Tote lügen nicht / Tempe Brennan Bd.1
Roman
Als die grausam zugerichtete Leiche der jungen Isabelle in Müllsäcken aufgefunden wird, erinnert sich Forensikerin Tempe Brennan an einen Fall im Vorjahr.
Sie versucht, die Tat mit drei weiteren Leichen in Verbindung zu bringen. Doch damit lenkt...
Sie versucht, die Tat mit drei weiteren Leichen in Verbindung zu bringen. Doch damit lenkt...
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Produktinformationen zu „Tote lügen nicht / Tempe Brennan Bd.1 “
Als die grausam zugerichtete Leiche der jungen Isabelle in Müllsäcken aufgefunden wird, erinnert sich Forensikerin Tempe Brennan an einen Fall im Vorjahr.
Sie versucht, die Tat mit drei weiteren Leichen in Verbindung zu bringen. Doch damit lenkt sie die Wut des Killers auch auf sich selbst.
Sie versucht, die Tat mit drei weiteren Leichen in Verbindung zu bringen. Doch damit lenkt sie die Wut des Killers auch auf sich selbst.
Klappentext zu „Tote lügen nicht / Tempe Brennan Bd.1 “
Ein Knochenjob für die bekannteste Forensikerin der WeltTempe Brennan ist forensische Anthropologin in Montreal. Skelette und verweste Körperteile gehören zu ihrem Alltag. Als die 23-jährige Isabelle missbraucht, erdrosselt und zerstückelt in Müllsäcken aufgefunden wird, erinnert sich Tempe an einen Fall ein Jahr zuvor. Sie versucht, die beiden Verbrechen mit drei weiteren Leichen in Verbindung zu bringen. Doch Detective Luc Claudel nimmt sie nicht ernst. Sie recherchiert auf eigene Faust und lenkt so die Wut des Serienkillers zunächst auf ihre Freundin Gabby, dann auf ihre Tochter Katy und schließlich auf sich selbst.
Lese-Probe zu „Tote lügen nicht / Tempe Brennan Bd.1 “
Tote lügen nicht von Kathy ReichsAus dem Amerikanischen von Thomas A. Merk
1
Ich dachte nicht mehr an den Mann, der sich in die Luft gesprengt
hatte. Jetzt ging es nur darum, seinen Schädel zusammenzusetzen.
Zwei größere Bruchstücke lagen vor mir auf dem
Tisch, und ein drittes, das ich soeben aus mehreren Splittern
zusammengeklebt hatte, stand zum Trocknen in einer mit Sand
gefüllten Edelstahlschale. Damit hatte ich genügend Teile, um
die Identität des Toten zu bestätigen. Der Leichenbeschauer
würde zufrieden sein.
Es war der Spätnachmittag des 2. Juni 1994. Ein Donnerstag.
Während ich darauf wartete, dass der Klebstoff fest wurde, ließ
ich meinen Gedanken freien Lauf. Damals wusste ich noch nicht,
dass es in ein paar Minuten an meiner Tür klopfen und sich
mein Leben ebenso entscheidend verändern würde wie mein
Wissen um die Abgründe menschlicher Grausamkeit. Ahnungslos
genoss ich den herrlichen Ausblick auf den St.-Lawrence-
Strom, der das einzig Erfreuliche an meinem viel zu kleinen
und viel zu vollgestopften Büro ist. Irgendwie hat der Anblick
von gleichmäßig fließendem Wasser immer eine belebende
Wirkung auf mich. Mit stehenden Gewässern kann ich hingegen
sehr viel weniger anfangen. Warum, weiß ich nicht, aber ich
bin mir sicher, dass Sigmund Freud dafür eine plausible Erklärung
gehabt hätte.
... mehr
Gedanklich war ich mit dem kommenden Wochenende beschäftigt.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach Quebec
City zu fahren, aber ich hatte noch keine konkreten Pläne.
Nur dass ich mir ein richtig touristisches Ziel suchen wollte,
zum Beispiel die Plains of Abraham, wo ich Crêpes und Mu-
scheln essen und mir billigen Schmuck von den Straßenhändlern
kaufen wollte. Obwohl ich schon seit einem Jahr hier in
Montreal als forensische Anthropologin arbeitete, war ich noch
nie in Quebec City gewesen. Es wurde höchste Zeit, mir die
Stadt einmal anzusehen. Außerdem sehnte ich mich danach, ein
paar Tage lang keine Skelette, verwesten Körperteile oder Wasserleichen
sehen zu müssen.
Ich bin ein Mensch, dem es eigentlich nie an Ideen mangelt,
nur mit der Umsetzung hapert es oft. Normalerweise halte ich
mir bei allen meinen Plänen ein Hintertürchen offen, so dass
ich es mir jederzeit wieder anders überlegen kann. Dieser Wankelmut
trifft allerdings nur auf mein Privatleben zu. Beruflich
neige ich eher zu zielstrebiger Besessenheit.
Noch bevor er klopfen konnte, wusste ich, dass Pierre
LaManche vor der halbgeöffneten Tür meines Büros stand.
Für einen Mann von seiner Statur bewegte er sich erstaunlich
leise, aber der Geruch nach kaltem Pfeifenrauch verriet ihn.
LaManche, der seit fast zwei Jahrzehnten der Leiter des Laboratoire
de Médecine Légale war, kam nie ohne einen triftigen Grund
zu mir ins Büro. Deshalb schwante mir Böses, als er durch ein
leises Klopfen auf sich aufmerksam machte.
»Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich, Temperance?«,
fragte LaManche, der mich als Einziger mit meinem
vollen Vornamen anspricht. Alle anderen nennen mich Tempe.
Vielleicht hat LaManche was gegen Tempe in Arizona, vielleicht
nennt er mich aber auch nur deshalb Temperance, weil es
sich so schön auf France reimt.
»Oui.« Nachdem ich fast ein Jahr hier in Montreal war, antwortete
ich ganz automatisch auf Französisch. Anfangs hatte ich
mit dem Français Québecois meine liebe Mühe gehabt, aber langsam
fand ich mich immer besser damit zurecht.
»Ich habe gerade einen Anruf bekommen«, sagte LaManche
und neigte den Kopf nach unten, um von einem rosafarbenen
Notizblock etwas abzulesen. Immer wenn ich sein Gesicht mit
den senkrechten Falten auf Stirn und Wangen, der kerzengeraden
Nase und den länglichen Ohren sah, musste ich unwillkürlich
an einen Bassett denken. Sein Gesicht hatte vermutlich
schon in der Jugend älter gewirkt, als es war, und seine charakteristischen
Züge hatten sich im Lauf der Jahre lediglich vertieft.
Selbst heute war es nicht leicht, LaManches wirkliches Alter zu
schätzen.
»Zwei Arbeiter von den Elektrizitätswerken haben heute ein
paar Knochen gefunden«, meinte LaManche und warf einen
kurzen Blick auf mein nicht allzu glückliches Gesicht, bevor er
sich wieder dem Block in seiner Hand zuwandte.
»Die Fundstelle liegt nicht weit von dem alten Friedhof entfernt,
der im vergangenen Sommer entdeckt wurde«, sagte er in
makellosem, aber etwas steif klingendem Französisch. Ich habe
nie gehört, dass er eine umgangssprachliche Wendung verwendet
hätte, geschweige denn Dialekt oder gar Polizeijargon. »Sie
waren doch damals bei der Ausgrabung dabei. Vielleicht handelt
es sich ja bei den jetzt gefundenen Knochen um etwas Ähnliches.
Auf jeden Fall brauche ich jemanden, der sich an Ort und
Stelle davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um einen Fall
für den Leichenbeschauer handelt.«
Als er von seiner Notiz aufsah, fiel ihm das Nachmittagslicht
schräg ins Gesicht und ließ dessen Falten noch tiefer erscheinen.
Als LaManche zu einem säuerlichen Lächeln ansetzte, verschoben
sich vier von diesen dunklen Schluchten ein wenig nach
oben.
»Sie glauben also, dass es wieder ein alter Friedhof ist?«, fragte
ich, um ihn hinzuhalten. Ein Leichenfund passte überhaupt
nicht in meine Vorbereitungen fürs Wochenende. Wenn ich
wirklich am Freitag wegfahren wollte, dann musste ich heute
meine Sachen aus der Reinigung holen, ein paar Dinge aus der
Apotheke besorgen, den Koffer packen, bei meinem Wagen den
Ölstand überprüfen und Winston, dem Hausmeister, erklären,
wann er meine Katze füttern sollte.
LaManche nickte.
»Okay«, sagte ich, obwohl ich die Sache ganz und gar nicht
okay fand.
LaManche gab mir den Notizzettel. »Brauchen Sie einen
Streifenwagen, der Sie hinbringt?«
»Nein, nicht nötig«, sagte ich mit betont niedergeschlagener
Stimme. »Ich bin heute mit dem Wagen da.« Der Friedhof lag
ohnehin auf meinem Nachhauseweg.
Pierre LaManche entfernte sich so leise, wie er gekommen
war. Er trug gerne Schuhe mit Kreppsohlen und achtete darauf,
dass er nichts in den Hosentaschen hatte, was klappern oder
klirren konnte. Er bewegte sich nahezu lautlos, wie ein durchs
Wasser gleitendes Krokodil, was viele seiner Untergebenen als
ausgesprochen nervtötend empfanden.
Ich stopfte einen Overall und meine Gummistiefel in einen
Rucksack, hoffte dabei aber insgeheim, dass ich beides nicht
brauchen würde. Dann nahm ich den Laptop, meine Aktentasche
und den bestickten Feldflaschenbezug, der mir in diesem
Sommer als Handtasche diente und machte mich auf den Weg.
