Totentanz für Dr. Siri
Roman
Exotisches Laos, rätselhafte Todesfälle und die außergewöhnlichste Ermittlerfigur des Krimigenres
Dr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe...
Dr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe...
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Produktinformationen zu „Totentanz für Dr. Siri “
Exotisches Laos, rätselhafte Todesfälle und die außergewöhnlichste Ermittlerfigur des Krimigenres
Dr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe in Huaphan, einer abgelegenen Bergregion. Nach einem Erdrutsch ragt ein mumifizierter Arm aus einem frisch verlegten Betonpfad. Da der fragliche Weg zum neuen Domizil des Präsidenten führt, ist er geradezu ein Nationaldenkmal. Folglich soll Siri schnell und diskret herausfinden, warum hier offenbar ein Mann lebendig begraben wurde. Zusammen mit seiner Assistentin Dtui kommt er einer Geschichte von Liebe, Magie und Rache auf die Spur. Allerdings ist es nicht dieser Mordfall, der Siri um den Schlaf bringt. Es ist die infernalisch laute Diskomusik, die jede Nacht an sein Ohr dringt. Woher kommt sie? Und warum scheint sie außer ihm niemand zu hören? Auch dieses Rätsel wird er schließlich lösen - und sogar selbst ein mitternächtliches Tänzchen wagen.
Der dritte Roman aus der einzigartigen Krimiserie mit unwiderstehlichem Charme und Witz. Die Romane der Serie wurden bereits mit dem »Dagger in the Library« und dem »Dilys Award« ausgezeichnet.
Dr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe in Huaphan, einer abgelegenen Bergregion. Nach einem Erdrutsch ragt ein mumifizierter Arm aus einem frisch verlegten Betonpfad. Da der fragliche Weg zum neuen Domizil des Präsidenten führt, ist er geradezu ein Nationaldenkmal. Folglich soll Siri schnell und diskret herausfinden, warum hier offenbar ein Mann lebendig begraben wurde. Zusammen mit seiner Assistentin Dtui kommt er einer Geschichte von Liebe, Magie und Rache auf die Spur. Allerdings ist es nicht dieser Mordfall, der Siri um den Schlaf bringt. Es ist die infernalisch laute Diskomusik, die jede Nacht an sein Ohr dringt. Woher kommt sie? Und warum scheint sie außer ihm niemand zu hören? Auch dieses Rätsel wird er schließlich lösen - und sogar selbst ein mitternächtliches Tänzchen wagen.
Der dritte Roman aus der einzigartigen Krimiserie mit unwiderstehlichem Charme und Witz. Die Romane der Serie wurden bereits mit dem »Dagger in the Library« und dem »Dilys Award« ausgezeichnet.
Klappentext zu „Totentanz für Dr. Siri “
Exotisches Laos, rätselhafte Todesfälle und die außergewöhnlichste Ermittlerfigur des KrimigenresDr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe in Huaphan, einer abgelegenen Bergregion. Nach einem Erdrutsch ragt ein mumifizierter Arm aus einem frisch verlegten Betonpfad. Da der fragliche Weg zum neuen Domizil des Präsidenten führt, ist er geradezu ein Nationaldenkmal. Folglich soll Siri schnell und diskret herausfinden, warum hier offenbar ein Mann lebendig begraben wurde. Zusammen mit seiner Assistentin Dtui kommt er einer Geschichte von Liebe, Magie und Rache auf die Spur. Allerdings ist es nicht dieser Mordfall, der Siri um den Schlaf bringt. Es ist die infernalisch laute Diskomusik, die jede Nacht an sein Ohr dringt. Woher kommt sie? Und warum scheint sie außer ihm niemand zu hören? Auch dieses Rätsel wird er schließlich lösen - und sogar selbst ein mitternächtliches Tänzchen wagen.
Der dritte Roman aus der einzigartigen Krimiserie mit unwiderstehlichem Charme und Witz.
"Ein Weltklasse-Krimi!" -- Grazia, 20/10
"Mit seinem laotischen Pathologen hat Colin Cotterill eine Krimi-Kultfigur geschaffen" -- Cosmopolitan, Juni 2010
"so exotisch wie hochspannend" -- Neue Presse Hannover
"Mit seinem laotischen Pathologen hat Colin Cotterill eine Krimi-Kultfigur geschaffen" -- Cosmopolitan, Juni 2010
"so exotisch wie hochspannend" -- Neue Presse Hannover
Lese-Probe zu „Totentanz für Dr. Siri “
Totentanz für Dr. Siri von Colin Cotterill GÄSTEHAUS NR. 1
Dr. Siri lag unter dem speckigen Moskitonetz und beobachtete
die Eidechse bei ihrem dritten Versuch. Zwei Mal
schon war das kleine graue Tier die Wand hinaufgeflitzt
und hatte sich bis an die Decke vorgewagt. Beide Male
war das Undenkbare geschehen. Das Reptil hatte den Halt
verloren und war auf den nackten Betonfußboden des
Gästehauses geklatscht. Was fast ebenso widernatürlich
schien, als wenn ein Mensch der Erdenhaftung verlustig
gehen und mit Schmackes an die Zimmerdecke krachen
würde. Siri sah den verdatterten Ausdruck in dem runzligen
kleinen Gesicht. Die Echse blickte einen Moment
lang verwirrt um sich und steuerte dann von Neuem auf
die Wand zu.
... mehr
Seit gut vier Wochen fragte sich der staatliche Leichenbeschauer
Dr. Siri Paiboun, ob sein neues Ich die Tiere
womöglich in ihrem natürlichen Verhalten störte. Zwar
mochte es schon vorher zu Unregelmäßigkeiten gekommen
sein, doch erst seit die Promenadenmischung aus der
Eisfabrik damit begonnen hatte, in seinem Vorgarten ein
Nest zu bauen, nahm er davon bewusst Notiz. Irgendwie
war es der Hündin gelungen, sich aus alten Autositzen
und Zementsäcken, die sie durch das Gartentor geschleift
hatte, ein recht unbehaglich anmutendes Heim zu schaffen.
Und da saß sie nun tagaus, tagein und wartete geduldig
auf ein Ei, das niemals kommen würde. Eine Woche
später dann hatten sich die Mäuse aus den Reisfeldern
hinter der Siedlung plötzlich zu einer regelrechten Bande
zusammengerottet und angefangen, die Katze seines
Nachbarn zu terrorisieren. Und als Siri heute Morgen zu
seiner Reise ins Landesinnere aufgebrochen war, hatte er
auf dem Dachfirst seines Hauses in Vientiane allen Ernstes
eine Henne sitzen sehen. Da es weit und breit keine
Leiter gab, ließ das nur einen Schluss zu: Das Federvieh
musste aufs Dach geflogen sein. Und nun auch noch die
Eidechse. Selbst wenn all das bloßer Zufall war, kam es
ihm doch reichlich seltsam vor. Seit Siri um seine schamanische
Herkunft wusste, widerfuhren ihm die merkwürdigsten
Dinge.
Wieder einmal schob er sich den kleinen Finger in den
Mund und zählte seine Zähne. Eine Gewohnheit, von der
er nur schwer lassen konnte, nachdem er vor einigen Monaten
erfahren hatte, dass er etwas Besonderes war. Sie waren
vollzählig vorhanden - alle dreiunddreißig. Damit hatte
er genauso viele Zähne wie der Magier Prinz Phetsarat;
genauso viele wie einige der angesehensten Schamanen;
genauso viele wie der leibhaftige Buddha. Siri befand sich
also in erlauchter Gesellschaft. Doch obwohl er über die
erforderliche Anzahl von Zähnen verfügte, hatte er seine
Fähigkeiten noch immer nicht so recht im Griff.
