er, ihr kleiner Sohn, am Rande des Abgrunds, ein geisterhafter Schemen im Nebel.
»Noah«, flüsterte sie, plötzlich außer sich vor Angst. Ihre Finger glitten voller Panik die Scheibe hinab. »O Gott, Noah!«
Er ist nicht hier. Dein angeschlagener Verstand spielt dir einen Streich.
Doch sie durfte es nicht darauf ankommen lassen. Was, wenn diesmal, dieses eine Mal, wirklich ihr Junge auf dem Anleger stand? Er trug seinen roten Kapuzenpullover und hatte ihr im feuchten Nebel den Rücken zugedreht. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
»Noah!«, rief sie und hämmerte gegen das Glas. »Noah! Komm zurück!«
Hastig versuchte sie, das Fenster zu öffnen, doch anscheinend hatte man es zugenagelt.
»Komm schon, bitte!«, schrie sie und zerrte mit aller Kraft am Rahmen. Ihre Fingernägel brachen. Das verdammte Fenster gab keinen Millimeter nach. »Oh, mein Gott ...«
Barfuß, beflügelt von ihrer Furcht, riss sie die Tür auf, stürzte aus ihrem Zimmer und den Gang entlang zur Hintertreppe, ihre nackten Füße klatschten auf den glatten Holzboden. Runter, runter, runter ... Eine Hand am Geländer, flog sie die Stufen hinab. Noah, mein lieber, süßer Junge. Noah!
Unten angekommen, rannte sie in die Küche, dann zur Hintertür hinaus, über die windgeschützte Veranda, durch den riesigen Garten und weiter Richtung Ufer.
Jetzt konnte sie laufen. Schnell sogar. Die Abenddämmerung senkte sich herab.
»Noah!«, rief sie, während sie über die grasüberwucherten Wege rannte, an verwelkten Rosenbüschen und tropfnassen Farnen vorbei zur Pier, deren Ende vom Nebel und der Dunkelheit verschluckt war. Keuchend stieß sie den Namen ihres Sohnes hervor, verzweifelt und doch voller Hoffnung, dass er aus dem Nebel auftauchen und sie mit seinen großen, vertrauensvollen Augen anschauen würde ...
Der Anleger war leer. Die Nebelschwaden warfen zuckende Schatten aufs Wasser, in der Ferne kreischten Möwen.
»Noah!«, schrie sie und rannte über die schlüpfrigen Planken. »Noah!«
Sie hatte ihn gesehen, ganz bestimmt!
O Liebling ... »Noah, wo bist du?«, fragte sie schluchzend, als sie das Ende der Pier erreicht hatte. »Ich bin's, Schätzchen, Mama ...«
Ein letzter gehetzter Blick über den Anleger und das Bootshaus bestätigten ihr, dass er nicht da war. Ohne zu zögern sprang sie ins eisige Wasser. Die Kälte fuhr ihr in die Glieder, sie schmeckte Salzwasser auf ihren Lippen, während sie hektisch mit Armen und Beinen ruderte und verzweifelt nach ihrem Sohn Ausschau hielt.
»Noah!«
»Du lieber Himmel, wo kann er nur sein?« Sie tauchte unter, kam hustend und spuckend wieder an die Oberfläche. Nichts. Trotzdem tauchte sie wieder und wieder unter, in der Hoffnung, ihn in der trüben, dunklen Tiefe zu entdecken.
Lieber Gott, bitte mach, dass ich ihn finde. Bitte hilf mir, ihn zu retten! Lass ihn nicht sterben! Er ist doch ein unschuldiges Kind!
Ihr Nachthemd bauschte sich auf der Wasseroberfläche, sie hatte ihr Haarband verloren, nun schwebten die langen Haare wie ein Fächer um ihren Kopf. Langsam machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Als sie wieder einmal auftauchte, stellte sie fest, dass sie ein gutes Stück vom Anleger abgetrieben war. Plötzlich meinte sie, eine Stimme zu vernehmen.
»He!«, rief ein Mann. »He, Sie da draußen!«
Sie tauchte erneut unter, zwang sich, die vom Salzwasser brennenden Augen zu öffnen und die Luft anzuhalten, bis sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden zerreißen. Wo ist er? Noah, o Gott, mein Kleiner ... Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, doch sie durfte jetzt nicht aufhören zu suchen. Musste ihren Sohn finden ... Das Wasser um sie herum wurde dunkler und kälter. Noch immer keine Spur von Noah.
Plötzlich war jemand neben ihr.
Starke Arme umschlossen ihren Brustkorb. Sie war schwach, stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, als sie an die Oberfläche gezogen wurde.
Hustend schnappte sie nach Luft, spuckte Salzwasser aus und blickte in das ernste, entschlossene Gesicht eines Fremden.
»Sind Sie verrückt geworden?«, fragte er. Doch bevor sie eine Antwort geben konnte, knurrte er: »Ach, zum Teufel!«, und fing an, sie mit kräftigen Beinschwüngen zum Ufer zurückzuschleppen. Im hüfthohen Wasser angekommen, wurde ihr klar, wie weit sie von der Pier abgetrieben war. Der Mann ließ sie los, stützte sie nur noch mit einem Arm und half ihr durch die ausrollenden Wellen ans sandige Ufer.
Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper, doch Ava fühlte nichts außer ihrer tiefen, alles überwältigenden Trauer. Sie schluckte mühevoll, schmeckte das Salz auf ihren Lippen, dann endlich sah sie ihren Retter an. Wer mochte er sein? Sie war ihm noch nie zuvor begegnet.
Oder doch? Er kam ihr vage vertraut vor, dieser etwa dreißigjährige, ungefähr eins fünfundachtzig große Mann mit seinem nassen, langärmeligen Hemd und den durchweichten Jeans. Er wirkte abgehärtet, rau, als hätte er die größte Zeit seines Lebens draußen verbracht.
»Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«, schimpfte er und wischte sich das widerspenstige Haar aus den Augen. »Sie hätten ertrinken können!« Und dann: »Ist alles in Ordnung?« Natürlich nicht. Gar nichts war in Ordnung. Und sie war sich absolut sicher, dass nichts mehr jemals auch nur ansatzweise wieder in Ordnung kommen würde.
»Ich bringe Sie ins Haus.« Ohne ihren Arm loszulassen, half er ihr den Weg zum Herrenhaus hinauf, vorbei an seinen Stiefeln, die er scheinbar hastig ins Gras geworfen hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
Er musterte sie von oben bis unten. »Austin Dern.« Als sie nicht reagierte, fuhr er fort: »Und Sie sind Ava Garrison? Ihnen gehört diese Insel?«
»Ein Teil davon.« Sie wrang das kalte Salzwasser aus ihren Haaren.