Bis Montag, dachte ich, als ich mein Büro verließ, aber irgendetwas
in meinem Hinterkopf sagte mir, dass das nur ein frommer
Wunsch war.
Im Sommer erinnert mich Montreal immer an eine Rumbatänzerin
in buntem Rüschenkleid, die mit nackten Schenkeln und
schweißnasser Haut von Juni bis September durchtanzt.
Nach den langen und harten Wintern wird hier die heiß ersehnte
warme Jahreszeit gefeiert: Straßencafés haben Hochkonjunktur,
Fahrradfahrer und Rollerblader machen sich den Platz
auf den Radwegen streitig, und auf den Gehsteigen wimmelt es
von Menschen, die von einem Straßen fest zum nächsten zu ziehen
scheinen.
Wie sehr unterscheiden sich die Sommer an den Ufern des
St.-Lawrence-Stroms doch von denen in meiner Heimat North
Carolina, wo man sich vorzugsweise am Strand, in den Bergen
oder auf der eigenen Terrasse in der Sonne räkelt. In den Südstaaten
ist es schwierig, ohne einen Blick auf den Kalender eine
genaue Grenze zwischen Frühling, Sommer und Herbst zu ziehen,
deshalb hat mich in meinem ersten Jahr hier oben im Norden
das ungestüme Frühlingserwachen noch mehr überrascht
als der bitterkalte Winter. Mit einem Schlag hat es das Heimweh
vertrieben, unter dem ich während der langen Kälte und
Dunkelheit oft litt.
Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich unter der JacquesCartier-
Brücke hindurchfuhr und nach Westen auf die Viger
Avenue abbog. Links von mir lag am Ufer des Flusses das weitläufige
Gelände der Molson-Brauerei, hinter dem sich das runde
Hochhaus von Radio Canada erhob. Im Vorbeifahren musste ich
an all die Leute denken, die in diesem Büroturm eingeschlossen
waren wie Affen im Käfig. Ich stellte mir vor, wie sie hinter ihren
Fenstern saßen und sehnsüchtig hinaus in die verlockende Juni-
sonne starrten, wie sie an ihre Boote, Fahrräder oder Turnschuhe
dachten und dabei immer wieder auf die Uhr sahen.
Ich fuhr die Fenster meines Wagens nach unten und schaltete
das Radio ein.
»Aujourd'hui je vois la vie avec les yeux du coeur«, sang Gary
Boulet. Ich übersetzte die Worte automatisch und sah dabei
den empfindsamen Mann mit dem wilden Lockenkopf und den
dunklen Augen vor mir. Er hatte so leidenschaftliche Musik gemacht
und war mit vierundvierzig Jahren viel zu früh verstorben.
Ein alter Friedhof, dachte ich. Damit hatten wir forensischen
Pathologen es immer wieder zu tun. Hunde, Bauarbeiter,
Toten gräber oder das Hochwasser legten ständig irgendwelche
alten Knochen frei. Wenn es menschliche Knochen sind, interessiert
sich dafür zunächst der Leichenbeschauer, der eine Art
Oberaufseher über den Tod in der Provinz Quebec darstellt.
Wenn jemand nicht in seinem Bett oder unter der Aufsicht ei-
nes Arztes stirbt, will der Leichenbeschauer wissen warum. Er
interessiert sich für alle, die gewaltsam oder unter mysteriösen
Umständen ums Leben gekommen sind oder deren ansteckende
Krankheit eine Gefahr für andere darstellen könnte. Knochen
aus historischen Friedhöfen hingegen gehen ihn selbst dann
nichts an, wenn die Toten dort einem ungesühnten Verbrechen
oder einer schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen sind. Dafür
ist ihr Ableben zu lange her. Ist das Alter solcher Knochen erst
einmal zweifelsfrei bestimmt, dürfen sich die Archäologen darum
kümmern. Ich hoffte inständig, dass das auch bei den Gebeinen
der Fall sein würde, zu denen ich jetzt unterwegs war.
Ich quälte mich durch den zähfließenden Verkehr in der Innenstadt
und erreichte fünfzehn Minuten später die Adresse, die
auf LaManches Zettel stand. Es war das Grand Séminaire, ein
Überbleibsel des riesigen Grundbesitzes der katholischen Kirche.
Das alte Priesterseminar befindet sich auf einem großen
Grundstück in der Innenstadt, ganz in der Nähe des Viertels, in
dem ich wohne. Es ist eine kleine grüne Insel in einem Meer
aus Wolkenkratzern und gleichzeitig ein stummer Zeuge dafür,
wie mächtig die Kirche einst in dieser Stadt war. Graue Steinmauern
mit Wachtürmen umgeben düstere, burgartige Gebäude,
zwischen denen sich gepflegte Rasenstücke und verwilderte
Freiflächen erstrecken.
Als die Kirche auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, wurden
hier Tausende junger Männer zu Priestern ausgebildet. Ein
paar Seminaristen gibt es hier auch heute noch, aber es sind
längst nicht mehr so viele wie damals. Die größeren Gebäude
sind jetzt vermietet und beherbergen Behörden und städtische
Schulen, in denen mehr im Internet gesurft als das Wort Gottes
studiert wird.
Vielleicht ist das ja eine gute Metapher für den Zustand unserer
modernen Gesellschaft, dachte ich. Wir sind alle viel zu
sehr damit beschäftigt, mit aller Welt zu kommunizieren, um
uns um einen allmächtigen Schöpfer zu kümmern.
Ich hielt in einer kleinen Straße gegenüber dem alten Priesterseminar
und blickte die Rue Sherbrooke entlang nach Osten,
wo sich der jetzt an das Collège de Montréal vermietete Teil des
Seminargeländes befindet. Als dort nichts Ungewöhnliches zu
erkennen war, ließ ich den linken Ellenbogen aus dem Wagenfenster
hängen und drehte mich nach hinten. Das staubige Metall
der Wagentür war so heiß, dass ich den Arm blitzartig zurück
ins Innere des Wagens zog.
Als ich schließlich aus dem Rückfenster blickte, entdeckte
ich einen blau-weißen Streifenwagen mit der Aufschrift Police -
Comunauté Urbaine de Montréal, der irgendwie nicht so recht zu
dem alten, steinernen Turm dahinter passen wollte. Davor stand
ein grauer Lastwagen der Hydro-Québec, von dem Leitern und
anderes Gerät abstanden wie die Antennen einer Raumstation.
Neben dem Laster stand ein uniformierter Polizist, der mit zwei
Männern in Arbeitskleidung sprach.
Ich fuhr wieder los, bog nach links ab und fädelte mich in
den nach Westen strömenden Verkehr auf der Rue Sherbrooke
ein. Wäh rend ich einmal um das Seminargelände herumfuhr,
hielt ich Ausschau nach Presseleuten, konnte aber zum Glück
keine entdecken. Begegnungen mit der Presse sind in Montreal
noch anstrengender als in anderen Städten, denn hier gibt es sowohl
französische als auch englische Sender und Zeitungen. Ich
hasse es ohnehin, mit Fragen bedrängt zu werden, wenn ich sie
dann aber auch noch in zwei Sprachen beantworten muss, platzt
mir ziemlich rasch der Kragen.
LaManche hatte Recht gehabt. Ich war im vergangenen Sommer
schon einmal hier gewesen, als man bei der Reparatur einer
defekten Wasserleitung auf Knochen gestoßen war. Ich weiß
noch, was ich damals in meinen Bericht geschrieben hatte: Kirchengrundstück,
alter Friedhof, Sargreste,Archäologen verständigt. Hoffentlich
würde ich bald Ähnliches notieren können.
Als ich meinen Mazda vor dem Lastwagen abstellte, hörten
die drei Männer zu reden auf und blickten in meine Richtung.
Dann stieg ich aus, und der Polizist, der mich einen Augenblick
lang nachdenklich angesehen hatte, kam auf mich zu. Sein
Gesicht war nicht gerade freundlich. Es war Viertel nach vier,
und seine Schicht war vermutlich schon längst zu Ende. Wahrscheinlich
war er ebenso ungern hier wie ich.
»Bitte fahren Sie weiter, Madam. Sie dürfen hier nicht parken
«, rief er mir zu und wedelte ungeduldig mit der Hand. Es
sah aus, als wollte er eine Fliege vom Salat wegscheuchen.
»Ich bin Dr. Brennan«, sagte ich, während ich die Autotür zuschlug.
»Vom Laboratoire de Médecine Légale.«
»Wie bitte? Sie wollen vom Leichenbeschauer kommen?«
Sein Ton hätte einen Verhörspezialisten vom KGB geradezu
vertrauensselig klingen lassen.
»Ja. Ich bin die antropologiste judiciaire«, erklärte ich langsam
wie eine Lehrerin in der zweiten Klasse Volksschule. »Zuständig
für Ausbettungen und Knochenbefunde. Und wenn ich mich
nicht irre, dürfte es sich hier wohl um beides handeln.«
Ich gab dem Polizisten meinen Ausweis und las auf dem Namensschild
über seiner Brusttasche: Constable Groulx.
Der Polizist besah sich das Foto in meinem Ausweis. Dann
fiel sein prüfender Blick auf mich. Ich wirkte wohl wenig
vertrauenserweckend. Weil ich wusste, dass das Zusammensetzen
des Schädels Spuren hinterlassen würde, hatte ich mir meine
ältesten Klamotten angezogen: eine ausgewaschene braune Hose
und ein Jeanshemd, dessen Ärmel ich hochgekrempelt hatte.