Vor Kurzem erst war Siri dahintergekommen, dass der
Geist eines alten Hmong-Schamanen namens Yeh Ming
in seinem Körper wohnte. Bis dahin hatte er die Begegnung
mit den Seelen der Verstorbenen, die ihn bisweilen
im Traum heimsuchten, für eine Art Geisteskrankheit gehalten.
Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre
Botschaften zu deuten. Und folglich auch nicht bemerkt,
dass die Geister ihm im Traum Hinweise auf die Ursache
ihres Todes gaben.All das hatte sich im letzten Jahr grundlegend
geändert.Yeh Ming war aktiver geworden - oder,
anders ausgedrückt: erwacht - und hatte den Unmut der
bösen Waldgeister auf sich gezogen. Fragliche Geister, die
sogenannten Phibob, hatten es auf Siris Urahn abgesehen,
und da dieser in Siris Körper wohnte, war Siri unversehens
in die Schusslinie geraten. Das Feuer des Übernatürlichen
hatte ihn erfasst.
Da den alten Chirurgen so leicht nichts mehr schrecken
konnte, fand er die mysteriösen Vorfälle über die Maßen
amüsant. Sein Leben schien von Tag zu Tag aufregender
zu werden. Während andere Leute seines Alters sich in
ihr Los ergeben hatten und wie ein abgelaufenes Uhrwerk
dem letzten Pendelschlag entgegenkrauchten, war
Siri wiedergeboren worden, hinein in eine Welt zwischen
Wirklichkeit und Fantasie. Jeder neue Tag hatte es in sich.
Er fühlte sich lebendiger denn je. Wenn es sich denn tatsächlich
um eine Form der Altersdemenz handelte, so genoss
er sie insgeheim in vollen Zügen und hatte es nicht
besonders eilig, sich davon zu erholen.
Obwohl Siri im Mai seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag
gefeiert hatte, war er robust und kräftig wie ein
Dschungelwildschwein. Zwar ließ seine Lunge ihn von
Zeit zu Zeit im Stich, doch seine Muskeln und sein Verstand
funktionierten noch genau so tadellos wie vor vierzig
Jahren. Ein üppiger weißer Haarschopf schmückte
sein Haupt, und sein sympathisches Gesicht mit den stechend
grünen Augen entlockte selbst Frauen, die halb so
alt waren wie er, nicht selten ein kokettes Lächeln. Seine
Freunde waren sich einig, dass Dr. Siri Paiboun noch
lange nicht die Puste ausgehen würde.
Die Pritsche mit dem Moskitonetz, unter dem Siri lag und
die Eidechse beobachtete, stand im Parteigästehaus Nr. 1
der Demokratischen Volksrepublik Laos; man schrieb das
Jahr 1977. »Gästehaus« war nicht unbedingt die treffendste
Bezeichnung für das zweistöckige Gebäude, das vietnamesische
Schuhkartonfetischisten vor ein paar Jahren errichtet
hatten. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem
Haus, und wer hier einsaß, war alles andere als ein Gast.
Die meisten Bewohner hatten sich ideologisch gegen das
Parteidiktat versündigt. Hier wiegte man die Dorfvorsteher,
Staatsbeamten und Armeeoffiziere des alten royalistischen
Regimes in dem Glauben, man habe sie zu einem Ferienaufenthalt
in den Bergen der Provinz Houaphan geladen,
zu einem Bildungsurlaub im revolutionären Hauptquartier.
Am frühen Abend hatten Siri und Schwester Dtui mit ein
paar Männern aus dem Süden - ehemals hochrangigen
Polizisten des royalistischen Regimes - Kaffee getrunken.
Die Gendarmen waren nach wie vor davon überzeugt,
dass sie hier ein politisches Seminar besuchten und nach
einem Grundkurs in Marxismus-Leninismus in Kürze
nach Vientiane zurückkehren würden. In ausgelassener
Stimmung hatten sie auf der Veranda im Parterre auf unbequemen
roten Plastikstühlen beisammengesessen. Da
die Männer ihren ersten Nachmittag mit »Kennenlern«Aktivitäten
verbracht hatten, trugen sie immer noch papierne
Namensschildchen, die mit Heftklammern an ihren
Brusttaschen befestigt waren. Hinter dem Namen jedes
Mannes stand das Wörtchen »Offizier«, gefolgt von einer
Zahl. Um nicht gegen die Rangordnung zu verstoßen,
saßen sie in numerischer Reihenfolge.
Sie hatten getönt, wie glücklich sie sich schätzten, einen
Teil des Landes kennenlernen zu dürfen, der diesen Stadtmenschen
so fremd war wie ein ferner Kontinent. Sie
sprachen über die Einheimischen wie ein Tourist von Afrikanern
oder wunderlichen Europäern. Noch ahnten sie
nicht, dass ihr Abstecher in die Provinz vermutlich Monate,
wenn nicht gar Jahre dauern würde. Sie ahnten nicht,
dass man sie aus dem vergleichsweise komfortablen Gästehaus
in ein gut achtzig Kilometer entfernt gelegenes Lager
bei Sop Hao an der vietnamesischen Grenze verschleppen
würde. Dort würden sie Bautrupps zugeteilt, die Straßen
ausbessern, zerbombte Brücken wiederaufbauen und den
einheimischen Bauern dabei helfen mussten, das verminte
Land von Blindgängern zu räumen. Abends würden sie
im gelblichen Schein von Bienenwachslampen in Arbeitskreisen
rings um eine große Schiefertafel sitzen. Sie würden
die Daten der bedeutendsten Schlachten, die Anzahl
der Gefallenen und die Namen der großen Revolutionsführer
auswendig lernen. So, wenn nicht schlimmer, sah
laotische Umerziehung aus.
Zu guter Letzt würden sie, entweder aus persönlicher
Überzeugung oder aber schierer Verzweiflung, feierlich
ewige Hingabe an die Sache schwören. Wenn sie dabei
halbwegs überzeugend wirkten, durften sie eines Tages
eventuell zu ihren Familien zurückkehren. Wenn nicht,
würde man ihren Familien einen Ortswechsel ans Herz
legen. Nur Frauen, die ihre Männer wirklich liebten und
bereit waren, auf den Luxus des Stadtlebens zu verzichten,
nahmen solch ein Angebot an. Die meisten flohen über den
Mekong, um in Thailand ihr Glück zu suchen.
Aber davon wussten die gut gelaunten Männer auf der
Veranda des Gästehauses noch nichts. Sie glaubten, ihre
Reise diene einzig und allein dem Zweck, sie zu bekehren,
sie sozusagen umzurüsten wie einen Benzinmotor auf
Diesel. Sie bildeten sich ein, sie würden ein wenig über
den Kommunismus lernen, danach die Höhlen besichtigen
und schließlich mit Schnappschüssen fürs heimische
Fotoalbum nach Hause fahren. Jedenfalls hatten sie sich
Siri und Dtui gegenüber entsprechend geäußert.
»Sagen Sie, was macht ein hübsches Ding wie Sie eigentlich
so fern der Heimat?«, hatte Offizier Nummer
Drei die dralle Krankenschwester gefragt, deren Spitzname
Dtui »Dickerchen« bedeutete. Der korpulente, rotgesichtige
Mann hatte die Kunst des Flirtens offenbar in
zwielichtigen Nachtclubs erlernt. Er starrte die ganze Zeit
schon unverhohlen auf Dtuis Brüste.
»Ich begleite meinen Chef«, antwortete sie und wies mit
einem Nicken zu Siri.
