Träumst du noch, oder küsst du schon?
Lucy dachte einmal, dass Nate ihr Traummann ist. Doch das ist zehn Jahre her und sieht jetzt ganz anders aus. Nachdem sie sich aus den Augen verloren haben, scheint das Schicksal die beiden jetzt unbedingt zusammenführen zu wollen. Doch Lucy hat andere Pläne.
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Produktinformationen zu „Träumst du noch, oder küsst du schon? “
Lucy dachte einmal, dass Nate ihr Traummann ist. Doch das ist zehn Jahre her und sieht jetzt ganz anders aus. Nachdem sie sich aus den Augen verloren haben, scheint das Schicksal die beiden jetzt unbedingt zusammenführen zu wollen. Doch Lucy hat andere Pläne.
Klappentext zu „Träumst du noch, oder küsst du schon? “
Alle suchen die wahre Liebe. Doch wie wird man sie wieder los?Wie werde ich meinen Traummann nur wieder los? Genau das fragt sich Lucy, obwohl sie einmal dachte, dass Nate ihr Mr. Right sei. Unter der Seufzerbrücke in Venedig küssten sie sich, um ihre Liebe für immer zu besiegeln. Trotzdem verloren sie sich aus den Augen. Doch jetzt, zehn Jahre später, ist Nate zum gesundheitsfanatischen Schnösel mutiert, der ihr nicht einmal den Kaffee am Morgen gönnt. Nur das Schicksal scheint das nicht einzusehen. Immer wieder führt es die beiden zusammen. Schlussmachen ist da gar nicht so einfach...
Lese-Probe zu „Träumst du noch, oder küsst du schon? “
Träumst du noch, oder küsst du schon? von Alexandra PotterProlog
Venedig, Italien, 1999
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Die Sommerhitze legt ein flimmerndes Flirren über die Stadt, durch das Venedig aussieht wie ein zum Leben erwecktes Canaletto-Gemälde. Majestätisch erheben sich die Kuppeln des Markusdoms über die pastellfarbenen Gebäude ringsum mit ihrem abblätternden Anstrich und der maroden Eleganz. Vaporetti brummen. Touristen drängeln. Inmitten der Menschenmenge Kinder, die über den Platz laufen und Tauben aufscheuchen; rauchende Männer in schicken Anzügen und mit Designersonnenbrillen; ein Fremdenführer mit Regenschirm in der Hand erzählt einer Gruppe deutscher Touristen etwas über die Geschichte der Stadt.
Und mittendrin zwei junge Studenten. Die ganz ohne Eile gemächlich über das Kopfsteinpflaster schlendern. Sie hat den Arm um seine Hüften geschlungen, sein Arm liegt lässig auf ihren bloßen, sommersprossigen Schultern. Sie isst gerade ein Eis und lacht über einen Witz, den er erzählt, während er an seiner Zigarette pafft, mit der freien Hand herumgestikuliert und komische Grimassen schneidet.
Das sind Nathaniel und ich. Wir sind gerade vor einer Stunde aus dem Bett gefallen und verbringen diesen Sonntag in Venedig, wie wir jeden Sonntag in Venedig verbringen: Wir trinken Espresso, essen Eiscreme und verlieren uns in dem Fadenspiel kleiner Gassen, die das Labyrinth aus Kanälen kreuz und quer durchziehen. Den ganzen Sommer bin ich schon hier, und ich verlaufe mich immer noch. Wir verlassen den Markusplatz, biegen in eine Gasse ein, laufen um eine Ecke, dann noch eine und noch eine, bis wir unversehens auf einem Marktplatz landen, auf dem buntes Muranoglas und venezianische Masken zum Kauf angeboten werden.
»Hey, wie wär's mit der hier?«
Ich drehe mich um und sehe, wie Nathaniel sich eine Maske vors Gesicht hält. Sie ist mit langen, rosaroten Federn verziert und über und über mit goldenen Pailletten besetzt. Er verbeugt sich mit übertriebener Geste.
»Steht dir hervorragend«, kichere ich.
»Machst du dich über mich lustig?« Er nimmt die Maske vom Gesicht und runzelt die Stirn.
»Ich? Niemals!« Lachend heuchele ich Empörung, während er mich mit einer Feder an der Nase kitzelt.
»Ich dachte, die könnte ich für meine Mom mitnehmen.« Er legt die Maske weg und nimmt eine andere. Diese hat eine grotesk lange, gebogene Hakennase und kleine Knopfaugen. »Und wie wäre es mit der hier?«
»Nein, lieber die erste. Keine Frage.« Ich schüttele mich angewidert.
»Sicher?«
»Aber klaro.« Ich versuche, einen breiten amerikanischen Akzent zu imitieren, doch dank meines unverkennbaren Manchester-Einschlags mit dem rollenden R wirkt das einfach bloß zum Schießen komisch, und er muss über meine stümperhaften Bemühungen laut lachen.
»Was würde ich nur ohne dich machen?« Er grinst mich an. »Obwohl ich finde, wir müssen dringend an deinem amerikanischen Akzent arbeiten.«
»Immer noch besser als dein englischer!«, protestiere ich empört.
»Na, mein Täubchen, dann bring uns doch mal 'ne Schlachtplatte und 'n Ale«, entgegnet er in einer wüsten Mischung aus Cockney und Lancashire-Dialekt, und ich pruste los, worauf er mich fest in den Arm nimmt und mit einem Kuss zum Schweigen bringt. »So schlimm?« Er tut tief verletzt.
»Schrecklich«, erkläre ich mit gespieltem Ernst, worauf er sich umdreht und die Maske bezahlt.
Ich stehe allein in einem kleinen Flecken Sonnenlicht und lächele stillvergnügt vor mich hin. Ich sehe kurz zu, wie er an seiner Zigarette zieht und versucht, mit dem Inhaber des Marktstands zu feilschen. Dann schweift mein Blick ab und wandert ziellos über den Markt. Ich will eigentlich gar nichts kaufen - ich habe schon sämtliche Andenken und Mitbringsel zusammen -, aber Gucken kostet ja nichts ...
Meine Augen bleiben an einem Stand hängen. Versteckt steht er in einer dunklen Ecke. Es ist eigentlich gar kein richtiger Stand, mehr ein Klapptisch, doch der alte Mann, der dahintersitzt, hat mein Interesse geweckt. Er trägt einen alten, abgewetzten Fedora und eine dicke Brille mit schwarzem Rahmen, die ganz vorne auf seiner Nase balanciert, während er angestrengt etwas unter einem kleinen Punktstrahler begutachtet. Neugierig schlendere ich rüber zu ihm, weil ich wissen will, was er da macht.
»Buon pomeriggio bello come sei oggi. « Er schaut auf und sieht mich an.
Ich lächele schüchtern. Was Sprachen angeht, bin ich eine totale Niete. Nach beinahe drei Monaten in Venedig, in denen ich mich intensiv mit der Renaissancemalerei befasst habe, erschöpfen sich meine Italienischkenntnisse immer noch in »bitte«, »danke« und »Leonardo da Vinci«.
»Inglese?«
»Ja.« Nickend erwidere ich seinen Blick.
Seine Augen funkeln spitzbübisch. »Was macht denn ein hübsches Mädchen wie Sie hier ganz allein?« Er lächelt und entblößt dabei von langjährigem Zigarrerauchen vergilbte Schneidezähne. Er greift nach seiner Zigarre, die neben ihm in einem Aschenbecher liegt, und zieht genüsslich daran.
»Oh, ich bin gar nicht allein hier.« Mit einem Kopfschütteln weise ich auf Nate, der sich gerade die Maske einpacken lässt. Die klemmt er sich dann unter den Arm, kommt zu uns herüberspaziert und legt mir ganz nonchalant den Arm um die Schultern.
»Ach, noch mal jung zu sein und so verliebt.« Der alte Mann nickt zustimmend, und Nate und ich schauen uns an und grinsen verlegen. »Ich habe genau das Richtige für euch beide.«
Als wir uns wieder zu ihm umdrehen, sehen wir, dass er uns etwas hinhält, das aussieht wie eine alte Münze.
