Uhren gibt es nicht mehr
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Was zählt im Leben wirklich? 102 Jahre zählt Elisabeth Heller bereits, die Mutter von Autor und Multimediakünstler André Heller, und schön langsam, so meint sie im Laufe der monatelangen Gespräche mit ihrem Sohn, geht es ans Verabschieden. "Innerlich sieht man sich noch jung und freut sich auf den nächsten Tag", sagt die alte Dame, die geboren wurde, als der Erste Weltkrieg ausbrach, und bereits im zarten Alter von nur 19 Jahren den Süßwarenfabrikanten Stephan Heller ehelichte. Ein anderes Mal hofft sie darauf, "dass das Körperwerkl in Gottesnamen auslaufen soll" und plaudert dann munter und völlig offen über einen Selbstmordversuch aus Liebe und über Lehár am Klavier in Bad Ischl. Ein kleines, feines Buch von großer Weisheit, würdevoll, poetisch und humorvoll. Es zeugt von einer späten Liebe und von großer Offenheit zwischen Mutter und Sohn.
Autor André Heller besitzt umfangreiche Talente. Seien es Gartenkunstwerke, Wunderkammern, Prosaveröffentlichungen, Millionen verkaufter Schallplatten als Chansonnier eigener Lieder, große fliegende und schwimmende Skulpturen und vieles mehr zählt zu seinem ausschweifenden Repertoire. Dass der Apfel nicht weit vom Birnbaum fällt, zeigt er schön anhand der niedergeschriebenen Gespräche mit seiner Mutter Elisabeth Heller auf, die im stattlichen Alter von 102 Jahren trotzdem noch jede Menge Pfeffer und viel zu erzählen hat.
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Elisabeth Heller starb am 7. August 2018 in Wien-Hietzing.
Für meinen Bruder Fritz und
all seine und meine
Kinder und Kindeskinder
»Da kommt noch etwas Wichtiges«
Meine Mutter ist die tapferste Person, die ich jemals
so genau kennenlernen durfte. Noch vor zwei Jahrzehnten
hätte ich eine solche Behauptung nicht niedergeschrieben.
Mindestens fünfzig Jahre erlebte ich sie,
neben sehr viel Qualitätsvollem und Schönheitsgeladenem,
das sie für mich bedeutet hat, als erstaunlich
opportunistisch, stets bereit, dem jeweils Mächtigsten
oder Auftrumpfendsten in einer Gesprächsrunde recht
zu geben und Konflikten, wenn irgendwie möglich, aus
dem Weg zu gehen. Dennoch vermutete ich relativ
früh, dass sie unter dieser tragischen Schwäche litt.
Ebenso wie sie einerseits den oft inhaltlich konventionellen
Wortführern folgte, bewunderte sie andererseits
rebellische und gegen den Strom schwimmende Persönlichkeiten
zutiefst - solche, die sich eigenständig
und eindeutig und auf originelle Weise zu ihren Überzeugungen
bekennen.
Ihr Lieblingsschriftsteller in der Gegenwart war
Thomas Bernhard, und sie las jedes der Bücher von
Elfriede
Jelinek und erkannte darin jene andere Möglichkeit
eines unangepassten Daseins. Mir sagte sie einmal
nach einem heftigen Streit: »Bitte versteh, ich
halte deine Art und deine Lebensführung für völlig
gerechtfertigt,
aber ich könnte so nicht existieren, ich
wünschte allerdings, ich könnte es.« So hat sie es sich in
vielem, das sie durchaus für falsch oder für dumm oder
für gefährlich in seinen Auswirkungen erkannt hat,
vermeintlich komfortabel eingerichtet und gleichzeitig
keinen Augenblick wirklich an diesen Komfort geglaubt.
Ja, sie wurde durch diesen tatsächlich äußerst
unkomfortablen Komfort nur ständig und quälend an
ihren
schmiedete sie wohl ernsthafte Pläne, sich aufzubäumen,
und machte zu mir darüber Andeutungen.