Meine nackten Füße steckten in Segelschuhen, und aus meinen
hochgesteckten Haaren hatten sich im Laufe des Tages ein paar
Strähnen gelöst. Zudem war ich mit getrockneten Klebstoffresten
übersät. Ich musste aussehen wie eine gestresste Hausfrau in
mittleren Jahren, die gerade eine Pause beim Tapezieren ihrer
Wohnung macht, um ihr Kind von der Schule abzuholen.
Nachdem der Polizist meinen Ausweis lange angesehen hatte,
gab er ihn mir kommentarlos zurück. Eine forensische Anthropologin
hatte er sich wohl anders vorgestellt.
»Haben Sie die Knochen schon gesehen?«, fragte ich.
»Nein, ich sichere nur den Fundort.« Mit einer ähnlichen
Wedelgeste wie vorhin deutete er auf die beiden Arbeiter, die
ihre Unterhaltung eingestellt hatten und uns interessiert beobachteten.
»Die da haben die Knochen gefunden. Ich habe die Zentrale
verständigt. Die bringen Sie hin.«
Ich fragte mich, ob Constable Groulx wohl auch in der Lage
war, kompliziertere Sätze zu bilden. Noch einmal deutete er hinüber
zu den Arbeitern.
»Ich passe auf Ihren Wagen auf.«
Ich dankte ihm mit einem Nicken, aber er hatte sich bereits
von mir abgewandt. Also ging ich hinüber zu den Arbeitern,
die mich stumm ansahen. Beide Männer hatten fast identische
Schnurrbärte, die sich wie umgedrehte Us über ihren Mündern
nach unten bogen.
Der Linke war schmächtig, dunkelhaarig und erinnerte mich
an einen Terrier. Er war älter als sein Kollege, und sein Blick
wanderte rastlos umher. Auch mich sah er nur ganz kurz an und
wandte sich schnell wieder ab, als könnte er sich durch längeren
Augenkontakt mit einem anderen Menschen auf etwas einlassen,
was er später bereuen würde. Er trat unruhig von einem
Fuß auf den anderen und zog alle paar Sekunden die Schultern
ein.
Sein Kollege kam mir weitaus ruhiger vor. Er war einen Kopf
größer, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und lange, zu einem
dünnen Pferdeschwanz zusammengebundene Haare. Als ich näher
kam, grinste er mich an und zeigte dabei eine Zahnlücke.
Irgendwie hatte ich sofort den Eindruck, dass er der Gesprächigere
von beiden war.
»Bonjour. Comment ça va?«, fragte ich.
»Bien«, sagten beide fast gleichzeitig und nickten. Gut.
Ich zeigte ihnen meinen Ausweis und fragte, ob sie die Knochen
gefunden hätten. Wieder nickten sie.
»Wie kam es dazu?«, fragte ich und zog ein kleines, spiralgebundenes
Notizbuch aus meinem Rucksack. Ich klappte es auf,
drückte die Mine aus meinem Kugelschreiber und lächelte die
beiden aufmunternd an.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz schien nur darauf gewartet
zu haben, endlich sprechen zu dürfen. Die Worte strömten
nur so aus seinem Mund. Für ihn schien die Sache ein richtiges
Abenteuer zu sein. Ich musste schon genau hinhören, um sein
Französisch zu verstehen, denn er ließ die Worte ineinanderfließen
und verschluckte die Endungen, wie es weiter oben am
St.-Lawrence-Strom üblich ist.
»Wir haben das Unterholz ausgelichtet. Das gehört zu unserem
Job«, sagte er und deutete hinauf zu den Hochspannungsmasten.
»Unter der Leitung dürfen keine Bäume wachsen.«
Ich nickte.
»Als ich zu der Senke da drüben kam ...«, fuhr er fort und
deutete auf ein Gehölz, das quer über das Grundstück lief,
»... stieg mir ein komischer Geruch in die Nase.« Er hielt inne
und blickte hinüber zu den Bäumen.
»Was verstehen Sie unter komisch?«
Er drehte sich wieder zu mir. »Na ja, vielleicht nicht direkt
komisch«, meinte er und biss sich auf die Unterlippe, während
er seinen Wortschatz nach dem richtigen Ausdruck durchforstete.
»Eher tot«, sagte er schließlich. »Wissen Sie, wie etwas Totes
riecht?«
Ich sagte nichts und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Kennen Sie das, wenn sich Tiere irgendwohin verkriechen,
um zu sterben?« Während er das sagte, zuckte er ganz leicht mit
der Schulter und sah mich an, um von mir eine Bestätigung zu
erhalten. Ich wusste genau, wovon er sprach. In meinem Job bin
ich mit dem Geruch des Todes sozusagen per Du. Ich nickte.
»Ich dachte, dass vielleicht irgendwo in der Senke ein toter
Hund oder Waschbär herumliegt, und stocherte mit dem Rechen
ein bisschen im Laub herum. Auf einmal wurde der Ge-
ruch wirklich penetrant. Und dann sah ich, dass da ein paar
Knochen waren.«
Schulterzucken.
»Verstehe«, sagte ich und verspürte ein mulmiges Gefühl in
der Magengrube. Alte Gräber stinken nicht.
»Ich rief nach Gil ...«, sagte der Arbeiter und blickte hinüber
zu seinem Kollegen, der aber nur auf seine Fußspitzen starrte,
»... und dann schaufelten wir zusammen Laub weg. Und was da
zum Vorschein kam, sah nicht gerade wie ein Hund oder ein
Waschbär aus.« Bei diesen Worten verschränkte der Arbeiter die
Arme vor der Brust, senkte das Kinn und wippte auf seinen
Fersen vor und zurück.
»Inwiefern?«
»Zu groß«, antwortete er und fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen. Die Zungenspitze sah aus wie ein Regenwurm, der
gerade aus der Erde kriecht.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie vielleicht noch etwas anderes außer den Knochen
gefunden?«
»Ja. Und genau das ist ja das Merkwürdige.« Er breitete die
Arme aus, um die Abmessungen des Fundes zu zeigen. »So einen
großen Plastiksack, in dem das Zeug drinsteckte, und ...«
Er zuckte wieder mit den Schultern und verstummte mitten
im Satz.
»Was und?«, fragte ich. Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich.
»Une ventouse«, sagte er rasch und klang dabei peinlich berührt
und aufgeregt zugleich. Gil schien ebenso perplex zu sein
wie ich, denn jetzt flog sein Blick rasend schnell zwischen seinem
Kollegen und mir hin und her.
»Wie bitte?«, fragte ich für den Fall, dass ich mich verhört haben
sollte.
»Une ventouse. So ein Gummisauger, wie man ihn verwendet,
wenn das Waschbecken verstopft ist.« Er umfasste mit seinen
Händen einen unsichtbaren Stiel und bewegte sie auf und ab.
Die makabre kleine Pantomime erschien mir vollkommen deplatziert
und jagte mir einen Schrecken ein.
Gil gab ein düsteres »Sacré...« von sich und starrte wieder auf
seine Füße. Hier stimmte was nicht. Ich schrieb schnell noch
ein paar Worte ins Notizbuch und klappte es zu.
»Ist es feucht da unten?«, fragte ich, denn ich wollte Gummistiefel
und Overall nur dann anziehen, wenn es wirklich nötig
war.
»Eigentlich nicht«, sagte der Mann mit dem Pferdeschwanz
und sah zu Gil hinüber, der zur Bestätigung den Kopf schüttelte,
aber nicht aufsah.
»Na schön. Dann sehen wir uns die Sache einmal genauer
an.« Ich hoffte, dass ich ruhiger wirkte, als ich in Wirklichkeit
war.
Der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz ging voraus in das Gehölz.
Langsam stiegen wir in eine kleine, mit Bäumen und Gestrüpp
bewachsene Senke hinab. Der Arbeiter bog die dickeren
Äste für mich zurück, und ich gab sie an Gil weiter. Trotzdem
konnte ich nicht verhindern, dass kleinere Zweige mir die
Haare noch mehr durcheinanderbrachten. In der Senke roch es
nach feuchter Erde und verrottetem Laub. Die Sonnenstrahlen,
die durch das Blätterdach fielen, zeichneten ein Fleckenmuster
auf den Boden, das aussah wie die Teile eines Puzzles.
Kleine Staubpartikel tanzten im schräg einfallenden Licht. Insekten
schwirrten mir ums Gesicht und summten in meinen
Ohren, während irgendwelche Käfer oder Ameisen über meine
nackten Knöchel krabbelten.
Als wir am Boden der Senke angekommen waren, musste
sich der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz kurz orientieren.
Dann ging er nach rechts, und ich folgte ihm. Ich schlug nach
Moskitos, bog Zweige zur Seite und spähte durch die herumtanzenden
Wolken winziger Stechmücken nach vorn. Ab und
zu flog mir eine von diesen Mücken direkt ins Auge, so dass
ich heftig blinzeln musste. Bald stand mir der Schweiß in dicken
Tropfen über der Oberlippe, und meine Haare klebten am
Kopf. Um herumfliegende Strähnen brauchte ich mir nun keine
Sorgen mehr zu machen. Gott sei Dank hatte ich keine besseren
Klamotten angezogen.