Leicht verwirrt schaue ich ihn an. »Ähm ... danke«, murmele ich lächelnd und frage mich noch, was er sich dabei wohl gedacht hat, als mir plötzlich ein Licht aufgeht. Ach du lieber Himmel, er will uns Geld geben. Sehen wir so abgerissen aus? Gut, wir sind beide Studenten, und Nate sieht ein bisschen gammelig aus in seiner abgewetzten, löchrigen Jeans, und mein Kleid hat auch schon bessere Tage gesehen, aber trotzdem. »Danke, das ist nicht nötig«, will ich schon hastig erklären und Nate schnell am Arm wegziehen, als der alte Mann die Münze in eine kleine Maschine einspannt und sie entzweibricht.
Wir schauen zu, wie er anschließend in jede der beiden Hälften ein Loch stanzt, durch das er dann eine Lederkordel fädelt. Siegesgewiss hält er sie schließlich hoch und lässt die beiden Münzhälften baumeln wie zwei Anhänger. »Für euch.« Er lächelt. »Weil ihr wie die Münze seid«, erklärt er. »Zwei Hälften eines Ganzen.«
Fasziniert betrachte ich die gezackten Kanten der beiden halben Münzen, die aussehen wie zwei Puzzleteile. Für sich gesehen ist jede bloß eine halbe zerbrochene Münze, aber zusammen ergeben sie ein nahtloses Ganzes. »Wow, wie romantisch«, murmele ich an Nathaniel gewandt, der mich beobachtet hat und mich nun belustigt angrinst. »Was? Findest du nicht?«, kreische ich empört und stupse ihn mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Klar ist es romantisch«, meint er lachend. »Ich nenne dich doch sowieso immer ›meine bessere Hälfte‹, oder etwa nicht?« »Nur dreitausend Lire«, sagt der alte Mann.
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er erwartungsvoll die Hand ausstreckt.
»Auch Romantik hat ihren Preis«, spöttelt Nathaniel spitz und kramt sein Portemonnaie heraus.
Und da habe ich Dummchen den alten Mann die ganze Zeit für einen verkappten Romantiker gehalten, dabei wollte er uns bloß was aufschwatzen, wie ich nun einsehen muss. Ich komme mir ziemlich blöd vor. Ehrlich, ich falle aber auch auf jeden sentimentalen Quatsch rein. Doch noch ehe ich etwas einwenden kann, hat Nathaniel ihm auch schon einen Geldschein in die Hand gedrückt und streift sich einen der beiden Anhänger über den Kopf.
»Siehst du, jetzt kann uns nichts mehr trennen«, witzelt er und legt mir die andere Münzhälfte um den Hals. »Wo du auch hingehst, ich folge dir.«
Trotz seiner humoristischen Einlage verfinstert sich meine Laune schlagartig. In ein paar Wochen müssen wir Italien schon wieder verlassen und beide an unsere Colleges zurückkehren, ich nach England, er in die USA, und davor graut es mir schon jetzt. Seit wir uns kennengelernt haben, schwebt diese bevorstehende Trennung über mir wie ein Damoklesschwert, und ich zähle bereits die Tage, die uns noch bleiben, ehe jeder wieder seiner eigenen Wege geht.
»Hey!« Als er mein langes Gesicht sieht, nimmt Nate mich fest in den Arm. »Wir kriegen das schon hin, was sind denn schon ein paar tausend Kilometer«, tröstet er mich, weil er gleich erraten hat, was mich bedrückt. »Wir können uns schreiben. Ich rufe dich an ...«
Ich muss an meine Studentenbude in Manchester denken. Da habe ich nicht mal einen Festnetzanschluss, geschweige denn ein Handy, und Briefeschreiben mag zwar in alten Büchern sehr romantisch klingen, aber im wahren Leben sind sie kein Ersatz dafür, das Gesicht an seinen Hals zu schmiegen, sich am Sonntagnachmittag eine Riesenportion Pistazien-Gelato mit ihm zu teilen oder über seinen erbärmlich schlechten englischen Akzent zu lachen.
»Wenn du meinst.« Nickend bemühe ich mich, ein tapferes Gesicht aufzusetzen. Ich will schließlich nicht sein romantisches Geschenk versauen mit meinen düsteren Zukunftsvisionen, aber meine Befürchtungen hängen wie eine dicke, dunkle Wolke über mir und warten nur darauf, endlich mit Donner, Blitz und Hagelschlag niederzugehen.
»Wenn ihr zusammenbleiben wollt, könnt ihr für immer zusammenbleiben.«
Ich drehe mich zu dem alten Italiener um, der uns nachdenklich anschaut.
»Das ist leider nicht so einfach ...«, setze ich an zu erklären, doch er unterbricht mich.
»Nein, es ist ganz einfach«, erklärt er entschieden. »Ihr wollt wirklich zusammenbleiben?«
Nathaniel legt den Kopf zur Seite, als denke er darüber nach. »Ähm ... was meinst du?«, fragt er mich mit einem schelmischen Grinsen, und ich boxe ihn spielerisch in die Seite. »Mhm, ich glaube, das war ein Ja. Wollen wir.« Grinsend wendet er sich wieder an den Markthändler.
»Nun, dann ...« Der alte Mann zuckt mit den Schultern und pafft an seiner Zigarre.
»Wir müssen wieder nach Hause«, erkläre ich.
»Und wo ist das?«
Nathaniel zieht mich fester an sich. »Lucy wohnt in England ...«
»Und Nate kommt aus Amerika«, vollende ich den Satz.
»Aber nun seid ihr beide in Venezia«, entgegnet er anscheinend völlig unbeeindruckt. »Ihr müsst euch nicht trennen, wenn ihr von hier weggeht. Ihr könnt für immer zusammenbleiben.«
Doch ein liebenswerter alter Mann, überlege ich. Und ein ziemlich altmodischer Romantiker.
»Ich wünschte, es wäre so.« Ich zwinge mich zu einem Lachen und drücke Nates Hand. »Aber das geht leider nicht.«
Unvermittelt lacht der Italiener laut auf. »Nein! Nein! Natürlich ist das möglich«, ruft er und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Kennt ihr denn nicht die Legende von der Seufzerbrücke?«
Nathaniel runzelt die Stirn. »Sie meinen die Brücke hier in Venedig?«
»Ja. Genau die! Die meine ich!«, tönt er ganz aufgeregt. »Warum, was besagt denn die Legende?«, frage ich mit plötzlich erwachendem Interesse.
Wie ein Zauberer, der auf den Trommelwirbel wartet, ehe er das Kaninchen aus dem Hut zieht, legt der alte Mann eine kleine Kunstpause ein. Erst als wir beide still sind, macht er wieder den Mund auf. »Die Geschichte kennt hier jedes Kind«, erklärt er ernst. Er redet mit gedämpfter, ehrfürchtig flüsternder Stimme, wie man sonst nur in Kirchen und Museen redet, und ich muss mir ein Kichern verkneifen. »Es heißt, wenn man sich bei Sonnenuntergang in einer Gondel unter der Brücke küsst, während die Kirchenglocken läuten ...«
»Wow, die hängen die Latte aber ganz schön hoch«, wispert Nathaniel mir witzelnd ins Ohr, aber ich wedele ihn fort wie eine lästige Fliege.
»Ja?«, fordere ich den alten Mann auf fortzufahren. »Was ist dann?«
Er zieht an seiner Zigarre und pustet eine dicke Rauchwolke aus. Sie wabert über sein Gesicht wie eine Nebelwand. Als sie sich wieder verflüchtigt hat, schaut er mich mit seinen dunklen Augen durchdringend an, und trotz der drückenden Hitze läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, und ich bekomme eine Gänsehaut. Er beugt sich noch weiter vor, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Man ist in ewiger, immerwährender Liebe miteinander verbunden. Man bleibt für alle Zeiten zusammen, und nichts« - sein Blick zuckt kurz rüber zu Nathaniel, dann kehrt er wieder zu mir zurück - »nichts kann die Liebenden je wieder trennen.«
»Nichts?«, wiederhole ich mit kaum hörbarer Stimme.
»Niente. « Er nickt, augenscheinlich felsenfest von seiner eigenen Geschichte überzeugt. »Man ist für immer miteinander verbunden, in alle Ewigkeit.«
Nervös lache ich auf und drücke die Münze an meine erhitzte Brust.