Sie wollte jenen Graben überspringen, der sie von der
Verwirklichung
ihres Wunsches trennte, eine selbstbewusste,
konsequent für sich einstehende und Wichtiges
wagende Person zu sein. Aber noch während des
Anlaufs sagte ihr wohl eine leise, aber beharrliche
innere Stimme, es würde letztlich mit einem Sturz in
den Abgrund enden; und so schreckte sie vor dieser
Einschüchterung zurück und mied das Risiko.
Dann kamen ihre späten Jahre, und ich begriff,
dass meine Mutter auf etwas wartete, das sie nicht benennen
konnte, das aber eine Verabredung mit ihr
hatte. »Da kommt noch etwas Wichtiges«, hat sie es
formuliert, und es kam tatsächlich: zunächst in zarten
Wellen eine größere Gelassenheit, und dann schon
Etwas heftiger, so ab Ende achtzig, eine Neugier und ein
Appetit auf die Früchte des Alters. Sie fühlte instinktiv,
dass ihr eine reiche Ernte bevorstand, in die ihre bisherigen
Erfahrungen einfließen würden. Das wirkte
sich verändernd auf unsere Beziehung aus.
Ich entwickelte ein völlig neues Interesse an ihr und
teilte ihre Erwartungen; gleichzeitig erwuchs ihr durch
meine schöne und kluge Gefährtin Albina der erste
Mensch, der sie bedingungslos liebte und einen zärtlichen,
immer humorvollen Umgang mit ihr pflegte.
Dies lockerte die mittlerweile einiges über Neunzigjährige,
die sich immer noch in hervorragender gesundheitlicher
Verfassung befand, und ließ sie empathischer
und selbstzärtlicher werden. Sie sah sich und
die Welt mit gütigeren Augen, ihre Gedanken und
Taten wurden harmonischer und leuchtender.
Mit neunundneunzig, nun schon Tag und Nacht
von herzensgebildeten Pflegerinnen der Malteser betreut,
aber immer noch in ihrer Wohnung in Wien-
Hietzing residierend, öffnete und durchschritt sie bisher
verborgene Türen in ihrem Wesen. Und sie traute
sich zu, ihr Selbstverständnis noch einmal von Grund
auf neu zu gestalten. Während sie auf ihre Besucher still
dem Augenblick hingegeben wirkte, hatte sich ihr Bewusstsein
aufs imponierendste verändert. Sie, die ihr
Leben lang vieles an Ängsten zu erleiden hatte, nahm
zwei Oberschenkelhalsbrüche und deren ernste Opera10
tionen stoisch hin und ließ sich von nichts und niemandem
mehr in eine Sorge drängen. In ihrem hundertzweiten
Jahr schließlich, im Herbst und Winter
2015/16, wurden für etwa vier Monate zwischen uns
Gespräche möglich, die mich in ihrer Klarheit, Tabulosigkeit,
Originalität und Innigkeit begeisterten. Ich
Notierte die meisten und habe nun, selbstverständlich
mit ihrem Einverständnis, entschieden, die am wenigsten
intimen in einem Büchlein auch anderen zugänglich
zu machen.
André Heller
Wien, im Dezember 2016
Erstes Gespräch
André: Möchtest du mir etwas sagen?
Elisabeth: Weißt du, das Reden hab ich ein Leben
lang überschätzt, ich rede nur mehr das Nötigste,
das Schweigen bringt für gewöhnlich höheren
Genuss. Die besten Gesellschafter sind in meiner
Situation Kreuzworträtsel. Da beweise ich mir, dass
ich noch nicht ganz verblödet bin.
Hast du denn manchmal das Gefühl zu verblöden?
Die Angst hab ich schon, aber ich vergess nur
manches, das ich wahrscheinlich auch für gar
nichts mehr brauchen kann. Irgendetwas räumt in
meinem Gedächtnis auf, und das Überflüssige wird
ausgeschieden. Seitdem hab ich auch nie mehr
Kopfweh.
Glaubst du, dass alles, was sich seit einiger Zeit in dir
an Veränderungen bemerkbar macht, einen Sinn ergibt?
