Totengrund / Jane Rizzoli Bd.8
Ein-Rizzoli-&-Isles-Thriller
Jane Rizzolis Freundin und ihre Begleiter haben vor einem Schneesturm in einem Dorf Zuflucht gesucht. Nun sind sie verschwunden. Genau wie alle anderen Bewohner von Kingdom Come. In der Nähe findet man ein ausgebranntes Autowrack. Was ist passiert?
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Produktinformationen zu „Totengrund / Jane Rizzoli Bd.8 “
Jane Rizzolis Freundin und ihre Begleiter haben vor einem Schneesturm in einem Dorf Zuflucht gesucht. Nun sind sie verschwunden. Genau wie alle anderen Bewohner von Kingdom Come. In der Nähe findet man ein ausgebranntes Autowrack. Was ist passiert?
Lese-Probe zu „Totengrund / Jane Rizzoli Bd.8 “
Totengrund von Tess Gerritsen1
Plain of Angels, Idaho
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Sie war die Auserwählte.
Schon seit Monaten beobachtete er das Mädchen, seit dem Tag, als sie mit ihrer Familie in die Siedlung gezogen war. Ihr Vater war George Sheldon, ein mittelmäßiger Zimmermann, der im Bautrupp arbeitete. Ihre Mutter, eine farblose und unauffällige Frau, wurde der Gemeinschaftsbackstube zugewiesen. Sie waren beide arbeitslos und verzweifelt gewesen,
als sie zum ersten Mal seine Kirche in Idaho Falls betreten hatten, auf der Suche nach Trost und Erlösung. Jeremiah hatte ihnen in die Augen geblickt, und er hatte gesehen, was für ihn das Entscheidende war: verlorene Seelen auf der Suche nach Halt, nach irgendeinem Rettungsanker.
Sie waren reif für die Ernte.
Jetzt wohnten die Sheldons mit ihrer Tochter Katie in Haus C, im neu erbauten Golgatha-Block. Jeden Sabbat saßen sie auf den ihnen zugewiesenen Plätzen in der vierzehnten Reihe. Im Garten vor ihrem Haus pflanzten sie Malven und Sonnenblumen, die gleichen farbenfrohen Pflanzen, die auch alle anderen Gärten zierten. Auf jede erdenkliche Weise fügten sie sich in die vierundsechzig anderen Familien ein, welche die »Zusammenkunft« bildeten; Familien, die miteinander arbeiteten, miteinander beteten und jeden Sabbatabend gemeinsam das Brot brachen.
Aber in einem bedeutsamen Punkt waren die Sheldons einzigartig: Sie hatten eine außergewöhnlich schöne Tochter. Die Tochter, von der er den Blick nicht wenden konnte.
Von seinem Fenster aus konnte Jeremiah sie auf dem Schulhof sehen. Es war gerade Mittagspause; die Schüler liefen draußen umher und genossen den warmen Septembertag, die Jungen in ihren weißen Hemden und schwarzen Hosen, die Mädchen in ihren langen pastellfarbenen Kleidern.
Alle sahen sie gesund und sonnenverwöhnt aus, wi es bei Kindern sein sollte. Selbst unter all diesen schwanengleichen Mädchen stach Katie Sheldon hervor, mit ihren unbezähmbaren Locken und ihren glockenhellen Lachen. Wie schnell so ein Mädchen sich verändert, dachte er. Binnen eines einzigen Jahres hatte sie sich von einem Kind in eine gertenschlanke junge Frau verwandelt. Ihre strahlenden Augen, ihr glänzendes Haar und ihre rosigen Wangen - all das waren Anzeichen von Fruchtbarkeit.
Sie stand zusammen mit zwei anderen Mädchen im Schatten einer Eiche, die Köpfe zusammengesteckt wie drei Grazien, die einander Geheimnisse zu üsterten. Um sie herum ließen die anderen Schüler ihrer überschüssigen Energie freien Lauf - schwatzten, spielten Himmel und Hölle oder kickten einen Fußball hin und her.
Plötzlich bemerkte er, wie ein Junge auf die drei Mädchen zuging, und er runzelte die Stirn. Der Junge war vielleicht fünfzehn, mit einem blonden Haarschopf und langen Beinen, für die seine Hose schon zu kurz war. Auf halbem Weg über den Schulhof blieb der Junge stehen, als müsse er erst seinen Mut zusammennehmen, ehe er weiterging. Dann hob er den Kopf und marschierte geradewegs auf die Mädchen zu. Auf Katie.