»Also, es gefällt Ihnen, ja?« Er weist auf die Halskette.
»Oh ... ähm ... ja.« Nickend kehre ich wieder in die Realität zurück.
Er lächelt und hält uns das Wechselgeld hin, und als ich es annehme, streifen seine schleifpapierrauen Hände meine Finger.
»Grazie«, flüstere ich und bedanke mich mit einem der wenigen italienischen Wörter, die ich bisher gelernt habe.
»Prego. « Mit einem herzlichen Lächeln fasst er sich an den Hut.
Dann legt Nathaniel mir den Arm um die Schultern, und wir drehen uns um und schlendern durch das Gewirr der Marktbuden davon, als wir den alten Italiener hinter uns herrufen hören: »Denkt daran, niente«, und ich schaue mich noch einmal um. Aber das Komische ist, er ist nicht mehr da. Er ist verschwunden, verschluckt von der Menge. Fast, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.
Erstes Kapitel
Sind wir nicht alle auf der Suche nach dem Traumpartner?
Machen Sie unseren großen Liebestest,
und finden Sie heraus, ob er der Traummann für Sie ist!
Himmel, diese blöden Dinger sind so doof.
Schnell überfliege ich den Fragebogen in der Zeitschrift. Ganz oben ist ein Foto von einem glücklichen Pärchen, das ein ander tief in die Augen schaut wie zwei verliebte Turteltäubchen, und es wimmelt nur so von kleinen gemalten Amorfigürchen und rosaroten Herzchen. Ich meine, was soll der Quatsch? Als könne man herausfinden, ob er »der Traummann« ist, indem man so einen albernen Multiple-Choice-Fragebogen ausfüllt.
Wie beispielsweise:
Mein Herzblatt und ich gehören zusammen wie ...
a) Batman und Robin
b) Posh und Becks
c) Lindsay Lohan und Sonnenbankbräune
Also ehrlich, das ist doch lächerlich!
Ich werde von jemandem angerempelt, der sich in die winzige Lücke gleich neben mir zwängt. Erst als ich aufschaue, merke ich, dass wir an einer U-Bahn-Station angehalten haben. Ich gucke mich in dem überfüllten Wagen um. Es ist Freitagnachmittag, und ich sitze eingequetscht in der vollgestopften New Yorker Subway und blättere gelangweilt in einer Zeitschrift, die ich auf dem Sitz gefunden habe. Die Türen gehen zu, und der Zug fährt ruckelnd an, worauf ich mich wieder der Zeitschrift widme. Und diesem dämlichen Fragebogen.
Abfällig blättere ich eine Seite um. Ein Artikel über Cellulite erwartet mich. Angewidert verziehe ich das Gesicht.
Andererseits, vielleicht ist so ein dämlicher Fragebogen doch nicht so verkehrt. Auf jeden Fall bestimmt unterhaltsamer, als lesen zu müssen, wie man die Dellen an den Oberschenkeln wieder loswird, sinniere ich mit einem Blick auf den Abschnitt über Entschlackungskuren. Alle haben Orangenhaut. Selbst Supermodels!
Zumindest rede ich mir das gerne ein.
Kritisch beäuge ich die grobkörnige Paparazzi-Aufnahme von Kate Moss' Hinterteil im Bikini in etwa millionenfacher Vergrößerung. Ehrlich gesagt kann ich keine einzige Delle entdecken. Oder auch nur den Ansatz eines Hinterteils. Ja, wenn ich mir das Foto so anschaue, bin ich mir nicht mal sicher, ob Kate Moss überhaupt einen Hintern hat.
Und dann geht mir schlagartig auf, was ich hier eigentlich mache: Ich sitze. In aller Öffentlichkeit. In einer New Yorker U-Bahn. Und drücke mir die Nase platt am Foto einer linken Hinterbacke. Oder ist es die rechte? Ich reiße mich zusammen. Um Himmels willen, Lucy. Und du dachtest, dieser Fragebogen sei lächerlich?
Schnell blättere ich wieder zurück. Der Fragebogen ist noch nicht ausgefüllt. Ach, was soll's? Ich muss noch fünf Stationen fahren.
Ich krame in meiner Handtasche nach einem Kuli. Okay, los geht's ...
1. Haben Sie Schmetterlinge im Bauch, wenn Sie an ihn denken?
a) Immer
b) Manchmal
c) Nie
Na ja, ich würde es nicht unbedingt Schmetterlinge im Bauch nennen. Das Ganze ist schon so lange her, dass die Schmetterlinge sicher längst auf und davon geflogen sind. Nein, es ist mehr ein dumpfer Schmerz. Nicht wie die unerträglichen Zahnschmerzen, als ich mir damals im Kino an einer Knusper-Crunch-Toffee-Mischung eine Backenzahnfüllung rausgezogen habe ... Beim Gedanken daran wird mir ganz anders. Nein, es ist mehr so ein Ziehen. Ein gelegentlicher Stich.
Ich entscheide mich für b) Manchmal.
2. Wie lange lieben Sie ihn schon?
a) Noch keine sechs Monate
b) Ein Jahr
c) Über ein Jahr
Ich denke zurück. Wir haben uns im Sommer 1999 kennengelernt. Damals war ich neunzehn. Somit wären es jetzt genau ... Während ich noch im Kopf ausrechne, wie lange wir uns schon kennen, trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube.
Okay, dann ist es eben zehn Jahre her. Na und? Zehn Jahre sind gar nichts. Meine Mum kennt meinen Dad seit vierzig Jahren.
Ja, aber deine Mum ist ja auch mit deinem Dad verheiratet, meldet sich eine leise Stimme in meinem Kopf.
Die ignoriere ich und male schnell einen Kreis um Antwort c). Gut. Nächste Frage.
3. Können Sie sich vorstellen, ihn zu heiraten?
a) 100%
b) 50 %
c) Null
Tja, das ist einfach. Null.
Ja, ich würde sogar sagen, die Chancen, ihn zu heiraten, stehen noch schlechter als null. Aber das ist schon in Ordnung. Damit habe ich kein Problem. So ist es nun mal, und es ist vollkommen okay.
Also gut, gelegentlich habe ich vielleicht schon mal darüber nachgedacht. Und womöglich habe ich mir sogar vorgestellt, wie wir gemeinsam vor den Altar treten - ich in einem weißen Kleid (eigentlich mehr so ein Ecru, in antiker Spitze, mit langen Ärmeln und herzförmigem Ausschnitt) und er mit Zylinder und Cut zu den verstrubbelten blonden Haaren und den ausgelatschten ollen Converses, die unter der Hose hervorlugen. Wie wir den ersten Tanz zu »No Woman, No Cry« tanzen, unserem Lieblingssong von Bob Marley. Wie wir in seinem klapprigen alten VW-Bus in die Flitterwochen fahren ...
Langsam kehre ich ins Hier und Jetzt zurück und muss feststellen, dass ich völlig in Gedanken verloren angefangen habe, ein Herz mit Pfeil um a) 100 % zu malen. Mist. Was soll das denn? Verwirrt nehme ich den Kuli und krickele auf dem Herz herum, bis es nicht mehr zu erkennen ist. Wobei das sowieso nichts zu bedeuten hat. Und schon gar nicht heißen soll, dass mein Unterbewusstsein mir einen Streich spielt.
Bis ich plötzlich merke, dass ich so fest aufgedrückt habe, dass ich ein Loch in die Seite gebohrt habe.
4. Sind Ihre Freunde der Meinung, dass Sie diesen Mann nicht mehr aus dem Kopf bekommen?
Automatisch gehe ich in Abwehrhaltung und werde stocksteif.
Ich denke gelegentlich an ihn, aber ich würde nicht sagen, ich bekomme ihn nicht mehr aus dem Kopf. Überhaupt nicht. Ich meine, schließlich verfolge ich ihn nicht oder so. Oder google ihn ständig. Okay, ich gebe es zu. Ich habe ihn einmal gegoogelt. Zweimal vielleicht.
Ach, also gut, dann habe ich im Laufe der Jahre eben aufgehört mitzuzählen. Na und? Wer von uns ist nicht schon mal nach Hause gegangen und hat den Mann gegoogelt, den sie liebt?