»Der Großteil davon«, korrigierte er und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie bibberte. »Und Sie wissen nicht, wer ich bin?«
»Nein. Ich habe keinen blassen Schimmer.« Obwohl sie unter Schock stand, merkte sie, wie sehr er sie verunsicherte.
Er murmelte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Nun, das ist interessant. Sie haben mich angestellt. Erst letzte Woche. « »Ich?« O Gott, hatte sie wirklich ein so schlechtes Erinnerungsvermögen? Konnte das wirklich sein? Kopfschüttelnd ließ sie sich von ihm zum Haus führen. Eisiges Wasser lief ihr das Rückgrat hinunter. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie hätte sich mit Sicherheit an ihn erinnert.
»Genau genommen war es Ihr Ehemann.«
Oh. Wyatt. »Ich vermute, er hat vergessen, mich davon in Kenntnis zu setzen.«
»Tatsächlich?« Wieder musterte er sie eindringlich, und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob ihr tropfnasses Nachthemd womöglich durchsichtig war.
»Na dann«, sagte sie, seine zweifelnde Frage ignorierend, »herzlich willkommen.«
Er lächelte nicht. Sie betrachtete seine harten Züge in der zunehmenden Dunkelheit: tiefliegende Augen, deren Farbe im Dämmerlicht nicht auszumachen war, markantes Kinn mit Bartschatten, rasiermesserdünne Lippen und eine leicht schiefe Nase. Sein Haar war dunkel wie die Nacht, tiefbraun oder schwarz.
Plötzlich flog die Fliegengittertür zur hinteren Veranda auf und schlug mit einem Knall hinter einer Frau wieder zu, die aus dem Haus gestürzt kam.
»Ava? Oh, mein Gott, Ava! Was ist passiert?«, rief Khloe ihnen entgegen. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Sorge wieder.
»Lieber Himmel, du bist ja klatschnass!«
Austin Dern lockerte seinen Griff um Avas Arm.
»Was um Himmels willen hast du getan?« Khloes Gesichtsausdruck schwankte zwischen Mitleid und Furcht. »Oh, sag nichts. Ich weiß es.« Sie drückte Ava an sich; es schien ihr nichts auszumachen, dass ihre eigenen Sachen nass wurden. »Du musst damit aufhören, Ava. So kann das nicht weitergehen. Komm, ich bringe dich ins Haus.« Ihre Augen richteten sich auf den Fremden, und sie fügte hinzu: »Sie auch. Du liebe Güte, ihr seid ja beide nass bis auf die Knochen!«
Khloe und der Fremde wollten Ava den Muschelschalenweg zum Haus hinaufführen, doch sie schüttelte ihre helfenden Hände ab und erschreckte dabei Virginias schwarzen Kater, Mr. T., der sich hinter einem Rhododendronstrauch versteckt hatte. Fauchend schoss er unter die Veranda, gerade als Avas Cousin Jacob aus seiner Räuberhöhle vom Apartment im Souterrain des alten Hauses herbeigeeilt kam.
Etwas von Avas altem Schneid kehrte zurück. Sie hatte es satt, das Opfer zu sein und mitleidsvoll angestarrt zu werden, war der wissenden Blicke überdrüssig, die die anderen sich zuwarfen, als wollten sie sagen: »Die Arme.« Sie hielten sie für verrückt.
Na und?
Es war schließlich nicht so, als hätte sie ihre geistige Gesundheit nicht selbst infrage gestellt, das letzte Mal vor ein paar Minuten, trotzdem ging ihr die allgemeine Besorgnis langsam mächtig auf die Nerven.
»Was ist passiert?«, wollte Jacob wissen. Seine Brille saß schief, sein rötliches Haar war zerzaust, als habe er geschlafen.
Ava ignorierte ihn, genau wie die anderen, und stieg tropfend die Stufen hinauf, das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sollten sie doch denken, was sie wollten! Sie wusste, dass sie Noah gesehen hatte, ganz egal, was Khloe oder der Cowboy von Retter dachten, ganz egal, was diese nervtötende Seelenklempnerin, Ms. Evelyn McPherson, dachte: Sie war nicht verrückt. War nie verrückt gewesen. War nicht reif für die Klapsmühle.
»Warte, ich helfe dir«, versuchte Khloe es erneut, doch Ava wehrte ab.
»Danke, es geht schon.«
»Du bist gerade in den Ozean gesprungen, Ava! Ich glaube nicht, dass du jetzt allein sein solltest!«
»Lass mich einfach in Ruhe, Khloe.«
Khloe warf Dern einen Blick zu, dann trat sie mit erhobenen Händen einen Schritt zurück. »Na gut.«
»Kein Grund, melodramatisch zu werden«, murmelte Ava.
»Ach, jetzt bin ich also die Dramaqueen!« Khloe seufzte. »Nur fürs Protokoll: Wer hat sich vor ein paar Minuten in die Fluten gestürzt?«
»Schon gut, schon gut.« Ava öffnete die Fliegengittertür. »Ich hab's kapiert.« Die Wärme im Haus, der würzige Duft nach Tomaten und Muscheln, der durch die Flure wehte, traf sie wie ein Schlag. Sie eilte an der Reihe von Fenstern vorbei, die auf den Garten hinausgingen, dann blieb sie stehen und warf einen raschen Blick nach draußen. Abgesehen von ein paar Außenlaternen war es mittlerweile völlig dunkel, der Nebel zu dicht, um die Pier auch nur als Schemen sichtbar zu machen. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken an ihren Sohn, doch sie verdrängte ihren Kummer.
Zumindest hatte der Kopfschmerz nachgelassen; zwar war er nicht vollständig verschwunden, doch er hämmerte nicht mehr ganz so heftig gegen ihre Stirn. Sie konnte wieder klarer denken. In der Küche schlug die Fliegengittertür zu. Sie wusste, dass ihre Konfrontation mit Khloe und womöglich auch mit dem Mann, der sie aus dem Wasser gezogen hatte, noch nicht vorbei war.
Super. Genau das, was sie jetzt brauchte!
Mit heftig klappernden Zähnen lief sie durchs Foyer, als sie plötzlich den Fahrstuhl neben der Haupttreppe hörte, der sich rasselnd in Bewegung setzte. Zischend glitten die Türen auseinander.
Sie betete, dass nicht Jewel-Anne zum Vorschein kommen würde, doch natürlich hatte sie Pech. Ihre pummelige Cousine rollte mit ihrem elektrischen Rollstuhl heraus und warf der nassen, durchgefrorenen Ava durch ihre dicken Brillengläser einen wissenden Blick zu.
»Na, warst du wieder schwimmen?«, fragte sie mit dem selbstgefälligen Grinsen, das Ava ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. Jewel-Anne zog einen Ohrhörer ihres iPhones aus dem Ohr, und Ava vernahm die Klänge von Elvis' »Suspicious Minds«, die aus dieser Entfernung blechern klangen.