Jeremiah drückte sich dichter an die Fensterscheibe. Katie blickte auf und lächelte, als der Junge auf sie zukam. Es war ein reizendes, unschuldiges Lächeln, gerichtet an einen Klassenkameraden, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur eines im Sinn hatte. O ja, Jeremiah konnte sich sehr wohl denken, was im Kopf dieses Jungen vorging. Sündige, schmutzige Gedanken. Jetzt unterhielten sie sich, Katie und der Junge, während die beiden anderen Mädchen sich mit wissenden Blicken zurückzogen. Bei dem Lärm auf dem Schulhof konnte er nicht verstehen, was sie sagten, doch er sah, wie Katie aufmerksam den Kopf zur Seite neigte, wie sie mit einer koketten Bewegung ihr Haar über die Schulter warf. Er sah, wie der Junge sich vorbeugte, als wolle er genüsslich ihren Duft einsaugen. War das dieser McKinnon-Balg? Adam oder Alan, so hieß er wohl. Inzwischen wohnten so viele Familien in der Siedlung, so viele Kinder, dass er sich nicht alle ihre Namen merken konnte. Er starrte grimmig auf die beiden hinunter und hielt den Fensterrahmen so fest gepackt, dass seine Fingernägel sich ins Holz bohrten.
Er fuhr auf dem Absatz herum, verließ sein Büro und stapfte die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt verkrampften sich seine Kiefermuskeln mehr, und die bittere Galle schien ein Loch in seinen Magen zu brennen. Er riss die Tür auf und stürmte ins Freie, doch vor dem Schulhoftor blieb er stehen und rang mühsam um Beherrschung.
So durfte er sich nicht sehen lassen. Es gehörte sich nicht, Zorn zu zeigen. Das Läuten der Schulglocke rief die Schüler aus der Pause zurück. Er stand da und versuchte, sich zu beruhigen, indem er tief durchatmete. Er konzentrierte sich auf den Duft des frisch gemähten Grases, des Brots, das in der nahen Gemeinschaftsküche gebacken wurde. Von der anderen Seite der Siedlung, wo der neue Gebetssaal gebaut wurde, waren das Kreischen einer Säge und das Echo von Dutzenden von Hämmern, die Nägel einschlugen, zu vernehmen. Die gottgefälligen Geräusche ehrlicher Arbeit, verrichtet von einer Gemeinschaft, die zum größeren Ruhme des Herrn wirkte. Und ich bin ihr Hirte, dachte er; ich weise ihnen den Weg. Und wie viel sie schon erreicht hatten! Man musste sich nur in dem blühenden Dorf umschauen, die vielen neuen Häuser betrachten, die aus dem Boden schossen, um zu erkennen, dass die Gemeinde sich prächtig entwickelte.
Endlich öffnete er das Tor und trat in den Schulhof. Er ging am Raum der Erstklässler vorbei, die gerade das ABCLied sangen, und betrat das Klassenzimmer der Mittelstufe. Die Lehrerin sah ihn und sprang überrascht von ihrem Pult auf. »Prophet Goode, welch eine Ehre!«, sprudelte sie hervor. »Ich wusste gar nicht, dass du uns heute besuchen wolltest.«
Er lächelte, und die Frau errötete, entzückt über seine Aufmerksamkeit. »Schwester Janet, es ist doch nicht nötig, so viel Aufhebens um mich zu machen. Ich wollte nur einmal vorbeischauen und deine Klasse begrüßen. Und sehen, ob auch alle das neue Schuljahr genießen.«
Strahlend wandte sie sich an ihre Schüler. »Ist es nicht eine Ehre, dass Prophet Goode uns persönlich besucht? Lasst uns ihn alle gemeinsam willkommen heißen!«
»Willkommen, Prophet Goode«, antworteten die Schüler im Chor.
»Kommt ihr denn alle gut voran im neuen Schuljahr?«, fragte er.
»Ja, Prophet Goode.« Wieder kam die Antwort wie aus einem Mund, so perfekt, als hätten sie sie einstudiert.
Er entdeckte Katie Sheldon in der dritten Bank. Und er bemerkte auch, dass der blonde Junge, der mit ihr geflirtet hatte, fast direkt hinter ihr saß. Langsam begann er, im Klassenzimmer auf und ab zu gehen. Er betrachtete die Zeichnungen und Aufsätze der Schüler, die an den Wänden hingen - als ob er sich tatsächlich dafür interessierte -, nickte wohlwollend und lächelte. Dabei galt seine ganze Aufmerksamkeit Katie, die sittsam an ihrem Pult saß, die Augen niedergeschlagen, wie es sich für ein wahrhaft anständiges Mädchen ziemte.
»Ich möchte euren Unterricht nicht stören«, sagte er.
»Bitte fahrt da fort, wo ihr gerade wart. Tut so, als wäre ich gar nicht hier.«
»Äh, ja.« Die Lehrerin räusperte sich. »Schlagt bitte euer Mathematikbuch auf Seite zweihundertdrei auf und bearbeitet die Aufgaben Nummer zehn bis sechzehn. Wenn ihr fertig seid, besprechen wir die Lösungen.«
Während die Stifte kratzten und das Papier raschelte, schlenderte Jeremiah durch das Klassenzimmer. Die Schüler waren zu eingeschüchtert, um ihn anzusehen, und hielten den Blick starr auf ihre Pulte gerichtet. Das Thema war Algebra, ein Gebiet, mit dem er sich nie näher hatte befassen mögen. Er blieb neben dem Pult des blonden Burschen stehen, der so auffallendes Interesse an Katie bekundet hatte, und als er ihm über die Schulter schaute, sah er den Namen, der vorne auf dem Aufgabenheft stand. Adam McKinnon. Ein Unruhestifter, den er sich irgendwann würde vorknöpfen müssen.
