Trügerische Ruhe
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Als auch Noah sich immer seltsamer benimmt, beginnt Claire zusammen mit dem Chef der örtlichen Polizeit, Lincoln Kelly, nach den Ursachen der Gewalt zu forschen. Schon bald machen die beiden seltsame Entdeckungen: Im nahegelegenen Wald wachsen mysteriöse blaue Pilze und im Lake Locust taucht ab und zu eine grünlich phosphoreszierende Masse auf. Dann erfahren Claire und Kelly, daß es bereits vor fünfzig und vor hundert Jahren zu ähnlichen Begebenheiten gekommen ist. Langsam, aber sicher gelangt Claire zu der Überzeugung, daß ein Parasit die Gewaltattacken auslöst. Von dieser Theorie wollen die Einwohner von Tranquility allerdings gar nichts wissen, weil sie um ihre Einnahmen aus dem Tourismus fürchten.
Claire und Chief Kelly müssen den Kampf ganz alleine aufnehmen - und die Zeit drängt.
Selbst ihr Sohn Noah wird in diese Gewalttaten verwickelt. Mit dem Polizeichef Lincoln Kelly als einzige Unterstützung forscht sie nach und entdeckt einen grausigen, unheimlichen Parasiten. Ein tödlicher Wettlauf mit der Zeit beginnt...
Trügerische Ruhe von Tess Gerritsen
LESEPROBE
Tranquility, Maine, 1946
Wenn sie leise genug wäre,mucksmäuschenstill, dann würde er sie nicht finden. Er glaubte vielleicht, alleihre Verstecke zu kennen, aber er hatte nie ihre geheime Nische entdeckt, diesekleine Ausbuchtung in der Kellerwand, die von den Regalen mit denEinmachgläsern ihrer Mutter verdeckt wurde. Als kleines Kind hatte sie mitLeichtigkeit in diesen Hohlraum hineinschlüpfen können, und Jedesmal, wenn sieVerstecken spielten, hatte sie in ihrer Höhle gekauert und sich ins Fäustchengelacht, während er auf der Suche nach ihr frustriert von Zimmer zu Zimmergestapft war. Manchmal hatte das Spiel so lange gedauert, daß sie eingeschlafenund erst Stunden später vom Klang der Stimme ihrer Mutter, die besorgt ihrenNamen rief, geweckt worden war. Und jetzt war sie wieder hier, in ihremKellerversteck, aber sie war kein Kind mehr. Sie war vierzehn und konnte sichnur noch mit Mühe in die Nische hineinzwängen. Und das hier war kein fröhlichesVersteckspiel.
Sie konnte ihn oben hören,wie er auf der Suche nach ihr durch das Haus streifte. Er polterte von Zimmerzu Zimmer, fluchte und warf krachend Möbel um. Bitte, bitte, bitte. Hilft unsdenn niemand? Bitte macht, daß er verschwindet.
Sie hörte, wie er ihrenNamen brüllte: »IRIS!« Seine knarrenden Schritte erreichten die Küche,näherten sich der Kellertür. Ihre Hände ballten sich krampfhaft zu Fäusten,und ihr Herz trommelte wild. Ich bin nicht hier Ich bin weit weg, ich fliehe,fliege hoch in den Nachthimmel hinauf. Die Kellertür wurde urplötzlichaufgestoßen und krachte gegen die Wand. Goldenes Licht strömte von oben herabund hüllte ihn ein, als er in der offenen Tür am oberen Ende der Treppe stand.
Er streckte die Hand aus undzog an der Lichtschnur; die nackte Glühbirne ging an und tauchte die tiefeHöhle des Kellers in ein schwaches Licht. Geduckt stand Iris hinter den Gläsernmit eingelegten Tomaten und Gurken und hörte, wie er die steile Treppeherunterkam; jedes Knarren brachte ihn näher zu ihr. Sie drückte sich tiefer indie Höhlung und schmiegte ihren Körper an die bröckelnde Wand aus Steinen undMörtel. Sie schloß die Augen; bildete sich ein, unsichtbar zu sein. Über demHämmern ihres eigenen Herzschlags hörte sie, wie er am Fuß der Treppeanlangte. Sieh mich nicht. Sieh mich nicht.