»We're caught in a trap«, trällerte er, und Ava fragte sich, wie eine Frau, die lange nach dem Tod der Rock-'n'-Roll-Legende auf die Welt gekommen war, ein so fanatischer Fan hatte werden können. Im Grunde kannte sie die oberflächliche Antwort, denn sie hatte ihrer Cousine diese Frage erst im vergangenen Jahr gestellt. Jewel-Anne hatte, einen Ohrhörer eingesteckt, ihre Haferflocken gegessen und sie mit todernstem Gesicht angesehen. »Wir haben am selben Tag Geburtstag «, hatte sie verkündet und einen zweiten gehäuften Esslöffel braunen Zucker über ihre Zerealien gegeben. Irgendwie war es Ava gelungen, sich eine sarkastische Bemerkung zu verkneifen. Stattdessen erwiderte sie nur: »Du warst doch noch gar nicht geboren, als ...«
»Er spricht mit mir, Ava!« Jewel-Anne presste die Lippen aufeinander. »Er war eine so tragische Persönlichkeit« - sie widmete sich wieder ihrem süßen, kalorienreichen Frühstück -, »genau wie ich.«
Nach einer Weile hatte sie aufgeschaut und Ava mit einem unschuldigen Blick bedacht, der dieser wie immer einen Stich versetzte. Wie jedes Mal war es ihrer querschnittsgelähmten Cousine gelungen, schwere Schuldgefühle in ihr hervorzurufen.
Du bist nicht die Einzige, zu der er spricht, hätte sie am liebsten gesagt. Jeden Tag berichten Hunderte Leute von Elvis- Erscheinungen, und vermutlich »plaudert« er auch mit diesen Irren. Anstatt jedoch einen endlosen Streit vom Zaun zu brechen, hatte sie ihren Stuhl zurückgeschoben, die Reste ihres Frühstücks in den Abfalleimer geleert und ihre Schüssel in die Spülmaschine gestellt, gerade als Jacob, Jewel-Annes einziger Vollbruder, in die Küche geschlendert kam. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sich einen getoasteten Bagel und spazierte zur Hintertür hinaus, den Rucksack über die breite Schulter gehängt. Früher einmal war er einer der landesbesten Ringer gewesen, doch inzwischen hatte sich Jacob, der ewige Student, mit seinem lockigen roten Haar und dem aknenarbigen Gesicht, in einen absoluten Computerfreak verwandelt, der schon genauso merkwürdig war wie seine Schwester.
Die gerade wieder einmal versuchte, die bibbernde Ava von ihrer Verbindung mit dem King of Rock 'n' Roll zu überzeugen. Ja, sicher, Elvis spricht zu Jewel-Anne. Rasch wandte sich Ava der Treppe zu und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf.
Warum sollte sie sich Gedanken um ihre geistige Gesundheit machen, wenn sie inmitten einer Gruppe von Menschen lebte, die irgendwann mit Sicherheit durchdrehen würden - wenn sie nicht längst verrückt waren?
Übersetzung: Kristina Lake-Zapp
© 2014 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Wieder dieser Traum.
Es ist ein grauer, nebelverhangener Tag, und ich bin in der Küche, telefoniere mit jemandem ... Dieser Teil ist übrigens jedes Mal anders. Mal spreche ich mit meinem Ehemann Wyatt, dann mit Tanya und manchmal auch mit meiner Mutter, obwohl sie schon lange, lange tot ist. Aber so ist das nun mal. Aus dem Wohnzimmer, das hier in diesem Haus an die Küche grenzt, höre ich den Fernseher. Ein Zeichentrickfilm läuft, und ich weiß, dass Noah auf dem Teppich vor dem Flachbildschirm mit seinem Spielzeug beschäftigt ist.
Ich habe Brot gebacken, die Küche ist noch warm vom Ofen, und ich denke an Thanksgiving. Als ich aus dem Fenster blicke, stelle ich fest, dass es draußen schon fast dunkel ist, die Abenddämmerung senkt sich herab. Es muss kalt sein, die Bäume zittern im Wind, ein paar störrische Blätter hängen noch an den dünnen, skelettartigen Zweigen. Auf der anderen Seite der Bucht sehe ich die Stadt Anchorville, verschleiert vom Nebel.
Hier drinnen, in dem alten Herrenhaus, das mein Ururgroßvater erbaut hat, ist es gemütlich.
Sicher.
Es duftet nach Zimt und Muskat.
Plötzlich bemerke ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor dem Küchenfenster. Es ist sicher Milo, unser Kater, denke ich, doch dann fällt mir ein, dass Milo, eine prächtige Tigerkatze, tot ist, und zwar schon seit Jahren.
Auf einmal wird mir mulmig zumute. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, durch den immer dichter werdenden Nebel, der vom Meer heraufzieht, etwas zu erkennen. Ich weiß, dass da draußen etwas ist, im Garten, hinter der Rosenhecke, wo die windzerzausten Sträucher stehen.
Quiiieeetsch!
Ein Schatten huscht an der Veranda vorbei. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchte ich, dass etwas Böses hinter den pfeilförmigen Spitzen des schmiedeeisernen Zauns lauert, der das Grundstück umgibt.
Quiiieeetsch! Wumm! Das Tor fliegt auf und schwingt im stürmischen Wind hin und her.
In diesem Augenblick fällt mein Blick auf Noah, meinen Sohn, mit seinem kleinen Kapuzenpullover und den hochgekrempelten Jeans. Er hat sich aus dem Haus gestohlen und spaziert durch das offene Tor aus dem Garten. Fröhlich hüpft er durch die Dämmerung Richtung Anleger, als würde er hinter irgendetwas herjagen, dem Hund oder einem Eichhörnchen vielleicht.
»Nein!«
Ich lasse den Hörer fallen.
Wie in Zeitlupe prallt er gegen mein Wasserglas, dessen Inhalt sich über die Küchenanrichte ergießt.
Ich wirbele herum, bestimmt habe ich mich getäuscht und er sitzt noch auf dem Teppich vor dem Fernseher ... Nein, das Wohnzimmer ist leer, über den Bildschirm flackert irgendein Disneyfilm, Aladin, glaube ich.
»Noah!«, schreie ich aus voller Lunge und wende mich wieder Richtung Küche.
Ich trage ein Nachthemd, und meine Füße fühlen sich an, als steckten sie in Treibsand fest, ich komme nicht schnell genug von der Stelle. Aus den Fenstern, die auf die Bucht blicken, sehe ich, wie der Kleine durch die aufziehende Dunkelheit läuft und sich mehr und mehr dem Wasser nähert.