Er ging weiter zu Katies Pult, blieb stehen und sah auch ihr über die Schulter. Nervös kritzelte sie eine Antwort aufs Papier und radierte sie gleich wieder aus. Dort, wo ihre langen Haare sich teilten, blitzte ihr bloßer Nacken auf, und die Haut verfärbte sich tiefrot, als hätte sein Blick sie verbrannt.
Er beugte sich herab, atmete ihren Duft ein, und Hitze durchflutete seine Lenden. Es gab nichts Köstlicheres als den Duft, den die Haut eines so jungen Dings ausströmte, und der Duft dieses Mädchens war der süßeste von allen. Durch den Stoff ihres Mieders konnte er gerade eben ihre knospenden Brüste ausmachen.
»Gräm dich nicht zu sehr, meine Liebe«, flüsterte er. »Ich war auch nie besonders gut in Algebra.«
Sie blickte auf, und das Lächeln, das sie ihm schenkte, war so berückend, dass es ihm geradezu die Sprache verschlug. Ja. Kein Zweifel, dieses Mädchen ist die Richtige.
Blumen und bunte Bänder schmückten die Bänke und hingen von den hohen Deckenbalken des neu erbauten Gebetssaals herab. So viele Blumen waren es, dass der Saal wie der Garten Eden selbst wirkte, duftend und von leuchtenden Farben erfüllt. Das Licht der Morgensonne fiel durch die runden Fenster, während zweihundert freudige Stimmen Lobeshymnen sangen.
Wir sind dein, o Herr. Fruchtbar ist deine Herde und reichlich deine Ernte.
Die Stimmen verhallten, und die Orgel spielte plötzlich eine Fanfare. Die ganze Gemeinde drehte sich zu Katie Sheldon um, die wie erstarrt im Eingang stand und verwirrt blinzelte angesichts all der Augenpaare, die auf sie gerichtet waren. Sie trug das mit Spitzen besetzte weiße Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, und ihre nagelneuen weißen Satinschühchen lugten unter dem Saum hervor. Auf dem Kopf trug sie den Jungfernkranz aus weißen Rosen. Die Orgel spielte weiter, die Gemeinde wartete gespannt, aber Katie konnte - nein, sie wollte sich nicht von der Stelle rühren.
Es war ihr Vater, der sie zwang, den ersten Schritt zu tun. Er nahm ihren Arm, und seine Finger, die sich in ihr Fleisch gruben, waren wie ein unmissverständlicher Befehl. Wage es nicht, mich zu blamieren!
Sie setzte sich in Bewegung. Ihre Füße fühlten sich taub an in den hübschen Seidenschühchen, als sie auf den Altar zuschritt, der am Ende des Gangs aufragte. Auf den Mann, den Gott der Herr selbst zu ihrem Ehemann erkoren hatte.
In den Bankreihen erblickte sie vertraute Gesichter: ihre Lehrer, ihre Freundinnen, ihre Nachbarn. Da war Schwester Diane, die mit ihrer Mutter in der Backstube arbeitete, und Bruder Raymond, der sich um die Kühe kümmerte, deren weiche Flanken sie so gerne streichelte. Und da war ihreMutter. Sie stand in der vordersten Reihe, wo sie noch nie zuvor gestanden hatte. Es war ein Ehrenplatz, eine Bank, die nur einigen auserwählten Gemeindemitgliedern vorbehalten war. Ihre Mutter platzte schier vor Stolz; wie eine Königin stand sie da und trug ihren eigenen Rosenkranz wie eine Krone.
»Mommy«, flüsterte Katie. »Mommy!«
Aber die Gemeinde hatte schon das nächste Lied angestimmt, und ihre Worte wurden vom Gesang übertönt. Niemand hörte sie.
Am Altar angelangt, ließ ihr Vater endlich ihren Arm los. »Sei ein braves Mädchen«, murmelte er und trat zur Seite, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen. Sie drehte sich um und wollte ihm nachgehen, doch sie fand ihren Fluchtweg versperrt.
Der Prophet Jeremiah Goode stand vor ihr. Er nahm ihre Hand.
Wie heiß seine Finger sich auf ihrer kalten Haut anfühlten! Und wie groß seine Hand aussah, als er sie um die ihre legte, als wäre sie in der Umklammerung eines Riesen gefangen.
Die Gemeinde stimmte das Hochzeitslied an. O seliger Bund, gesegnet vom Himmel, auf ewig vereint in Seinen Augen!
Prophet Goode zog sie dicht an sich heran, und sie wimmerte leise vor Schmerz, als seine Finger sich wie Klauen in ihre Haut bohrten. Du gehörst jetzt mir, an mich gebunden durch den Willen Gottes, sagte dieser Griff. Du wirst mir gehorchen.