»Aha, ein heißes Liebeswochenende«, sagte Offizier
Nummer Vier und knuffte seinen Nebenmann zwischen
die Rippen. Dtui und Siri erröteten im Duett, was die
Männer mit brüllendem Gelächter quittierten.
»Schön wär's«, entgegnete Dtui mit dem typisch laotischen
Pflasterlächeln, das allerlei emotionale Wunden und
Blessuren kaschierte. »Leider ist es rein geschäftlich.«
»Soso. Geschäftlich. Das habe ich meiner Alten auch
immer erzählt, wenn ich mal ein Wochenende ausspannen
wollte«, gestand Offizier Nummer Eins stolz. »Und
mit was für Geschäften verdienen Sie Ihre Brötchen, wenn
ich fragen darf?«
Dtui runzelte die Stirn, wahrte aber die Contenance.
Siri bewunderte ihre Gelassenheit.
»Ich bin Krankenschwester. Und mein Chef ist Chirurg.«
Dass Siri sie zur Pathologin ausbildete und er der staatliche
Leichenbeschauer war, behielt sie wohlweislich für sich.
»Doktorspiele, hä?«, fragte Offizier Nummer Zwei, was
zu noch größeren Heiterkeitsausbrüchen führte.
Siri hatte den Eindruck, dass die Männer sich die größte
Mühe gaben, leutselig und kumpelhaft zu wirken, und er
wusste auch, warum. Sie hatten Angst. Trotz ihrer Prahlereien
und unrealistischen Erwartungen war ihnen wohl
klar, dass sie sich auf feindlichem Gebiet befanden, und
ihre einzige Waffe war diese falsche Kameraderie.
Siri sorgte sich um ihre Familien. Er fragte sich, wie
ihre Frauen und Kinder überleben sollten, während ihre
Ernährer wacker Steine klopften. »Sorgt das Justizministerium
für Ihre Angehörigen, solange Sie hier sind?«, erkundigte
er sich.
Offizier Nummer Zwei fand diese Frage äußerst komisch.
»Seit der Machtübernahme haben sie uns keinen
blanken Kip bezahlt.« Da es in Laos keine Münzen gab,
wäre ein Kip aus Metall noch weniger wert gewesen als einer
aus Papier. Für den man derzeit etwa ein Sechstel US-
Cent bekam. So denn überhaupt Geld vorhanden war,
verdiente ein Polizist unter der neuen Regierung monatlich
siebentausend Kip zuzüglich einer kleiner Reisration.
»Und wovon leben Sie?«
»Ach, wir haben unsere Quellen. Einige von uns konnten
unter dem alten Regime einen Notgroschen beiseitelegen.
Wir haben Geld außer Landes geschafft. Schließlich
ahnten wir, dass eines Tages die Roten kommen und alles
über den Haufen werfen würden.«
»Ich möchte Ihnen weder Angst noch Bange machen,
aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich einer dieser gar
garstigen Roten bin, die Ihnen die Suppe versalzen haben
«, sagte Siri.
Offizier Nummer Zwei errötete. »Ach wirklich? Tut mir
leid. Aber Sie sehen gar nicht aus wie ... Und was machen
Sie dann hier? Ich meine ...«
Um den Schaden wiedergutzumachen, erkundigte Offizier
Nummer Eins sich eilends, wo Dtui und der Doktor
arbeiteten.
»An der Mahosot-Klinik.«
»Dann haben Sie ja eine ziemlich weite Reise hinter
sich.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Dtui. »Ich bin seit
zwanzig Jahren nicht aus Vientiane herausgekommen. Es
ist so exotisch hier oben.« Sie warf Siri einen verstohlenen
Blick zu. »Ich freue mich schon auf meinen ersten
Schwund.«
»Ihren ersten was?«
»Schwund. Meine Mutter hat mir davon erzählt, als ich
ein kleines Mädchen war.«
Siri wandte den Kopf, damit die Polizisten sein Grinsen
nicht bemerkten.
»Davon habe ich noch nie gehört«, gestand der Offizier.
»Was, bitte, ist ein Schwund?«
»Das ist nicht Ihr Ernst. Sie wissen nicht, was ein
Schwund ist? Zugegeben, sie sind recht selten, aber hier
oben im Norden werden Tiere nicht eingepfercht, sondern
ziehen in gemischten Rudeln frei umher - Hühner,
Hunde, Ziegen, Schweine. Und da Tiere nun einmal so
sind, wie sie sind, geht es da fröhlich drunter und drüber,
wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Siri konnte sich nicht länger beherrschen. Er stand
auf, ging zur Treppe und betrachtete den Vollmond, der
sich trüb in einem Tümpel spiegelte. Um sein Kichern zu
überspielen, simulierte er einen Hustenanfall.
Dtui fuhr unbeirrt fort. »Und es mag an der Höhenluft
oder auch an dem schwefelreichen Wasser liegen, aber hier
in Houaphan geht aus der Paarung eines lüsternen Rüden
mit einer ebensolchen Sau zuweilen ...«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ich schwör's beim Leben meines Bruders. Ich habe
Fotos gesehen. Sie sehen aus wie ein Schwein mit dem
Schwanz und den Pfoten eines Hundes. Nicht zu fassen,
dass Sie davon noch nie gehört haben.«
»Also, ich habe schon davon gehört«, sagte Offizier
Nummer Vier.
»Unsinn«, sagte Offizier Nummer Zwei.
»Da fällt mir ein. Ich meine, mich erinnern zu können,
auf einem Bauernhof bei Tha Heua einen gesehen zu haben.
Damals wusste ich allerdings noch nicht, worum es
sich handelte. Ulkiges Vieh«, sinnierte Offizier Nummer
Eins.
»Stimmt«, sagte Dtui, »und hier oben gibt es sie in rauen
Mengen. Falls Ihnen einer begegnet, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie ihn fangen könnten. Ich würde meiner Mutter
gern ein Exemplar als Souvenir mitbringen.«
»Kein Problem«, meinte Offizier Nummer Vier. »So
schwierig kann das ja nicht sein.«
»Leider müssen wir morgen sehr früh raus«, sagte Offizier
Nummer Zwei, der wohl merkte, dass man ihm einen
kolossalen Bären aufzubinden versuchte. Er stand auf und
streckte seine schmerzenden Glieder, als habe er soeben
seinen ersten 1000-Meter-Lauf hinter sich gebracht. Auch
die anderen erhoben sich. »Wir sind schon um sechs Uhr
zur Feldarbeit eingeteilt.«
Siri trat wieder zu ihnen. »Passen Sie auf, wo Sie graben.
Diese Gegend ist mit Blindgängern förmlich gespickt.«
Der Offizier kicherte. »Mit Verlaub, aber ich bezweifle,
dass man uns wissentlich in ein Minenfeld schicken würde.«
»Trotzdem. Seien Sie vorsichtig. Ich habe keine Lust,
den morgigen Tag damit zu verbringen, allzu leichtsinnigen
Polizisten die Beine wieder anzunähen.« Siri verstummte.
Dabei konnte er sich kaum eine effektivere Minenräummethode
vorstellen als einen Trupp korrupter royalistischer
Gendarmen, die wie mit Schaufeln bewaffnete Revuegirls
im Stechschritt über ein Feld marschierten.
»Wünsche eine geruhsame Nacht, ihr beiden Turteltäubchen
«, sagte Offizier Nummer Eins mit einem vieldeutigen
Augenzwinkern. Die anderen machten sich lachend in ihren
Schlafsaal auf und ließen Siri und Dtui allein auf der
Veranda zurück. Kaum waren sie verschwunden, streckte
Dtui ihnen die Zunge heraus.
»Widerliche Kerle«, sagte sie.