Ich poche mit der Faust gegen eins der alten Fenster.
Die Scheibe zerspringt.
Glassplitter fliegen durch die Luft.
Blut spritzt.
»Noah!«
Er hört mich nicht. Ich versuche, die Glastür zur Veranda zu öffnen, doch sie lässt sich nicht bewegen. Nicht mal ein winziges Stückchen. Blut läuft an der Scheibe hinab.
Ich quäle mich in Zeitlupe durchs Zimmer, den Gang entlang, rufe nach meinem Sohn, nach Wyatt, bis ich endlich die Haustür erreiche. Sie ist unverschlossen, ein Türflügel schwingt mit einem lauten Ächzen auf. Jetzt stehe ich auf der Vortreppe. »Noah!«
Ich weine. Schluchze. Panik steigt in mir auf, und beinahe wäre ich auf den feuchten Stufen ausgerutscht. Ich laufe an tropfnassen Rhododendren und sturmgepeitschten Kiefern vorbei, die überall auf dieser gottverlassenen Insel stehen, die Insel, die mir für den Großteil meines Lebens ein Zuhause war. »Noah!«, rufe ich wieder, doch meine Stimme geht im Tosen der See unter. Ich kann meinen Jungen nicht mehr sehen, er ist hinter den verwelkten Rosensträuchern verschwunden, als habe ihn der tiefhängende Nebel verschluckt.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ihm nichts zustößt!
Die kühle Luft des Pazifiks lässt mich frösteln, doch das ist nichts, verglichen mit der Kälte, die ich in meinem Herzen empfinde. Ich renne den mit Austern- und Venusmuschelschalen bestreuten Weg entlang, die scharfen Kanten schneiden mir in die nackten Füße, dann stürme ich über den Bootsanleger bis dorthin, wo die glitschigen Planken im Nebel verschwinden. »Noah!« Um Himmels willen! »Noah!«
Niemand da.
Die Pier ist leer.
Er ist verschwunden.
Verschluckt vom Nebel.
»Noah! Noah!« Ich stehe auf dem Anleger und rufe seinen Namen. Tränen laufen mir übers Gesicht, Blut tropft von meiner zerschnittenen Hand ins brackige Wasser. »Noah!«
Die Brandung umspült die Pier und bricht sich tosend am Ufer.
Mein Junge ist fort.
Verschlungen von der See, in Luft aufgelöst - ich weiß es nicht.
»Nein, nein ... nein!« Verzweifelt sinke ich auf die Planken, starre ins Wasser und überlege, ob ich in die dunklen, eisigen Tiefen springen und meinem Leben ein Ende setzen soll.
»Noah ... bitte. Gott, beschütze ihn ...«
Mein Gebet verweht im Wind.
Dann wache ich auf.
Ich liege in meinem Bett, in dem Raum, der schon seit Ewigkeiten mein Schlafzimmer ist.
Im ersten Augenblick verspüre ich Erleichterung. Ein Traum ... es war nur ein Traum. Ein schrecklicher Alptraum. Dann trifft mich die Erkenntnis, dass ich mich irre.
Plötzlich ist mein Herz wieder schwer.
Tränen brennen in meinen Augen.
Ich weiß es.
Ich weiß, dass mein Sohn wirklich fort ist. Verschwunden. Es ist jetzt zwei Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
Auf dem Anleger?
In seinem Bettchen?
Beim Spielen, draußen, unter den Tannen?
Du liebe Güte, denke ich niedergeschlagen und mit schmerzendem Herzen.
Ich kann mich nicht erinnern.
Kapitel eins
Ich meine es ernst, du darfst das keiner Menschenseele erzählen «, flüsterte eine rauchige Frauenstimme. »Ich könnte meinen Job verlieren.«
Ava Garrison öffnete ein schlaftrübes Auge. Von ihrem Bett aus hörte sie die Stimme hinter der schweren Eichentür, die einen Spaltbreit offen stand.
»Sie hat keine Ahnung, was los ist«, stimmte eine weitere Frau zu. Ihre Stimme war tiefer als die erste, und Ava meinte zu wissen, wem sie gehörte. Pochender Kopfschmerz machte sich hinter ihren Augen bemerkbar, wie immer, wenn sie einen Alptraum gehabt hatte. Der Schmerz würde nachlassen, doch in den ersten Minuten nach dem Aufwachen hatte sie stets das Gefühl, eine Horde eisenbeschlagener Pferde galoppiere durch ihr Gehirn.
Sie holte tief Luft und blinzelte. Im Zimmer war es dunkel, die Vorhänge waren vorgezogen, das Rumpeln der uralten Heizung übertönte das Gespräch der beiden Frauen. Ava konnte nur einzelne Fetzen verstehen.
»Schscht ... sie müsste bald aufwachen ...«, sagte die rauchige Stimme. Ava versuchte, sie einer Person zuzuordnen, und kam auf Demetria, Jewel-Annes griesgrämige Pflegerin. Obwohl sie noch keine dreißig war, trug die großgewachsene, hagere Demetria stets einen mürrisch-strengen Ausdruck zur Schau, der zu ihrem schwarz gefärbten, straff im Nacken zusammengefassten Haar passte. Ihr einziges Zugeständnis an die Launen der Jugend war eine Tätowierung, eine tintenblaue Ranke, die sich unter der breiten Schildpatthaarspange hervorringelte und hinter ihrem Ohr auslief. Das Tattoo erinnerte Ava an einen schüchternen Kraken, der vorsichtig einen Arm aus seinem Versteck hervorstreckte.
»Also, was gibt's? Was ist los mit ihr?«, fragte die zweite, tiefere Stimme ein wenig barsch. Oh, mein Gott, gehörte sie tatsächlich Khloe? Ava verspürte einen Stich ob dieses Vertrauensbruchs. War es möglich, dass Khloe sie so hinterging? Sie wusste, dass die beiden Frauen über sie sprachen. Khloe war einst ihre beste Freundin gewesen, sie waren zusammen auf dieser abgeschiedenen Insel aufgewachsen. Doch das war schon Jahre her, lange bevor sich die frische, unbekümmerte Khloe in eine unglückliche Seele verwandelt hatte. Sie konnte einfach nicht ihre große Liebe vergessen, die bei einem Unfall so abrupt aus dem Leben gerissen worden war.
Weiteres Geflüster ...
Natürlich. Es war fast so, als wollten die zwei, dass sie ihr Gespräch mit anhörte.
Ava bekam nur einzelne Fetzen mit, die ebenso zusammenhanglos wie wahr waren.
»... verliert langsam den Verstand ...« Khloe?
»Das geht doch schon seit Jahren so. Armer Mr. Garrison.«
Die rauchige Stimme.
Armer Mr. Garrison? Meinte sie das ernst?