Sie blickte sich zu ihren Eltern um. Stumm flehte sie sie an, sie von hier wegzubringen, nach Hause, wo sie hingehörte. Doch die beiden sangen nur mit verzückter Miene. Ihr Blick schweifte durch den Saal, suchte nach irgendeinem Menschen, der sie aus diesem Albtraum erretten würde, doch sie sah nur ein endloses Meer aus beifällig lächelnden Gesichtern und nickenden Köpfen. Einen Saal, in dem das Sonnenlicht auf Blütenblättern gleißte, während zweihundert Stimmen sich zum Gesang erhoben.
Einen Saal, in dem niemand die stummen Schreie eines dreizehnjährigen Mädchens hörte, in dem niemand sie hören wollte.
2
Sechzehn Jahre später
Ihre Affäre war am Ende, aber eingestehen wollten sie es sich beide nicht. Stattdessen sprachen sie über die regennassen Straßen und den fürchterlichen Verkehr an diesem Morgen und über die Wahrscheinlichkeit, dass der Start von Mauras Maschine vom Logan Airport sich verzögern würde. Über das, was sie beide bedrückte, redeten sie nicht, obwohl Maura Isles es in Daniel Brophys Stimme hören konnte und auch in ihrer eigenen, so tonlos und gedämpft. Beide gaben sich größte Mühe, so zu tun, als hätte sich zwischen ihnen nichts verändert. Nein, sie waren einfach nur erschöpft, nachdem sie die halbe Nacht aufgeblieben waren, gefangen in der immer gleichen Diskussion, die jedes Mal unweigerlich das Nachspiel bildete, wenn sie miteinander schliefen. Die Diskussion, die ihr immer das Gefühl gab, Unmögliches zu fordern und nie genug zu bekommen.
Wenn du nur jede Nacht bei mir bleiben könntest. Wenn wir nur jeden Morgen zusammen aufwachen könnten.
Jetzt bin ich doch für dich da, Maura.
Aber nicht ganz und gar. Nicht, solange du keine Entscheidung triffst.
Sie blickte aus dem Fenster und sah die Autos durch den strömenden Regen rauschen. Daniel kann sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, dachte sie. Und selbst wenn er sich für mich entscheiden sollte, selbst wenn er sein Priesteramt aufgeben und seine innig geliebte Kirche verlassen sollte, würde das schlechte Gewissen weiter zwischen uns stehen wie seine unsichtbare Geliebte. Sie sah zu, wie die Wischerblätter gegen dasWasser ankämpften, das in Bahnen die Scheibe herunterfloss, und das trübe Licht draußen passte perfekt zu ihrer Stimmung.
»Es dürfte knapp werden«, meinte er. »Hast du online eingecheckt?«
»Gestern. Meine Bordkarte habe ich schon.«
»Okay. Das spart dir ein paar Minuten.«
»Aber ich muss noch meinen Koffer aufgeben. Meine Wintersachen haben nicht ins Handgepäck gepasst.«
»Man sollte doch meinen, dass sie für einen Medizinerkongress einen sonnigen und warmen Ort aussuchen würden. Wieso muss es Wyoming im November sein?«
»Jackson Hole soll sehr schön sein.«
»Das sind die Bermudas auch.«
Sie riskierte einen Seitenblick. Das Halbdunkel des Wageninnern verbarg die Sorgenfalten in seinem Gesicht, doch sie konnte die silbernen Strähnen in seinem Haar sehen, die sich immer weiter ausbreiteten. Wie sehr wir gealtert sind in diesem einen Jahr. Die Liebe hat uns nicht verjüngt - im
Gegenteil.
»Wenn ich zurück bin, fliegen wir irgendwohin, wo es warm ist, ja?«, sagte sie. »Nur für ein Wochenende.« Mit einem verwegenen Lachen fügte sie hinzu: »Ach was, vergessen wir doch einfach die Welt und bleiben einen ganzen Monat.«
Er schwieg.
»Oder ist das zu viel verlangt?«, fragte sie leise. Er seufzte matt. »Sosehr wir uns auch wünschen mögen, die Welt zu vergessen - sie ist immer da. Und wir müssen dorthin zurückkehren.«
»Wir müssen überhaupt nichts.«
Der Blick, mit dem er sie ansah, war unendlich traurig.
»Das glaubst du nicht wirklich, Maura.« Er sah wieder auf die Straße. »Und ich auch nicht.«
Nein, dachte sie. Wir glauben beide nur an unsere verdammte Verantwortung. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, bezahle pünktlich meine Steuern und tue, was die Welt von mir erwartet. Da kann ich noch so viel davon faseln, dass ich mit ihm durchbrennen und lauter wilde und verrückte Sachen tun will - ich weiß doch, dass ich es nie tun werde. Und Daniel auch nicht.
Er hielt vor dem Eingang ihres Abflugterminals. Einen Moment lang saßen sie da, ohne einander anzusehen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Mitreisenden zu beobachten, die am Express-Check-in warteten. Alle waren in Regenmäntel gehüllt - wie eine Trauergemeinde an einem stürmischen Novembermorgen. Sie hatte nicht die geringste Lust, den warmen Wagen zu verlassen und sich den Scharen verdrossener Reisender anzuschließen. Anstatt in diese Maschine zu steigen, dachte sie, könnte ich ihn bitten, mich wieder nach Hause zu fahren. Wenn wir nur ein paar Stunden länger Zeit hätten, um über alles zu sprechen, dann könnten wir vielleicht eine Lösung finden und unsere Beziehung retten.
