Tote Augen
Thriller
Rechtsmedizinerin und Kinderärztin Sara Linton wird zur Schlüsselfigur in einem Inferno aus Gewalt, Folter und Mord.
Es beginnt mit einem gewöhnlichen Verkehrsunfall. Doch die junge Frau, die in Saras Klinik eingeliefert...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tote Augen “
Rechtsmedizinerin und Kinderärztin Sara Linton wird zur Schlüsselfigur in einem Inferno aus Gewalt, Folter und Mord.
Es beginnt mit einem gewöhnlichen Verkehrsunfall. Doch die junge Frau, die in Saras Klinik eingeliefert wird, weist schreckliche Folterspuren auf: Sie ist völlig abgemagert, mit Wunden übersät, Rippen wurden ihr herausgebrochen. Special Agent Will Trent stößt bei den Ermittlungen auf eine Folterkammer tief unter der Erde. Ein zweites Opfer mit ähnlichen Foltermalen wird wenig später entdeckt. Als eine dritte Frau verschwindet, entdecken die Ermittler eine erste Gemeinsamkeit unter den Opfern: Sie alle waren Mitglieder einer Online-Selbsthilfegruppe gegen Magersucht.
SPIEGEL Bestseller Platz 10 (47/2011)!
Klappentext zu „Tote Augen “
Eine Folterkammer tief unter der Erde ...Als Krankenhausärztin in Atlanta, Georgia, versucht Dr. Sara Linton, ihr Leben neu zu ordnen. Doch als es zu einer Reihe grausamer Folterungen und Morde kommt, kann die ehemalige Rechtsmedizinerin aus Grant County nicht tatenlos zusehen. Sie schaltet sich in die Ermittlungen von Will Trent und Faith Mitchell vom Georgia Bureau of Investigation ein, auch wenn die Ereignisse schmerzhafte Erinnerungen in ihr wecken, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte ...
Lese-Probe zu „Tote Augen “
Tote Augen von Karin Slaughter Prolog
... mehr
Am heutigen Tag waren sie genau vierzig Jahre verheiratet, und Judith hatte noch immer das Gefühl, sie wisse nicht alles über ihren Ehemann. Seit vierzig Jahren kochte sie Henry das essen, seit vierzig Jahren bügelte sie seine Hemden, seit vierzig Jahren schlief sie in seinem Bett, und er war ihr noch
immer ein Rätsel. Vielleicht war das der Grund, warum sie das alles für ihn tat, ohne sich kaum je einmal zu beklagen. Es sprach schon sehr für einen Mann, wenn er einen nach vierzig Jahren noch immer interessierte.
Judith kurbelte das Autofenster herunter, um die kühle Frühlingsluft hereinzulassen. Das Zentrum von Atlanta war nur dreißig Minuten entfernt, aber hier draußen in Conyers fand man noch immer weite Flächen unerschlossenen Landes und sogar ein paar kleine Farmen. es war eine stille Gegend, und
Atlanta war gerade so weit entfernt, dass sie den Frieden genießen konnte. Dennoch seufzte Judith, als am fernen Horizont die Wolkenkratzer Atlantas auftauchten, und dachte, Zuhause. Sie überraschte der Gedanke, dass Atlanta jetzt der Ort war, den sie als Zuhause betrachtete. Bis vor Kurzem war ihr Leben noch ein vorstädtisches, fast sogar ein ländliches gewesen. Weite, offene Flächen waren ihr lieber gewesen als die betonierten Bürgersteige der Großstadt, auch wenn sie zugeben musste, dass es nett war, so zentral zu leben, dass man zum Laden an der Ecke oder in ein kleines Café einfach zu Fuß gehen konnte, wenn man Lust dazu hatte. Tage vergingen, ohne dass sie überhaupt in ein Auto steigen musste - ein Leben, wie sie es sich vor zehn Jahren noch nicht einmal erträumt hätte. Sie merkte, dass Henry es ähnlich empfand. Mit entschlossen hochgezogenen Schultern steuerte er den Buick über die schmale Landstraße. Nach Jahrzehnten des Fahrens über so ziemlich jeden Highway und jede Interstate des Landes kannte er instinktiv jede Nebenstraße, jeden Schleichweg und jede Abkürzung. Judith vertraute darauf, dass er sie sicher nach Hause brachte. Sie lehnte sich zurück, schaute zum Fenster hinaus und kniff dabei leicht die Augen zusammen, sodass die Bäume am Straßenrand unscharf wurden und wirkten wie dichter Wald. Mindestens ein Mal pro Woche fuhr sie nach Conyers, und jedes Mal hatte sie das Gefühl, etwas Neues zu sehen - ein kleines Haus, das ihr nie aufgefallen war, eine Brücke, über die sie schon geholpert war, die sie jedoch noch nie beachtet hatte. Das Leben war so. Man merkte gar nicht, was an einem vorbeizog, bis man ein wenig langsamer fuhr, um genauer hinzuschauen. Sie kamen eben von einer kleinen Jubiläumsfeier zu ihren ehren, die ihr Sohn organisiert hatte. Na ja, wahrscheinlich eher Toms Frau, die sein Leben organisierte wie Chefsekretärin, Haushälterin, Babysitterin, Köchin und - wahrscheinlich - Konkubine in einer Person. Tom war eine freudige Überraschung gewesen, seine Geburt ein Ereignis, das die Ärzte für unmöglich gehalten hatten. Kaum hatte Judith ihn zum ersten Mal gesehen, liebte sie jeden Teil von ihm, betrachtete ihn als Geschenk, das sie mit jeder Faser ihres Körpers umsorgen würde. Sie hatte alles für ihn getan, und jetzt, da Tom Mitte dreißig war, schien er immer noch sehr viel Fürsorge zu brauchen. Vielleicht war Judith eine zu konventionelle Ehefrau, eine zu unterwürfige Mutter gewesen, sodass ihr Sohn zu einem Mann herangewachsen war, der eine Frau wollte - und brauchte -, die alles für ihn tat. Für Henry hatte Judith sich mit Sicherheit nicht zur Sklavin gemacht. Sie hatten 1969 geheiratet, zu einer Zeit, da Frauen tatsächlich andere Interessen haben konnten, als den besten Braten zu machen und die beste Methode herauszufinden, Flecken aus einem Teppich zu entfernen. Von Anfang an war Judith entschlossen gewesen, ihr Leben so interessant wie möglich zu gestalten. In Toms Schule hatte sie bei Veranstaltungen und Ausflügen die Aufsicht geführt. Sie hatte als Freiwillige im Obdachlosenheim des Orts gearbeitet und mitgeholfen, in der Nachbarschaft eine Recyclinggruppe zu organisieren. Als Tom dann älter wurde, hatte sie die Buchhaltung für eine örtliche Firma erledigt und in einer Sportgruppe der Kirche für Marathonläufe trainiert. Dieser aktive Lebensstil stand in deutlichem Kontrast zu dem ihrer Mutter, einer Frau, die am Ende ihres Lebens so verwüstet war von Geburt und Erziehung von neun Kindern, so ausgelaugt von den körperlichen Anstrengungen, die einer Farmersfrau abverlangt wurden, dass sie oft zu depressiv war, um überhaupt sprechen zu können.