Khloe, wenn sie es denn war, stimmte ihr zu. »Er leidet wirklich sehr.«
Wyatt? Leiden? Ach. Der Mann, der sich alle Mühe gibt, dir auszuweichen, weg ist, immer nur weg? Der Mann, von dem du dich bei mehr als einer Gelegenheit hast scheiden lassen wollen? Ava bezweifelte, dass ihr Ehemann auch nur einen einzigen Tag seines Lebens gelitten hatte. Am liebsten hätte sie sich bemerkbar gemacht, doch sie wollte hören, was die Frauen noch sagten, welcher Klatsch in den langen Fluren von Neptune's Gate kursierte, diesem hundert Jahre alten Haus, errichtet und benannt von ihrem Ururgroßvater.
Neptune's Gate - die Pforte des römischen Meeresgottes.
»Nun, etwas muss doch passieren, die sind doch reicher als Gott!«, murmelte eine der Frauen. Ihre Worte verklangen, als würde sie sich von der Tür entfernen.
»Um Himmels willen, sprich leise! Die Familie sorgt immerhin dafür, dass sie die bestmögliche Pflege bekommt ...«
Die Familie?
Avas Kopf hämmerte, als sie die dicke Federdecke abwarf und mit nackten Füßen auf den flauschigen Teppich trat, der auf dem Hartholzboden lag. Tannen ... Der Boden war aus Tannenholz, fiel ihr ein, die Planken zugesägt von der Sägemühle, die einst das Herz von Church Island gewesen war. Derselbe Ururgroßvater, der Neptune's Gate erbaut hatte, hatte auch der Insel ihren Namen gegeben.
in Schritt, zwei ... Ava verlor das Gleichgewicht und klammerte sich an den hohen Bettpfosten.
»Die Familie braucht Antworten ...«
»Brauchen wir die nicht alle?« Ein leises, boshaftes Kichern.
Bitte, lieber Gott, mach, dass das nicht Khloe ist.
»Aber uns gehört nichts von dieser verfluchten Insel.«
»Das wäre was ... wenn sie uns gehörte, meine ich.« Die Stimme klang sehnsüchtig.
Ava machte einen weiteren Schritt und spürte, wie ihr übel wurde. Sie schmeckte Galle auf der Zunge und fürchtete schon, sich übergeben zu müssen, doch dann schluckte sie mühsam, holte tief Luft und unterdrückte den Brechreiz.
»Sie ist völlig durchgedreht, trotzdem wird er sie nicht verlassen «, sagte eine der beiden Frauen jetzt. Ava verharrte in der Bewegung und verfluchte im Stillen ihre getrübte Erinnerung, ihr umwölktes Gehirn.
Früher einmal war sie blitzgescheit gewesen, hatte stets zu den Klassenbesten gezählt. Und später war sie eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen.
Mit zusammengebissenen Zähnen tappte sie weiter bis zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. Zwei Frauen gingen zur Treppe in der Mitte der Galerie. Keine von beiden war Khloe, wie Ava befürchtet hatte. Ava sah Virginia Zanders, Khloes Mutter, eine Frau, in die ihre Tochter zweimal hineingepasst hätte. Sie war die Köchin von Neptune's Gate. Die andere Frau war Graciela, die aushilfsweise als Hausmädchen arbeitete. Als habe sie gespürt, dass Ava in der Tür stand, warf sie einen Blick über die Schulter. Ihr Lächeln war so sacharinsüß wie der Eistee, den Virginia an heißen Sommertagen zubereitete. Anders als ihre Begleiterin war Graciela klein und zierlich, ihr glänzend schwarzes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Wenn sie wollte, konnte Graciela so strahlend lächeln, dass es den Zuckerguss eines M&M's zum Schmelzen gebracht hätte. Heute erinnerten ihre Lippen eher die der Grinsekatze aus Alice im Wunderland -als hüte sie irgendein großes, dunkles Geheimnis.
Über ihren Arbeitgeber. Oder ihre Arbeitgeberin.
Die Härchen auf Avas Unterarmen sträubten sich. Ein Frösteln rieselte ihr das Rückgrat hinunter. Gracielas dunkle Augen funkelten rätselhaft, dann verschwand sie mit Virginia die Treppe hinunter. Ihre Schritte verklangen.
Mit einem Ruck zog Ava die Tür zu und wollte automatisch absperren, aber das Schloss fehlte. An seiner Stelle hatte man eine optisch passende Scheibe angebracht, um das Loch in der Tür zu verdecken.
»Gott steh mir bei«, flüsterte sie, überlegte kurz, ob sie die Kommode davorschieben sollte, doch dann lehnte sie sich bloß mit dem Rücken gegen das Türblatt und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Lass dich nicht unterkriegen. Lass nicht zu, dass sie dich zum Opfer machen. Wehr dich!
»Wogegen?«, fragte sie ins dunkle Zimmer hinein, dann tappte sie hinüber zu den Fenstern, abermals verärgert über ihren benebelten Zustand. Wann war sie ein solcher Schwächling geworden? Wann? War sie nicht immer stark gewesen? Unabhängig? Ein Mädchen, das mit seiner Stute auf den Klippen oberhalb des Meeres entlanggaloppiert war, das die steilsten Gipfel auf dieser Insel erklommen hatte, das nackt in den eisigen, schäumenden Wassern des Pazifiks geschwommen war, dort, wo sie in die Bucht hineinstrudelten? Sie war gesurft, geklettert und ... und nun kam es ihr so vor, als sei das tausend, nein, Millionen Jahre her. Mindestens.
Jetzt war sie hier gefangen, in diesem Zimmer, während all die gesichtslosen Leute um sie herum mit gedämpften Stimmen sprachen und davon ausgingen, sie könne sie nicht hören, doch sie hörte sie. Natürlich hörte sie sie!
Manchmal fragte sie sich, ob die anderen wussten, dass sie wach war, ob sie das absichtlich taten. Vielleicht waren ihre ganzen Beileidsbekundungen, das Mitgefühl, das sie ihr entgegenbrachten, nichts als Fassade, und sie war gefangen in diesem grauenvollen Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab.
Sie vertraute niemandem. Doch dann fiel ihr ein, dass all das zu ihrem Krankheitsbild gehörte, zu ihrer Paranoia.
Taumelnd kehrte sie zum Bett zurück und ließ sich auf die weiche Matratze mit der teuren Bettwäsche fallen. Hoffentlich klang der Kopfschmerz bald ab. Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch das tat so weh, dass sie anfing zu zittern. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Niemand sollte so leiden müssen. Gab es dafür keine Schmerztabletten? Migränemittel? Andererseits nahm sie schon so viele Medikamente, weshalb sie sich manchmal fragte, ob der Kopfschmerz nicht genau daher rührte.