Übersetzung: Andreas Jäger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Limes Verlag, München
Sie war die Auserwählte.
Schon seit Monaten beobachtete er das Mädchen, seit dem Tag, als sie mit ihrer Familie in die Siedlung gezogen war. Ihr Vater war George Sheldon, ein mittelmäßiger Zimmermann, der im Bautrupp arbeitete. Ihre Mutter, eine farblose und unauffällige Frau, wurde der Gemeinschaftsbackstube zugewiesen. Sie waren beide arbeitslos und verzweifelt gewesen,
als sie zum ersten Mal seine Kirche in Idaho Falls betreten hatten, auf der Suche nach Trost und Erlösung. Jeremiah hatte ihnen in die Augen geblickt, und er hatte gesehen, was für ihn das Entscheidende war: verlorene Seelen auf der Suche nach Halt, nach irgendeinem Rettungsanker.
Sie waren reif für die Ernte.
Jetzt wohnten die Sheldons mit ihrer Tochter Katie in Haus C, im neu erbauten Golgatha-Block. Jeden Sabbat saßen sie auf den ihnen zugewiesenen Plätzen in der vierzehnten Reihe. Im Garten vor ihrem Haus pflanzten sie Malven und Sonnenblumen, die gleichen farbenfrohen Pflanzen, die auch alle anderen Gärten zierten. Auf jede erdenkliche Weise fügten sie sich in die vierundsechzig anderen Familien ein, welche die »Zusammenkunft« bildeten; Familien, die miteinander arbeiteten, miteinander beteten und jeden Sabbatabend gemeinsam das Brot brachen.
Aber in einem bedeutsamen Punkt waren die Sheldons einzigartig: Sie hatten eine außergewöhnlich schöne Tochter. Die Tochter, von der er den Blick nicht wenden konnte.
Von seinem Fenster aus konnte Jeremiah sie auf dem Schulhof sehen. Es war gerade Mittagspause; die Schüler liefen draußen umher und genossen den warmen Septembertag, die Jungen in ihren weißen Hemden und schwarzen Hosen, die Mädchen in ihren langen pastellfarbenen Kleidern.
Alle sahen sie gesund und sonnenverwöhnt aus, wi es bei Kindern sein sollte. Selbst unter all diesen schwanengleichen Mädchen stach Katie Sheldon hervor, mit ihren unbezähmbaren Locken und ihren glockenhellen Lachen. Wie schnell so ein Mädchen sich verändert, dachte er. Binnen eines einzigen Jahres hatte sie sich von einem Kind in eine gertenschlanke junge Frau verwandelt. Ihre strahlenden Augen, ihr glänzendes Haar und ihre rosigen Wangen - all das waren Anzeichen von Fruchtbarkeit.
Sie stand zusammen mit zwei anderen Mädchen im Schatten einer Eiche, die Köpfe zusammengesteckt wie drei Grazien, die einander Geheimnisse zu üsterten. Um sie herum ließen die anderen Schüler ihrer überschüssigen Energie freien Lauf - schwatzten, spielten Himmel und Hölle oder kickten einen Fußball hin und her.
Plötzlich bemerkte er, wie ein Junge auf die drei Mädchen zuging, und er runzelte die Stirn. Der Junge war vielleicht fünfzehn, mit einem blonden Haarschopf und langen Beinen, für die seine Hose schon zu kurz war. Auf halbem Weg über den Schulhof blieb der Junge stehen, als müsse er erst seinen Mut zusammennehmen, ehe er weiterging. Dann hob er den Kopf und marschierte geradewegs auf die Mädchen zu. Auf Katie.
Jeremiah drückte sich dichter an die Fensterscheibe. Katie blickte auf und lächelte, als der Junge auf sie zukam. Es war ein reizendes, unschuldiges Lächeln, gerichtet an einen Klassenkameraden, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur eines im Sinn hatte. O ja, Jeremiah konnte sich sehr wohl denken, was im Kopf dieses Jungen vorging. Sündige, schmutzige Gedanken. Jetzt unterhielten sie sich, Katie und der Junge, während die beiden anderen Mädchen sich mit wissenden Blicken zurückzogen. Bei dem Lärm auf dem Schulhof konnte er nicht verstehen, was sie sagten, doch er sah, wie Katie aufmerksam den Kopf zur Seite neigte, wie sie mit einer koketten Bewegung ihr Haar über die Schulter warf. Er sah, wie der Junge sich vorbeugte, als wolle er genüsslich ihren Duft einsaugen. War das dieser McKinnon-Balg? Adam oder Alan, so hieß er wohl. Inzwischen wohnten so viele Familien in der Siedlung, so viele Kinder, dass er sich nicht alle ihre Namen merken konnte. Er starrte grimmig auf die beiden hinunter und hielt den Fensterrahmen so fest gepackt, dass seine Fingernägel sich ins Holz bohrten.