»Opfer ihrer Geldgier, weiter nichts«, meinte Siri. »Aber
sie werden sich ändern. Nimmt man einem Menschen
seine komfortable Existenz, so ist er buchstäblich auf sich
selbst und sein bloßes, nacktes Ich zurückgeworfen. Von
einem Augenblick zum anderen mit leeren Händen dazustehen
eröffnet zuweilen neue Horizonte. Sollten diese
Männer die Kälte, den Hunger und die Krankheiten hier
oben halbwegs lebendig überstehen, wird sie das zu besseren,
demütigeren Menschen machen.«
»Sie finden aber auch wirklich im letzten Misthaufen
noch eine Perle, Dr. Siri.Trotzdem, Sie irren sich. Die ändern
sich nicht mehr.«
»Warum so pessimistisch, Dtui?«
»Schwein bleibt Schwein.«
Siri zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Und
Schwund bleibt Schwund.«
Als ihr Gelächter verklungen war, blickten sie schweigend
zu den schroffen Felsspitzen empor, die mit dem
Nachthimmel verschmolzen.
»Meinen Sie, wir können uns wenigstens ein paar Sehenswürdigkeiten
anschauen?«, fragte Dtui schließlich.
»Wer weiß? Wir wissen ja noch nicht einmal, was wir
hier sollen. Womöglich schickt man uns kreuz und quer
durch den Nordosten. Warum, was möchten Sie sich denn
ansehen?«
»Meine Mutter hat mir von einem Tempel bei Xieng
Keuang erzählt, in dem man eine Buddha-Reliquie besichtigen
kann.« Siri verzog den Mund zu einem schiefen
Lächeln. »Was ist?«
»Was für eine Reliquie ist es denn diesmal, Schwester
Dtui? Ein Zahn? Ein abgetrennter Zeh? Ein Augapfel?«
»Sie sind ein unverbesserlicher Zyniker«, ereiferte sie
sich. »Das verrate ich Ihnen nicht.«
»Mit Zynismus hat das nichts zu tun, meine Teure. Wohl
aber mit Mathematik und Physiologie. Zählen Sie doch
nur einmal die Tempel in Asien, die angeblich mit einem
Körperteil oder doch wenigstens einem Fußabdruck Buddhas
aufwarten können. Würde auch nur die Hälfte dieser
Behauptungen stimmen, dürfte Seine Heiligkeit in der
Tat einen bemerkenswerten Anblick geboten haben. Wie
es scheint, tapste er auf Füßen groß wie Zisternendeckel
durch die Lande, im Mund nicht nur dreiunddreißig, sondern
mehrere tausend Zähne, während ihm Fuß- und Fingernägel
ausgingen wie einem tollwütigen Hund das Fell.
Nicht auszudenken! Kein Wunder, dass ihm die Leute in
Scharen hinterherliefen.«
Dtui rückte ans andere Ende des Tisches. »Wo wollen
Sie denn hin?«, fragte er.
»Nirgends. Ich möchte nur nicht neben Ihnen sitzen,
wenn Sie der Blitzstrahl trifft.«
Siri lachte. »Sie haben bei Ihren politischen Schulungen
offenbar tief und fest geschlafen, Genossin.Vom Politbüro
abgesehen gibt es keine Götter. Und selbst wenn es einem
veritablen Gott gelänge, den Stacheldrahtzaun der Partei
zu überwinden, würde er unverzüglich unter Hausarrest
gestellt. Hölle und Verdammnis sind ein für alle Mal vom
Tisch.«
»Kein Gott? Dann hat diese grandiose Landschaft wohl
der alte Marx erschaffen?«
»Sie sind ja eine richtige kleine Dissidentin.«
»Trotzdem. Es ist wunderschön hier oben, Doc.«
»Wohl wahr, wenn man die Zeit hat, die herrliche Natur
zu genießen.«
»Sie meinen, wenn man nicht gerade damit beschäftigt
ist, dem nächsten Bombenhagel zu entgehen?«
»Zehn lange Jahre habe ich wenig anderes getan als das.
Und die armen Schweine zusammengeflickt, die nicht so
viel Glück hatten wie ich.«
»Wann wir wohl erfahren werden, warum wir eigentlich
hier sind?«
Sie waren kurzfristig samt ihrer Ausrüstung zum Flughafen
Wattay beordert worden. Richter Haeng hatte sie
über Sinn und Zweck ihrer Mission im Unklaren gelassen
und ihnen lediglich den Namen ihres Kontaktmannes genannt.
»Genosse Lit müsste morgen früh um neun Uhr hier
sein.«
»Wer war das gleich noch mal?«
»Bezirkskommandeur, Staatssicherheit.«
»Ah ja. Kennen Sie ihn noch von früher?«
»Der Name sagt mir nichts. Aber als Partei- und Armeeführung
nach Vientiane umzogen, wurden hier oben
zahllose Grünschnäbel in Windeseile auf wichtige Posten
gehievt. Manche Jungkader machten derart rasant Karriere,
dass der hiesige Quartiermeister dem Vernehmen
nach noch in den Windeln lag, als er in Amt und Würden
gelangte. Man musste erst einmal seine Rassel konfiszieren,
um ihn zur Arbeit zu bewegen.« Dtui kicherte. »Ich
weiß nicht. Gut möglich, dass mir dieser Lit schon einmal
über den Weg gelaufen ist«, fuhr Siri fort.
»Ob er weiß, dass Sie Ihre knuddelige, bildschöne Assistentin
mitgebracht haben?«
»Er wird zweifellos entzückt sein.«
Wieder verführte die Ruhe ringsum die beiden zu
friedvollem Schweigen. Ein Hobbyfischer warf in dem
tintenschwarzen Tümpel seine Netze aus. Die Eichhörnchen
zwitscherten wie heisere Spatzen. Dtui blickte zu der
Treppe hinter Siri.
»Doc.«
»Ja?«
»Da oben an der Treppe ...«
»Keine Ahnung.«
»Woher wissen Sie, was ich fragen wollte?«
»Sie wollten fragen, warum vor der Sperrholzwand dort
oben ein bewaffneter Wachposten sitzt.«
»Hmmm. Nicht übel. Haben Ihre Geister Ihnen eingeflüstert,
was ich denke?«
»Nicht nötig. Es war nicht allzu schwer, Ihre Gedanken
zu erraten. Erstens ist Ihre Neugier nachgerade unersättlich,
darum war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich da
nach erkundigen würden. Und zweitens ist mir keineswegs
entgangen, dass Sie mit dem Wachposten geflirtet haben.«
»Er war nicht sonderlich gesprächig.«
»Sie meinen, er wollte Ihnen nicht verraten, was sich
hinter der Wand verbirgt?«
»Mit keiner Silbe. Geheimnisse kann ich auf den Tod
nicht ausstehen.«
»Wir werden vor unserer Abreise schon noch dahinterkommen.«
Doch als er jetzt dösend auf seiner klumpigen Kapokmatratze
lag und den Mücken dabei zusah, wie sie die nackte
Glühbirne umschwirrten, sann auch er über das Geheimnis
hinter der Sperrholzwand nach. Sie blockierte den Zugang
zu einem Teil des ersten Stockwerks. Dem Grundriss
des Erdgeschosses nach zu urteilen, musste es dort
oben vier oder fünf Zimmer geben. Er überlegte, was an
ihnen so besonders war. Seufzend fuhr er sich mit den Fingern
durch das dichte weiße Haar. Es war schon nach elf,
und er hatte das ungute Gefühl, dass er die ganze Nacht
kein Auge würde zutun können. Dafür ging ihm zu viel
durch den Kopf. Und wenn es nicht gerade seine Gedanken
waren, die ihm den wohlverdienten Schlaf raubten,
gönnten sie ihm keine Ruhe. Er tastete nach dem antiken
weißen Amulett, das an einem fest geflochtenen weißen
Zopf aus Frauenhaar um seinen Hals hing. Als seine Finger
es berührten, durchzuckte ein Stromstoß jede Faser
seines Körpers. Plötzlich hörte er sie noch deutlicher, ihr
unentwegtes Schwatzen und Schnattern in der Ferne. Die
Geister, die ihm früher nur im Traum begegnet waren,
wurden allmählich dreister. Bisweilen erschienen sie sogar
am helllichten Tag, oft im unpassendsten Moment. Noch
bevor der klapprige russische Mi-14-Hubschrauber am
Nachmittag gelandet war, hatte er sie gespürt, die Seelen
der vielen tausend Menschen, die im Krieg ums Leben
gekommen waren. Sie nahmen ihn gründlich in Augenschein,
erkundeten ihn wie Touristen einen historischen
Palast, um herauszufinden, ob er ein Schamane war, der
ihr Vertrauen verdiente.