Ja natürlich, es ergibt einen Sinn. Ich glaub, es sind
Verabschiedungen, zum Beispiel die Auhofstraße
löst sich auf, und den großen Kastanienbaum vor
dem Fenster, den gibt es auch schon nicht mehr.
Wie nimmst du denn das genau wahr? Ist an der Stelle
des Baums jetzt eine Lücke?
Nein, keine Lücke, dort ist etwas anderes, das füllt
sich.
Womit hat es sich gefüllt?
Das weiß ich nicht; es ist dort etwas anderes, ein
Huschen vielleicht.
Was meinst du mit Huschen?
Na ja, ein Huschen halt, du kennst das ja, es huscht.
In meiner Welt huscht manchmal etwas vorbei.
Und in meiner Welt bleibt es. Ein Huschen, das halt
bleibt.
Glaubst du, wir beide leben in unterschiedlichen Welten?
Ja, unbedingt. Du lebst in der Phantasie und ich
eher sehr in der Wirklichkeit.
Wie ist das in der Wirklichkeit?
Das ist schwer zu erklären: Alles ist eben so, wie es
ist, ganz wirklich eben.
Und du glaubst, in meiner Welt ist viel mehr unwirklich?
Wahrscheinlich.
[Langes Schweigen]
Ich war eine schwere Sünderin.
Das nehme ich dir nicht ab, Mami. Was hast du denn für
Sünden begangen?
Da fällt mir jetzt nix ein, aber wahr ist es trotzdem.
Was ist denn das überhaupt, eine Sünde?
Schlechte Manieren im Denken und Tun. Der
Mozart war auch ein Sünder.
Wie kommst du denn darauf?
Das erzählt seine Musik. Hör dir ruhig einmal
Mozart an, dann weißt du es.
Mozart ist doch eher heiter und immer von großer
Klangschönheit.
Vielleicht lachen seine Melodien manchmal seine
Sünden aus. Eine Lachmusik.
Wer sind denn deine Lieblingskomponisten?
Der Mozart, der Schubert, der Puccini und der
Richard Strauss. Der Russe ist auch gut. Den hör
ich so gern.
Der Strawinsky? Oder der Schostakowitsch? Der ist
großartig.
Nein, nein, ein anderer. Mit einem gepflegten Bart.
Meinst du den Tschaikowski?
Ja, den. Der konnte herrlich Klavier spielen.
Hast du ihn denn noch gekannt?
Ich weiß nicht, es kommt mir so vor. Das Klavier
hatte schwarzweiße Tasten.
Mami, jedes Klavier hat das.
Elfenbein und Kohlen.
Was genau ist Elfenbein?
Das ist Gebein von Elfen, etwas sehr Seltenes und
Teures.
Und Fliegenpilze sind Pilze auf Fliegen.
So ein Unsinn. Was du manchmal zusammenredest.
Sag du irgendein besonders schönes Wort.
Ein besonders schönes Wort? Schön ist ein
besonders schönes Wort.
Ist sehr schön mehr als schön?
Klingen tut es weniger schön. Schön ist schöner
ohne sehr.
Das finde ich auch.
[Stille]
Ich liebe dich, Mami.
Das weiß ich, ich lieb dich auch. Jetzt ist zwischen
uns alles harmonisch.
Früher war das anders, wir hatten oft Streit.
Wegen der Unterschiede.
Welcher Unterschiede?
Na, der zwischen dir und mir. Ich bin ganz anders
und kann nicht so schweben.
Du meinst, ich kann schweben?
Du warst manchmal so von oben herab, als ob du
schweben würdest, das ist einer der Unterschiede.
Was unterscheidet uns noch?
Wir sind beide Menschen.
Du bist immer viel tapferer als ich gewesen.
Findest du? Ich bin eben so, da kann man halt
nichts machen.
Du jammerst nicht bei Schmerzen, du hast jedes Unglück
und viele Gemeinheiten stoisch ertragen. Ich hab dich
nur einmal in siebzig Jahren richtig weinen sehen, als
deine große Liebe, der Gustl1, ganz plötzlich gestorben
ist. Da bist du im Bett gelegen und hast fassungslos
schluchzend immer wieder mindestens eine Stunde lang
das Wort tot wiederholt. Immer nur tot, tot.