Die Schritte gingengeradewegs an den Regalen mit den Einmachgläsern vorbei und auf das hintereEnde des Kellers zu. Sie hörte, wie er eine Kiste umstieß. Leere Gläserzersprangen auf dem Steinboden. Jetzt machte er wieder kehrt, und sie konnteseinen keuchenden Atem hören, unterbrochen von grunzenden Tierlauten. Ihreigener Atem war flach und schnell, und ihre Fäuste waren so fest geballt, daßsie glaubte, ihre Knochen würden zerspringen. Die Schritte kamen auf die Regalezu und blieben stehen.
Sie riß die Augen auf undsah durch einen Spalt zwischen zwei Gläsern, daß er genau vor ihr stand. Siewar in die Hocke geglitten, so daß ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinem Gürtelwaren. Er zog ein Glas aus dem Regal und schmetterte es zu Boden. Der stechendeEssiggeruch von Eingelegtem stieg vom Steinboden empor. Er griff nach einemweiteren Glas, doch dann stellte er es plötzlich zurück, als sei ihm einbesserer Gedanke gekommen. Er wandte sich ab und ging die Kellertreppe hoch.Im Hinausgehen zog er kurz an der Lichtschnur. Sie war erneut von Dunkelheitumgeben.
Sie merkte auf einmal, daßsie geweint hatte. Ihr Gesicht war naß, Schweiß gemischt mit Tränen, aber siewagte es nicht, auch nur ein Wimmern von sich zu geben.
Oben bewegten sich dieknarrenden Schritte zur Vorderseite des Hauses; dann war es still. War ergegangen? War er endlich weg?
Sie verharrte reglos, wagtenicht, sich zu bewegen. Die Minuten vergingen. Sie zählte sie langsam im Kopf.Zehn. Zwanzig. Ihre Muskeln verkrampften sich; es tat so weh, daß sie sich aufdie Lippe beißen mußte, um nicht zu schreien. Eine Stunde. Zwei Stunden. Immernoch kein Laut von oben.
Ganz langsam kam sie ausihrem Versteck hervor. Sie stand im Dunkeln und wartete, bis das Blut in ihrenAdern wieder zu fließen begann und sie ihre Beine wieder spüren konnte. Sielauschte und lauschte, die ganze Zeit. Sie hörte nichts.
Der Keller war fensterlos,und sie wußte nicht, ob es draußen noch dunkel war. Sie schritt über dieGlasscherben am Boden und ging zur Treppe hinüber. Sie stieg Stufe für Stufenach oben; nach jedem Schritt hielt sie inne, um wieder zu horchen. Als sieschließlich oben war, waren ihre Handflächen so naßgeschwitzt, daß sie sie anihrer Bluse abwischen mußte, bevor sie die Kellertür öffnen konnte.
In der Küche brannte Licht,und alles wirkte verblüffend normal. Sie hätte fast glauben können, das Grauender letzten Nacht sei nur ein Alptraum gewesen. Eine Uhr an der Wand ticktelaut. Es war fünf Uhr morgens, und draußen war es noch dunkel.
Sie ging auf Zehenspitzenzur Küchentür und spähte in den Flur. Ein flüchtiger Blick auf diezersplitterten Möbel und die Blutspritzer an der Tapete sagte ihr, daß sienicht geträumt hatte. Ihre Handflächen waren wieder schweißnaß.
© Blanvalet
Übersetzung: Andreas Jäger
- Autor: Tess Gerritsen
- 1999, Deutsche Erstausgabe, 416 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Andreas Jäger
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442352134
- ISBN-13: 9783442352135
- Erscheinungsdatum: 01.12.1999
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