Allerdings, das musste Judith sich eingestehen, war sie in diesen frühen Jahren selbst eine in gewisser Weise typische Frau gewesen. es war zwar peinlich, das zuzugeben, aber Judith war aufs College gegangen, nur um einen Ehemann zu finden. Sie war in der Nähe von Scranton, Pennsylvania, aufgewachsen, einem so winzigen Dorf, dass es nicht einmal auf der Landkarte verzeichnet war. Die einzig verfügbaren Männer dort waren Farmer, und die waren an Judith kaum interessiert. Judith konnte es ihnen nicht verdenken. Der Spiegel log nicht. Sie war ein bisschen zu mollig, die Zähne standen ein bisschen zu weit vor, sie war ein bisschen zu viel von allem anderen, um zu den Mädchen zu gehören, die man in Scranton zur Ehefrau nahm. Und da war dann noch ihr Vater, ein strenger Zuchtmeister, den sich kein vernünftiger Mann als Schwiegervater wünschen würde, und auf jeden Fall nicht im Gegenzug für ein birnenförmiges Mädchen mit vorstehenden Zähnen, das kein Talent für die Farmarbeit hatte.
Tatsächlich war Judith immer die Ausnahme in der Familie gewesen, diejenige, die nicht recht dazupasste. Sie las zu viel. Sie hasste die Farmarbeit. Auch als junges Mädchen hatte sie sich nicht zu Tieren hingezogen gefühlt und wollte nicht verantwortlich sein für ihre Pflege und Fütterung. Keines von ihren Geschwistern war auf eine weiterführende Schule geschickt worden. es gab zwei Brüder, die in der neunten Klasse die Schule verlassen hatten, und eine ältere Schwester, die ziemlich schnell geheiratet und sieben Monate später ihr erstes Kind geboren hatte. Wobei keiner sich die Mühe gemacht hatte, genauer nachzurechnen. Ihre Mutter, eine Meisterin der Verdrängung, hatte bis zu ihrem Tod behauptet, ihr Enkel sei schon als Kleinkind grobknochig gewesen. Zum Glück hatte Judiths Vater die Vorzeichen gesehen, was seine mittlere Tochter anging. Für sie würde es keine Vernunftehe mit einem der Jungs vom Dorf geben, nicht zuletzt deswegen, weil keiner von ihnen sie als vernünftige Partnerin betrachtete. Das Bibelcollege, entschied er, war nicht nur Judiths letzte, sondern ihre einzige Chance. Mit sechs Jahren war Judith von einem Kieselstein am Auge getroffen worden, als sie hinter dem Traktor her rannte. Von diesem Augenblick an hatte sie immer eine Brille getragen. Wegen der Brille nahmen die Leute an, sie sei ein Kopfmensch, wobei das genaue Gegenteil der Fall war. Ja, sie las sehr gerne, doch ihre Vorliebe war eher der Groschenroman als die hohe Literatur. So war es überraschend - nein, eher schockierend -, dass an Judiths erstem Tag im College der Dozent ihr zuzwinkerte. Erst hatte sie gedacht, er hätte etwas im Auge, doch Henry Coldfields Absichten wurden unmissverständlich, als er sie nach der Stunde beiseite nahm und sie fragte, ob sie mit ihm in den Drugstore gehen und eine Limonade trinken wolle. Das Zwinkern war offensichtlich Anfang und ende seines Draufgängertums. Henry war ein sehr schüchterner Mensch; was merkwürdig war, wenn man bedachte, dass er später der Spitzenverkäufer eines Spirituosengroßhandels wurde - eine Arbeit, die er auch drei Jahre nach seiner Pensionierung noch verachtete.
Judith nahm an, Henry konnte sich deshalb so gut anpassen, weil er Sohn eines Colonels der Army gewesen war, sodass sie sehr oft umziehen mussten und nie mehr als ein paar Jahre an einem Ort blieben. es gab keine leidenschaftliche Liebe auf den ersten Blick - die kam erst später. Anfangs hatte Judith Henry einfach nur attraktiv gefunden, weil er sie attraktiv fand. Das war etwas ganz Neues für die Birne aus Scranton, aber Judith hatte sich schon immer ans entgegengesetzte extrem der Marx'schen Philosophie gehalten - die von Groucho, nicht von Karl: Sie war mehr als bereit, jedem Club beizutreten, der sie als Mitglied aufnehmen wollte. Henry war ein Club für sich selbst. er war weder attraktiv noch hässlich, weder vorlaut noch schweigsam. Die Haare trug er ordentlich gescheitelt, sein Akzent war flach, und so war durchschnittlich das Wort, das ihn am besten beschrieb und das Judith in einem späteren Brief an ihre Schwester auch verwendete. Rosas Antwort lautete in etwa so: »Na ja, ich schätze, das ist das Beste, was du dir erhoffen kannst.« Zu Rosas Verteidigung muss man sagen, dass sie zu der Zeit mit ihrem dritten Kind schwanger war, während ihr zweites noch in den Windeln steckte, dennoch hatte Judith ihrer Schwester diese Kränkung nie verziehen - eine Kränkung, die ihr nicht gegen sie, sondern gegen Henry gerichtet erschien. Wenn Rosa nicht erkannte, was für ein besonderer Mensch Henry war, dann nur, weil Judith sich nicht gut ausdrücken konnte; Henry war viel zu vielschichtig für schlichte Wörter auf einem Blatt Papier. Vielleicht war es für alle am besten so. Rosas sarkastische Bemerkung hatte Judith einen Grund gegeben, mit ihrer Familie zu brechen und sich diesem zwinkernd introvertierten, sprunghaften Fremden in die Arme zu werfen.