Moment mal - habe ich gerade das L- Wort gesagt?
Aus heiterem Himmel schlägt mein Magen einen Salto wie ein Pfannkuchen in der Pfanne. Entschlossen drücke ich ihn wieder runter. Das habe ich doch gar nicht so gemeint! Das liegt nur an diesem albernen Fragebogen - der bringt mich bloß auf komische Gedanken.
Ich mache einen Kringel um b) Nein.
Während mich die Linie sechs in Richtung Uptown kutschiert, laviere ich mich weiter durch den Fragenkatalog. Der wird zunehmend grotesk, aber immerhin kann ich damit die Zeit totschlagen. Und jetzt komme ich auch schon zur letzten Frage ...
10. Welcher Film beschreibt Ihre Beziehung am besten?
a) Love Story
b) Begegnung - Brief Encounter
c) Nightmare on Elm Street
... als ich plötzlich merke, dass ich die Ansage überhört habe - »Forty-Second Street, Grand Central« - und mir aufgeht, dass ich hier rausmuss.
Hektisch stopfe ich die Zeitschrift in meine Handtasche und versuche, mir unter höflichem Entschuldigungsgemurmel den Weg durch das überfüllte Abteil zu bahnen. Wobei natürlich kein Mensch davon Notiz nimmt. Seit ich vor einigen Wochen von London nach New York gezogen bin, habe ich langsam einsehen müssen, dass mein ganzes »Oh, Entschuldigung« und »Verzeihung« und »Tut mir leid« hier auf völlig taube Ohren trifft.
Nicht, dass die New Yorker per se unhöflich wären. Ganz im Gegenteil, ich finde, es sind so ziemlich die freundlichsten, warmherzigsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Aber unsere nervige britische Angewohnheit, sich für alles und jeden zu entschuldigen, hat hier einfach null Wirkung. Die Leute wissen schlicht und ergreifend nicht, wofür ich mich eigentlich entschuldige. Und um ehrlich zu sein, weiß ich es ja oft selbst nicht. Ich mache es einfach. Aus Gewohnheit. Wie mich alle fünf Minuten bei Facebook einzuloggen.
Gestern zum Beispiel, als ich die Straße überquerte, ist ein Mann einfach ungebremst in mich reingerannt und hat mich von oben bis unten mit Kaffee bekleckert. Und wissen Sie was? Ich habe gesagt, dass es mir leidtut! Ja, ich! Ungefähr hunderttausend Mal! Obwohl es eindeutig seine Schuld war. Er hat nämlich in sein Handy gequatscht und überhaupt nicht darauf geachtet, wo er hinlief.
Entschuldigung, ich meine natürlich Mobiltelefon - na ja, schließlich bin ich ja jetzt in New York, und hier heißt das so.
Bei dem Gedanken läuft mir ein kleiner Schauer über den Rücken. Ich kann nichts dafür. Jedes Mal, wenn ich mich dabei ertappe, wie ich bewundernd zu den Wolkenkratzern hochschaue, die über mir in den Himmel ragen, oder den Broadway entlanglaufe oder eine dieser unverwechselbaren gelben Taxen anhalte (was ich bisher erst ein einziges Mal gemacht habe, weil ich chronisch pleite bin, aber was soll's), dann komme ich mir vor wie im Film. Seit sechs Wochen bin ich jetzt hier, und ich kann es immer noch nicht fassen. Fast rechne ich damit, dass Carrie, Miranda, Charlotte und Samantha mir jeden Moment Arm in Arm entgegenspaziert kommen.
Ich komme aus der U-Bahn-Station und bleibe am Fußgängerüberweg stehen, um meinen kleinen Faltplan von Manhattan zu konsultieren, den ich immer in der Handtasche habe. Manche Leute haben so ein eingebautes GPS, fast wie Katzen. Egal, wo man sie absetzt, sie finden immer wieder nach Hause zurück. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich gehe sogar im Supermarkt verloren. Einmal bin ich über eine halbe Stunde lang um die Salatbar geirrt und habe die Kasse gesucht. Ungelogen. Seitdem kann ich keinen Krautsalat mehr sehen.
Ich drehe die Karte um und stelle sie auf den Kopf, dann drehe ich sie wieder zurück. Ich stehe total auf dem Schlauch. Ich habe mich auf einen Feierabenddrink in einer Bar in der Nähe verabredet, aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo dieser Schuppen sein soll. Ratlos starre ich auf das Gitternetz der Straßen. Theoretisch mag das alles ja ganz einfach sein, aber in der Praxis verlaufe ich mich ständig. Und als sei das alles noch nicht kompliziert genug, gibt es in New York auch noch East Soundso Street und West Soundso Street. Was meiner Verwirrung die Krone aufsetzt. Ich meine, wie um alles auf der Welt soll man bitte wissen, welche Straße welche ist?
Frustriert spähe ich links und rechts die Straße entlang, und schließlich streiche ich die Segel und sage meinen kleinen Merksatz auf. Ständig bleibe ich wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen und sage diesen Spruch auf. Sie wissen schon: »Nie ohne Seife waschen.«
»Wie bitte?«
Ich drehe mich um und sehe einen Passanten neben mir stehen, der genau wie ich darauf wartet, die Straße zu überqueren. Fragend schaut er mich an, die Stirn unter der Baseballkappe in nachdenkliche Dackelfalten gelegt.
Ach du liebe Güte, habe ich das etwa gerade laut gesagt?
»Ähm ...« , stammele ich verlegen. »Nie ... ähm ... am Zebrastreifen«, platze ich heraus und weise auf die rote Ampel, »bei Rot die Straße überqueren. Immer brav warten, bis der kleine Mann sagt, dass man rübergehen darf.«
Verständnislos schaut er mich an. »Klar«, erwidert er skeptisch.
Er hat so einen Nuh Joahka-Akzent, der sich zieht wie Kaugummi und den man nur sehr selten hört, und mir fällt die große Videokamera auf und das Mikrofon mit dem flauschigen Überzieher, die er unter dem Arm hat. Mensch, was der wohl macht? Bestimmt dreht er einen Film oder so was richtig Cooles.
Ganz im Gegensatz zu mir, die alberne Merksätze aufsagt und daherredet wie ein Schülerlotse, wie mir siedend heiß einfällt, worauf ich knallrot anlaufe. Mich durch und durch uncool fühlend gucke ich schnell weg und bete, dass die Ampel endlich umspringen möge. »Oh, sehen Sie, jetzt können wir rübergehen«, rufe ich erleichtert, und mit einem linkischen Lächeln in seine Richtung marschiere ich entschlossen los.
Das ist typisch New York. Die Stadt strotzt nur so vor Energie und zieht Scharen hochinteressanter Menschen an. Man biegt um eine Straßenecke und stolpert über ein Filmset oder einen Straßenhändler, der irgendwelchen abgefahrenen Schmuck verkauft, oder eine Handvoll Straßenkünstler, die eine unglaubliche Hip-Hop-Show abziehen. Man weiß nie, was als Nächstes passiert.
Manchmal, spätabends, wenn ich das Empire State Building in all den verschiedenen Farben angestrahlt sehe, werde ich ganz kribbelig vor Aufregung. Vor freudiger Erwartung. Es ist wie Zauberei. Manchmal muss ich mich fast selbst zwicken. Für ein Mädel aus dem tiefsten Manchester ist das der Stoff, aus dem die Märchen sind.
Bloß dass in meinem Märchen die männliche Hauptrolle fehlt.
Ich laufe an einer ganzen Reihe von Restaurants vorbei und sehe aus den Augenwinkeln Pärchen eng nebeneinander bei romantischem Kerzenschein zu Abend essen. Es ist ein lauer Sommerabend, und die Restaurants haben Türen und Fenster weit aufgerissen, sodass Tische und Stühle sich förmlich bis auf den Gehweg ergießen. Der Anblick versetzt mir einen kleinen Stich.
Aber das wische ich rasch beiseite.
Es war einmal, vor langer Zeit, da gab es einen Prinzen, sozusagen, aber wir haben am Ende nicht geheiratet. Zwar sind wir nicht gestorben und leben noch heute, aber eben nicht zusammen. Es gab kein Happy End für uns. Aber wie schon gesagt, das habe ich locker weggesteckt. Das ist lange her. Mein Leben ist weitergegangen. Und ich habe seitdem jede Menge Männer kennengelernt.