Etwa fünfzehn Meter vom Fundort entfernt brauchte ich
niemanden mehr, der mir den Weg wies. Jetzt nämlich durchdrangen
die unverkennbaren Ausdünstungen des Todes das lehmige
Aroma der vom Sonnenlicht erwärmten Walderde. Nichts
auf der Welt riecht so schlimm wie verwesendes Fleisch. Dieser
süßliche, übelkeiterregende Gestank verstärkte sich bei jedem
meiner Schritte wie das Zirpen einer Grille, das langsam anschwillt,
wenn man sich ihr nähert. Bald hatte er den Duft von
Moos, Harz und Humus vollständig verdrängt.
Gil ließ sich immer mehr zurückfallen und blieb schließlich
in ein paar Metern Entfernung stehen. Ihm genügte offenbar
der Gestank, er musste nicht noch einmal einen Blick auf dessen
Ursprung werfen. Sein Kollege hingegen ging noch ein paar
Schritte weiter und deutete dann wortlos auf einen Laubhaufen,
um den die Fliegen brummten und kreisten wie Akademiker
um ein kaltes Büfett.
Als ich die Fliegen sah, krampfte sich mein Magen zusammen,
und meine innere Stimme sagte: »Siehst du, ich habe es dir
doch gleich gesagt.«
Voller böser Vorahnungen lehnte ich meinen Rucksack an
einen Baumstamm und nahm ein paar Latexhandschuhe heraus.
Dann tastete ich mich vorsichtig durch das dichte Geäst auf
den Haufen zu. Beim Näherkommen entdeckte ich die Stelle,
an der die beiden Arbeiter mit ihren Rechen das Laub weggeschoben
hatten. Was ich dort sah, bestätigte meine schlimmsten
Befürchtungen.
Aus dem Laub ragte ein Brustkorb heraus, dessen Rippen
mich an die Überreste eines kleinen, gestrandeten Bootes erinnerten.
Als ich vor dem Haufen in die Hocke ging, erhob sich
laut brummend ein Fliegenschwarm. Die fetten Leiber glänzten
grünlich im Sonnenlicht. Mit einem Stöckchen entfernte
ich Laub und Erde, bis ich sah, dass die Rippen noch von einem
Stück Wirbelsäule zusammengehalten wurden. Dann holte
ich tief Luft, zog die Handschuhe an und machte mich daran,
die Knochen von Blättern und Kiefernnadeln zu befreien. Vom
Sonnenlicht erschreckt, ergriffen ganze Scharen von Käfern und
Asseln die Flucht und verkrochen sich in die Lücken zwischen
den einzelnen Wirbeln.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich den Laubhaufen abgetragen
und die von Gil und seinem Kollegen gefundenen Knochen
vollständig freigelegt hatte. Ich strich mir mit meinen latexumhüllten
Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht und
hockte mich auf meine Fersen, um das Ergebnis zu begutachten.
Auf etwa einem Quadratmeter Fläche lag der teilweise skelettierte
Oberkörper einer menschlichen Leiche, deren Brustkorb,
Wirbelsäule und Becken noch immer von vertrockneten
Muskeln und Bändern zusammengehalten wurden. Während
das Gehirn und innere Organe oft innerhalb weniger Wochen
von Bakterien und Insekten aufgefressen werden, setzt das Bindegewebe
den Verrottungsprozessen sehr viel mehr Widerstand
entgegen. So dauert es Monate und manchmal sogar Jahre, bis
es vollständig verwest ist.
Auch an diesem Torso konnte ich bei näherem Hinsehen
an den Brust- und Unterleibsknochen bräunliche Reste eingetrockneten
Gewebes entdecken. Während ich so dahockte, die
Schmeißfliegen brummen hörte und nachdenklich das Schattenspiel
der Blätter auf dem sonnenbeschienenen Waldboden
betrachtete, wurden mir zwei Dinge klar: Erstens konnte es sich
bei diesen Knochen nicht um die Überreste eines Tieres handeln,
und zweitens lagen sie noch nicht allzu lange hier im Gehölz.
Und noch etwas wusste ich genau: Der Mensch, dem dieser
Brustkorb und dieses Becken einmal gehört hatten, war ermor-
det und zerstückelt worden. Dann hatte jemand den Torso in
einen ganz normalen, haushaltsüblichen Müllsack gesteckt und
hierhergebracht. Der Sack, der von den Arbeitern aufgerissen
worden war, lag immer noch unter dem Leichenteil, an dem
Kopf und Gliedmaßen ebenso fehlten wie irgendwelche Gegenstände,
anhand derer man es hätte identifizieren können. Bis
auf einen natürlich: den Gummisauger.
Er stand zwischen den Beckenknochen, und dass sein Holz-
griff wie ein umgedrehtes Eis am Stiel direkt im Beckenausgang
steckte, war bestimmt kein Zufall.
Als ich aufstand, taten mir vom langen In-der-Hocke-Sitzen
die Knie weh. Aus Erfahrung wusste ich, dass aasfressende Tiere
Leichenteile über beachtliche Entfernungen fortschleppen können.
Hunde zum Beispiel verstecken ihre Beute gerne im dichten
Unterholz, und Füchse, Dachse und Waschbären schaffen
oft kleinere Knochen oder Zähne in ihren Bau. Also wischte
ich mir die Hände ab und sah mich in der unmittelbaren Nachbarschaft
des Torsos nach Tierspuren um.
Die Schmeißfliegen brummten, und weit, weit entfernt auf
der Rue Sherbrooke hupte ein Auto. Bilder von anderen Wäldern,
anderen Gräbern und anderen Knochen gingen mir wie
zusammenhanglos aneinandergeklebte Schnipsel aus alten Filmen
durch den Kopf. Aufmerksam suchte ich den Waldboden
ab, und als ich dabei ganz langsam den Kopf drehte, meinte ich,
im Muster des schattengefleckten Laubs ganz flüchtig etwas aufblitzen
zu sehen. Es war mehr eine Ahnung als eine konkrete
Sinneswahrnehmung gewesen und so flüchtig, dass ich es nicht
hatte lokalisieren können. Ich drehte den Kopf noch einmal in
dieselbe Richtung. Nichts. Obwohl ich mir schon nicht mehr
sicher war, dass ich überhaupt etwas gesehen hatte, rührte ich
mich nicht vom Fleck. Als ich die Insekten vor meinen Augen
fortwedelte, bemerkte ich, dass es nicht mehr so warm war wie
vorhin.
Mist. Noch immer starrte ich auf den Waldboden. Ein leich-
ter Wind kam auf. Er fuhr mir durch die schweißnassen Haare
und raschelte in den Blättern der Bäume. Und dann bemerkte
ich es wieder. In einiger Entfernung blinkte etwas ganz schwach
im Sonnenlicht. Unsicher machte ich ein paar Schritte darauf zu
und konzentrierte mich dabei voll auf das zitternde Schattenmuster
am Boden, wo aber beim besten Willen nichts zu sehen
war. Vermutlich hatte ich mich doch getäuscht.
Aber dann bewegte ein Windstoß das Laub am Boden, und
ich sah deutlich, wie das warme Nachmittagslicht ganz kurz
von einer mattglänzenden Oberfläche reflektiert wurde. Mit
angehaltenem Atem trat ich näher. Was ich fand, erstaunte mich
nicht. Da haben wir die Bescherung, dachte ich.
Aus einem Hohlraum zwischen den Wurzeln eines Tulpenbaums
schaute ein weiterer Plastiksack hervor. Rings um den
Baum und den Sack wuchsen leuchtend gelbe Butterblumen,
die aussahen, als wären sie soeben einer Illustration von Beatrix
Potter entsprungen. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast
zu dem Müllsack, von dem ich schon jetzt wusste, dass er einen
grausigen Inhalt bergen würde.
Laub raschelte, und kleine Zweige knackten unter meinen
Füßen, als ich auf den Tulpenbaum zuging. Ich hielt mich mit
einer Hand am Stamm fest und tastete mit der anderen nach
dem Sack. Als ich genügend davon für einen sicheren Griff in
der Hand hatte, zog ich vorsichtig daran. Der Sack bewegte
sich nicht. Ich wand die Folie noch einmal um meine Finger,
zog fester und spürte, wie er sich löste. Beim Ziehen merkte
ich, dass etwas Schweres darin sein musste. Mücken schwirrten
um mein Gesicht, und der Schweiß lief mir den Rücken hinab.
Mein Herz hämmerte wie der Bass in einem Heavy-Metal-
Song.
Nachdem sich der Sack mit einem letzten Ruck vollständig
gelöst hatte, zog ich ihn ein Stück weit von dem Baum fort,
um ihn zu öffnen. Irgendwie wollte ich das nicht zwischen den
fröhlich blühenden Beatrix-Potter-Blümchen tun. An Form
und Gewicht des Sacks hatte ich längst erraten, was er enthalten
musste. Als ich den Knoten an der Öffnung des Sacks löste,
schlug mir ein unerträglicher Verwesungsgeruch entgegen. Mit
angehaltenem Atem zog ich die Plastikfolie auseinander.
Aus dem Müllsack starrte mir ein menschliches Gesicht entgegen.
Weil die Plastikfolie es vor Insektenfraß geschützt hatte,
waren seine Züge noch zu erkennen, auch wenn Hitze und
Feuchtigkeit sie zu einer grausigen Totenmaske entstellt hatten.
Zwei kleine, eingeschrumpfte Augen starrten stumpf unter
halbgeschlossenen Lidern hervor. Die Nase war umgeknickt
und vom Gewicht des Kopfes so flach auf eine der eingefallenen
Wangen gepresst worden, dass sich die Nasenlöcher in schmale
Schlitze verwandelt hatten. Die dünnen Lippen waren zu einem
ewigen Grinsen verzerrt und entblößten eine Reihe makelloser
Zähne. Die teigig-weiße Gesichtshaut, die sich wie ein nasses
Leintuch den Konturen der Schädelknochen anpasste, wurde
umrahmt von vollem mattrotem Haar, dessen glanzlose Korkenzieherlocken
von flüssig gewordener Gehirnmasse durchtränkt
waren.