Henrys draufgängerische Schüchternheit war nur die erste von vielen Widersprüchlichkeiten, die Judith im Lauf der Jahre an ihrem Mann aufgefallen waren. er hatte entsetzliche Höhenangst, hatte aber bereits als Teenager seinen Flugschein gemacht. er verkaufte Alkohol, trank aber selbst nie. er war ein häuslicher Mensch, verbrachte aber den größten Teil seines erwachsenenlebens mit Reisen zuerst durch den Nordwesten, dann den Mittleren Westen, denn diverse Beförderungen führten ihn ebenso durchs ganze Land, wie die Army es getan hatte, als Henry noch ein Kind war. Sein Leben, so schien es, war dadurch definiert, dass er sich zwang, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Und doch sagte er Judith oft, dass das Zusammensein mit ihr das einzige sei, was er wirklich genieße. Vierzig Jahre und so viele Überraschungen. Zu ihrem großen Bedauern hatte Judith starke Zweifel, dass ihr Sohn für seine Lebensgefährtin ähnliche Überraschungen bereithalten würde. Als Tom heranwuchs, war Henry drei von vier Wochen unterwegs, und sein Vatersein kam in plötzlichen
Ausbrüchen, die nicht unbedingt seine mitfühlende Seite betonten. Tom wurde folglich alles, was sein Vater ihm in diesen prägenden Jahren gezeigt hatte: streng, unbeugsam, getrieben. Dazu kam allerdings noch etwas anderes: Judith wusste nicht, ob es damit zu tun hatte, dass Henry seine Arbeit als Pflicht seiner Familie gegenüber und nicht als seine Leidenschaft betrachtete, oder weil er es hasste, so viel von zu Hause weg zu sein, aber es sah so aus, als liege jeder Kommunikation, die er mit seinem Sohn hatte, eine latente Spannung zugrunde: Mach nicht dieselben Fehler, die ich gemacht habe. Verrate nicht deine Überzeugungen, nur um Essen auf den Tisch zu bringen. Der einzige positive Rat, den er seinem Sohn je gab, war, er solle eine gute Frau heiraten. Wenn er nur konkreter geworden wäre. Wenn er nur nicht so hart gewesen wäre. Woran lag es, dass Väter mit ihren Söhnen immer so streng waren? Judith vermutete, sie wollten, dass ihre Söhne in Bereichen erfolg hatten, wo es ihnen nicht gelungen war. Damals, am Anfang ihrer Schwangerschaft, hatte sich bei dem Gedanken an eine Tochter eine schnelle Wärme in Judiths Körper ausgebreitet, gefolgt von einer sengenden Kälte. ein junges Mädchen wie Judith, draußen in der Welt, voller Trotz gegen ihre Mutter, voller Trotz gegen die Welt. Dadurch verstand sie Henrys Wunsch, dass Tom besser werden sollte und alles bekam, was er wollte, und noch mehr. Im Beruf hatte Tom mit Sicherheit erfolg, seine graue Maus von einer Frau war allerdings eine Enttäuschung. Sooft Judith ihrer Schwiegertochter gegenüberstand, drängte es sie, der Frau zu sagen, sie solle aufstehen, den Mund aufmachen und, um Gottes willen, Rückgrat zeigen. eine der freiwilligen Helferinnen in der Kirche hatte letzte Woche gesagt, dass Männer immer ihre Mütter heirateten. Judith hatte der Frau nicht widersprochen, aber sie würde jedem raten, nur ja keine Vergleiche zwischen sich und der Frau ihres Sohns anzustellen. Abgesehen von der Sehnsucht nach ihren Enkeln, konnte
Judith sich gut vorstellen, ihre Schwiegertochter nie mehr zu sehen und dennoch glücklich zu sein. Die Enkel waren schließlich der einzige Grund, warum sie nach Atlanta gezogen waren. Sie und Henry hatten ihr Rentnerleben in Arizona völlig hinter sich gelassen und waren fast zweitausend Meilen hierher in diese heiße Stadt mit ihren Smogwarnungen und Bandenmorden gezogen, nur um in der Nähe der verzogensten und undankbarsten kleinen Wesen auf dieser Seite der Appalachen zu sein. Judith warf einen flüchtigen Blick zu Henry hinüber, der beim Fahren aufs Lenkrad trommelte und unmelodisch summte. Über ihre Enkel sprachen sie nur voller Begeisterung, vielleicht weil sie, wenn sie ehrlich wären, zugeben müssten, dass sie sie nicht besonders mochten - und wo wären sie dann? Sie hatten ihr Leben völlig umgekrempelt für zwei kleine Kinder, die eine glutenfreie Diät, streng reglementierte Schlafperioden und straff durchorganisierte Spielzeiten einhielten, aber nur mit »gleichgesinnten Kindern, die dieselben Ziele hatten«.
Soweit Judith das beurteilen konnte, hatten ihre Enkel nur ein einziges Ziel: immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie stellte sich vor, dass man nicht niesen konnte, ohne ein gleichgesinntes, egozentrisches Kind zu finden. In den Augen ihrer Schwiegertochter war das jedoch eine fast unlösbare Aufgabe. War das nicht der ganze Zweck der Jugend, egozentrisch zu sein? Und war es nicht Aufgabe der Eltern, einem das auszutreiben? Auf jeden Fall war es allen Beteiligten klar, dass es nicht Aufgabe der Großeltern war. Als der kleine Mark seinen nicht pasteurisierten Saft auf Henrys Hose geschüttet und Lilly so viele von den Hershey's Kisses gegessen hatte, die sie in Judiths Handtasche gefunden hatte, dass sie Judith an eine Obdachlose erinnerte, die im letzten
Monat im Heim so mit Metamphetaminen vollgepumpt war, dass sie sich in die Hose gemacht hatte, da hatten Henry und Judith nur gelächelt - sogar gekichert -, als wären das wunderbare, kleine Angewohnheiten, die die Kinder in Kürze ablegen würden. Doch das passierte eben nicht, und jetzt, da sie sieben und neun Jahre alt waren, verlor Judith allmählich den Glauben daran, dass sich ihre Enkel eines Tages zu höflichen und liebevollen jungen erwachsenen entwickeln würden, die nicht den ständigen Drang verspürten, Erwachsenengespräche zu unterbrechen und durchs Haus zu rennen und so laut zu schreien, dass noch zwei Countys entfernt die Tiere anfingen zu jaulen. Judiths einziger Trost war, dass Tom jeden Sonntag mit ihnen in die Kirche ging. Sie wollte natürlich, dass ihre Enkel das Leben in Christus kennenlernten, aber wichtiger war ihr noch, dass sie die Lektionen lernten, die man ihnen in der Sonntagsschule beibrachte. Du sollst Mutter und Vater ehren. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Glaube nur ja nicht, du könntest dein Leben wegwerfen, die Schule abbrechen und zu Oma und Opa ziehen.