Er fuhr auf dem Absatz herum, verließ sein Büro und stapfte die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt verkrampften sich seine Kiefermuskeln mehr, und die bittere Galle schien ein Loch in seinen Magen zu brennen. Er riss die Tür auf und stürmte ins Freie, doch vor dem Schulhoftor blieb er stehen und rang mühsam um Beherrschung.
So durfte er sich nicht sehen lassen. Es gehörte sich nicht, Zorn zu zeigen. Das Läuten der Schulglocke rief die Schüler aus der Pause zurück. Er stand da und versuchte, sich zu beruhigen, indem er tief durchatmete. Er konzentrierte sich auf den Duft des frisch gemähten Grases, des Brots, das in der nahen Gemeinschaftsküche gebacken wurde. Von der anderen Seite der Siedlung, wo der neue Gebetssaal gebaut wurde, waren das Kreischen einer Säge und das Echo von Dutzenden von Hämmern, die Nägel einschlugen, zu vernehmen. Die gottgefälligen Geräusche ehrlicher Arbeit, verrichtet von einer Gemeinschaft, die zum größeren Ruhme des Herrn wirkte. Und ich bin ihr Hirte, dachte er; ich weise ihnen den Weg. Und wie viel sie schon erreicht hatten! Man musste sich nur in dem blühenden Dorf umschauen, die vielen neuen Häuser betrachten, die aus dem Boden schossen, um zu erkennen, dass die Gemeinde sich prächtig entwickelte.
Endlich öffnete er das Tor und trat in den Schulhof. Er ging am Raum der Erstklässler vorbei, die gerade das ABCLied sangen, und betrat das Klassenzimmer der Mittelstufe. Die Lehrerin sah ihn und sprang überrascht von ihrem Pult auf. »Prophet Goode, welch eine Ehre!«, sprudelte sie hervor. »Ich wusste gar nicht, dass du uns heute besuchen wolltest.«
Er lächelte, und die Frau errötete, entzückt über seine Aufmerksamkeit. »Schwester Janet, es ist doch nicht nötig, so viel Aufhebens um mich zu machen. Ich wollte nur einmal vorbeischauen und deine Klasse begrüßen. Und sehen, ob auch alle das neue Schuljahr genießen.«
Strahlend wandte sie sich an ihre Schüler. »Ist es nicht eine Ehre, dass Prophet Goode uns persönlich besucht? Lasst uns ihn alle gemeinsam willkommen heißen!«
»Willkommen, Prophet Goode«, antworteten die Schüler im Chor.
»Kommt ihr denn alle gut voran im neuen Schuljahr?«, fragte er.
»Ja, Prophet Goode.« Wieder kam die Antwort wie aus einem Mund, so perfekt, als hätten sie sie einstudiert.
Er entdeckte Katie Sheldon in der dritten Bank. Und er bemerkte auch, dass der blonde Junge, der mit ihr geflirtet hatte, fast direkt hinter ihr saß. Langsam begann er, im Klassenzimmer auf und ab zu gehen. Er betrachtete die Zeichnungen und Aufsätze der Schüler, die an den Wänden hingen - als ob er sich tatsächlich dafür interessierte -, nickte wohlwollend und lächelte. Dabei galt seine ganze Aufmerksamkeit Katie, die sittsam an ihrem Pult saß, die Augen niedergeschlagen, wie es sich für ein wahrhaft anständiges Mädchen ziemte.
»Ich möchte euren Unterricht nicht stören«, sagte er.
»Bitte fahrt da fort, wo ihr gerade wart. Tut so, als wäre ich gar nicht hier.«
»Äh, ja.« Die Lehrerin räusperte sich. »Schlagt bitte euer Mathematikbuch auf Seite zweihundertdrei auf und bearbeitet die Aufgaben Nummer zehn bis sechzehn. Wenn ihr fertig seid, besprechen wir die Lösungen.«
Während die Stifte kratzten und das Papier raschelte, schlenderte Jeremiah durch das Klassenzimmer. Die Schüler waren zu eingeschüchtert, um ihn anzusehen, und hielten den Blick starr auf ihre Pulte gerichtet. Das Thema war Algebra, ein Gebiet, mit dem er sich nie näher hatte befassen mögen. Er blieb neben dem Pult des blonden Burschen stehen, der so auffallendes Interesse an Katie bekundet hatte, und als er ihm über die Schulter schaute, sah er den Namen, der vorne auf dem Aufgabenheft stand. Adam McKinnon. Ein Unruhestifter, den er sich irgendwann würde vorknöpfen müssen.
Er ging weiter zu Katies Pult, blieb stehen und sah auch ihr über die Schulter. Nervös kritzelte sie eine Antwort aufs Papier und radierte sie gleich wieder aus. Dort, wo ihre langen Haare sich teilten, blitzte ihr bloßer Nacken auf, und die Haut verfärbte sich tiefrot, als hätte sein Blick sie verbrannt.