Na ja, jede Menge ist vielleicht etwas übertrieben, aber es waren einige. Und ein paar davon waren sogar richtig nett. Wie zum Beispiel mein letzter Freund, Sean. Wir haben uns bei einer Party kennengelernt und waren ein paar Monate zusammen, aber so richtig ernst war es nie. Ich meine, wir hatten Spaß zusammen, und der Sex war auch nicht schlecht.
Es war bloß ...
Übersetzung: Stefanie Retterbush
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Sommerhitze legt ein flimmerndes Flirren über die Stadt, durch das Venedig aussieht wie ein zum Leben erwecktes Canaletto-Gemälde. Majestätisch erheben sich die Kuppeln des Markusdoms über die pastellfarbenen Gebäude ringsum mit ihrem abblätternden Anstrich und der maroden Eleganz. Vaporetti brummen. Touristen drängeln. Inmitten der Menschenmenge Kinder, die über den Platz laufen und Tauben aufscheuchen; rauchende Männer in schicken Anzügen und mit Designersonnenbrillen; ein Fremdenführer mit Regenschirm in der Hand erzählt einer Gruppe deutscher Touristen etwas über die Geschichte der Stadt.
Und mittendrin zwei junge Studenten. Die ganz ohne Eile gemächlich über das Kopfsteinpflaster schlendern. Sie hat den Arm um seine Hüften geschlungen, sein Arm liegt lässig auf ihren bloßen, sommersprossigen Schultern. Sie isst gerade ein Eis und lacht über einen Witz, den er erzählt, während er an seiner Zigarette pafft, mit der freien Hand herumgestikuliert und komische Grimassen schneidet.
Das sind Nathaniel und ich. Wir sind gerade vor einer Stunde aus dem Bett gefallen und verbringen diesen Sonntag in Venedig, wie wir jeden Sonntag in Venedig verbringen: Wir trinken Espresso, essen Eiscreme und verlieren uns in dem Fadenspiel kleiner Gassen, die das Labyrinth aus Kanälen kreuz und quer durchziehen. Den ganzen Sommer bin ich schon hier, und ich verlaufe mich immer noch. Wir verlassen den Markusplatz, biegen in eine Gasse ein, laufen um eine Ecke, dann noch eine und noch eine, bis wir unversehens auf einem Marktplatz landen, auf dem buntes Muranoglas und venezianische Masken zum Kauf angeboten werden.
»Hey, wie wär's mit der hier?«
Ich drehe mich um und sehe, wie Nathaniel sich eine Maske vors Gesicht hält. Sie ist mit langen, rosaroten Federn verziert und über und über mit goldenen Pailletten besetzt. Er verbeugt sich mit übertriebener Geste.
»Steht dir hervorragend«, kichere ich.
»Machst du dich über mich lustig?« Er nimmt die Maske vom Gesicht und runzelt die Stirn.
»Ich? Niemals!« Lachend heuchele ich Empörung, während er mich mit einer Feder an der Nase kitzelt.
»Ich dachte, die könnte ich für meine Mom mitnehmen.« Er legt die Maske weg und nimmt eine andere. Diese hat eine grotesk lange, gebogene Hakennase und kleine Knopfaugen. »Und wie wäre es mit der hier?«
»Nein, lieber die erste. Keine Frage.« Ich schüttele mich angewidert.
»Sicher?«
»Aber klaro.« Ich versuche, einen breiten amerikanischen Akzent zu imitieren, doch dank meines unverkennbaren Manchester-Einschlags mit dem rollenden R wirkt das einfach bloß zum Schießen komisch, und er muss über meine stümperhaften Bemühungen laut lachen.
»Was würde ich nur ohne dich machen?« Er grinst mich an. »Obwohl ich finde, wir müssen dringend an deinem amerikanischen Akzent arbeiten.«
»Immer noch besser als dein englischer!«, protestiere ich empört.
»Na, mein Täubchen, dann bring uns doch mal 'ne Schlachtplatte und 'n Ale«, entgegnet er in einer wüsten Mischung aus Cockney und Lancashire-Dialekt, und ich pruste los, worauf er mich fest in den Arm nimmt und mit einem Kuss zum Schweigen bringt. »So schlimm?« Er tut tief verletzt.
»Schrecklich«, erkläre ich mit gespieltem Ernst, worauf er sich umdreht und die Maske bezahlt.
Ich stehe allein in einem kleinen Flecken Sonnenlicht und lächele stillvergnügt vor mich hin. Ich sehe kurz zu, wie er an seiner Zigarette zieht und versucht, mit dem Inhaber des Marktstands zu feilschen. Dann schweift mein Blick ab und wandert ziellos über den Markt. Ich will eigentlich gar nichts kaufen - ich habe schon sämtliche Andenken und Mitbringsel zusammen -, aber Gucken kostet ja nichts ...
Meine Augen bleiben an einem Stand hängen. Versteckt steht er in einer dunklen Ecke. Es ist eigentlich gar kein richtiger Stand, mehr ein Klapptisch, doch der alte Mann, der dahintersitzt, hat mein Interesse geweckt. Er trägt einen alten, abgewetzten Fedora und eine dicke Brille mit schwarzem Rahmen, die ganz vorne auf seiner Nase balanciert, während er angestrengt etwas unter einem kleinen Punktstrahler begutachtet. Neugierig schlendere ich rüber zu ihm, weil ich wissen will, was er da macht.
»Buon pomeriggio bello come sei oggi. « Er schaut auf und sieht mich an.
Ich lächele schüchtern. Was Sprachen angeht, bin ich eine totale Niete. Nach beinahe drei Monaten in Venedig, in denen ich mich intensiv mit der Renaissancemalerei befasst habe, erschöpfen sich meine Italienischkenntnisse immer noch in »bitte«, »danke« und »Leonardo da Vinci«.
»Inglese?«
»Ja.« Nickend erwidere ich seinen Blick.
Seine Augen funkeln spitzbübisch. »Was macht denn ein hübsches Mädchen wie Sie hier ganz allein?« Er lächelt und entblößt dabei von langjährigem Zigarrerauchen vergilbte Schneidezähne. Er greift nach seiner Zigarre, die neben ihm in einem Aschenbecher liegt, und zieht genüsslich daran.
»Oh, ich bin gar nicht allein hier.« Mit einem Kopfschütteln weise ich auf Nate, der sich gerade die Maske einpacken lässt. Die klemmt er sich dann unter den Arm, kommt zu uns herüberspaziert und legt mir ganz nonchalant den Arm um die Schultern.
»Ach, noch mal jung zu sein und so verliebt.« Der alte Mann nickt zustimmend, und Nate und ich schauen uns an und grinsen verlegen. »Ich habe genau das Richtige für euch beide.«
Als wir uns wieder zu ihm umdrehen, sehen wir, dass er uns etwas hinhält, das aussieht wie eine alte Münze.
Leicht verwirrt schaue ich ihn an. »Ähm ... danke«, murmele ich lächelnd und frage mich noch, was er sich dabei wohl gedacht hat, als mir plötzlich ein Licht aufgeht. Ach du lieber Himmel, er will uns Geld geben. Sehen wir so abgerissen aus? Gut, wir sind beide Studenten, und Nate sieht ein bisschen gammelig aus in seiner abgewetzten, löchrigen Jeans, und mein Kleid hat auch schon bessere Tage gesehen, aber trotzdem. »Danke, das ist nicht nötig«, will ich schon hastig erklären und Nate schnell am Arm wegziehen, als der alte Mann die Münze in eine kleine Maschine einspannt und sie entzweibricht.