Erschüttert schloss ich den Sack und erinnerte mich auf einmal
wieder daran, dass ich nicht allein in dem Gehölz war. Als
ich mich nach den Arbeitern umdrehte, blickte mich der Mann
mit dem Pferdeschwanz interessiert an. Sein Kollege wartete in
einiger Entfernung. Er hatte die Schultern hochgezogen und
seine Hände tief in den Taschen seiner Latzhose vergraben.
Ich zog die Latexhandschuhe aus und ging wortlos an den
beiden vorbei. Auch sie sagten nichts, aber am Rascheln des
Laubs hinter mir konnte ich hören, dass sie mir folgten. Ich verließ
das Wäldchen und steuerte auf den Streifenwagen zu, der
noch immer draußen auf der Straße stand.
Constable Groulx lehnte an der Kühlerhaube und rührte sich
nicht, obwohl er mich auf sich zukommen sah. Ich hatte schon
mit freundlicheren Beamten zu tun.
Überarbeitete Taschenbuchausgabe 02/2011
Copyright © 1997 by Kathleen C. Reichs
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 1998 Karl Blessing Verlag, München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur
München - Zürich
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43559-9
Printed in Germany 2011
www.heyne.de
Gedanklich war ich mit dem kommenden Wochenende beschäftigt.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach Quebec
City zu fahren, aber ich hatte noch keine konkreten Pläne.
Nur dass ich mir ein richtig touristisches Ziel suchen wollte,
zum Beispiel die Plains of Abraham, wo ich Crêpes und Mu-
scheln essen und mir billigen Schmuck von den Straßenhändlern
kaufen wollte. Obwohl ich schon seit einem Jahr hier in
Montreal als forensische Anthropologin arbeitete, war ich noch
nie in Quebec City gewesen. Es wurde höchste Zeit, mir die
Stadt einmal anzusehen. Außerdem sehnte ich mich danach, ein
paar Tage lang keine Skelette, verwesten Körperteile oder Wasserleichen
sehen zu müssen.
Ich bin ein Mensch, dem es eigentlich nie an Ideen mangelt,
nur mit der Umsetzung hapert es oft. Normalerweise halte ich
mir bei allen meinen Plänen ein Hintertürchen offen, so dass
ich es mir jederzeit wieder anders überlegen kann. Dieser Wankelmut
trifft allerdings nur auf mein Privatleben zu. Beruflich
neige ich eher zu zielstrebiger Besessenheit.
Noch bevor er klopfen konnte, wusste ich, dass Pierre
LaManche vor der halbgeöffneten Tür meines Büros stand.
Für einen Mann von seiner Statur bewegte er sich erstaunlich
leise, aber der Geruch nach kaltem Pfeifenrauch verriet ihn.
LaManche, der seit fast zwei Jahrzehnten der Leiter des Laboratoire
de Médecine Légale war, kam nie ohne einen triftigen Grund
zu mir ins Büro. Deshalb schwante mir Böses, als er durch ein
leises Klopfen auf sich aufmerksam machte.
»Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich, Temperance?«,
fragte LaManche, der mich als Einziger mit meinem
vollen Vornamen anspricht. Alle anderen nennen mich Tempe.
Vielleicht hat LaManche was gegen Tempe in Arizona, vielleicht
nennt er mich aber auch nur deshalb Temperance, weil es
sich so schön auf France reimt.
»Oui.« Nachdem ich fast ein Jahr hier in Montreal war, antwortete
ich ganz automatisch auf Französisch. Anfangs hatte ich
mit dem Français Québecois meine liebe Mühe gehabt, aber langsam
fand ich mich immer besser damit zurecht.
»Ich habe gerade einen Anruf bekommen«, sagte LaManche
und neigte den Kopf nach unten, um von einem rosafarbenen
Notizblock etwas abzulesen. Immer wenn ich sein Gesicht mit
den senkrechten Falten auf Stirn und Wangen, der kerzengeraden
Nase und den länglichen Ohren sah, musste ich unwillkürlich
an einen Bassett denken. Sein Gesicht hatte vermutlich
schon in der Jugend älter gewirkt, als es war, und seine charakteristischen
Züge hatten sich im Lauf der Jahre lediglich vertieft.
Selbst heute war es nicht leicht, LaManches wirkliches Alter zu
schätzen.
»Zwei Arbeiter von den Elektrizitätswerken haben heute ein
paar Knochen gefunden«, meinte LaManche und warf einen
kurzen Blick auf mein nicht allzu glückliches Gesicht, bevor er
sich wieder dem Block in seiner Hand zuwandte.
»Die Fundstelle liegt nicht weit von dem alten Friedhof entfernt,
der im vergangenen Sommer entdeckt wurde«, sagte er in
makellosem, aber etwas steif klingendem Französisch. Ich habe
nie gehört, dass er eine umgangssprachliche Wendung verwendet
hätte, geschweige denn Dialekt oder gar Polizeijargon. »Sie
waren doch damals bei der Ausgrabung dabei. Vielleicht handelt
es sich ja bei den jetzt gefundenen Knochen um etwas Ähnliches.
Auf jeden Fall brauche ich jemanden, der sich an Ort und
Stelle davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um einen Fall
für den Leichenbeschauer handelt.«
Als er von seiner Notiz aufsah, fiel ihm das Nachmittagslicht
schräg ins Gesicht und ließ dessen Falten noch tiefer erscheinen.
Als LaManche zu einem säuerlichen Lächeln ansetzte, verschoben
sich vier von diesen dunklen Schluchten ein wenig nach
oben.
»Sie glauben also, dass es wieder ein alter Friedhof ist?«, fragte
ich, um ihn hinzuhalten. Ein Leichenfund passte überhaupt
nicht in meine Vorbereitungen fürs Wochenende. Wenn ich
wirklich am Freitag wegfahren wollte, dann musste ich heute
meine Sachen aus der Reinigung holen, ein paar Dinge aus der
Apotheke besorgen, den Koffer packen, bei meinem Wagen den
Ölstand überprüfen und Winston, dem Hausmeister, erklären,
wann er meine Katze füttern sollte.
LaManche nickte.
»Okay«, sagte ich, obwohl ich die Sache ganz und gar nicht
okay fand.
LaManche gab mir den Notizzettel. »Brauchen Sie einen
Streifenwagen, der Sie hinbringt?«
»Nein, nicht nötig«, sagte ich mit betont niedergeschlagener
Stimme. »Ich bin heute mit dem Wagen da.« Der Friedhof lag
ohnehin auf meinem Nachhauseweg.
Pierre LaManche entfernte sich so leise, wie er gekommen
war. Er trug gerne Schuhe mit Kreppsohlen und achtete darauf,
dass er nichts in den Hosentaschen hatte, was klappern oder
klirren konnte. Er bewegte sich nahezu lautlos, wie ein durchs
Wasser gleitendes Krokodil, was viele seiner Untergebenen als
ausgesprochen nervtötend empfanden.
Ich stopfte einen Overall und meine Gummistiefel in einen
Rucksack, hoffte dabei aber insgeheim, dass ich beides nicht
brauchen würde. Dann nahm ich den Laptop, meine Aktentasche
und den bestickten Feldflaschenbezug, der mir in diesem
Sommer als Handtasche diente und machte mich auf den Weg.
Bis Montag, dachte ich, als ich mein Büro verließ, aber irgendetwas
in meinem Hinterkopf sagte mir, dass das nur ein frommer
Wunsch war.
Im Sommer erinnert mich Montreal immer an eine Rumbatänzerin
in buntem Rüschenkleid, die mit nackten Schenkeln und
schweißnasser Haut von Juni bis September durchtanzt.
Nach den langen und harten Wintern wird hier die heiß ersehnte
warme Jahreszeit gefeiert: Straßencafés haben Hochkonjunktur,
Fahrradfahrer und Rollerblader machen sich den Platz
auf den Radwegen streitig, und auf den Gehsteigen wimmelt es
von Menschen, die von einem Straßen fest zum nächsten zu ziehen
scheinen.
Wie sehr unterscheiden sich die Sommer an den Ufern des
St.-Lawrence-Stroms doch von denen in meiner Heimat North
Carolina, wo man sich vorzugsweise am Strand, in den Bergen
oder auf der eigenen Terrasse in der Sonne räkelt. In den Südstaaten
ist es schwierig, ohne einen Blick auf den Kalender eine
genaue Grenze zwischen Frühling, Sommer und Herbst zu ziehen,
deshalb hat mich in meinem ersten Jahr hier oben im Norden
das ungestüme Frühlingserwachen noch mehr überrascht
als der bitterkalte Winter. Mit einem Schlag hat es das Heimweh
vertrieben, unter dem ich während der langen Kälte und
Dunkelheit oft litt.
Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich unter der JacquesCartier-
Brücke hindurchfuhr und nach Westen auf die Viger
Avenue abbog. Links von mir lag am Ufer des Flusses das weitläufige
Gelände der Molson-Brauerei, hinter dem sich das runde
Hochhaus von Radio Canada erhob. Im Vorbeifahren musste ich
an all die Leute denken, die in diesem Büroturm eingeschlossen
waren wie Affen im Käfig. Ich stellte mir vor, wie sie hinter ihren
Fenstern saßen und sehnsüchtig hinaus in die verlockende Juni-
sonne starrten, wie sie an ihre Boote, Fahrräder oder Turnschuhe
dachten und dabei immer wieder auf die Uhr sahen.