»Hey!«, rief Henry, als ein entgegenkommendes Auto auf der Gegenfahrbahn so dicht an ihnen vorbeifuhr, dass der Buick richtiggehend schwankte. »Kinder«, murmelte er und packte das Lenkrad fester. Je näher Henry seinem Siebzigsten kam, umso mehr schien er sich in der Rolle des mürrischen, alten Mannes zu gefallen. Manchmal war das liebenswert. Zu anderen Zeiten fragte sich Judith, wie lange es noch dauern würde, bis er anfing, die Faust zu schütteln und alle Übel dieser Welt den »Kindern« in die Schuhe zu schieben. Das Alter dieser Kinder schien irgendwo im Bereich zwischen vier und vierzig zu liegen, und seine Verärgerung steigerte sich exponentiell, wenn er sie bei etwas ertappte, das er früher selbst getan hatte, jetzt aber nicht mehr genießen konnte. Judith graute vor dem Tag, da man ihm seinen Flugschein abnehmen würde, und dieser Tag würde eher früher als später kommen, da sein letzter Routinecheck beim Kardiologen einige Unregelmäßigkeiten ergeben hatte. Das war einer der Gründe, warum sie beschlossen hatten, den Ruhestand in Arizona zu verbringen, denn dort gab es keinen Schnee zu schaufeln und keinen Rasen zu mähen. Sie sagte: »Sieht nach Regen aus.« Henry hob den Kopf, um nach den Wolken zu schauen. »Wird ein guter Abend, um mit meinem Buch anzufangen.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Henry hatte ihr zum Hochzeitstag einen dicken historischen Liebesroman geschenkt. Judith hatte ihm eine neue Kühltasche geschenkt, die er auf den Golfplatz mitnehmen konnte. Mit halb zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Straße vor ihnen und beschloss, sich demnächst wieder einmal ihre Augen untersuchen zu lassen. Sie selbst war auch nicht mehr weit von den siebzig entfernt, und ihre Sehkraft schien mit jedem Jahr schlechter zu werden. Die Dämmerung war für sie eine besonders schlechte Zeit, und Objekte in größerer Entfernung sah sie nur noch verschwommen. Deshalb blinzelte sie mehrmals, bevor sie wirklich sicher war, was sie da sah, und sie öffnete erst den Mund, um Henry zu warnen, als das Tier direkt vor ihnen war. »Jude!«, schrie Henry, und sein rechter Arm legte sich quer über ihre Brust, während er das Lenkrad nach links riss, um dem armen Ding auszuweichen. Völlig unpassenderweise dachte Judith daran, wie recht die Filme doch hatten. Alles verlangsamte sich, die Zeit kroch dahin, sodass jede Sekunde wie eine Ewigkeit wirkte. Sie spürte Henrys starken Arm gegen ihre Brust schlagen, den Sicherheitsgurt in ihre Hüfte schneiden. Ihr Kopf schnellte zur Seite und krachte gegen die Tür, als das Auto ausscherte. Die Windschutzscheibe splitterte, als das Tier gegen das Glas prallte, dann auf das Autodach und schließlich auf den Kofferraumdeckel knallte. erst als das Auto, nach einer Drehung um hundertachtzig Grad, schwankend zum Stehen kam, erreichten die Geräusche Judiths Ohr: das Krachen und doppelte Knallen, überlagert von einem schrillen Kreischen, das, wie sie jetzt erkannte, aus ihrem eigenen Mund kam. Anscheinend hatte sie einen Schock, denn Henry musste mehrmals »Judith! Judith!« schreien, bevor sie aufhörte zu kreischen. Henrys Hand umklammerte fest ihren Arm, was ihr einen Schmerz bis in die Schulter hinaufschickte. Sie strich ihm über den Handrücken und sagte: »Ich bin in Ordnung. Bin in Ordnung.« Die Brille saß ihr schief auf der Nase, sie sah nicht mehr scharf. Sie hielt sich die Finger an die rechte Kopfseite und spürte eine klebrige Feuchtigkeit. Als sie die Hand wegzog, sah sie Blut.
»War vermutlich ein Reh oder ...« Henry presste sich die Hand auf den Mund und ließ den Satz unvollendet. er wirkte ruhig bis auf das verräterische Auf und Ab seines Brustkorbs, als er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Aufprall hatte den Airbag aktiviert, ein feines, weißes Pulver edeckte sein Gesicht. Ihr stockte der Atem, als sie nach vorn schaute. Blut war auf die Windschutzscheibe gespritzt wie ein plötzlicher, heftiger Regen. Henry stieß die Tür auf, stieg aber nicht aus. Judith nahm die Brille ab, um sich über die Augen zu wischen. Beide Gläser waren kaputt, der untere Teil der Bifokallinse rechts fehlte. Sie sah, dass die Brille zitterte, und merkte, dass das Zittern von ihren Händen kam. Henry stieg aus, und sie zwang sich, die Brille wieder aufzusetzen und ihm zu folgen. Das Geschöpf lag auf der Straße, die Beine bewegten sich. Judith schmerzte der Kopf, dort, wo sie ihn sich an der Tür angeschlagen hatte. Blut war ihr in die Augen gelaufen. Das war die einzige Erklärung, die sie hatte für die Tatsache, dass das Tier - mit Sicherheit ein Reh - allem Anschein nach die wohlgeformten, weißen Beine einer Frau hatte. »O Gott«, flüsterte Henry. »es ist - Judith - es ist ...« Hinter sich hörte Judith ein Auto. Reifen quietschten auf dem Asphalt. Türen gingen auf und wurden zugeknallt. Zwei Männer kamen auf der Straße zu ihnen, einer lief sofort weiter zu dem Tier. Er schrie: »Ruf die 9-1-1!« und kniete sich neben den Körper. Judith machte ein paar Schritte darauf zu, dann noch ein paar. Die Beine bewegten sich wieder - die perfekten Beine einer Frau. Sie war völlig nackt. Blutergüsse schwärzten die Innenseiten ihrer Schenkel - sehr dunkle Ergüsse. Alte Ergüsse.