Wir schauen zu, wie er anschließend in jede der beiden Hälften ein Loch stanzt, durch das er dann eine Lederkordel fädelt. Siegesgewiss hält er sie schließlich hoch und lässt die beiden Münzhälften baumeln wie zwei Anhänger. »Für euch.« Er lächelt. »Weil ihr wie die Münze seid«, erklärt er. »Zwei Hälften eines Ganzen.«
Fasziniert betrachte ich die gezackten Kanten der beiden halben Münzen, die aussehen wie zwei Puzzleteile. Für sich gesehen ist jede bloß eine halbe zerbrochene Münze, aber zusammen ergeben sie ein nahtloses Ganzes. »Wow, wie romantisch«, murmele ich an Nathaniel gewandt, der mich beobachtet hat und mich nun belustigt angrinst. »Was? Findest du nicht?«, kreische ich empört und stupse ihn mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Klar ist es romantisch«, meint er lachend. »Ich nenne dich doch sowieso immer ›meine bessere Hälfte‹, oder etwa nicht?« »Nur dreitausend Lire«, sagt der alte Mann.
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er erwartungsvoll die Hand ausstreckt.
»Auch Romantik hat ihren Preis«, spöttelt Nathaniel spitz und kramt sein Portemonnaie heraus.
Und da habe ich Dummchen den alten Mann die ganze Zeit für einen verkappten Romantiker gehalten, dabei wollte er uns bloß was aufschwatzen, wie ich nun einsehen muss. Ich komme mir ziemlich blöd vor. Ehrlich, ich falle aber auch auf jeden sentimentalen Quatsch rein. Doch noch ehe ich etwas einwenden kann, hat Nathaniel ihm auch schon einen Geldschein in die Hand gedrückt und streift sich einen der beiden Anhänger über den Kopf.
»Siehst du, jetzt kann uns nichts mehr trennen«, witzelt er und legt mir die andere Münzhälfte um den Hals. »Wo du auch hingehst, ich folge dir.«
Trotz seiner humoristischen Einlage verfinstert sich meine Laune schlagartig. In ein paar Wochen müssen wir Italien schon wieder verlassen und beide an unsere Colleges zurückkehren, ich nach England, er in die USA, und davor graut es mir schon jetzt. Seit wir uns kennengelernt haben, schwebt diese bevorstehende Trennung über mir wie ein Damoklesschwert, und ich zähle bereits die Tage, die uns noch bleiben, ehe jeder wieder seiner eigenen Wege geht.
»Hey!« Als er mein langes Gesicht sieht, nimmt Nate mich fest in den Arm. »Wir kriegen das schon hin, was sind denn schon ein paar tausend Kilometer«, tröstet er mich, weil er gleich erraten hat, was mich bedrückt. »Wir können uns schreiben. Ich rufe dich an ...«
Ich muss an meine Studentenbude in Manchester denken. Da habe ich nicht mal einen Festnetzanschluss, geschweige denn ein Handy, und Briefeschreiben mag zwar in alten Büchern sehr romantisch klingen, aber im wahren Leben sind sie kein Ersatz dafür, das Gesicht an seinen Hals zu schmiegen, sich am Sonntagnachmittag eine Riesenportion Pistazien-Gelato mit ihm zu teilen oder über seinen erbärmlich schlechten englischen Akzent zu lachen.
»Wenn du meinst.« Nickend bemühe ich mich, ein tapferes Gesicht aufzusetzen. Ich will schließlich nicht sein romantisches Geschenk versauen mit meinen düsteren Zukunftsvisionen, aber meine Befürchtungen hängen wie eine dicke, dunkle Wolke über mir und warten nur darauf, endlich mit Donner, Blitz und Hagelschlag niederzugehen.
»Wenn ihr zusammenbleiben wollt, könnt ihr für immer zusammenbleiben.«
Ich drehe mich zu dem alten Italiener um, der uns nachdenklich anschaut.
»Das ist leider nicht so einfach ...«, setze ich an zu erklären, doch er unterbricht mich.
»Nein, es ist ganz einfach«, erklärt er entschieden. »Ihr wollt wirklich zusammenbleiben?«
Nathaniel legt den Kopf zur Seite, als denke er darüber nach. »Ähm ... was meinst du?«, fragt er mich mit einem schelmischen Grinsen, und ich boxe ihn spielerisch in die Seite. »Mhm, ich glaube, das war ein Ja. Wollen wir.« Grinsend wendet er sich wieder an den Markthändler.
»Nun, dann ...« Der alte Mann zuckt mit den Schultern und pafft an seiner Zigarre.
»Wir müssen wieder nach Hause«, erkläre ich.
»Und wo ist das?«
Nathaniel zieht mich fester an sich. »Lucy wohnt in England ...«
»Und Nate kommt aus Amerika«, vollende ich den Satz.
»Aber nun seid ihr beide in Venezia«, entgegnet er anscheinend völlig unbeeindruckt. »Ihr müsst euch nicht trennen, wenn ihr von hier weggeht. Ihr könnt für immer zusammenbleiben.«
Doch ein liebenswerter alter Mann, überlege ich. Und ein ziemlich altmodischer Romantiker.
»Ich wünschte, es wäre so.« Ich zwinge mich zu einem Lachen und drücke Nates Hand. »Aber das geht leider nicht.«
Unvermittelt lacht der Italiener laut auf. »Nein! Nein! Natürlich ist das möglich«, ruft er und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Kennt ihr denn nicht die Legende von der Seufzerbrücke?«
Nathaniel runzelt die Stirn. »Sie meinen die Brücke hier in Venedig?«
»Ja. Genau die! Die meine ich!«, tönt er ganz aufgeregt. »Warum, was besagt denn die Legende?«, frage ich mit plötzlich erwachendem Interesse.
Wie ein Zauberer, der auf den Trommelwirbel wartet, ehe er das Kaninchen aus dem Hut zieht, legt der alte Mann eine kleine Kunstpause ein. Erst als wir beide still sind, macht er wieder den Mund auf. »Die Geschichte kennt hier jedes Kind«, erklärt er ernst. Er redet mit gedämpfter, ehrfürchtig flüsternder Stimme, wie man sonst nur in Kirchen und Museen redet, und ich muss mir ein Kichern verkneifen. »Es heißt, wenn man sich bei Sonnenuntergang in einer Gondel unter der Brücke küsst, während die Kirchenglocken läuten ...«
»Wow, die hängen die Latte aber ganz schön hoch«, wispert Nathaniel mir witzelnd ins Ohr, aber ich wedele ihn fort wie eine lästige Fliege.
»Ja?«, fordere ich den alten Mann auf fortzufahren. »Was ist dann?«
Er zieht an seiner Zigarre und pustet eine dicke Rauchwolke aus. Sie wabert über sein Gesicht wie eine Nebelwand. Als sie sich wieder verflüchtigt hat, schaut er mich mit seinen dunklen Augen durchdringend an, und trotz der drückenden Hitze läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, und ich bekomme eine Gänsehaut. Er beugt sich noch weiter vor, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Man ist in ewiger, immerwährender Liebe miteinander verbunden. Man bleibt für alle Zeiten zusammen, und nichts« - sein Blick zuckt kurz rüber zu Nathaniel, dann kehrt er wieder zu mir zurück - »nichts kann die Liebenden je wieder trennen.«
»Nichts?«, wiederhole ich mit kaum hörbarer Stimme.
»Niente. « Er nickt, augenscheinlich felsenfest von seiner eigenen Geschichte überzeugt. »Man ist für immer miteinander verbunden, in alle Ewigkeit.«
Nervös lache ich auf und drücke die Münze an meine erhitzte Brust.
»Also, es gefällt Ihnen, ja?« Er weist auf die Halskette.
»Oh ... ähm ... ja.« Nickend kehre ich wieder in die Realität zurück.
Er lächelt und hält uns das Wechselgeld hin, und als ich es annehme, streifen seine schleifpapierrauen Hände meine Finger.
»Grazie«, flüstere ich und bedanke mich mit einem der wenigen italienischen Wörter, die ich bisher gelernt habe.
»Prego. « Mit einem herzlichen Lächeln fasst er sich an den Hut.
Dann legt Nathaniel mir den Arm um die Schultern, und wir drehen uns um und schlendern durch das Gewirr der Marktbuden davon, als wir den alten Italiener hinter uns herrufen hören: »Denkt daran, niente«, und ich schaue mich noch einmal um. Aber das Komische ist, er ist nicht mehr da. Er ist verschwunden, verschluckt von der Menge. Fast, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.
Erstes Kapitel
Sind wir nicht alle auf der Suche nach dem Traumpartner?
