Verbrannte Kindheit 1677-1679
Die vergessenen Kinder der Hexenprozesse um den Zauberer Jackl
Von 1677 bis 1679 kam es in Salzburg zu der schlimmsten Hexenverfolgung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs 124 vermeintliche Hexen und Zauberer landeten auf dem Scheiterhaufen. Es waren allerdings nicht die üblichen Opfer des Hexenwahns...
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Produktinformationen zu „Verbrannte Kindheit 1677-1679 “
Klappentext zu „Verbrannte Kindheit 1677-1679 “
Von 1677 bis 1679 kam es in Salzburg zu der schlimmsten Hexenverfolgung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs 124 vermeintliche Hexen und Zauberer landeten auf dem Scheiterhaufen. Es waren allerdings nicht die üblichen Opfer des Hexenwahns heilkundige Kräuterfrauen, angebliche Verführerinnen oder Quacksalber sondern vor allem Kinder und Jugendliche. Ihnen wurde vorgeworfen, Gefolgsleute des Zauberers Jackl zu sein, der eine Bande von jugendlichen Gefährten um sich geschart hatte und mit ihnen bettelnd und stehlend durch die Länder und Regionen zog. Nun versuchte die Obrigkeit, diese Bettlerkinder unter dem Vorwand der Zauberei auszurotten. Angesichts der jüngsten Diskussionen um Bettlerfamilien hat dieses historische Thema eine beklemmende Aktualität.
Lese-Probe zu „Verbrannte Kindheit 1677-1679 “
Wolfgang Brandauer - Verbrannte Kindheit 1677-1679Einleitung
Der Zauberer Jackl ist die bekannteste Sagengestalt Salzburgs und
man kennt ihn auch über die Landesgrenzen hinaus. Anders als viele
Figuren in Märchen und Sagen kann man ihn unmittelbar auf eine
reale Person zurückführen: Sein richtiger Name war Jakob Koller und
er wurde um 1655 als unehelicher Sohn des vagabundierenden Freimannsknechtes
Kilian Tischler und der Abdecker-Tochter Barbara Koller geboren. Aufgrund seiner Herkunft gehörte der Bub, der von
allen nur Jackl oder Schinder Jackl gerufen wurde, von Geburt an zu
den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Ihm war das Erlernen eines ehrbaren
Berufes und das Führen eines bürgerlichen Lebens verwehrt. Dazu kam, dass sein Vater 1660 mitsamt seiner Familie aus dem damaligen
Erzstift Salzburg ausgewiesen wurde und kurz darauf starb. Als „Witwe" eines Vagabunden, die selbst aus den niedrigsten Verhältnissen
stammte, war die Mutter daraufhin gezwungen, zu betteln und
zu stehlen, wollte sie sich und ihren Sohn ernähren. Auf ihren Bettelrouten
legten Mutter und Sohn Koller zwischen Bayern und Kärnten weite Wege zurück. Anfang der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts
begannen sie, sich auf das Ausräumen von Opferstöcken in Salzburger
Kirchen zu spezialisieren. 1675 wurden Barbara Koller und der halbwüchsige Bettler Paul
Kaltenpacher in Golling verhaftet und beschuldigt, Opfergeld in drei
Kirchen gestohlen zu haben. Bei den Verhören nannten beide Jackl
als Mittäter. Unter der Folter sagte die Mutter zudem aus, sie und ihr
Sohn hätten sich an jenen Bauern, die ihnen nichts geben wollten,
durch Schadenzauber gerächt. Barbara Koller wurde wegen Diebstahls
und Zauberei schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und im August 1675 vor den Toren der Stadt Salzburg erdrosselt und verbrannt.
Schon zuvor hatte die
... mehr
Justiz Haftbefehl gegen ihren Sohn und
Zauberer-Komplizen erlassen. Damit begann der größte Hexenprozess,
den es je im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation gab.
1677 erhielten die Behörden Nachricht, Jackl sei gestorben. Allerdings
wurde wenige Wochen später der zwölfjährige Bettler Dionys (auch Dionysus) Feldner festgenommen. Dieser sagte aus, er sei mit
dem vermeintlich Toten und anderen Buben und Burschen umhergezogen.