Sie verstand nicht, warum offenbar alle darauf aus waren, sie zu quälen, sie glauben zu machen, sie sei verrückt. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich das nicht nur einbildete. Alle steckten unter einer Decke: die Pflegerinnen, die Ärzte, das Hausmädchen, die Anwälte und Wyatt, ja, allen voran ihr Ehemann.
Mein Gott, klang das paranoid.
Vielleicht war sie tatsächlich verrückt.
Sämtliche Kräfte zusammennehmend, stieg Ava erneut aus dem Bett. Irgendwann würde der Schmerz schon vergehen. Das tat er doch immer. Nur beim Aufstehen war es die Hölle. Vorsichtig durchquerte sie das Zimmer, trat an eines der Fenster, schob die Vorhänge zurück und öffnete die Jalousien.
Es war ein grauer, trüber Tag, genau wie damals, als ... als Noah ...
Nein, denk nicht daran! Es bringt nichts, wenn du dich immer wieder mit der Erinnerung an die schlimmsten Momente deines Lebens peinigst!
Sie blinzelte, zwang ihre Gedanken, in die Gegenwart zurückzukehren, und starrte durch das schlierige Bleiglas im ersten Stock dieses alten, ehedem prachtvollen Herrenhauses. Der Herbst ging in den Winter über, und sie kniff die Augen gegen das Zwielicht zusammen. Ihr Blick fiel auf den Anleger, der umwabert war von Nebelschwaden.
Es war gar nicht Morgen, es war fast Abend, wurde ihr klar, wenngleich ihr das merkwürdig vorkam. Hatte sie tatsächlich so lange geschlafen, Stunden ... Tage vielleicht?
Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf, jetzt bist du ja wach.
Sie legte eine Hand auf die kühle Scheibe. Langsam nahm sie die Umgebung deutlicher wahr. Das Holz des Bootshauses am Ufer war mit den Jahren grau geworden, der Anleger, der daneben in das vom Wind aufgewühlte Wasser der Bucht führte, ebenfalls. Die Flut kam, schäumende Wellen rollten an die Küste.
Genau wie an jenem Tag ...
Ein Schauder, kalt wie die Tiefen des Meeres, überlief sie, ein Frösteln, das tief aus ihrem Innern kam.
Das Fenster beschlug von ihrem Atem, als sie die Stirn gegen das Glas lehnte.
Sie spürte den vertrauten Kloß in ihrem Hals, wusste, was nun kommen würde.
»Bitte ...«
Die Augen zusammengekniffen, starrte sie auf das Ende der Pier.
Und da war er, ihr kleiner Sohn, am Rande des Abgrunds, ein geisterhafter Schemen im Nebel.
»Noah«, flüsterte sie, plötzlich außer sich vor Angst. Ihre Finger glitten voller Panik die Scheibe hinab. »O Gott, Noah!«
Er ist nicht hier. Dein angeschlagener Verstand spielt dir einen Streich.
Doch sie durfte es nicht darauf ankommen lassen. Was, wenn diesmal, dieses eine Mal, wirklich ihr Junge auf dem Anleger stand? Er trug seinen roten Kapuzenpullover und hatte ihr im feuchten Nebel den Rücken zugedreht. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
»Noah!«, rief sie und hämmerte gegen das Glas. »Noah! Komm zurück!«
Hastig versuchte sie, das Fenster zu öffnen, doch anscheinend hatte man es zugenagelt.
»Komm schon, bitte!«, schrie sie und zerrte mit aller Kraft am Rahmen. Ihre Fingernägel brachen. Das verdammte Fenster gab keinen Millimeter nach. »Oh, mein Gott ...«
Barfuß, beflügelt von ihrer Furcht, riss sie die Tür auf, stürzte aus ihrem Zimmer und den Gang entlang zur Hintertreppe, ihre nackten Füße klatschten auf den glatten Holzboden. Runter, runter, runter ... Eine Hand am Geländer, flog sie die Stufen hinab. Noah, mein lieber, süßer Junge. Noah!
Unten angekommen, rannte sie in die Küche, dann zur Hintertür hinaus, über die windgeschützte Veranda, durch den riesigen Garten und weiter Richtung Ufer.
Jetzt konnte sie laufen. Schnell sogar. Die Abenddämmerung senkte sich herab.
»Noah!«, rief sie, während sie über die grasüberwucherten Wege rannte, an verwelkten Rosenbüschen und tropfnassen Farnen vorbei zur Pier, deren Ende vom Nebel und der Dunkelheit verschluckt war. Keuchend stieß sie den Namen ihres Sohnes hervor, verzweifelt und doch voller Hoffnung, dass er aus dem Nebel auftauchen und sie mit seinen großen, vertrauensvollen Augen anschauen würde ...
Der Anleger war leer. Die Nebelschwaden warfen zuckende Schatten aufs Wasser, in der Ferne kreischten Möwen.
»Noah!«, schrie sie und rannte über die schlüpfrigen Planken. »Noah!«
Sie hatte ihn gesehen, ganz bestimmt!
O Liebling ... »Noah, wo bist du?«, fragte sie schluchzend, als sie das Ende der Pier erreicht hatte. »Ich bin's, Schätzchen, Mama ...«
Ein letzter gehetzter Blick über den Anleger und das Bootshaus bestätigten ihr, dass er nicht da war. Ohne zu zögern sprang sie ins eisige Wasser. Die Kälte fuhr ihr in die Glieder, sie schmeckte Salzwasser auf ihren Lippen, während sie hektisch mit Armen und Beinen ruderte und verzweifelt nach ihrem Sohn Ausschau hielt.
»Noah!«
»Du lieber Himmel, wo kann er nur sein?« Sie tauchte unter, kam hustend und spuckend wieder an die Oberfläche. Nichts. Trotzdem tauchte sie wieder und wieder unter, in der Hoffnung, ihn in der trüben, dunklen Tiefe zu entdecken.
Lieber Gott, bitte mach, dass ich ihn finde. Bitte hilf mir, ihn zu retten! Lass ihn nicht sterben! Er ist doch ein unschuldiges Kind!
Ihr Nachthemd bauschte sich auf der Wasseroberfläche, sie hatte ihr Haarband verloren, nun schwebten die langen Haare wie ein Fächer um ihren Kopf. Langsam machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Als sie wieder einmal auftauchte, stellte sie fest, dass sie ein gutes Stück vom Anleger abgetrieben war. Plötzlich meinte sie, eine Stimme zu vernehmen.
»He!«, rief ein Mann. »He, Sie da draußen!«
Sie tauchte erneut unter, zwang sich, die vom Salzwasser brennenden Augen zu öffnen und die Luft anzuhalten, bis sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden zerreißen. Wo ist er? Noah, o Gott, mein Kleiner ... Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, doch sie durfte jetzt nicht aufhören zu suchen. Musste ihren Sohn finden ... Das Wasser um sie herum wurde dunkler und kälter. Noch immer keine Spur von Noah.