Machen Sie unseren großen Liebestest,
und finden Sie heraus, ob er der Traummann für Sie ist!
Himmel, diese blöden Dinger sind so doof.
Schnell überfliege ich den Fragebogen in der Zeitschrift. Ganz oben ist ein Foto von einem glücklichen Pärchen, das ein ander tief in die Augen schaut wie zwei verliebte Turteltäubchen, und es wimmelt nur so von kleinen gemalten Amorfigürchen und rosaroten Herzchen. Ich meine, was soll der Quatsch? Als könne man herausfinden, ob er »der Traummann« ist, indem man so einen albernen Multiple-Choice-Fragebogen ausfüllt.
Wie beispielsweise:
Mein Herzblatt und ich gehören zusammen wie ...
a) Batman und Robin
b) Posh und Becks
c) Lindsay Lohan und Sonnenbankbräune
Also ehrlich, das ist doch lächerlich!
Ich werde von jemandem angerempelt, der sich in die winzige Lücke gleich neben mir zwängt. Erst als ich aufschaue, merke ich, dass wir an einer U-Bahn-Station angehalten haben. Ich gucke mich in dem überfüllten Wagen um. Es ist Freitagnachmittag, und ich sitze eingequetscht in der vollgestopften New Yorker Subway und blättere gelangweilt in einer Zeitschrift, die ich auf dem Sitz gefunden habe. Die Türen gehen zu, und der Zug fährt ruckelnd an, worauf ich mich wieder der Zeitschrift widme. Und diesem dämlichen Fragebogen.
Abfällig blättere ich eine Seite um. Ein Artikel über Cellulite erwartet mich. Angewidert verziehe ich das Gesicht.
Andererseits, vielleicht ist so ein dämlicher Fragebogen doch nicht so verkehrt. Auf jeden Fall bestimmt unterhaltsamer, als lesen zu müssen, wie man die Dellen an den Oberschenkeln wieder loswird, sinniere ich mit einem Blick auf den Abschnitt über Entschlackungskuren. Alle haben Orangenhaut. Selbst Supermodels!
Zumindest rede ich mir das gerne ein.
Kritisch beäuge ich die grobkörnige Paparazzi-Aufnahme von Kate Moss' Hinterteil im Bikini in etwa millionenfacher Vergrößerung. Ehrlich gesagt kann ich keine einzige Delle entdecken. Oder auch nur den Ansatz eines Hinterteils. Ja, wenn ich mir das Foto so anschaue, bin ich mir nicht mal sicher, ob Kate Moss überhaupt einen Hintern hat.
Und dann geht mir schlagartig auf, was ich hier eigentlich mache: Ich sitze. In aller Öffentlichkeit. In einer New Yorker U-Bahn. Und drücke mir die Nase platt am Foto einer linken Hinterbacke. Oder ist es die rechte? Ich reiße mich zusammen. Um Himmels willen, Lucy. Und du dachtest, dieser Fragebogen sei lächerlich?
Schnell blättere ich wieder zurück. Der Fragebogen ist noch nicht ausgefüllt. Ach, was soll's? Ich muss noch fünf Stationen fahren.
Ich krame in meiner Handtasche nach einem Kuli. Okay, los geht's ...
1. Haben Sie Schmetterlinge im Bauch, wenn Sie an ihn denken?
a) Immer
b) Manchmal
c) Nie
Na ja, ich würde es nicht unbedingt Schmetterlinge im Bauch nennen. Das Ganze ist schon so lange her, dass die Schmetterlinge sicher längst auf und davon geflogen sind. Nein, es ist mehr ein dumpfer Schmerz. Nicht wie die unerträglichen Zahnschmerzen, als ich mir damals im Kino an einer Knusper-Crunch-Toffee-Mischung eine Backenzahnfüllung rausgezogen habe ... Beim Gedanken daran wird mir ganz anders. Nein, es ist mehr so ein Ziehen. Ein gelegentlicher Stich.
Ich entscheide mich für b) Manchmal.
2. Wie lange lieben Sie ihn schon?
a) Noch keine sechs Monate
b) Ein Jahr
c) Über ein Jahr
Ich denke zurück. Wir haben uns im Sommer 1999 kennengelernt. Damals war ich neunzehn. Somit wären es jetzt genau ... Während ich noch im Kopf ausrechne, wie lange wir uns schon kennen, trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube.
Okay, dann ist es eben zehn Jahre her. Na und? Zehn Jahre sind gar nichts. Meine Mum kennt meinen Dad seit vierzig Jahren.
Ja, aber deine Mum ist ja auch mit deinem Dad verheiratet, meldet sich eine leise Stimme in meinem Kopf.
Die ignoriere ich und male schnell einen Kreis um Antwort c). Gut. Nächste Frage.
3. Können Sie sich vorstellen, ihn zu heiraten?
a) 100%
b) 50 %
c) Null
Tja, das ist einfach. Null.
Ja, ich würde sogar sagen, die Chancen, ihn zu heiraten, stehen noch schlechter als null. Aber das ist schon in Ordnung. Damit habe ich kein Problem. So ist es nun mal, und es ist vollkommen okay.
Also gut, gelegentlich habe ich vielleicht schon mal darüber nachgedacht. Und womöglich habe ich mir sogar vorgestellt, wie wir gemeinsam vor den Altar treten - ich in einem weißen Kleid (eigentlich mehr so ein Ecru, in antiker Spitze, mit langen Ärmeln und herzförmigem Ausschnitt) und er mit Zylinder und Cut zu den verstrubbelten blonden Haaren und den ausgelatschten ollen Converses, die unter der Hose hervorlugen. Wie wir den ersten Tanz zu »No Woman, No Cry« tanzen, unserem Lieblingssong von Bob Marley. Wie wir in seinem klapprigen alten VW-Bus in die Flitterwochen fahren ...
Langsam kehre ich ins Hier und Jetzt zurück und muss feststellen, dass ich völlig in Gedanken verloren angefangen habe, ein Herz mit Pfeil um a) 100 % zu malen. Mist. Was soll das denn? Verwirrt nehme ich den Kuli und krickele auf dem Herz herum, bis es nicht mehr zu erkennen ist. Wobei das sowieso nichts zu bedeuten hat. Und schon gar nicht heißen soll, dass mein Unterbewusstsein mir einen Streich spielt.
Bis ich plötzlich merke, dass ich so fest aufgedrückt habe, dass ich ein Loch in die Seite gebohrt habe.
4. Sind Ihre Freunde der Meinung, dass Sie diesen Mann nicht mehr aus dem Kopf bekommen?
Automatisch gehe ich in Abwehrhaltung und werde stocksteif.
Ich denke gelegentlich an ihn, aber ich würde nicht sagen, ich bekomme ihn nicht mehr aus dem Kopf. Überhaupt nicht. Ich meine, schließlich verfolge ich ihn nicht oder so. Oder google ihn ständig. Okay, ich gebe es zu. Ich habe ihn einmal gegoogelt. Zweimal vielleicht.
Ach, also gut, dann habe ich im Laufe der Jahre eben aufgehört mitzuzählen. Na und? Wer von uns ist nicht schon mal nach Hause gegangen und hat den Mann gegoogelt, den sie liebt?
Moment mal - habe ich gerade das L- Wort gesagt?
Aus heiterem Himmel schlägt mein Magen einen Salto wie ein Pfannkuchen in der Pfanne. Entschlossen drücke ich ihn wieder runter. Das habe ich doch gar nicht so gemeint! Das liegt nur an diesem albernen Fragebogen - der bringt mich bloß auf komische Gedanken.
Ich mache einen Kringel um b) Nein.
Während mich die Linie sechs in Richtung Uptown kutschiert, laviere ich mich weiter durch den Fragenkatalog. Der wird zunehmend grotesk, aber immerhin kann ich damit die Zeit totschlagen. Und jetzt komme ich auch schon zur letzten Frage ...
10. Welcher Film beschreibt Ihre Beziehung am besten?
a) Love Story
b) Begegnung - Brief Encounter
c) Nightmare on Elm Street
... als ich plötzlich merke, dass ich die Ansage überhört habe - »Forty-Second Street, Grand Central« - und mir aufgeht, dass ich hier rausmuss.