Er beugte sich herab, atmete ihren Duft ein, und Hitze durchflutete seine Lenden. Es gab nichts Köstlicheres als den Duft, den die Haut eines so jungen Dings ausströmte, und der Duft dieses Mädchens war der süßeste von allen. Durch den Stoff ihres Mieders konnte er gerade eben ihre knospenden Brüste ausmachen.
»Gräm dich nicht zu sehr, meine Liebe«, flüsterte er. »Ich war auch nie besonders gut in Algebra.«
Sie blickte auf, und das Lächeln, das sie ihm schenkte, war so berückend, dass es ihm geradezu die Sprache verschlug. Ja. Kein Zweifel, dieses Mädchen ist die Richtige.
Blumen und bunte Bänder schmückten die Bänke und hingen von den hohen Deckenbalken des neu erbauten Gebetssaals herab. So viele Blumen waren es, dass der Saal wie der Garten Eden selbst wirkte, duftend und von leuchtenden Farben erfüllt. Das Licht der Morgensonne fiel durch die runden Fenster, während zweihundert freudige Stimmen Lobeshymnen sangen.
Wir sind dein, o Herr. Fruchtbar ist deine Herde und reichlich deine Ernte.
Die Stimmen verhallten, und die Orgel spielte plötzlich eine Fanfare. Die ganze Gemeinde drehte sich zu Katie Sheldon um, die wie erstarrt im Eingang stand und verwirrt blinzelte angesichts all der Augenpaare, die auf sie gerichtet waren. Sie trug das mit Spitzen besetzte weiße Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, und ihre nagelneuen weißen Satinschühchen lugten unter dem Saum hervor. Auf dem Kopf trug sie den Jungfernkranz aus weißen Rosen. Die Orgel spielte weiter, die Gemeinde wartete gespannt, aber Katie konnte - nein, sie wollte sich nicht von der Stelle rühren.
Es war ihr Vater, der sie zwang, den ersten Schritt zu tun. Er nahm ihren Arm, und seine Finger, die sich in ihr Fleisch gruben, waren wie ein unmissverständlicher Befehl. Wage es nicht, mich zu blamieren!
Sie setzte sich in Bewegung. Ihre Füße fühlten sich taub an in den hübschen Seidenschühchen, als sie auf den Altar zuschritt, der am Ende des Gangs aufragte. Auf den Mann, den Gott der Herr selbst zu ihrem Ehemann erkoren hatte.
In den Bankreihen erblickte sie vertraute Gesichter: ihre Lehrer, ihre Freundinnen, ihre Nachbarn. Da war Schwester Diane, die mit ihrer Mutter in der Backstube arbeitete, und Bruder Raymond, der sich um die Kühe kümmerte, deren weiche Flanken sie so gerne streichelte. Und da war ihreMutter. Sie stand in der vordersten Reihe, wo sie noch nie zuvor gestanden hatte. Es war ein Ehrenplatz, eine Bank, die nur einigen auserwählten Gemeindemitgliedern vorbehalten war. Ihre Mutter platzte schier vor Stolz; wie eine Königin stand sie da und trug ihren eigenen Rosenkranz wie eine Krone.
»Mommy«, flüsterte Katie. »Mommy!«
Aber die Gemeinde hatte schon das nächste Lied angestimmt, und ihre Worte wurden vom Gesang übertönt. Niemand hörte sie.
Am Altar angelangt, ließ ihr Vater endlich ihren Arm los. »Sei ein braves Mädchen«, murmelte er und trat zur Seite, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen. Sie drehte sich um und wollte ihm nachgehen, doch sie fand ihren Fluchtweg versperrt.
Der Prophet Jeremiah Goode stand vor ihr. Er nahm ihre Hand.
Wie heiß seine Finger sich auf ihrer kalten Haut anfühlten! Und wie groß seine Hand aussah, als er sie um die ihre legte, als wäre sie in der Umklammerung eines Riesen gefangen.
Die Gemeinde stimmte das Hochzeitslied an. O seliger Bund, gesegnet vom Himmel, auf ewig vereint in Seinen Augen!
Prophet Goode zog sie dicht an sich heran, und sie wimmerte leise vor Schmerz, als seine Finger sich wie Klauen in ihre Haut bohrten. Du gehörst jetzt mir, an mich gebunden durch den Willen Gottes, sagte dieser Griff. Du wirst mir gehorchen.
Sie blickte sich zu ihren Eltern um. Stumm flehte sie sie an, sie von hier wegzubringen, nach Hause, wo sie hingehörte. Doch die beiden sangen nur mit verzückter Miene. Ihr Blick schweifte durch den Saal, suchte nach irgendeinem Menschen, der sie aus diesem Albtraum erretten würde, doch sie sah nur ein endloses Meer aus beifällig lächelnden Gesichtern und nickenden Köpfen. Einen Saal, in dem das Sonnenlicht auf Blütenblättern gleißte, während zweihundert Stimmen sich zum Gesang erhoben.
Einen Saal, in dem niemand die stummen Schreie eines dreizehnjährigen Mädchens hörte, in dem niemand sie hören wollte.