Ich fuhr die Fenster meines Wagens nach unten und schaltete
das Radio ein.
»Aujourd'hui je vois la vie avec les yeux du coeur«, sang Gary
Boulet. Ich übersetzte die Worte automatisch und sah dabei
den empfindsamen Mann mit dem wilden Lockenkopf und den
dunklen Augen vor mir. Er hatte so leidenschaftliche Musik gemacht
und war mit vierundvierzig Jahren viel zu früh verstorben.
Ein alter Friedhof, dachte ich. Damit hatten wir forensischen
Pathologen es immer wieder zu tun. Hunde, Bauarbeiter,
Toten gräber oder das Hochwasser legten ständig irgendwelche
alten Knochen frei. Wenn es menschliche Knochen sind, interessiert
sich dafür zunächst der Leichenbeschauer, der eine Art
Oberaufseher über den Tod in der Provinz Quebec darstellt.
Wenn jemand nicht in seinem Bett oder unter der Aufsicht ei-
nes Arztes stirbt, will der Leichenbeschauer wissen warum. Er
interessiert sich für alle, die gewaltsam oder unter mysteriösen
Umständen ums Leben gekommen sind oder deren ansteckende
Krankheit eine Gefahr für andere darstellen könnte. Knochen
aus historischen Friedhöfen hingegen gehen ihn selbst dann
nichts an, wenn die Toten dort einem ungesühnten Verbrechen
oder einer schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen sind. Dafür
ist ihr Ableben zu lange her. Ist das Alter solcher Knochen erst
einmal zweifelsfrei bestimmt, dürfen sich die Archäologen darum
kümmern. Ich hoffte inständig, dass das auch bei den Gebeinen
der Fall sein würde, zu denen ich jetzt unterwegs war.
Ich quälte mich durch den zähfließenden Verkehr in der Innenstadt
und erreichte fünfzehn Minuten später die Adresse, die
auf LaManches Zettel stand. Es war das Grand Séminaire, ein
Überbleibsel des riesigen Grundbesitzes der katholischen Kirche.
Das alte Priesterseminar befindet sich auf einem großen
Grundstück in der Innenstadt, ganz in der Nähe des Viertels, in
dem ich wohne. Es ist eine kleine grüne Insel in einem Meer
aus Wolkenkratzern und gleichzeitig ein stummer Zeuge dafür,
wie mächtig die Kirche einst in dieser Stadt war. Graue Steinmauern
mit Wachtürmen umgeben düstere, burgartige Gebäude,
zwischen denen sich gepflegte Rasenstücke und verwilderte
Freiflächen erstrecken.
Als die Kirche auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, wurden
hier Tausende junger Männer zu Priestern ausgebildet. Ein
paar Seminaristen gibt es hier auch heute noch, aber es sind
längst nicht mehr so viele wie damals. Die größeren Gebäude
sind jetzt vermietet und beherbergen Behörden und städtische
Schulen, in denen mehr im Internet gesurft als das Wort Gottes
studiert wird.
Vielleicht ist das ja eine gute Metapher für den Zustand unserer
modernen Gesellschaft, dachte ich. Wir sind alle viel zu
sehr damit beschäftigt, mit aller Welt zu kommunizieren, um
uns um einen allmächtigen Schöpfer zu kümmern.
Ich hielt in einer kleinen Straße gegenüber dem alten Priesterseminar
und blickte die Rue Sherbrooke entlang nach Osten,
wo sich der jetzt an das Collège de Montréal vermietete Teil des
Seminargeländes befindet. Als dort nichts Ungewöhnliches zu
erkennen war, ließ ich den linken Ellenbogen aus dem Wagenfenster
hängen und drehte mich nach hinten. Das staubige Metall
der Wagentür war so heiß, dass ich den Arm blitzartig zurück
ins Innere des Wagens zog.
Als ich schließlich aus dem Rückfenster blickte, entdeckte
ich einen blau-weißen Streifenwagen mit der Aufschrift Police -
Comunauté Urbaine de Montréal, der irgendwie nicht so recht zu
dem alten, steinernen Turm dahinter passen wollte. Davor stand
ein grauer Lastwagen der Hydro-Québec, von dem Leitern und
anderes Gerät abstanden wie die Antennen einer Raumstation.
Neben dem Laster stand ein uniformierter Polizist, der mit zwei
Männern in Arbeitskleidung sprach.
Ich fuhr wieder los, bog nach links ab und fädelte mich in
den nach Westen strömenden Verkehr auf der Rue Sherbrooke
ein. Wäh rend ich einmal um das Seminargelände herumfuhr,
hielt ich Ausschau nach Presseleuten, konnte aber zum Glück
keine entdecken. Begegnungen mit der Presse sind in Montreal
noch anstrengender als in anderen Städten, denn hier gibt es sowohl
französische als auch englische Sender und Zeitungen. Ich
hasse es ohnehin, mit Fragen bedrängt zu werden, wenn ich sie
dann aber auch noch in zwei Sprachen beantworten muss, platzt
mir ziemlich rasch der Kragen.
LaManche hatte Recht gehabt. Ich war im vergangenen Sommer
schon einmal hier gewesen, als man bei der Reparatur einer
defekten Wasserleitung auf Knochen gestoßen war. Ich weiß
noch, was ich damals in meinen Bericht geschrieben hatte: Kirchengrundstück,
alter Friedhof, Sargreste,Archäologen verständigt. Hoffentlich
würde ich bald Ähnliches notieren können.
Als ich meinen Mazda vor dem Lastwagen abstellte, hörten
die drei Männer zu reden auf und blickten in meine Richtung.
Dann stieg ich aus, und der Polizist, der mich einen Augenblick
lang nachdenklich angesehen hatte, kam auf mich zu. Sein
Gesicht war nicht gerade freundlich. Es war Viertel nach vier,
und seine Schicht war vermutlich schon längst zu Ende. Wahrscheinlich
war er ebenso ungern hier wie ich.
»Bitte fahren Sie weiter, Madam. Sie dürfen hier nicht parken
«, rief er mir zu und wedelte ungeduldig mit der Hand. Es
sah aus, als wollte er eine Fliege vom Salat wegscheuchen.
»Ich bin Dr. Brennan«, sagte ich, während ich die Autotür zuschlug.
»Vom Laboratoire de Médecine Légale.«
»Wie bitte? Sie wollen vom Leichenbeschauer kommen?«
Sein Ton hätte einen Verhörspezialisten vom KGB geradezu
vertrauensselig klingen lassen.
»Ja. Ich bin die antropologiste judiciaire«, erklärte ich langsam
wie eine Lehrerin in der zweiten Klasse Volksschule. »Zuständig
für Ausbettungen und Knochenbefunde. Und wenn ich mich
nicht irre, dürfte es sich hier wohl um beides handeln.«
Ich gab dem Polizisten meinen Ausweis und las auf dem Namensschild
über seiner Brusttasche: Constable Groulx.
Der Polizist besah sich das Foto in meinem Ausweis. Dann
fiel sein prüfender Blick auf mich. Ich wirkte wohl wenig
vertrauenserweckend. Weil ich wusste, dass das Zusammensetzen
des Schädels Spuren hinterlassen würde, hatte ich mir meine
ältesten Klamotten angezogen: eine ausgewaschene braune Hose
und ein Jeanshemd, dessen Ärmel ich hochgekrempelt hatte.
Meine nackten Füße steckten in Segelschuhen, und aus meinen
hochgesteckten Haaren hatten sich im Laufe des Tages ein paar
Strähnen gelöst. Zudem war ich mit getrockneten Klebstoffresten
übersät. Ich musste aussehen wie eine gestresste Hausfrau in
mittleren Jahren, die gerade eine Pause beim Tapezieren ihrer
Wohnung macht, um ihr Kind von der Schule abzuholen.
Nachdem der Polizist meinen Ausweis lange angesehen hatte,
gab er ihn mir kommentarlos zurück. Eine forensische Anthropologin
hatte er sich wohl anders vorgestellt.
»Haben Sie die Knochen schon gesehen?«, fragte ich.
»Nein, ich sichere nur den Fundort.« Mit einer ähnlichen
Wedelgeste wie vorhin deutete er auf die beiden Arbeiter, die
ihre Unterhaltung eingestellt hatten und uns interessiert beobachteten.
»Die da haben die Knochen gefunden. Ich habe die Zentrale
verständigt. Die bringen Sie hin.«
Ich fragte mich, ob Constable Groulx wohl auch in der Lage
war, kompliziertere Sätze zu bilden. Noch einmal deutete er hinüber
zu den Arbeitern.
»Ich passe auf Ihren Wagen auf.«
Ich dankte ihm mit einem Nicken, aber er hatte sich bereits
von mir abgewandt. Also ging ich hinüber zu den Arbeitern,
die mich stumm ansahen. Beide Männer hatten fast identische
Schnurrbärte, die sich wie umgedrehte Us über ihren Mündern
nach unten bogen.
Der Linke war schmächtig, dunkelhaarig und erinnerte mich
an einen Terrier. Er war älter als sein Kollege, und sein Blick
wanderte rastlos umher. Auch mich sah er nur ganz kurz an und
wandte sich schnell wieder ab, als könnte er sich durch längeren
Augenkontakt mit einem anderen Menschen auf etwas einlassen,
was er später bereuen würde. Er trat unruhig von einem
Fuß auf den anderen und zog alle paar Sekunden die Schultern
ein.