Ihre Beine waren mit getrocknetem Blut verkrustet. Ein burgunderfarbener Film schien ihren Torso zu bedecken, eine klaffende Wunde in der Seite zeigte weißen Knochen. Die Augen waren geschwollen, die Lippen schrundig und aufgeplatzt. Blut verklebte die dunklen Haare der Frau und breitete sich um ihren Kopf aus wie ein Heiligenschein. Judith ging noch näher hin, sie konnte nicht anders - plötzlich war sie Voyeur, nachdem sie ihr Leben lang höflich weggeschaut hatte. Glas knirschte unter ihren Sohlen, und die Frau riss in Panik die Augen auf. Sie starrte an Judith vorbei, ihr Blick hatte eine dumpfe Leblosigkeit. Ebenso plötzlich schlossen sich ihre Lider wieder, aber Judith konnte den Schauer nicht unterdrücken, der durch ihren Körper fuhr. »O Gott«, murmelte Henry fast so, als wäre es ein Gebet. Als Judith sich umdrehte, sah sie, dass ihr Mann sich die Hand auf die Brust drückte. Seine Knöchel waren weiß. er starrte die Frau an und sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Wie konnte das passieren?«, flüsterte er, und entsetzen verzerrte sein Gesicht. »Wie, in Gottes Namen, konnte das passieren?«
Übersetzung Klaus Berr
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
Am heutigen Tag waren sie genau vierzig Jahre verheiratet, und Judith hatte noch immer das Gefühl, sie wisse nicht alles über ihren Ehemann. Seit vierzig Jahren kochte sie Henry das essen, seit vierzig Jahren bügelte sie seine Hemden, seit vierzig Jahren schlief sie in seinem Bett, und er war ihr noch
immer ein Rätsel. Vielleicht war das der Grund, warum sie das alles für ihn tat, ohne sich kaum je einmal zu beklagen. Es sprach schon sehr für einen Mann, wenn er einen nach vierzig Jahren noch immer interessierte.
Judith kurbelte das Autofenster herunter, um die kühle Frühlingsluft hereinzulassen. Das Zentrum von Atlanta war nur dreißig Minuten entfernt, aber hier draußen in Conyers fand man noch immer weite Flächen unerschlossenen Landes und sogar ein paar kleine Farmen. es war eine stille Gegend, und
Atlanta war gerade so weit entfernt, dass sie den Frieden genießen konnte. Dennoch seufzte Judith, als am fernen Horizont die Wolkenkratzer Atlantas auftauchten, und dachte, Zuhause. Sie überraschte der Gedanke, dass Atlanta jetzt der Ort war, den sie als Zuhause betrachtete. Bis vor Kurzem war ihr Leben noch ein vorstädtisches, fast sogar ein ländliches gewesen. Weite, offene Flächen waren ihr lieber gewesen als die betonierten Bürgersteige der Großstadt, auch wenn sie zugeben musste, dass es nett war, so zentral zu leben, dass man zum Laden an der Ecke oder in ein kleines Café einfach zu Fuß gehen konnte, wenn man Lust dazu hatte. Tage vergingen, ohne dass sie überhaupt in ein Auto steigen musste - ein Leben, wie sie es sich vor zehn Jahren noch nicht einmal erträumt hätte. Sie merkte, dass Henry es ähnlich empfand. Mit entschlossen hochgezogenen Schultern steuerte er den Buick über die schmale Landstraße. Nach Jahrzehnten des Fahrens über so ziemlich jeden Highway und jede Interstate des Landes kannte er instinktiv jede Nebenstraße, jeden Schleichweg und jede Abkürzung. Judith vertraute darauf, dass er sie sicher nach Hause brachte. Sie lehnte sich zurück, schaute zum Fenster hinaus und kniff dabei leicht die Augen zusammen, sodass die Bäume am Straßenrand unscharf wurden und wirkten wie dichter Wald. Mindestens ein Mal pro Woche fuhr sie nach Conyers, und jedes Mal hatte sie das Gefühl, etwas Neues zu sehen - ein kleines Haus, das ihr nie aufgefallen war, eine Brücke, über die sie schon geholpert war, die sie jedoch noch nie beachtet hatte. Das Leben war so. Man merkte gar nicht, was an einem vorbeizog, bis man ein wenig langsamer fuhr, um genauer hinzuschauen. Sie kamen eben von einer kleinen Jubiläumsfeier zu ihren ehren, die ihr Sohn organisiert hatte. Na ja, wahrscheinlich eher Toms Frau, die sein Leben organisierte wie Chefsekretärin, Haushälterin, Babysitterin, Köchin und - wahrscheinlich - Konkubine in einer Person. Tom war eine freudige Überraschung gewesen, seine Geburt ein Ereignis, das die Ärzte für unmöglich gehalten hatten. Kaum hatte Judith ihn zum ersten Mal gesehen, liebte sie jeden Teil von ihm, betrachtete ihn als Geschenk, das sie mit jeder Faser ihres Körpers umsorgen würde. Sie hatte alles für ihn getan, und jetzt, da Tom Mitte dreißig war, schien er immer noch sehr viel Fürsorge zu brauchen. Vielleicht war Judith eine zu konventionelle Ehefrau, eine zu unterwürfige Mutter gewesen, sodass ihr Sohn zu einem Mann herangewachsen war, der eine Frau wollte - und brauchte -, die alles für ihn tat. Für Henry hatte Judith sich mit Sicherheit nicht zur Sklavin gemacht. Sie hatten 1969 geheiratet, zu einer Zeit, da Frauen tatsächlich andere Interessen haben konnten, als den besten Braten zu machen und die beste Methode herauszufinden, Flecken aus einem Teppich zu entfernen. Von Anfang an war Judith entschlossen gewesen, ihr Leben so interessant wie möglich zu gestalten. In Toms Schule hatte sie bei Veranstaltungen und Ausflügen die Aufsicht geführt. Sie hatte als Freiwillige im Obdachlosenheim des Orts gearbeitet und mitgeholfen, in der Nachbarschaft eine Recyclinggruppe zu organisieren. Als Tom dann älter wurde, hatte sie die Buchhaltung für eine örtliche Firma erledigt und in einer Sportgruppe der Kirche für Marathonläufe trainiert. Dieser aktive Lebensstil stand in deutlichem Kontrast zu dem ihrer Mutter, einer Frau, die am Ende ihres Lebens so verwüstet war von Geburt und Erziehung von neun Kindern, so ausgelaugt von den körperlichen Anstrengungen, die einer Farmersfrau abverlangt wurden, dass sie oft zu depressiv war, um überhaupt sprechen zu können.
Allerdings, das musste Judith sich eingestehen, war sie in diesen frühen Jahren selbst eine in gewisser Weise typische Frau gewesen. es war zwar peinlich, das zuzugeben, aber Judith war aufs College gegangen, nur um einen Ehemann zu finden. Sie war in der Nähe von Scranton, Pennsylvania, aufgewachsen, einem so winzigen Dorf, dass es nicht einmal auf der Landkarte verzeichnet war. Die einzig verfügbaren Männer dort waren Farmer, und die waren an Judith kaum interessiert. Judith konnte es ihnen nicht verdenken. Der Spiegel log nicht. Sie war ein bisschen zu mollig, die Zähne standen ein bisschen zu weit vor, sie war ein bisschen zu viel von allem anderen, um zu den Mädchen zu gehören, die man in Scranton zur Ehefrau nahm. Und da war dann noch ihr Vater, ein strenger Zuchtmeister, den sich kein vernünftiger Mann als Schwiegervater wünschen würde, und auf jeden Fall nicht im Gegenzug für ein birnenförmiges Mädchen mit vorstehenden Zähnen, das kein Talent für die Farmarbeit hatte.