Ihre Stimmen waren rings um das Gästehaus zu hören:
Mütter, die ihre Kinder von den offenen Feldern heim-
riefen, alte Frauen, die um die alten Männer weinten, die
sie zurückgelassen hatten, gickelnde Babys - die in ihrer
Unschuld noch nicht ahnen konnten, dass sie seit vielen
Jahren tot waren. Wie sollte Siri dabei schlafen? Und zu
allem Übel dröhnte Punkt zwölf auch noch diese grässliche
Discomusik los und machte jede Hoffnung auf eine
gesegnete Nachtruhe zunichte. Er fragte sich, wem um
diese Uhrzeit noch nach Tanzen zumute war und wie man
diesen widerlichen Westlärm ernstlich goutieren konnte.
Aber vielleicht handelte es sich ja auch um eine besonders
perfide Foltertechnik, mit der die Partei die Funktionäre
aus Vientiane peinigen wollte. Etwas Grausameres konnte
er sich schwerlich vorstellen.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2010
Copyright © der Originalausgabe
2006 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Published in agreement with the author,
c/o Baror International Inc.,Armonk, New York, U.S.A.
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: Friedrich Pustet KG, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-54665-7
www.manhattan-verlag.de
Seit gut vier Wochen fragte sich der staatliche Leichenbeschauer
Dr. Siri Paiboun, ob sein neues Ich die Tiere
womöglich in ihrem natürlichen Verhalten störte. Zwar
mochte es schon vorher zu Unregelmäßigkeiten gekommen
sein, doch erst seit die Promenadenmischung aus der
Eisfabrik damit begonnen hatte, in seinem Vorgarten ein
Nest zu bauen, nahm er davon bewusst Notiz. Irgendwie
war es der Hündin gelungen, sich aus alten Autositzen
und Zementsäcken, die sie durch das Gartentor geschleift
hatte, ein recht unbehaglich anmutendes Heim zu schaffen.
Und da saß sie nun tagaus, tagein und wartete geduldig
auf ein Ei, das niemals kommen würde. Eine Woche
später dann hatten sich die Mäuse aus den Reisfeldern
hinter der Siedlung plötzlich zu einer regelrechten Bande
zusammengerottet und angefangen, die Katze seines
Nachbarn zu terrorisieren. Und als Siri heute Morgen zu
seiner Reise ins Landesinnere aufgebrochen war, hatte er
auf dem Dachfirst seines Hauses in Vientiane allen Ernstes
eine Henne sitzen sehen. Da es weit und breit keine
Leiter gab, ließ das nur einen Schluss zu: Das Federvieh
musste aufs Dach geflogen sein. Und nun auch noch die
Eidechse. Selbst wenn all das bloßer Zufall war, kam es
ihm doch reichlich seltsam vor. Seit Siri um seine schamanische
Herkunft wusste, widerfuhren ihm die merkwürdigsten
Dinge.
Wieder einmal schob er sich den kleinen Finger in den
Mund und zählte seine Zähne. Eine Gewohnheit, von der
er nur schwer lassen konnte, nachdem er vor einigen Monaten
erfahren hatte, dass er etwas Besonderes war. Sie waren
vollzählig vorhanden - alle dreiunddreißig. Damit hatte
er genauso viele Zähne wie der Magier Prinz Phetsarat;
genauso viele wie einige der angesehensten Schamanen;
genauso viele wie der leibhaftige Buddha. Siri befand sich
also in erlauchter Gesellschaft. Doch obwohl er über die
erforderliche Anzahl von Zähnen verfügte, hatte er seine
Fähigkeiten noch immer nicht so recht im Griff.
Vor Kurzem erst war Siri dahintergekommen, dass der
Geist eines alten Hmong-Schamanen namens Yeh Ming
in seinem Körper wohnte. Bis dahin hatte er die Begegnung
mit den Seelen der Verstorbenen, die ihn bisweilen
im Traum heimsuchten, für eine Art Geisteskrankheit gehalten.
Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre
Botschaften zu deuten. Und folglich auch nicht bemerkt,
dass die Geister ihm im Traum Hinweise auf die Ursache
ihres Todes gaben.All das hatte sich im letzten Jahr grundlegend
geändert.Yeh Ming war aktiver geworden - oder,
anders ausgedrückt: erwacht - und hatte den Unmut der
bösen Waldgeister auf sich gezogen. Fragliche Geister, die
sogenannten Phibob, hatten es auf Siris Urahn abgesehen,
und da dieser in Siris Körper wohnte, war Siri unversehens
in die Schusslinie geraten. Das Feuer des Übernatürlichen
hatte ihn erfasst.
Da den alten Chirurgen so leicht nichts mehr schrecken
konnte, fand er die mysteriösen Vorfälle über die Maßen
amüsant. Sein Leben schien von Tag zu Tag aufregender
zu werden. Während andere Leute seines Alters sich in
ihr Los ergeben hatten und wie ein abgelaufenes Uhrwerk
dem letzten Pendelschlag entgegenkrauchten, war
Siri wiedergeboren worden, hinein in eine Welt zwischen
Wirklichkeit und Fantasie. Jeder neue Tag hatte es in sich.
Er fühlte sich lebendiger denn je. Wenn es sich denn tatsächlich
um eine Form der Altersdemenz handelte, so genoss
er sie insgeheim in vollen Zügen und hatte es nicht
besonders eilig, sich davon zu erholen.
Obwohl Siri im Mai seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag
gefeiert hatte, war er robust und kräftig wie ein
Dschungelwildschwein. Zwar ließ seine Lunge ihn von
Zeit zu Zeit im Stich, doch seine Muskeln und sein Verstand
funktionierten noch genau so tadellos wie vor vierzig
Jahren. Ein üppiger weißer Haarschopf schmückte
sein Haupt, und sein sympathisches Gesicht mit den stechend
grünen Augen entlockte selbst Frauen, die halb so
alt waren wie er, nicht selten ein kokettes Lächeln. Seine
Freunde waren sich einig, dass Dr. Siri Paiboun noch
lange nicht die Puste ausgehen würde.
Die Pritsche mit dem Moskitonetz, unter dem Siri lag und
die Eidechse beobachtete, stand im Parteigästehaus Nr. 1
der Demokratischen Volksrepublik Laos; man schrieb das
Jahr 1977. »Gästehaus« war nicht unbedingt die treffendste
Bezeichnung für das zweistöckige Gebäude, das vietnamesische
Schuhkartonfetischisten vor ein paar Jahren errichtet
hatten. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem
Haus, und wer hier einsaß, war alles andere als ein Gast.