Plötzlich war jemand neben ihr.
Starke Arme umschlossen ihren Brustkorb. Sie war schwach, stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, als sie an die Oberfläche gezogen wurde.
Hustend schnappte sie nach Luft, spuckte Salzwasser aus und blickte in das ernste, entschlossene Gesicht eines Fremden.
»Sind Sie verrückt geworden?«, fragte er. Doch bevor sie eine Antwort geben konnte, knurrte er: »Ach, zum Teufel!«, und fing an, sie mit kräftigen Beinschwüngen zum Ufer zurückzuschleppen. Im hüfthohen Wasser angekommen, wurde ihr klar, wie weit sie von der Pier abgetrieben war. Der Mann ließ sie los, stützte sie nur noch mit einem Arm und half ihr durch die ausrollenden Wellen ans sandige Ufer.
Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper, doch Ava fühlte nichts außer ihrer tiefen, alles überwältigenden Trauer. Sie schluckte mühevoll, schmeckte das Salz auf ihren Lippen, dann endlich sah sie ihren Retter an. Wer mochte er sein? Sie war ihm noch nie zuvor begegnet.
Oder doch? Er kam ihr vage vertraut vor, dieser etwa dreißigjährige, ungefähr eins fünfundachtzig große Mann mit seinem nassen, langärmeligen Hemd und den durchweichten Jeans. Er wirkte abgehärtet, rau, als hätte er die größte Zeit seines Lebens draußen verbracht.
»Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«, schimpfte er und wischte sich das widerspenstige Haar aus den Augen. »Sie hätten ertrinken können!« Und dann: »Ist alles in Ordnung?« Natürlich nicht. Gar nichts war in Ordnung. Und sie war sich absolut sicher, dass nichts mehr jemals auch nur ansatzweise wieder in Ordnung kommen würde.
»Ich bringe Sie ins Haus.« Ohne ihren Arm loszulassen, half er ihr den Weg zum Herrenhaus hinauf, vorbei an seinen Stiefeln, die er scheinbar hastig ins Gras geworfen hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
Er musterte sie von oben bis unten. »Austin Dern.« Als sie nicht reagierte, fuhr er fort: »Und Sie sind Ava Garrison? Ihnen gehört diese Insel?«
»Ein Teil davon.« Sie wrang das kalte Salzwasser aus ihren Haaren.
»Der Großteil davon«, korrigierte er und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie bibberte. »Und Sie wissen nicht, wer ich bin?«
»Nein. Ich habe keinen blassen Schimmer.« Obwohl sie unter Schock stand, merkte sie, wie sehr er sie verunsicherte.
Er murmelte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Nun, das ist interessant. Sie haben mich angestellt. Erst letzte Woche. « »Ich?« O Gott, hatte sie wirklich ein so schlechtes Erinnerungsvermögen? Konnte das wirklich sein? Kopfschüttelnd ließ sie sich von ihm zum Haus führen. Eisiges Wasser lief ihr das Rückgrat hinunter. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie hätte sich mit Sicherheit an ihn erinnert.
»Genau genommen war es Ihr Ehemann.«
Oh. Wyatt. »Ich vermute, er hat vergessen, mich davon in Kenntnis zu setzen.«
»Tatsächlich?« Wieder musterte er sie eindringlich, und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob ihr tropfnasses Nachthemd womöglich durchsichtig war.
»Na dann«, sagte sie, seine zweifelnde Frage ignorierend, »herzlich willkommen.«
Er lächelte nicht. Sie betrachtete seine harten Züge in der zunehmenden Dunkelheit: tiefliegende Augen, deren Farbe im Dämmerlicht nicht auszumachen war, markantes Kinn mit Bartschatten, rasiermesserdünne Lippen und eine leicht schiefe Nase. Sein Haar war dunkel wie die Nacht, tiefbraun oder schwarz.
Plötzlich flog die Fliegengittertür zur hinteren Veranda auf und schlug mit einem Knall hinter einer Frau wieder zu, die aus dem Haus gestürzt kam.
»Ava? Oh, mein Gott, Ava! Was ist passiert?«, rief Khloe ihnen entgegen. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Sorge wieder.
»Lieber Himmel, du bist ja klatschnass!«
Austin Dern lockerte seinen Griff um Avas Arm.
»Was um Himmels willen hast du getan?« Khloes Gesichtsausdruck schwankte zwischen Mitleid und Furcht. »Oh, sag nichts. Ich weiß es.« Sie drückte Ava an sich; es schien ihr nichts auszumachen, dass ihre eigenen Sachen nass wurden. »Du musst damit aufhören, Ava. So kann das nicht weitergehen. Komm, ich bringe dich ins Haus.« Ihre Augen richteten sich auf den Fremden, und sie fügte hinzu: »Sie auch. Du liebe Güte, ihr seid ja beide nass bis auf die Knochen!«
Khloe und der Fremde wollten Ava den Muschelschalenweg zum Haus hinaufführen, doch sie schüttelte ihre helfenden Hände ab und erschreckte dabei Virginias schwarzen Kater, Mr. T., der sich hinter einem Rhododendronstrauch versteckt hatte. Fauchend schoss er unter die Veranda, gerade als Avas Cousin Jacob aus seiner Räuberhöhle vom Apartment im Souterrain des alten Hauses herbeigeeilt kam.
Etwas von Avas altem Schneid kehrte zurück. Sie hatte es satt, das Opfer zu sein und mitleidsvoll angestarrt zu werden, war der wissenden Blicke überdrüssig, die die anderen sich zuwarfen, als wollten sie sagen: »Die Arme.« Sie hielten sie für verrückt.
Na und?
Es war schließlich nicht so, als hätte sie ihre geistige Gesundheit nicht selbst infrage gestellt, das letzte Mal vor ein paar Minuten, trotzdem ging ihr die allgemeine Besorgnis langsam mächtig auf die Nerven.
»Was ist passiert?«, wollte Jacob wissen. Seine Brille saß schief, sein rötliches Haar war zerzaust, als habe er geschlafen.
Ava ignorierte ihn, genau wie die anderen, und stieg tropfend die Stufen hinauf, das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sollten sie doch denken, was sie wollten! Sie wusste, dass sie Noah gesehen hatte, ganz egal, was Khloe oder der Cowboy von Retter dachten, ganz egal, was diese nervtötende Seelenklempnerin, Ms. Evelyn McPherson, dachte: Sie war nicht verrückt. War nie verrückt gewesen. War nicht reif für die Klapsmühle.