Tatsächlich war Judith immer die Ausnahme in der Familie gewesen, diejenige, die nicht recht dazupasste. Sie las zu viel. Sie hasste die Farmarbeit. Auch als junges Mädchen hatte sie sich nicht zu Tieren hingezogen gefühlt und wollte nicht verantwortlich sein für ihre Pflege und Fütterung. Keines von ihren Geschwistern war auf eine weiterführende Schule geschickt worden. es gab zwei Brüder, die in der neunten Klasse die Schule verlassen hatten, und eine ältere Schwester, die ziemlich schnell geheiratet und sieben Monate später ihr erstes Kind geboren hatte. Wobei keiner sich die Mühe gemacht hatte, genauer nachzurechnen. Ihre Mutter, eine Meisterin der Verdrängung, hatte bis zu ihrem Tod behauptet, ihr Enkel sei schon als Kleinkind grobknochig gewesen. Zum Glück hatte Judiths Vater die Vorzeichen gesehen, was seine mittlere Tochter anging. Für sie würde es keine Vernunftehe mit einem der Jungs vom Dorf geben, nicht zuletzt deswegen, weil keiner von ihnen sie als vernünftige Partnerin betrachtete. Das Bibelcollege, entschied er, war nicht nur Judiths letzte, sondern ihre einzige Chance. Mit sechs Jahren war Judith von einem Kieselstein am Auge getroffen worden, als sie hinter dem Traktor her rannte. Von diesem Augenblick an hatte sie immer eine Brille getragen. Wegen der Brille nahmen die Leute an, sie sei ein Kopfmensch, wobei das genaue Gegenteil der Fall war. Ja, sie las sehr gerne, doch ihre Vorliebe war eher der Groschenroman als die hohe Literatur. So war es überraschend - nein, eher schockierend -, dass an Judiths erstem Tag im College der Dozent ihr zuzwinkerte. Erst hatte sie gedacht, er hätte etwas im Auge, doch Henry Coldfields Absichten wurden unmissverständlich, als er sie nach der Stunde beiseite nahm und sie fragte, ob sie mit ihm in den Drugstore gehen und eine Limonade trinken wolle. Das Zwinkern war offensichtlich Anfang und ende seines Draufgängertums. Henry war ein sehr schüchterner Mensch; was merkwürdig war, wenn man bedachte, dass er später der Spitzenverkäufer eines Spirituosengroßhandels wurde - eine Arbeit, die er auch drei Jahre nach seiner Pensionierung noch verachtete.
Judith nahm an, Henry konnte sich deshalb so gut anpassen, weil er Sohn eines Colonels der Army gewesen war, sodass sie sehr oft umziehen mussten und nie mehr als ein paar Jahre an einem Ort blieben. es gab keine leidenschaftliche Liebe auf den ersten Blick - die kam erst später. Anfangs hatte Judith Henry einfach nur attraktiv gefunden, weil er sie attraktiv fand. Das war etwas ganz Neues für die Birne aus Scranton, aber Judith hatte sich schon immer ans entgegengesetzte extrem der Marx'schen Philosophie gehalten - die von Groucho, nicht von Karl: Sie war mehr als bereit, jedem Club beizutreten, der sie als Mitglied aufnehmen wollte. Henry war ein Club für sich selbst. er war weder attraktiv noch hässlich, weder vorlaut noch schweigsam. Die Haare trug er ordentlich gescheitelt, sein Akzent war flach, und so war durchschnittlich das Wort, das ihn am besten beschrieb und das Judith in einem späteren Brief an ihre Schwester auch verwendete. Rosas Antwort lautete in etwa so: »Na ja, ich schätze, das ist das Beste, was du dir erhoffen kannst.« Zu Rosas Verteidigung muss man sagen, dass sie zu der Zeit mit ihrem dritten Kind schwanger war, während ihr zweites noch in den Windeln steckte, dennoch hatte Judith ihrer Schwester diese Kränkung nie verziehen - eine Kränkung, die ihr nicht gegen sie, sondern gegen Henry gerichtet erschien. Wenn Rosa nicht erkannte, was für ein besonderer Mensch Henry war, dann nur, weil Judith sich nicht gut ausdrücken konnte; Henry war viel zu vielschichtig für schlichte Wörter auf einem Blatt Papier. Vielleicht war es für alle am besten so. Rosas sarkastische Bemerkung hatte Judith einen Grund gegeben, mit ihrer Familie zu brechen und sich diesem zwinkernd introvertierten, sprunghaften Fremden in die Arme zu werfen.