Hektisch stopfe ich die Zeitschrift in meine Handtasche und versuche, mir unter höflichem Entschuldigungsgemurmel den Weg durch das überfüllte Abteil zu bahnen. Wobei natürlich kein Mensch davon Notiz nimmt. Seit ich vor einigen Wochen von London nach New York gezogen bin, habe ich langsam einsehen müssen, dass mein ganzes »Oh, Entschuldigung« und »Verzeihung« und »Tut mir leid« hier auf völlig taube Ohren trifft.
Nicht, dass die New Yorker per se unhöflich wären. Ganz im Gegenteil, ich finde, es sind so ziemlich die freundlichsten, warmherzigsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Aber unsere nervige britische Angewohnheit, sich für alles und jeden zu entschuldigen, hat hier einfach null Wirkung. Die Leute wissen schlicht und ergreifend nicht, wofür ich mich eigentlich entschuldige. Und um ehrlich zu sein, weiß ich es ja oft selbst nicht. Ich mache es einfach. Aus Gewohnheit. Wie mich alle fünf Minuten bei Facebook einzuloggen.
Gestern zum Beispiel, als ich die Straße überquerte, ist ein Mann einfach ungebremst in mich reingerannt und hat mich von oben bis unten mit Kaffee bekleckert. Und wissen Sie was? Ich habe gesagt, dass es mir leidtut! Ja, ich! Ungefähr hunderttausend Mal! Obwohl es eindeutig seine Schuld war. Er hat nämlich in sein Handy gequatscht und überhaupt nicht darauf geachtet, wo er hinlief.
Entschuldigung, ich meine natürlich Mobiltelefon - na ja, schließlich bin ich ja jetzt in New York, und hier heißt das so.
Bei dem Gedanken läuft mir ein kleiner Schauer über den Rücken. Ich kann nichts dafür. Jedes Mal, wenn ich mich dabei ertappe, wie ich bewundernd zu den Wolkenkratzern hochschaue, die über mir in den Himmel ragen, oder den Broadway entlanglaufe oder eine dieser unverwechselbaren gelben Taxen anhalte (was ich bisher erst ein einziges Mal gemacht habe, weil ich chronisch pleite bin, aber was soll's), dann komme ich mir vor wie im Film. Seit sechs Wochen bin ich jetzt hier, und ich kann es immer noch nicht fassen. Fast rechne ich damit, dass Carrie, Miranda, Charlotte und Samantha mir jeden Moment Arm in Arm entgegenspaziert kommen.
Ich komme aus der U-Bahn-Station und bleibe am Fußgängerüberweg stehen, um meinen kleinen Faltplan von Manhattan zu konsultieren, den ich immer in der Handtasche habe. Manche Leute haben so ein eingebautes GPS, fast wie Katzen. Egal, wo man sie absetzt, sie finden immer wieder nach Hause zurück. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich gehe sogar im Supermarkt verloren. Einmal bin ich über eine halbe Stunde lang um die Salatbar geirrt und habe die Kasse gesucht. Ungelogen. Seitdem kann ich keinen Krautsalat mehr sehen.
Ich drehe die Karte um und stelle sie auf den Kopf, dann drehe ich sie wieder zurück. Ich stehe total auf dem Schlauch. Ich habe mich auf einen Feierabenddrink in einer Bar in der Nähe verabredet, aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo dieser Schuppen sein soll. Ratlos starre ich auf das Gitternetz der Straßen. Theoretisch mag das alles ja ganz einfach sein, aber in der Praxis verlaufe ich mich ständig. Und als sei das alles noch nicht kompliziert genug, gibt es in New York auch noch East Soundso Street und West Soundso Street. Was meiner Verwirrung die Krone aufsetzt. Ich meine, wie um alles auf der Welt soll man bitte wissen, welche Straße welche ist?
Frustriert spähe ich links und rechts die Straße entlang, und schließlich streiche ich die Segel und sage meinen kleinen Merksatz auf. Ständig bleibe ich wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen und sage diesen Spruch auf. Sie wissen schon: »Nie ohne Seife waschen.«
»Wie bitte?«
Ich drehe mich um und sehe einen Passanten neben mir stehen, der genau wie ich darauf wartet, die Straße zu überqueren. Fragend schaut er mich an, die Stirn unter der Baseballkappe in nachdenkliche Dackelfalten gelegt.
Ach du liebe Güte, habe ich das etwa gerade laut gesagt?
»Ähm ...« , stammele ich verlegen. »Nie ... ähm ... am Zebrastreifen«, platze ich heraus und weise auf die rote Ampel, »bei Rot die Straße überqueren. Immer brav warten, bis der kleine Mann sagt, dass man rübergehen darf.«
Verständnislos schaut er mich an. »Klar«, erwidert er skeptisch.
Er hat so einen Nuh Joahka-Akzent, der sich zieht wie Kaugummi und den man nur sehr selten hört, und mir fällt die große Videokamera auf und das Mikrofon mit dem flauschigen Überzieher, die er unter dem Arm hat. Mensch, was der wohl macht? Bestimmt dreht er einen Film oder so was richtig Cooles.
Ganz im Gegensatz zu mir, die alberne Merksätze aufsagt und daherredet wie ein Schülerlotse, wie mir siedend heiß einfällt, worauf ich knallrot anlaufe. Mich durch und durch uncool fühlend gucke ich schnell weg und bete, dass die Ampel endlich umspringen möge. »Oh, sehen Sie, jetzt können wir rübergehen«, rufe ich erleichtert, und mit einem linkischen Lächeln in seine Richtung marschiere ich entschlossen los.
Das ist typisch New York. Die Stadt strotzt nur so vor Energie und zieht Scharen hochinteressanter Menschen an. Man biegt um eine Straßenecke und stolpert über ein Filmset oder einen Straßenhändler, der irgendwelchen abgefahrenen Schmuck verkauft, oder eine Handvoll Straßenkünstler, die eine unglaubliche Hip-Hop-Show abziehen. Man weiß nie, was als Nächstes passiert.
Manchmal, spätabends, wenn ich das Empire State Building in all den verschiedenen Farben angestrahlt sehe, werde ich ganz kribbelig vor Aufregung. Vor freudiger Erwartung. Es ist wie Zauberei. Manchmal muss ich mich fast selbst zwicken. Für ein Mädel aus dem tiefsten Manchester ist das der Stoff, aus dem die Märchen sind.
Bloß dass in meinem Märchen die männliche Hauptrolle fehlt.
Ich laufe an einer ganzen Reihe von Restaurants vorbei und sehe aus den Augenwinkeln Pärchen eng nebeneinander bei romantischem Kerzenschein zu Abend essen. Es ist ein lauer Sommerabend, und die Restaurants haben Türen und Fenster weit aufgerissen, sodass Tische und Stühle sich förmlich bis auf den Gehweg ergießen. Der Anblick versetzt mir einen kleinen Stich.
Aber das wische ich rasch beiseite.
Es war einmal, vor langer Zeit, da gab es einen Prinzen, sozusagen, aber wir haben am Ende nicht geheiratet. Zwar sind wir nicht gestorben und leben noch heute, aber eben nicht zusammen. Es gab kein Happy End für uns. Aber wie schon gesagt, das habe ich locker weggesteckt. Das ist lange her. Mein Leben ist weitergegangen. Und ich habe seitdem jede Menge Männer kennengelernt.
Na ja, jede Menge ist vielleicht etwas übertrieben, aber es waren einige. Und ein paar davon waren sogar richtig nett. Wie zum Beispiel mein letzter Freund, Sean. Wir haben uns bei einer Party kennengelernt und waren ein paar Monate zusammen, aber so richtig ernst war es nie. Ich meine, wir hatten Spaß zusammen, und der Sex war auch nicht schlecht.
Es war bloß ...
Übersetzung: Stefanie Retterbush
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Alexandra Potter
Alexandra Potter wurde in Bradford, West Yorkshire, geboren. Sie arbeitete als Journalistin für Hochglanzmagazine wie "Elle", "Vogue" oder "OK!". Inzwischen konzentriert sie sich voll und ganz auf das Schreiben und lebt in Los Angeles.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alexandra Potter
- 2011, 544 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Stefanie Retterbush
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475201
- ISBN-13: 9783442475209
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