Sein Kollege kam mir weitaus ruhiger vor. Er war einen Kopf
größer, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und lange, zu einem
dünnen Pferdeschwanz zusammengebundene Haare. Als ich näher
kam, grinste er mich an und zeigte dabei eine Zahnlücke.
Irgendwie hatte ich sofort den Eindruck, dass er der Gesprächigere
von beiden war.
»Bonjour. Comment ça va?«, fragte ich.
»Bien«, sagten beide fast gleichzeitig und nickten. Gut.
Ich zeigte ihnen meinen Ausweis und fragte, ob sie die Knochen
gefunden hätten. Wieder nickten sie.
»Wie kam es dazu?«, fragte ich und zog ein kleines, spiralgebundenes
Notizbuch aus meinem Rucksack. Ich klappte es auf,
drückte die Mine aus meinem Kugelschreiber und lächelte die
beiden aufmunternd an.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz schien nur darauf gewartet
zu haben, endlich sprechen zu dürfen. Die Worte strömten
nur so aus seinem Mund. Für ihn schien die Sache ein richtiges
Abenteuer zu sein. Ich musste schon genau hinhören, um sein
Französisch zu verstehen, denn er ließ die Worte ineinanderfließen
und verschluckte die Endungen, wie es weiter oben am
St.-Lawrence-Strom üblich ist.
»Wir haben das Unterholz ausgelichtet. Das gehört zu unserem
Job«, sagte er und deutete hinauf zu den Hochspannungsmasten.
»Unter der Leitung dürfen keine Bäume wachsen.«
Ich nickte.
»Als ich zu der Senke da drüben kam ...«, fuhr er fort und
deutete auf ein Gehölz, das quer über das Grundstück lief,
»... stieg mir ein komischer Geruch in die Nase.« Er hielt inne
und blickte hinüber zu den Bäumen.
»Was verstehen Sie unter komisch?«
Er drehte sich wieder zu mir. »Na ja, vielleicht nicht direkt
komisch«, meinte er und biss sich auf die Unterlippe, während
er seinen Wortschatz nach dem richtigen Ausdruck durchforstete.
»Eher tot«, sagte er schließlich. »Wissen Sie, wie etwas Totes
riecht?«
Ich sagte nichts und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Kennen Sie das, wenn sich Tiere irgendwohin verkriechen,
um zu sterben?« Während er das sagte, zuckte er ganz leicht mit
der Schulter und sah mich an, um von mir eine Bestätigung zu
erhalten. Ich wusste genau, wovon er sprach. In meinem Job bin
ich mit dem Geruch des Todes sozusagen per Du. Ich nickte.
»Ich dachte, dass vielleicht irgendwo in der Senke ein toter
Hund oder Waschbär herumliegt, und stocherte mit dem Rechen
ein bisschen im Laub herum. Auf einmal wurde der Ge-
ruch wirklich penetrant. Und dann sah ich, dass da ein paar
Knochen waren.«
Schulterzucken.
»Verstehe«, sagte ich und verspürte ein mulmiges Gefühl in
der Magengrube. Alte Gräber stinken nicht.
»Ich rief nach Gil ...«, sagte der Arbeiter und blickte hinüber
zu seinem Kollegen, der aber nur auf seine Fußspitzen starrte,
»... und dann schaufelten wir zusammen Laub weg. Und was da
zum Vorschein kam, sah nicht gerade wie ein Hund oder ein
Waschbär aus.« Bei diesen Worten verschränkte der Arbeiter die
Arme vor der Brust, senkte das Kinn und wippte auf seinen
Fersen vor und zurück.
»Inwiefern?«
»Zu groß«, antwortete er und fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen. Die Zungenspitze sah aus wie ein Regenwurm, der
gerade aus der Erde kriecht.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie vielleicht noch etwas anderes außer den Knochen
gefunden?«
»Ja. Und genau das ist ja das Merkwürdige.« Er breitete die
Arme aus, um die Abmessungen des Fundes zu zeigen. »So einen
großen Plastiksack, in dem das Zeug drinsteckte, und ...«
Er zuckte wieder mit den Schultern und verstummte mitten
im Satz.
»Was und?«, fragte ich. Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich.
»Une ventouse«, sagte er rasch und klang dabei peinlich berührt
und aufgeregt zugleich. Gil schien ebenso perplex zu sein
wie ich, denn jetzt flog sein Blick rasend schnell zwischen seinem
Kollegen und mir hin und her.
»Wie bitte?«, fragte ich für den Fall, dass ich mich verhört haben
sollte.
»Une ventouse. So ein Gummisauger, wie man ihn verwendet,
wenn das Waschbecken verstopft ist.« Er umfasste mit seinen
Händen einen unsichtbaren Stiel und bewegte sie auf und ab.
Die makabre kleine Pantomime erschien mir vollkommen deplatziert
und jagte mir einen Schrecken ein.
Gil gab ein düsteres »Sacré...« von sich und starrte wieder auf
seine Füße. Hier stimmte was nicht. Ich schrieb schnell noch
ein paar Worte ins Notizbuch und klappte es zu.
»Ist es feucht da unten?«, fragte ich, denn ich wollte Gummistiefel
und Overall nur dann anziehen, wenn es wirklich nötig
war.
»Eigentlich nicht«, sagte der Mann mit dem Pferdeschwanz
und sah zu Gil hinüber, der zur Bestätigung den Kopf schüttelte,
aber nicht aufsah.
»Na schön. Dann sehen wir uns die Sache einmal genauer
an.« Ich hoffte, dass ich ruhiger wirkte, als ich in Wirklichkeit
war.
Der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz ging voraus in das Gehölz.
Langsam stiegen wir in eine kleine, mit Bäumen und Gestrüpp
bewachsene Senke hinab. Der Arbeiter bog die dickeren
Äste für mich zurück, und ich gab sie an Gil weiter. Trotzdem
konnte ich nicht verhindern, dass kleinere Zweige mir die
Haare noch mehr durcheinanderbrachten. In der Senke roch es
nach feuchter Erde und verrottetem Laub. Die Sonnenstrahlen,
die durch das Blätterdach fielen, zeichneten ein Fleckenmuster
auf den Boden, das aussah wie die Teile eines Puzzles.
Kleine Staubpartikel tanzten im schräg einfallenden Licht. Insekten
schwirrten mir ums Gesicht und summten in meinen
Ohren, während irgendwelche Käfer oder Ameisen über meine
nackten Knöchel krabbelten.
Als wir am Boden der Senke angekommen waren, musste
sich der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz kurz orientieren.
Dann ging er nach rechts, und ich folgte ihm. Ich schlug nach
Moskitos, bog Zweige zur Seite und spähte durch die herumtanzenden
Wolken winziger Stechmücken nach vorn. Ab und
zu flog mir eine von diesen Mücken direkt ins Auge, so dass
ich heftig blinzeln musste. Bald stand mir der Schweiß in dicken
Tropfen über der Oberlippe, und meine Haare klebten am
Kopf. Um herumfliegende Strähnen brauchte ich mir nun keine
Sorgen mehr zu machen. Gott sei Dank hatte ich keine besseren
Klamotten angezogen.
Etwa fünfzehn Meter vom Fundort entfernt brauchte ich
niemanden mehr, der mir den Weg wies. Jetzt nämlich durchdrangen
die unverkennbaren Ausdünstungen des Todes das lehmige
Aroma der vom Sonnenlicht erwärmten Walderde. Nichts
auf der Welt riecht so schlimm wie verwesendes Fleisch. Dieser
süßliche, übelkeiterregende Gestank verstärkte sich bei jedem
meiner Schritte wie das Zirpen einer Grille, das langsam anschwillt,
wenn man sich ihr nähert. Bald hatte er den Duft von
Moos, Harz und Humus vollständig verdrängt.
Gil ließ sich immer mehr zurückfallen und blieb schließlich
in ein paar Metern Entfernung stehen. Ihm genügte offenbar
der Gestank, er musste nicht noch einmal einen Blick auf dessen
Ursprung werfen. Sein Kollege hingegen ging noch ein paar
Schritte weiter und deutete dann wortlos auf einen Laubhaufen,
um den die Fliegen brummten und kreisten wie Akademiker
um ein kaltes Büfett.
Als ich die Fliegen sah, krampfte sich mein Magen zusammen,
und meine innere Stimme sagte: »Siehst du, ich habe es dir
doch gleich gesagt.«
Voller böser Vorahnungen lehnte ich meinen Rucksack an
einen Baumstamm und nahm ein paar Latexhandschuhe heraus.
Dann tastete ich mich vorsichtig durch das dichte Geäst auf
den Haufen zu. Beim Näherkommen entdeckte ich die Stelle,
an der die beiden Arbeiter mit ihren Rechen das Laub weggeschoben
hatten. Was ich dort sah, bestätigte meine schlimmsten
Befürchtungen.
Aus dem Laub ragte ein Brustkorb heraus, dessen Rippen
mich an die Überreste eines kleinen, gestrandeten Bootes erinnerten.
Als ich vor dem Haufen in die Hocke ging, erhob sich
laut brummend ein Fliegenschwarm. Die fetten Leiber glänzten
grünlich im Sonnenlicht. Mit einem Stöckchen entfernte
ich Laub und Erde, bis ich sah, dass die Rippen noch von einem
Stück Wirbelsäule zusammengehalten wurden. Dann holte
ich tief Luft, zog die Handschuhe an und machte mich daran,
die Knochen von Blättern und Kiefernnadeln zu befreien. Vom
Sonnenlicht erschreckt, ergriffen ganze Scharen von Käfern und
Asseln die Flucht und verkrochen sich in die Lücken zwischen
den einzelnen Wirbeln.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich den Laubhaufen abgetragen
und die von Gil und seinem Kollegen gefundenen Knochen
vollständig freigelegt hatte. Ich strich mir mit meinen latexumhüllten
Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht und
hockte mich auf meine Fersen, um das Ergebnis zu begutachten.