Henrys draufgängerische Schüchternheit war nur die erste von vielen Widersprüchlichkeiten, die Judith im Lauf der Jahre an ihrem Mann aufgefallen waren. er hatte entsetzliche Höhenangst, hatte aber bereits als Teenager seinen Flugschein gemacht. er verkaufte Alkohol, trank aber selbst nie. er war ein häuslicher Mensch, verbrachte aber den größten Teil seines erwachsenenlebens mit Reisen zuerst durch den Nordwesten, dann den Mittleren Westen, denn diverse Beförderungen führten ihn ebenso durchs ganze Land, wie die Army es getan hatte, als Henry noch ein Kind war. Sein Leben, so schien es, war dadurch definiert, dass er sich zwang, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Und doch sagte er Judith oft, dass das Zusammensein mit ihr das einzige sei, was er wirklich genieße. Vierzig Jahre und so viele Überraschungen. Zu ihrem großen Bedauern hatte Judith starke Zweifel, dass ihr Sohn für seine Lebensgefährtin ähnliche Überraschungen bereithalten würde. Als Tom heranwuchs, war Henry drei von vier Wochen unterwegs, und sein Vatersein kam in plötzlichen
Ausbrüchen, die nicht unbedingt seine mitfühlende Seite betonten. Tom wurde folglich alles, was sein Vater ihm in diesen prägenden Jahren gezeigt hatte: streng, unbeugsam, getrieben. Dazu kam allerdings noch etwas anderes: Judith wusste nicht, ob es damit zu tun hatte, dass Henry seine Arbeit als Pflicht seiner Familie gegenüber und nicht als seine Leidenschaft betrachtete, oder weil er es hasste, so viel von zu Hause weg zu sein, aber es sah so aus, als liege jeder Kommunikation, die er mit seinem Sohn hatte, eine latente Spannung zugrunde: Mach nicht dieselben Fehler, die ich gemacht habe. Verrate nicht deine Überzeugungen, nur um Essen auf den Tisch zu bringen. Der einzige positive Rat, den er seinem Sohn je gab, war, er solle eine gute Frau heiraten. Wenn er nur konkreter geworden wäre. Wenn er nur nicht so hart gewesen wäre. Woran lag es, dass Väter mit ihren Söhnen immer so streng waren? Judith vermutete, sie wollten, dass ihre Söhne in Bereichen erfolg hatten, wo es ihnen nicht gelungen war. Damals, am Anfang ihrer Schwangerschaft, hatte sich bei dem Gedanken an eine Tochter eine schnelle Wärme in Judiths Körper ausgebreitet, gefolgt von einer sengenden Kälte. ein junges Mädchen wie Judith, draußen in der Welt, voller Trotz gegen ihre Mutter, voller Trotz gegen die Welt. Dadurch verstand sie Henrys Wunsch, dass Tom besser werden sollte und alles bekam, was er wollte, und noch mehr. Im Beruf hatte Tom mit Sicherheit erfolg, seine graue Maus von einer Frau war allerdings eine Enttäuschung. Sooft Judith ihrer Schwiegertochter gegenüberstand, drängte es sie, der Frau zu sagen, sie solle aufstehen, den Mund aufmachen und, um Gottes willen, Rückgrat zeigen. eine der freiwilligen Helferinnen in der Kirche hatte letzte Woche gesagt, dass Männer immer ihre Mütter heirateten. Judith hatte der Frau nicht widersprochen, aber sie würde jedem raten, nur ja keine Vergleiche zwischen sich und der Frau ihres Sohns anzustellen. Abgesehen von der Sehnsucht nach ihren Enkeln, konnte
Judith sich gut vorstellen, ihre Schwiegertochter nie mehr zu sehen und dennoch glücklich zu sein. Die Enkel waren schließlich der einzige Grund, warum sie nach Atlanta gezogen waren. Sie und Henry hatten ihr Rentnerleben in Arizona völlig hinter sich gelassen und waren fast zweitausend Meilen hierher in diese heiße Stadt mit ihren Smogwarnungen und Bandenmorden gezogen, nur um in der Nähe der verzogensten und undankbarsten kleinen Wesen auf dieser Seite der Appalachen zu sein. Judith warf einen flüchtigen Blick zu Henry hinüber, der beim Fahren aufs Lenkrad trommelte und unmelodisch summte. Über ihre Enkel sprachen sie nur voller Begeisterung, vielleicht weil sie, wenn sie ehrlich wären, zugeben müssten, dass sie sie nicht besonders mochten - und wo wären sie dann? Sie hatten ihr Leben völlig umgekrempelt für zwei kleine Kinder, die eine glutenfreie Diät, streng reglementierte Schlafperioden und straff durchorganisierte Spielzeiten einhielten, aber nur mit »gleichgesinnten Kindern, die dieselben Ziele hatten«.
Soweit Judith das beurteilen konnte, hatten ihre Enkel nur ein einziges Ziel: immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie stellte sich vor, dass man nicht niesen konnte, ohne ein gleichgesinntes, egozentrisches Kind zu finden. In den Augen ihrer Schwiegertochter war das jedoch eine fast unlösbare Aufgabe. War das nicht der ganze Zweck der Jugend, egozentrisch zu sein? Und war es nicht Aufgabe der Eltern, einem das auszutreiben? Auf jeden Fall war es allen Beteiligten klar, dass es nicht Aufgabe der Großeltern war. Als der kleine Mark seinen nicht pasteurisierten Saft auf Henrys Hose geschüttet und Lilly so viele von den Hershey's Kisses gegessen hatte, die sie in Judiths Handtasche gefunden hatte, dass sie Judith an eine Obdachlose erinnerte, die im letzten
Monat im Heim so mit Metamphetaminen vollgepumpt war, dass sie sich in die Hose gemacht hatte, da hatten Henry und Judith nur gelächelt - sogar gekichert -, als wären das wunderbare, kleine Angewohnheiten, die die Kinder in Kürze ablegen würden. Doch das passierte eben nicht, und jetzt, da sie sieben und neun Jahre alt waren, verlor Judith allmählich den Glauben daran, dass sich ihre Enkel eines Tages zu höflichen und liebevollen jungen erwachsenen entwickeln würden, die nicht den ständigen Drang verspürten, Erwachsenengespräche zu unterbrechen und durchs Haus zu rennen und so laut zu schreien, dass noch zwei Countys entfernt die Tiere anfingen zu jaulen. Judiths einziger Trost war, dass Tom jeden Sonntag mit ihnen in die Kirche ging. Sie wollte natürlich, dass ihre Enkel das Leben in Christus kennenlernten, aber wichtiger war ihr noch, dass sie die Lektionen lernten, die man ihnen in der Sonntagsschule beibrachte. Du sollst Mutter und Vater ehren. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Glaube nur ja nicht, du könntest dein Leben wegwerfen, die Schule abbrechen und zu Oma und Opa ziehen.