2
Sechzehn Jahre später
Ihre Affäre war am Ende, aber eingestehen wollten sie es sich beide nicht. Stattdessen sprachen sie über die regennassen Straßen und den fürchterlichen Verkehr an diesem Morgen und über die Wahrscheinlichkeit, dass der Start von Mauras Maschine vom Logan Airport sich verzögern würde. Über das, was sie beide bedrückte, redeten sie nicht, obwohl Maura Isles es in Daniel Brophys Stimme hören konnte und auch in ihrer eigenen, so tonlos und gedämpft. Beide gaben sich größte Mühe, so zu tun, als hätte sich zwischen ihnen nichts verändert. Nein, sie waren einfach nur erschöpft, nachdem sie die halbe Nacht aufgeblieben waren, gefangen in der immer gleichen Diskussion, die jedes Mal unweigerlich das Nachspiel bildete, wenn sie miteinander schliefen. Die Diskussion, die ihr immer das Gefühl gab, Unmögliches zu fordern und nie genug zu bekommen.
Wenn du nur jede Nacht bei mir bleiben könntest. Wenn wir nur jeden Morgen zusammen aufwachen könnten.
Jetzt bin ich doch für dich da, Maura.
Aber nicht ganz und gar. Nicht, solange du keine Entscheidung triffst.
Sie blickte aus dem Fenster und sah die Autos durch den strömenden Regen rauschen. Daniel kann sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, dachte sie. Und selbst wenn er sich für mich entscheiden sollte, selbst wenn er sein Priesteramt aufgeben und seine innig geliebte Kirche verlassen sollte, würde das schlechte Gewissen weiter zwischen uns stehen wie seine unsichtbare Geliebte. Sie sah zu, wie die Wischerblätter gegen dasWasser ankämpften, das in Bahnen die Scheibe herunterfloss, und das trübe Licht draußen passte perfekt zu ihrer Stimmung.
»Es dürfte knapp werden«, meinte er. »Hast du online eingecheckt?«
»Gestern. Meine Bordkarte habe ich schon.«
»Okay. Das spart dir ein paar Minuten.«
»Aber ich muss noch meinen Koffer aufgeben. Meine Wintersachen haben nicht ins Handgepäck gepasst.«
»Man sollte doch meinen, dass sie für einen Medizinerkongress einen sonnigen und warmen Ort aussuchen würden. Wieso muss es Wyoming im November sein?«
»Jackson Hole soll sehr schön sein.«
»Das sind die Bermudas auch.«
Sie riskierte einen Seitenblick. Das Halbdunkel des Wageninnern verbarg die Sorgenfalten in seinem Gesicht, doch sie konnte die silbernen Strähnen in seinem Haar sehen, die sich immer weiter ausbreiteten. Wie sehr wir gealtert sind in diesem einen Jahr. Die Liebe hat uns nicht verjüngt - im
Gegenteil.
»Wenn ich zurück bin, fliegen wir irgendwohin, wo es warm ist, ja?«, sagte sie. »Nur für ein Wochenende.« Mit einem verwegenen Lachen fügte sie hinzu: »Ach was, vergessen wir doch einfach die Welt und bleiben einen ganzen Monat.«
Er schwieg.
»Oder ist das zu viel verlangt?«, fragte sie leise. Er seufzte matt. »Sosehr wir uns auch wünschen mögen, die Welt zu vergessen - sie ist immer da. Und wir müssen dorthin zurückkehren.«
»Wir müssen überhaupt nichts.«
Der Blick, mit dem er sie ansah, war unendlich traurig.
»Das glaubst du nicht wirklich, Maura.« Er sah wieder auf die Straße. »Und ich auch nicht.«
Nein, dachte sie. Wir glauben beide nur an unsere verdammte Verantwortung. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, bezahle pünktlich meine Steuern und tue, was die Welt von mir erwartet. Da kann ich noch so viel davon faseln, dass ich mit ihm durchbrennen und lauter wilde und verrückte Sachen tun will - ich weiß doch, dass ich es nie tun werde. Und Daniel auch nicht.
Er hielt vor dem Eingang ihres Abflugterminals. Einen Moment lang saßen sie da, ohne einander anzusehen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Mitreisenden zu beobachten, die am Express-Check-in warteten. Alle waren in Regenmäntel gehüllt - wie eine Trauergemeinde an einem stürmischen Novembermorgen. Sie hatte nicht die geringste Lust, den warmen Wagen zu verlassen und sich den Scharen verdrossener Reisender anzuschließen. Anstatt in diese Maschine zu steigen, dachte sie, könnte ich ihn bitten, mich wieder nach Hause zu fahren. Wenn wir nur ein paar Stunden länger Zeit hätten, um über alles zu sprechen, dann könnten wir vielleicht eine Lösung finden und unsere Beziehung retten.
Übersetzung: Andreas Jäger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Limes Verlag, München
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Autoren-Porträt von Tess Gerritsen
Gerritsen, TessSo gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller um das Bostoner Ermittlerduo Rizzoli & Isles von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tess Gerritsen
- 2012, 413 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Jäger, Andreas
- Übersetzer: Andreas Jäger
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442374812
- ISBN-13: 9783442374816
- Erscheinungsdatum: 15.05.2012
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