Die meisten Bewohner hatten sich ideologisch gegen das
Parteidiktat versündigt. Hier wiegte man die Dorfvorsteher,
Staatsbeamten und Armeeoffiziere des alten royalistischen
Regimes in dem Glauben, man habe sie zu einem Ferienaufenthalt
in den Bergen der Provinz Houaphan geladen,
zu einem Bildungsurlaub im revolutionären Hauptquartier.
Am frühen Abend hatten Siri und Schwester Dtui mit ein
paar Männern aus dem Süden - ehemals hochrangigen
Polizisten des royalistischen Regimes - Kaffee getrunken.
Die Gendarmen waren nach wie vor davon überzeugt,
dass sie hier ein politisches Seminar besuchten und nach
einem Grundkurs in Marxismus-Leninismus in Kürze
nach Vientiane zurückkehren würden. In ausgelassener
Stimmung hatten sie auf der Veranda im Parterre auf unbequemen
roten Plastikstühlen beisammengesessen. Da
die Männer ihren ersten Nachmittag mit »Kennenlern«Aktivitäten
verbracht hatten, trugen sie immer noch papierne
Namensschildchen, die mit Heftklammern an ihren
Brusttaschen befestigt waren. Hinter dem Namen jedes
Mannes stand das Wörtchen »Offizier«, gefolgt von einer
Zahl. Um nicht gegen die Rangordnung zu verstoßen,
saßen sie in numerischer Reihenfolge.
Sie hatten getönt, wie glücklich sie sich schätzten, einen
Teil des Landes kennenlernen zu dürfen, der diesen Stadtmenschen
so fremd war wie ein ferner Kontinent. Sie
sprachen über die Einheimischen wie ein Tourist von Afrikanern
oder wunderlichen Europäern. Noch ahnten sie
nicht, dass ihr Abstecher in die Provinz vermutlich Monate,
wenn nicht gar Jahre dauern würde. Sie ahnten nicht,
dass man sie aus dem vergleichsweise komfortablen Gästehaus
in ein gut achtzig Kilometer entfernt gelegenes Lager
bei Sop Hao an der vietnamesischen Grenze verschleppen
würde. Dort würden sie Bautrupps zugeteilt, die Straßen
ausbessern, zerbombte Brücken wiederaufbauen und den
einheimischen Bauern dabei helfen mussten, das verminte
Land von Blindgängern zu räumen. Abends würden sie
im gelblichen Schein von Bienenwachslampen in Arbeitskreisen
rings um eine große Schiefertafel sitzen. Sie würden
die Daten der bedeutendsten Schlachten, die Anzahl
der Gefallenen und die Namen der großen Revolutionsführer
auswendig lernen. So, wenn nicht schlimmer, sah
laotische Umerziehung aus.
Zu guter Letzt würden sie, entweder aus persönlicher
Überzeugung oder aber schierer Verzweiflung, feierlich
ewige Hingabe an die Sache schwören. Wenn sie dabei
halbwegs überzeugend wirkten, durften sie eines Tages
eventuell zu ihren Familien zurückkehren. Wenn nicht,
würde man ihren Familien einen Ortswechsel ans Herz
legen. Nur Frauen, die ihre Männer wirklich liebten und
bereit waren, auf den Luxus des Stadtlebens zu verzichten,
nahmen solch ein Angebot an. Die meisten flohen über den
Mekong, um in Thailand ihr Glück zu suchen.
Aber davon wussten die gut gelaunten Männer auf der
Veranda des Gästehauses noch nichts. Sie glaubten, ihre
Reise diene einzig und allein dem Zweck, sie zu bekehren,
sie sozusagen umzurüsten wie einen Benzinmotor auf
Diesel. Sie bildeten sich ein, sie würden ein wenig über
den Kommunismus lernen, danach die Höhlen besichtigen
und schließlich mit Schnappschüssen fürs heimische
Fotoalbum nach Hause fahren. Jedenfalls hatten sie sich
Siri und Dtui gegenüber entsprechend geäußert.
»Sagen Sie, was macht ein hübsches Ding wie Sie eigentlich
so fern der Heimat?«, hatte Offizier Nummer
Drei die dralle Krankenschwester gefragt, deren Spitzname
Dtui »Dickerchen« bedeutete. Der korpulente, rotgesichtige
Mann hatte die Kunst des Flirtens offenbar in
zwielichtigen Nachtclubs erlernt. Er starrte die ganze Zeit
schon unverhohlen auf Dtuis Brüste.
»Ich begleite meinen Chef«, antwortete sie und wies mit
einem Nicken zu Siri.
»Aha, ein heißes Liebeswochenende«, sagte Offizier
Nummer Vier und knuffte seinen Nebenmann zwischen
die Rippen. Dtui und Siri erröteten im Duett, was die
Männer mit brüllendem Gelächter quittierten.
»Schön wär's«, entgegnete Dtui mit dem typisch laotischen
Pflasterlächeln, das allerlei emotionale Wunden und
Blessuren kaschierte. »Leider ist es rein geschäftlich.«
»Soso. Geschäftlich. Das habe ich meiner Alten auch
immer erzählt, wenn ich mal ein Wochenende ausspannen
wollte«, gestand Offizier Nummer Eins stolz. »Und
mit was für Geschäften verdienen Sie Ihre Brötchen, wenn
ich fragen darf?«
Dtui runzelte die Stirn, wahrte aber die Contenance.
Siri bewunderte ihre Gelassenheit.
»Ich bin Krankenschwester. Und mein Chef ist Chirurg.«
Dass Siri sie zur Pathologin ausbildete und er der staatliche
Leichenbeschauer war, behielt sie wohlweislich für sich.
»Doktorspiele, hä?«, fragte Offizier Nummer Zwei, was
zu noch größeren Heiterkeitsausbrüchen führte.
Siri hatte den Eindruck, dass die Männer sich die größte
Mühe gaben, leutselig und kumpelhaft zu wirken, und er
wusste auch, warum. Sie hatten Angst. Trotz ihrer Prahlereien
und unrealistischen Erwartungen war ihnen wohl
klar, dass sie sich auf feindlichem Gebiet befanden, und
ihre einzige Waffe war diese falsche Kameraderie.
Siri sorgte sich um ihre Familien. Er fragte sich, wie
ihre Frauen und Kinder überleben sollten, während ihre
Ernährer wacker Steine klopften. »Sorgt das Justizministerium
für Ihre Angehörigen, solange Sie hier sind?«, erkundigte
er sich.
Offizier Nummer Zwei fand diese Frage äußerst komisch.
»Seit der Machtübernahme haben sie uns keinen
blanken Kip bezahlt.« Da es in Laos keine Münzen gab,
wäre ein Kip aus Metall noch weniger wert gewesen als einer
aus Papier. Für den man derzeit etwa ein Sechstel US-
Cent bekam. So denn überhaupt Geld vorhanden war,
verdiente ein Polizist unter der neuen Regierung monatlich
siebentausend Kip zuzüglich einer kleiner Reisration.
»Und wovon leben Sie?«
»Ach, wir haben unsere Quellen. Einige von uns konnten
unter dem alten Regime einen Notgroschen beiseitelegen.
Wir haben Geld außer Landes geschafft. Schließlich
ahnten wir, dass eines Tages die Roten kommen und alles
über den Haufen werfen würden.«
»Ich möchte Ihnen weder Angst noch Bange machen,
aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich einer dieser gar
garstigen Roten bin, die Ihnen die Suppe versalzen haben
«, sagte Siri.
Offizier Nummer Zwei errötete. »Ach wirklich? Tut mir
leid. Aber Sie sehen gar nicht aus wie ... Und was machen
Sie dann hier? Ich meine ...«
Um den Schaden wiedergutzumachen, erkundigte Offizier
Nummer Eins sich eilends, wo Dtui und der Doktor
arbeiteten.