»Hey!«, rief Henry, als ein entgegenkommendes Auto auf der Gegenfahrbahn so dicht an ihnen vorbeifuhr, dass der Buick richtiggehend schwankte. »Kinder«, murmelte er und packte das Lenkrad fester. Je näher Henry seinem Siebzigsten kam, umso mehr schien er sich in der Rolle des mürrischen, alten Mannes zu gefallen. Manchmal war das liebenswert. Zu anderen Zeiten fragte sich Judith, wie lange es noch dauern würde, bis er anfing, die Faust zu schütteln und alle Übel dieser Welt den »Kindern« in die Schuhe zu schieben. Das Alter dieser Kinder schien irgendwo im Bereich zwischen vier und vierzig zu liegen, und seine Verärgerung steigerte sich exponentiell, wenn er sie bei etwas ertappte, das er früher selbst getan hatte, jetzt aber nicht mehr genießen konnte. Judith graute vor dem Tag, da man ihm seinen Flugschein abnehmen würde, und dieser Tag würde eher früher als später kommen, da sein letzter Routinecheck beim Kardiologen einige Unregelmäßigkeiten ergeben hatte. Das war einer der Gründe, warum sie beschlossen hatten, den Ruhestand in Arizona zu verbringen, denn dort gab es keinen Schnee zu schaufeln und keinen Rasen zu mähen. Sie sagte: »Sieht nach Regen aus.« Henry hob den Kopf, um nach den Wolken zu schauen. »Wird ein guter Abend, um mit meinem Buch anzufangen.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Henry hatte ihr zum Hochzeitstag einen dicken historischen Liebesroman geschenkt. Judith hatte ihm eine neue Kühltasche geschenkt, die er auf den Golfplatz mitnehmen konnte. Mit halb zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Straße vor ihnen und beschloss, sich demnächst wieder einmal ihre Augen untersuchen zu lassen. Sie selbst war auch nicht mehr weit von den siebzig entfernt, und ihre Sehkraft schien mit jedem Jahr schlechter zu werden. Die Dämmerung war für sie eine besonders schlechte Zeit, und Objekte in größerer Entfernung sah sie nur noch verschwommen. Deshalb blinzelte sie mehrmals, bevor sie wirklich sicher war, was sie da sah, und sie öffnete erst den Mund, um Henry zu warnen, als das Tier direkt vor ihnen war. »Jude!«, schrie Henry, und sein rechter Arm legte sich quer über ihre Brust, während er das Lenkrad nach links riss, um dem armen Ding auszuweichen. Völlig unpassenderweise dachte Judith daran, wie recht die Filme doch hatten. Alles verlangsamte sich, die Zeit kroch dahin, sodass jede Sekunde wie eine Ewigkeit wirkte. Sie spürte Henrys starken Arm gegen ihre Brust schlagen, den Sicherheitsgurt in ihre Hüfte schneiden. Ihr Kopf schnellte zur Seite und krachte gegen die Tür, als das Auto ausscherte. Die Windschutzscheibe splitterte, als das Tier gegen das Glas prallte, dann auf das Autodach und schließlich auf den Kofferraumdeckel knallte. erst als das Auto, nach einer Drehung um hundertachtzig Grad, schwankend zum Stehen kam, erreichten die Geräusche Judiths Ohr: das Krachen und doppelte Knallen, überlagert von einem schrillen Kreischen, das, wie sie jetzt erkannte, aus ihrem eigenen Mund kam. Anscheinend hatte sie einen Schock, denn Henry musste mehrmals »Judith! Judith!« schreien, bevor sie aufhörte zu kreischen. Henrys Hand umklammerte fest ihren Arm, was ihr einen Schmerz bis in die Schulter hinaufschickte. Sie strich ihm über den Handrücken und sagte: »Ich bin in Ordnung. Bin in Ordnung.« Die Brille saß ihr schief auf der Nase, sie sah nicht mehr scharf. Sie hielt sich die Finger an die rechte Kopfseite und spürte eine klebrige Feuchtigkeit. Als sie die Hand wegzog, sah sie Blut.
»War vermutlich ein Reh oder ...« Henry presste sich die Hand auf den Mund und ließ den Satz unvollendet. er wirkte ruhig bis auf das verräterische Auf und Ab seines Brustkorbs, als er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Aufprall hatte den Airbag aktiviert, ein feines, weißes Pulver edeckte sein Gesicht. Ihr stockte der Atem, als sie nach vorn schaute. Blut war auf die Windschutzscheibe gespritzt wie ein plötzlicher, heftiger Regen. Henry stieß die Tür auf, stieg aber nicht aus. Judith nahm die Brille ab, um sich über die Augen zu wischen. Beide Gläser waren kaputt, der untere Teil der Bifokallinse rechts fehlte. Sie sah, dass die Brille zitterte, und merkte, dass das Zittern von ihren Händen kam. Henry stieg aus, und sie zwang sich, die Brille wieder aufzusetzen und ihm zu folgen. Das Geschöpf lag auf der Straße, die Beine bewegten sich. Judith schmerzte der Kopf, dort, wo sie ihn sich an der Tür angeschlagen hatte. Blut war ihr in die Augen gelaufen. Das war die einzige Erklärung, die sie hatte für die Tatsache, dass das Tier - mit Sicherheit ein Reh - allem Anschein nach die wohlgeformten, weißen Beine einer Frau hatte. »O Gott«, flüsterte Henry. »es ist - Judith - es ist ...« Hinter sich hörte Judith ein Auto. Reifen quietschten auf dem Asphalt. Türen gingen auf und wurden zugeknallt. Zwei Männer kamen auf der Straße zu ihnen, einer lief sofort weiter zu dem Tier. Er schrie: »Ruf die 9-1-1!« und kniete sich neben den Körper. Judith machte ein paar Schritte darauf zu, dann noch ein paar. Die Beine bewegten sich wieder - die perfekten Beine einer Frau. Sie war völlig nackt. Blutergüsse schwärzten die Innenseiten ihrer Schenkel - sehr dunkle Ergüsse. Alte Ergüsse.
Ihre Beine waren mit getrocknetem Blut verkrustet. Ein burgunderfarbener Film schien ihren Torso zu bedecken, eine klaffende Wunde in der Seite zeigte weißen Knochen. Die Augen waren geschwollen, die Lippen schrundig und aufgeplatzt. Blut verklebte die dunklen Haare der Frau und breitete sich um ihren Kopf aus wie ein Heiligenschein. Judith ging noch näher hin, sie konnte nicht anders - plötzlich war sie Voyeur, nachdem sie ihr Leben lang höflich weggeschaut hatte. Glas knirschte unter ihren Sohlen, und die Frau riss in Panik die Augen auf. Sie starrte an Judith vorbei, ihr Blick hatte eine dumpfe Leblosigkeit. Ebenso plötzlich schlossen sich ihre Lider wieder, aber Judith konnte den Schauer nicht unterdrücken, der durch ihren Körper fuhr. »O Gott«, murmelte Henry fast so, als wäre es ein Gebet. Als Judith sich umdrehte, sah sie, dass ihr Mann sich die Hand auf die Brust drückte. Seine Knöchel waren weiß. er starrte die Frau an und sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Wie konnte das passieren?«, flüsterte er, und entsetzen verzerrte sein Gesicht. »Wie, in Gottes Namen, konnte das passieren?«
Übersetzung Klaus Berr
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
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Autoren-Porträt von Karin Slaughter
Karin Slaughter, Jg. 1971, stammt aus Atlanta, Georgia, wo sie bis heute lebt. Mit ihren 'Grant County'-Thrillern um die Gerichtsmedizinerin Sara Linton und den Polizeichef Jeffrey Tolliver hat sie sich in den Olymp der Thrillerautoren geschrieben. 2003 erschien ihr Debütroman 'Belladonna', der Karin Slaughter unmittelbar an die Spitze der internationalen Bestsellerlisten katapultierte. Ihre Bücher sind in 24 Sprachen übersetzt und haben bereits eine Gesamtauflage von mehr als 20 Millionen Exemplaren überschritten. Klaus Berr, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München, einjähriger Aufenthalt in Wales als 'Assistant Teacher', ist der Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karin Slaughter
- 2011, 573 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Klaus Berr
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503432
- ISBN-13: 9783764503437
- Erscheinungsdatum: 28.10.2011
Rezension zu „Tote Augen “
"Schockierend, spannend."
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