Auf etwa einem Quadratmeter Fläche lag der teilweise skelettierte
Oberkörper einer menschlichen Leiche, deren Brustkorb,
Wirbelsäule und Becken noch immer von vertrockneten
Muskeln und Bändern zusammengehalten wurden. Während
das Gehirn und innere Organe oft innerhalb weniger Wochen
von Bakterien und Insekten aufgefressen werden, setzt das Bindegewebe
den Verrottungsprozessen sehr viel mehr Widerstand
entgegen. So dauert es Monate und manchmal sogar Jahre, bis
es vollständig verwest ist.
Auch an diesem Torso konnte ich bei näherem Hinsehen
an den Brust- und Unterleibsknochen bräunliche Reste eingetrockneten
Gewebes entdecken. Während ich so dahockte, die
Schmeißfliegen brummen hörte und nachdenklich das Schattenspiel
der Blätter auf dem sonnenbeschienenen Waldboden
betrachtete, wurden mir zwei Dinge klar: Erstens konnte es sich
bei diesen Knochen nicht um die Überreste eines Tieres handeln,
und zweitens lagen sie noch nicht allzu lange hier im Gehölz.
Und noch etwas wusste ich genau: Der Mensch, dem dieser
Brustkorb und dieses Becken einmal gehört hatten, war ermor-
det und zerstückelt worden. Dann hatte jemand den Torso in
einen ganz normalen, haushaltsüblichen Müllsack gesteckt und
hierhergebracht. Der Sack, der von den Arbeitern aufgerissen
worden war, lag immer noch unter dem Leichenteil, an dem
Kopf und Gliedmaßen ebenso fehlten wie irgendwelche Gegenstände,
anhand derer man es hätte identifizieren können. Bis
auf einen natürlich: den Gummisauger.
Er stand zwischen den Beckenknochen, und dass sein Holz-
griff wie ein umgedrehtes Eis am Stiel direkt im Beckenausgang
steckte, war bestimmt kein Zufall.
Als ich aufstand, taten mir vom langen In-der-Hocke-Sitzen
die Knie weh. Aus Erfahrung wusste ich, dass aasfressende Tiere
Leichenteile über beachtliche Entfernungen fortschleppen können.
Hunde zum Beispiel verstecken ihre Beute gerne im dichten
Unterholz, und Füchse, Dachse und Waschbären schaffen
oft kleinere Knochen oder Zähne in ihren Bau. Also wischte
ich mir die Hände ab und sah mich in der unmittelbaren Nachbarschaft
des Torsos nach Tierspuren um.
Die Schmeißfliegen brummten, und weit, weit entfernt auf
der Rue Sherbrooke hupte ein Auto. Bilder von anderen Wäldern,
anderen Gräbern und anderen Knochen gingen mir wie
zusammenhanglos aneinandergeklebte Schnipsel aus alten Filmen
durch den Kopf. Aufmerksam suchte ich den Waldboden
ab, und als ich dabei ganz langsam den Kopf drehte, meinte ich,
im Muster des schattengefleckten Laubs ganz flüchtig etwas aufblitzen
zu sehen. Es war mehr eine Ahnung als eine konkrete
Sinneswahrnehmung gewesen und so flüchtig, dass ich es nicht
hatte lokalisieren können. Ich drehte den Kopf noch einmal in
dieselbe Richtung. Nichts. Obwohl ich mir schon nicht mehr
sicher war, dass ich überhaupt etwas gesehen hatte, rührte ich
mich nicht vom Fleck. Als ich die Insekten vor meinen Augen
fortwedelte, bemerkte ich, dass es nicht mehr so warm war wie
vorhin.
Mist. Noch immer starrte ich auf den Waldboden. Ein leich-
ter Wind kam auf. Er fuhr mir durch die schweißnassen Haare
und raschelte in den Blättern der Bäume. Und dann bemerkte
ich es wieder. In einiger Entfernung blinkte etwas ganz schwach
im Sonnenlicht. Unsicher machte ich ein paar Schritte darauf zu
und konzentrierte mich dabei voll auf das zitternde Schattenmuster
am Boden, wo aber beim besten Willen nichts zu sehen
war. Vermutlich hatte ich mich doch getäuscht.
Aber dann bewegte ein Windstoß das Laub am Boden, und
ich sah deutlich, wie das warme Nachmittagslicht ganz kurz
von einer mattglänzenden Oberfläche reflektiert wurde. Mit
angehaltenem Atem trat ich näher. Was ich fand, erstaunte mich
nicht. Da haben wir die Bescherung, dachte ich.
Aus einem Hohlraum zwischen den Wurzeln eines Tulpenbaums
schaute ein weiterer Plastiksack hervor. Rings um den
Baum und den Sack wuchsen leuchtend gelbe Butterblumen,
die aussahen, als wären sie soeben einer Illustration von Beatrix
Potter entsprungen. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast
zu dem Müllsack, von dem ich schon jetzt wusste, dass er einen
grausigen Inhalt bergen würde.
Laub raschelte, und kleine Zweige knackten unter meinen
Füßen, als ich auf den Tulpenbaum zuging. Ich hielt mich mit
einer Hand am Stamm fest und tastete mit der anderen nach
dem Sack. Als ich genügend davon für einen sicheren Griff in
der Hand hatte, zog ich vorsichtig daran. Der Sack bewegte
sich nicht. Ich wand die Folie noch einmal um meine Finger,
zog fester und spürte, wie er sich löste. Beim Ziehen merkte
ich, dass etwas Schweres darin sein musste. Mücken schwirrten
um mein Gesicht, und der Schweiß lief mir den Rücken hinab.
Mein Herz hämmerte wie der Bass in einem Heavy-Metal-
Song.
Nachdem sich der Sack mit einem letzten Ruck vollständig
gelöst hatte, zog ich ihn ein Stück weit von dem Baum fort,
um ihn zu öffnen. Irgendwie wollte ich das nicht zwischen den
fröhlich blühenden Beatrix-Potter-Blümchen tun. An Form
und Gewicht des Sacks hatte ich längst erraten, was er enthalten
musste. Als ich den Knoten an der Öffnung des Sacks löste,
schlug mir ein unerträglicher Verwesungsgeruch entgegen. Mit
angehaltenem Atem zog ich die Plastikfolie auseinander.
Aus dem Müllsack starrte mir ein menschliches Gesicht entgegen.
Weil die Plastikfolie es vor Insektenfraß geschützt hatte,
waren seine Züge noch zu erkennen, auch wenn Hitze und
Feuchtigkeit sie zu einer grausigen Totenmaske entstellt hatten.
Zwei kleine, eingeschrumpfte Augen starrten stumpf unter
halbgeschlossenen Lidern hervor. Die Nase war umgeknickt
und vom Gewicht des Kopfes so flach auf eine der eingefallenen
Wangen gepresst worden, dass sich die Nasenlöcher in schmale
Schlitze verwandelt hatten. Die dünnen Lippen waren zu einem
ewigen Grinsen verzerrt und entblößten eine Reihe makelloser
Zähne. Die teigig-weiße Gesichtshaut, die sich wie ein nasses
Leintuch den Konturen der Schädelknochen anpasste, wurde
umrahmt von vollem mattrotem Haar, dessen glanzlose Korkenzieherlocken
von flüssig gewordener Gehirnmasse durchtränkt
waren.
Erschüttert schloss ich den Sack und erinnerte mich auf einmal
wieder daran, dass ich nicht allein in dem Gehölz war. Als
ich mich nach den Arbeitern umdrehte, blickte mich der Mann
mit dem Pferdeschwanz interessiert an. Sein Kollege wartete in
einiger Entfernung. Er hatte die Schultern hochgezogen und
seine Hände tief in den Taschen seiner Latzhose vergraben.
Ich zog die Latexhandschuhe aus und ging wortlos an den
beiden vorbei. Auch sie sagten nichts, aber am Rascheln des
Laubs hinter mir konnte ich hören, dass sie mir folgten. Ich verließ
das Wäldchen und steuerte auf den Streifenwagen zu, der
noch immer draußen auf der Straße stand.
Constable Groulx lehnte an der Kühlerhaube und rührte sich
nicht, obwohl er mich auf sich zukommen sah. Ich hatte schon
mit freundlicheren Beamten zu tun.
Überarbeitete Taschenbuchausgabe 02/2011
Copyright © 1997 by Kathleen C. Reichs
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 1998 Karl Blessing Verlag, München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur
München - Zürich
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43559-9
Printed in Germany 2011
www.heyne.de
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Autoren-Porträt von Kathy Reichs
Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie, eine von nur knapp hundert vom American Board of Forensics Anthropology zertifizierte forensischen Anthropolog*innen und unter anderem für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Für den ersten Band ihrer Tempe-Brennan-Reihe wurde sie 1998 mit dem Arthur Ellis Award ausgezeichnet. Die darauf basierende Serie »BONES - Die Knochenjägerin« wurde von Reichs mitkreiert und -produziert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kathy Reichs
- 2011, 592 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Thomas A. Merk
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435591
- ISBN-13: 9783453435599
- Erscheinungsdatum: 05.01.2011
Kommentar zu "Tote lügen nicht / Tempe Brennan Bd.1"