»An der Mahosot-Klinik.«
»Dann haben Sie ja eine ziemlich weite Reise hinter
sich.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Dtui. »Ich bin seit
zwanzig Jahren nicht aus Vientiane herausgekommen. Es
ist so exotisch hier oben.« Sie warf Siri einen verstohlenen
Blick zu. »Ich freue mich schon auf meinen ersten
Schwund.«
»Ihren ersten was?«
»Schwund. Meine Mutter hat mir davon erzählt, als ich
ein kleines Mädchen war.«
Siri wandte den Kopf, damit die Polizisten sein Grinsen
nicht bemerkten.
»Davon habe ich noch nie gehört«, gestand der Offizier.
»Was, bitte, ist ein Schwund?«
»Das ist nicht Ihr Ernst. Sie wissen nicht, was ein
Schwund ist? Zugegeben, sie sind recht selten, aber hier
oben im Norden werden Tiere nicht eingepfercht, sondern
ziehen in gemischten Rudeln frei umher - Hühner,
Hunde, Ziegen, Schweine. Und da Tiere nun einmal so
sind, wie sie sind, geht es da fröhlich drunter und drüber,
wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Siri konnte sich nicht länger beherrschen. Er stand
auf, ging zur Treppe und betrachtete den Vollmond, der
sich trüb in einem Tümpel spiegelte. Um sein Kichern zu
überspielen, simulierte er einen Hustenanfall.
Dtui fuhr unbeirrt fort. »Und es mag an der Höhenluft
oder auch an dem schwefelreichen Wasser liegen, aber hier
in Houaphan geht aus der Paarung eines lüsternen Rüden
mit einer ebensolchen Sau zuweilen ...«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ich schwör's beim Leben meines Bruders. Ich habe
Fotos gesehen. Sie sehen aus wie ein Schwein mit dem
Schwanz und den Pfoten eines Hundes. Nicht zu fassen,
dass Sie davon noch nie gehört haben.«
»Also, ich habe schon davon gehört«, sagte Offizier
Nummer Vier.
»Unsinn«, sagte Offizier Nummer Zwei.
»Da fällt mir ein. Ich meine, mich erinnern zu können,
auf einem Bauernhof bei Tha Heua einen gesehen zu haben.
Damals wusste ich allerdings noch nicht, worum es
sich handelte. Ulkiges Vieh«, sinnierte Offizier Nummer
Eins.
»Stimmt«, sagte Dtui, »und hier oben gibt es sie in rauen
Mengen. Falls Ihnen einer begegnet, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie ihn fangen könnten. Ich würde meiner Mutter
gern ein Exemplar als Souvenir mitbringen.«
»Kein Problem«, meinte Offizier Nummer Vier. »So
schwierig kann das ja nicht sein.«
»Leider müssen wir morgen sehr früh raus«, sagte Offizier
Nummer Zwei, der wohl merkte, dass man ihm einen
kolossalen Bären aufzubinden versuchte. Er stand auf und
streckte seine schmerzenden Glieder, als habe er soeben
seinen ersten 1000-Meter-Lauf hinter sich gebracht. Auch
die anderen erhoben sich. »Wir sind schon um sechs Uhr
zur Feldarbeit eingeteilt.«
Siri trat wieder zu ihnen. »Passen Sie auf, wo Sie graben.
Diese Gegend ist mit Blindgängern förmlich gespickt.«
Der Offizier kicherte. »Mit Verlaub, aber ich bezweifle,
dass man uns wissentlich in ein Minenfeld schicken würde.«
»Trotzdem. Seien Sie vorsichtig. Ich habe keine Lust,
den morgigen Tag damit zu verbringen, allzu leichtsinnigen
Polizisten die Beine wieder anzunähen.« Siri verstummte.
Dabei konnte er sich kaum eine effektivere Minenräummethode
vorstellen als einen Trupp korrupter royalistischer
Gendarmen, die wie mit Schaufeln bewaffnete Revuegirls
im Stechschritt über ein Feld marschierten.
»Wünsche eine geruhsame Nacht, ihr beiden Turteltäubchen
«, sagte Offizier Nummer Eins mit einem vieldeutigen
Augenzwinkern. Die anderen machten sich lachend in ihren
Schlafsaal auf und ließen Siri und Dtui allein auf der
Veranda zurück. Kaum waren sie verschwunden, streckte
Dtui ihnen die Zunge heraus.
»Widerliche Kerle«, sagte sie.
»Opfer ihrer Geldgier, weiter nichts«, meinte Siri. »Aber
sie werden sich ändern. Nimmt man einem Menschen
seine komfortable Existenz, so ist er buchstäblich auf sich
selbst und sein bloßes, nacktes Ich zurückgeworfen. Von
einem Augenblick zum anderen mit leeren Händen dazustehen
eröffnet zuweilen neue Horizonte. Sollten diese
Männer die Kälte, den Hunger und die Krankheiten hier
oben halbwegs lebendig überstehen, wird sie das zu besseren,
demütigeren Menschen machen.«
»Sie finden aber auch wirklich im letzten Misthaufen
noch eine Perle, Dr. Siri.Trotzdem, Sie irren sich. Die ändern
sich nicht mehr.«
»Warum so pessimistisch, Dtui?«
»Schwein bleibt Schwein.«
Siri zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Und
Schwund bleibt Schwund.«
Als ihr Gelächter verklungen war, blickten sie schweigend
zu den schroffen Felsspitzen empor, die mit dem
Nachthimmel verschmolzen.
»Meinen Sie, wir können uns wenigstens ein paar Sehenswürdigkeiten
anschauen?«, fragte Dtui schließlich.
»Wer weiß? Wir wissen ja noch nicht einmal, was wir
hier sollen. Womöglich schickt man uns kreuz und quer
durch den Nordosten. Warum, was möchten Sie sich denn
ansehen?«
»Meine Mutter hat mir von einem Tempel bei Xieng
Keuang erzählt, in dem man eine Buddha-Reliquie besichtigen
kann.« Siri verzog den Mund zu einem schiefen
Lächeln. »Was ist?«
»Was für eine Reliquie ist es denn diesmal, Schwester
Dtui? Ein Zahn? Ein abgetrennter Zeh? Ein Augapfel?«
»Sie sind ein unverbesserlicher Zyniker«, ereiferte sie
sich. »Das verrate ich Ihnen nicht.«
»Mit Zynismus hat das nichts zu tun, meine Teure. Wohl
aber mit Mathematik und Physiologie. Zählen Sie doch
nur einmal die Tempel in Asien, die angeblich mit einem
Körperteil oder doch wenigstens einem Fußabdruck Buddhas
aufwarten können. Würde auch nur die Hälfte dieser
Behauptungen stimmen, dürfte Seine Heiligkeit in der
Tat einen bemerkenswerten Anblick geboten haben. Wie
es scheint, tapste er auf Füßen groß wie Zisternendeckel
durch die Lande, im Mund nicht nur dreiunddreißig, sondern
mehrere tausend Zähne, während ihm Fuß- und Fingernägel
ausgingen wie einem tollwütigen Hund das Fell.
Nicht auszudenken! Kein Wunder, dass ihm die Leute in
Scharen hinterherliefen.«
Dtui rückte ans andere Ende des Tisches. »Wo wollen
Sie denn hin?«, fragte er.