»Warte, ich helfe dir«, versuchte Khloe es erneut, doch Ava wehrte ab.
»Danke, es geht schon.«
»Du bist gerade in den Ozean gesprungen, Ava! Ich glaube nicht, dass du jetzt allein sein solltest!«
»Lass mich einfach in Ruhe, Khloe.«
Khloe warf Dern einen Blick zu, dann trat sie mit erhobenen Händen einen Schritt zurück. »Na gut.«
»Kein Grund, melodramatisch zu werden«, murmelte Ava.
»Ach, jetzt bin ich also die Dramaqueen!« Khloe seufzte. »Nur fürs Protokoll: Wer hat sich vor ein paar Minuten in die Fluten gestürzt?«
»Schon gut, schon gut.« Ava öffnete die Fliegengittertür. »Ich hab's kapiert.« Die Wärme im Haus, der würzige Duft nach Tomaten und Muscheln, der durch die Flure wehte, traf sie wie ein Schlag. Sie eilte an der Reihe von Fenstern vorbei, die auf den Garten hinausgingen, dann blieb sie stehen und warf einen raschen Blick nach draußen. Abgesehen von ein paar Außenlaternen war es mittlerweile völlig dunkel, der Nebel zu dicht, um die Pier auch nur als Schemen sichtbar zu machen. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken an ihren Sohn, doch sie verdrängte ihren Kummer.
Zumindest hatte der Kopfschmerz nachgelassen; zwar war er nicht vollständig verschwunden, doch er hämmerte nicht mehr ganz so heftig gegen ihre Stirn. Sie konnte wieder klarer denken. In der Küche schlug die Fliegengittertür zu. Sie wusste, dass ihre Konfrontation mit Khloe und womöglich auch mit dem Mann, der sie aus dem Wasser gezogen hatte, noch nicht vorbei war.
Super. Genau das, was sie jetzt brauchte!
Mit heftig klappernden Zähnen lief sie durchs Foyer, als sie plötzlich den Fahrstuhl neben der Haupttreppe hörte, der sich rasselnd in Bewegung setzte. Zischend glitten die Türen auseinander.
Sie betete, dass nicht Jewel-Anne zum Vorschein kommen würde, doch natürlich hatte sie Pech. Ihre pummelige Cousine rollte mit ihrem elektrischen Rollstuhl heraus und warf der nassen, durchgefrorenen Ava durch ihre dicken Brillengläser einen wissenden Blick zu.
»Na, warst du wieder schwimmen?«, fragte sie mit dem selbstgefälligen Grinsen, das Ava ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. Jewel-Anne zog einen Ohrhörer ihres iPhones aus dem Ohr, und Ava vernahm die Klänge von Elvis' »Suspicious Minds«, die aus dieser Entfernung blechern klangen.
»We're caught in a trap«, trällerte er, und Ava fragte sich, wie eine Frau, die lange nach dem Tod der Rock-'n'-Roll-Legende auf die Welt gekommen war, ein so fanatischer Fan hatte werden können. Im Grunde kannte sie die oberflächliche Antwort, denn sie hatte ihrer Cousine diese Frage erst im vergangenen Jahr gestellt. Jewel-Anne hatte, einen Ohrhörer eingesteckt, ihre Haferflocken gegessen und sie mit todernstem Gesicht angesehen. »Wir haben am selben Tag Geburtstag «, hatte sie verkündet und einen zweiten gehäuften Esslöffel braunen Zucker über ihre Zerealien gegeben. Irgendwie war es Ava gelungen, sich eine sarkastische Bemerkung zu verkneifen. Stattdessen erwiderte sie nur: »Du warst doch noch gar nicht geboren, als ...«
»Er spricht mit mir, Ava!« Jewel-Anne presste die Lippen aufeinander. »Er war eine so tragische Persönlichkeit« - sie widmete sich wieder ihrem süßen, kalorienreichen Frühstück -, »genau wie ich.«
Nach einer Weile hatte sie aufgeschaut und Ava mit einem unschuldigen Blick bedacht, der dieser wie immer einen Stich versetzte. Wie jedes Mal war es ihrer querschnittsgelähmten Cousine gelungen, schwere Schuldgefühle in ihr hervorzurufen.
Du bist nicht die Einzige, zu der er spricht, hätte sie am liebsten gesagt. Jeden Tag berichten Hunderte Leute von Elvis- Erscheinungen, und vermutlich »plaudert« er auch mit diesen Irren. Anstatt jedoch einen endlosen Streit vom Zaun zu brechen, hatte sie ihren Stuhl zurückgeschoben, die Reste ihres Frühstücks in den Abfalleimer geleert und ihre Schüssel in die Spülmaschine gestellt, gerade als Jacob, Jewel-Annes einziger Vollbruder, in die Küche geschlendert kam. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sich einen getoasteten Bagel und spazierte zur Hintertür hinaus, den Rucksack über die breite Schulter gehängt. Früher einmal war er einer der landesbesten Ringer gewesen, doch inzwischen hatte sich Jacob, der ewige Student, mit seinem lockigen roten Haar und dem aknenarbigen Gesicht, in einen absoluten Computerfreak verwandelt, der schon genauso merkwürdig war wie seine Schwester.
Die gerade wieder einmal versuchte, die bibbernde Ava von ihrer Verbindung mit dem King of Rock 'n' Roll zu überzeugen. Ja, sicher, Elvis spricht zu Jewel-Anne. Rasch wandte sich Ava der Treppe zu und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf.
Warum sollte sie sich Gedanken um ihre geistige Gesundheit machen, wenn sie inmitten einer Gruppe von Menschen lebte, die irgendwann mit Sicherheit durchdrehen würden - wenn sie nicht längst verrückt waren?
Übersetzung: Kristina Lake-Zapp
© 2014 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Lisa Jackson
Lisa Jackson zählt zu den amerikanischen Top-Autorinnen, deren Romane regelmäßig die Bestsellerlisten der „ New York Times", der „ USA Today„ und der „ Publishers Weekly" erobern. Ihre Hochspannungsthriller wurden in fünfundzwanzig Länder verkauft. Auch in Deutschland hat sie den Sprung unter die Top 20 der „ Spiegel"-Bestsellerliste geschafft. Lisa Jackson lebt in Oregon.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Jackson
- 2014, 640 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kristina Lake-Zapp
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426514052
- ISBN-13: 9783426514054
- Erscheinungsdatum: 27.03.2014
Rezension zu „Tödliche Spur “
"Gekonnte Thrillerunterhaltung - in einem klassisch anmutenden Szenario, das an Alfred Hitchcock erinnert." Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27.05.2014
Pressezitat
"Gekonnte Thrillerunterhaltung - in einem klassisch anmutenden Szenario, das an Alfred Hitchcock erinnert." Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27.05.2014
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