Das war auch das Schrecklichste. Der Gustl war
eine Freude, so etwas gibt es nur selten. Er hat
französische Gedichte aufsagen können. Das
kannst du nicht.
Soll ich dir eines aufsagen, halb deutsch, halb
französisch?
Ja, wenn es interessant ist.
Le Boeuf, der Ochs, / La Vache, die Kuh, / Ferme la
porte, / Hau's Türl zu.
Das ist alles?
Ja.
Der Gustl dreht sich im Grab um.
Wo möchtest du eigentlich begraben sein?
In der Heller-Gruft am Döblinger Friedhof.
©Zsolnay
- Autor: André Heller
- 2017, 2. Aufl., 112 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552058311
- ISBN-13: 9783552058316
- Erscheinungsdatum: 07.03.2017
Uhren gibt es nicht mehr, heißt dieses kleine Buch, in dem mehr steht als in den meisten tausendseitigen Folianten.
Andrés Mutter sagt solche Sachen: "Ich hab keine Angst mehr. Das zahlt sich nimmer aus." - "Die Menschen sind unwichtiger als sie denken." - "Es gibt ja noch was anderes als die Männer." - "Religionsfrei zu sein genügt mir." - "Es gibt immer einen Durchschlupf."
Alles, was sie ihm sagt, sagt sie nebenbei. Die langen Pausen, die diese beiden machen, sind wahrscheinlich das Beste." Hans Magnus Enzensberger
"Herrlich humorvoll, berührend, weise. Hab es in einem Tag ausgelesen und war dann traurig, dass es schon vorbei war." Petra Karner, Lesetipps für den Sommer - oe1.ORF.at, 06.07.17
"Ein Buch voller Liebe, Wärme und Erinnerungen. Zum Weinen schön." Elke Heidenreich, WDR4, 24.03.17
"Ein schmales, aber gehaltvolles Büchlein. ... Es ist ein heiteres, immer wieder von der Melancholie des nahenden Abschieds umflortes Buch. ... Wer André Heller kennt, weiß: Der Mann hat - trotz dandyesker Anwandlungen, zu denen er alles Recht hat - das Herz auf dem rechten Fleck. Er ist zur Freundschaft und zur Loyalität begabt wie wenige andere. Und: Er kann sich auf andere Menschen einlassen, wie sein jüngstes Buch eindrücklich belegt." Günter Kaindlstorfer, Bayern 2, 22.03.17
"Ein Buch, das in einer sehr anrührenden Weise vom Tod handelt, statt mit der Stärke des Alters aufzutrumpfen. ... In den sanften Dialogen verliert sogar der Tod seinen Stachel:" Helmut Schödel, Süddeutsche Zeitung, 21.03.17
"Es sind in ihrer Lakonie weise, amüsante, aufrichtige, im buchstäblichen Sinn merk- und denkwürdige Unterhaltungen zwischen Mutter und Sohn über das Leben, die Liebe, über Irrungen und
"Ein hinreißend schönes, voller beglaubigter Altersweisheiten steckendes Buch. (...) Elisabeth Heller spricht als Zeitgenossin eines Jahrhunderts. (...) Wie man mit Stil altert, ist das Mindeste, was man aus dieser vergnüglichen Lektüre lernen kann." Harry Nutt, Frankfurter Rundschau, 20.04.17
"Das Zeugnis einer liebevollen und sehr offenen Beziehung. (...) Das ist so rührend, dass man als Leser feuchte Augen bekommt." bild.de, 23.04.17
"Lebenskluge und zärtliche Gespräche. (...) Es sind solche intimen Momente, die aus dem schmalen Büchlein ein berührend gehaltvolles machen und lange nachhallen." Sandra Leis, NZZ Bücher am Sonntag, 30.4.17
"Gespräche voller Lebensweisheit und überraschenden, humorvollen Einsichten." Heike Wander, Hamburger Abendblatt, 13.05.17
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