»Nirgends. Ich möchte nur nicht neben Ihnen sitzen,
wenn Sie der Blitzstrahl trifft.«
Siri lachte. »Sie haben bei Ihren politischen Schulungen
offenbar tief und fest geschlafen, Genossin.Vom Politbüro
abgesehen gibt es keine Götter. Und selbst wenn es einem
veritablen Gott gelänge, den Stacheldrahtzaun der Partei
zu überwinden, würde er unverzüglich unter Hausarrest
gestellt. Hölle und Verdammnis sind ein für alle Mal vom
Tisch.«
»Kein Gott? Dann hat diese grandiose Landschaft wohl
der alte Marx erschaffen?«
»Sie sind ja eine richtige kleine Dissidentin.«
»Trotzdem. Es ist wunderschön hier oben, Doc.«
»Wohl wahr, wenn man die Zeit hat, die herrliche Natur
zu genießen.«
»Sie meinen, wenn man nicht gerade damit beschäftigt
ist, dem nächsten Bombenhagel zu entgehen?«
»Zehn lange Jahre habe ich wenig anderes getan als das.
Und die armen Schweine zusammengeflickt, die nicht so
viel Glück hatten wie ich.«
»Wann wir wohl erfahren werden, warum wir eigentlich
hier sind?«
Sie waren kurzfristig samt ihrer Ausrüstung zum Flughafen
Wattay beordert worden. Richter Haeng hatte sie
über Sinn und Zweck ihrer Mission im Unklaren gelassen
und ihnen lediglich den Namen ihres Kontaktmannes genannt.
»Genosse Lit müsste morgen früh um neun Uhr hier
sein.«
»Wer war das gleich noch mal?«
»Bezirkskommandeur, Staatssicherheit.«
»Ah ja. Kennen Sie ihn noch von früher?«
»Der Name sagt mir nichts. Aber als Partei- und Armeeführung
nach Vientiane umzogen, wurden hier oben
zahllose Grünschnäbel in Windeseile auf wichtige Posten
gehievt. Manche Jungkader machten derart rasant Karriere,
dass der hiesige Quartiermeister dem Vernehmen
nach noch in den Windeln lag, als er in Amt und Würden
gelangte. Man musste erst einmal seine Rassel konfiszieren,
um ihn zur Arbeit zu bewegen.« Dtui kicherte. »Ich
weiß nicht. Gut möglich, dass mir dieser Lit schon einmal
über den Weg gelaufen ist«, fuhr Siri fort.
»Ob er weiß, dass Sie Ihre knuddelige, bildschöne Assistentin
mitgebracht haben?«
»Er wird zweifellos entzückt sein.«
Wieder verführte die Ruhe ringsum die beiden zu
friedvollem Schweigen. Ein Hobbyfischer warf in dem
tintenschwarzen Tümpel seine Netze aus. Die Eichhörnchen
zwitscherten wie heisere Spatzen. Dtui blickte zu der
Treppe hinter Siri.
»Doc.«
»Ja?«
»Da oben an der Treppe ...«
»Keine Ahnung.«
»Woher wissen Sie, was ich fragen wollte?«
»Sie wollten fragen, warum vor der Sperrholzwand dort
oben ein bewaffneter Wachposten sitzt.«
»Hmmm. Nicht übel. Haben Ihre Geister Ihnen eingeflüstert,
was ich denke?«
»Nicht nötig. Es war nicht allzu schwer, Ihre Gedanken
zu erraten. Erstens ist Ihre Neugier nachgerade unersättlich,
darum war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich da
nach erkundigen würden. Und zweitens ist mir keineswegs
entgangen, dass Sie mit dem Wachposten geflirtet haben.«
»Er war nicht sonderlich gesprächig.«
»Sie meinen, er wollte Ihnen nicht verraten, was sich
hinter der Wand verbirgt?«
»Mit keiner Silbe. Geheimnisse kann ich auf den Tod
nicht ausstehen.«
»Wir werden vor unserer Abreise schon noch dahinterkommen.«
Doch als er jetzt dösend auf seiner klumpigen Kapokmatratze
lag und den Mücken dabei zusah, wie sie die nackte
Glühbirne umschwirrten, sann auch er über das Geheimnis
hinter der Sperrholzwand nach. Sie blockierte den Zugang
zu einem Teil des ersten Stockwerks. Dem Grundriss
des Erdgeschosses nach zu urteilen, musste es dort
oben vier oder fünf Zimmer geben. Er überlegte, was an
ihnen so besonders war. Seufzend fuhr er sich mit den Fingern
durch das dichte weiße Haar. Es war schon nach elf,
und er hatte das ungute Gefühl, dass er die ganze Nacht
kein Auge würde zutun können. Dafür ging ihm zu viel
durch den Kopf. Und wenn es nicht gerade seine Gedanken
waren, die ihm den wohlverdienten Schlaf raubten,
gönnten sie ihm keine Ruhe. Er tastete nach dem antiken
weißen Amulett, das an einem fest geflochtenen weißen
Zopf aus Frauenhaar um seinen Hals hing. Als seine Finger
es berührten, durchzuckte ein Stromstoß jede Faser
seines Körpers. Plötzlich hörte er sie noch deutlicher, ihr
unentwegtes Schwatzen und Schnattern in der Ferne. Die
Geister, die ihm früher nur im Traum begegnet waren,
wurden allmählich dreister. Bisweilen erschienen sie sogar
am helllichten Tag, oft im unpassendsten Moment. Noch
bevor der klapprige russische Mi-14-Hubschrauber am
Nachmittag gelandet war, hatte er sie gespürt, die Seelen
der vielen tausend Menschen, die im Krieg ums Leben
gekommen waren. Sie nahmen ihn gründlich in Augenschein,
erkundeten ihn wie Touristen einen historischen
Palast, um herauszufinden, ob er ein Schamane war, der
ihr Vertrauen verdiente.
Ihre Stimmen waren rings um das Gästehaus zu hören:
Mütter, die ihre Kinder von den offenen Feldern heim-
riefen, alte Frauen, die um die alten Männer weinten, die
sie zurückgelassen hatten, gickelnde Babys - die in ihrer
Unschuld noch nicht ahnen konnten, dass sie seit vielen
Jahren tot waren. Wie sollte Siri dabei schlafen? Und zu
allem Übel dröhnte Punkt zwölf auch noch diese grässliche
Discomusik los und machte jede Hoffnung auf eine
gesegnete Nachtruhe zunichte. Er fragte sich, wem um
diese Uhrzeit noch nach Tanzen zumute war und wie man
diesen widerlichen Westlärm ernstlich goutieren konnte.
Aber vielleicht handelte es sich ja auch um eine besonders
perfide Foltertechnik, mit der die Partei die Funktionäre
aus Vientiane peinigen wollte. Etwas Grausameres konnte
er sich schwerlich vorstellen.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2010
Copyright © der Originalausgabe
2006 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Published in agreement with the author,
c/o Baror International Inc.,Armonk, New York, U.S.A.
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: Friedrich Pustet KG, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-54665-7
www.manhattan-verlag.de
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Autoren-Porträt von Colin Cotterill
Colin Cotterill wurde 1952 in London geboren. Nach einer Ausbildung zum Englischlehrer begab er sich auf eine Weltreise, die viele Jahre andauerte. Er lebte lange in Australien, Japan, Thailand und Laos, wo er Englischkurse an verschiedenen Universitäten gab und sich als Sozialarbeiter engagierte. Colin Cotterill ist heute hauptberuflich Schriftsteller und lebt in Chumphon, Thailand.
Bibliographische Angaben
- Autor: Colin Cotterill
- 2010, 1, 320 Seiten, Maße: 13,4 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Thomas Mohr
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442546656
- ISBN-13: 9783442546657
- Erscheinungsdatum: 19.05.2010
Rezension zu „Totentanz für Dr. Siri “
"so exotisch wie hochspannend"
Kommentar zu "Totentanz für Dr. Siri"
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