Jakob Koller, der damals Anfang zwanzig war, scheint ein charismatischer Anführer gewesen zu sein und hatte es geschafft, eine
Bande junger Bettler um sich zu scharen, der auch Dionys Feldner
angehörte. Die Straßenkinder wanderten bettelnd, stehlend und betrügend
durch das Salzburger Land, vor allem durch den Pongau und Lungau, und dürften auch ihre eigenen, geheimen Rituale gepflegt
haben. So ist etwa überliefert, die Mitglieder hätten sich durch Blutsfreundschaft
miteinander verbunden. Von dahin bis zum Vorwurf der Zauberei gegen alle Gefährten Jackls war es nur ein schmaler Grat, der
mit dem Verhör des 14-jährigen Matthias Thoman
Hasendorfer überschritten
wurde. Dieser gestand, Jackl habe ihn das Zaubern gelehrt; und er nannte die Namen weiterer Bettlerbuben, die er damit ins Verderben
stürzte: Die Behörden wollten nun nicht nur Jakob Koller zur
Strecke bringen, sondern auch alle seine Gefährten, um eine weitere
Ausbreitung der Hexerei unter Jugendlichen zu verhindern. Im gesamten Erzstift, aber auch in Österreich und Bayern wurde
gefahndet, trotzdem konnte Jackl nie gefasst werden. Dafür nahmen
die Behörden von Ende 1677 bis ins Frühjahr 1679 immer mehr Bettler
fest - vor allem kleine Buben, halbwüchsige Knaben und junge
Männer. Die meisten hatten nur mehr losen oder gar keinen Kontakt
zu Jackl gehabt. Viele waren Waisenkinder, aus Not von zu Hause
fortgeschickt worden oder von selbst weggelaufen. Die meisten litten
körperlich an den Folgen von Krankheiten, Unfällen oder Gewalterlebnissen.
Einige waren geistig behindert und wussten nicht einmal ihre Namen. Unter Druck, nach Schlägen oder aus Angst vor (weiterer)
Folter gestanden sie nach Vorlage eines vorgefertigten Kataloges
an Suggestivfragen die unmöglichsten Vergehen: Eine geschändete
Hostie soll sich etwa in den Heiland verwandelt haben, dieser sei
dann von der Bande erneut gekreuzigt worden. Die Unzucht mit Tieren
und dem Teufel gehörte zum Standardrepertoire der erpresstenGeständnisse. Natürlich sollen Jackl und seine Zauberergesellen auf
Besen zum Hexentanz geritten sein. Jackl soll außerdem die Fähigkeit
besessen haben, sich entweder in ein Tier zu verwandeln oder sich
unsichtbar machen zu können. Die Geschichten um ihn wurden von
Verhör zu Verhör einfallsreicher, schauriger und blutrünstiger. Dabei
ist nicht einmal klar, ob Jakob Koller auf dem Höhepunkt der Verfolgung
noch lebte.
Seine gefangenen Komplizen bekamen den gesamten Hass der Gesellschaft
zu spüren, der sich vor allem aus der Angst vor der Zauberer-
Gestalt und dem Abscheu vor den heruntergekommenen Bettlern
speiste. Der Hexenwahn war zwar religiös unterfüttert und bezog seine
Legitimation aus der Bibel, dennoch war für die Prozesse in Salzburg
nicht die kirchliche Inquisition verantwortlich, sondern die weltliche
Gerichtsbarkeit. Die vermeintlichen Hexen und Zauberer wurden aus
allen Teilen des Landes in die Residenzstadt gebracht und im Rathaus
in enge Zellen gepfercht. Als diese überfüllt waren, wurde in einem
Turm der Stadtmauer ein eigenes Hexengefängnis eingerichtet. Der
Hofrat fällte als Justizbehörde unendlich grausame Urteile: Die oft
noch jugendlichen Opfer wurden meist erdrosselt oder enthauptet
und anschließend verbrannt. Für die Hinrichtung von Kindern zwischen
10 und 14 Jahren wurde als „Gnadenakt" eigens ein Fallbeil aus
Italien importiert. Schonung gab es nur für die meisten, aber nicht
alle Mädchen und Buben, die jünger als zehn Jahre alt waren - sie kamen
zu Pflegeeltern, mussten aber vorher zum Teil die Hinrichtungen
ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen.
Die große Verfolgungswelle dauerte von Ende 1677 bis Mitte 1678. Inklusive einiger „Nachbeben" loderten bis 1690 die Scheiterhaufen
im Salzburger Land. Rund 200 vermeintliche Zauberer wurden verhaftet, insgesamt fanden 159 den Tod. Das jüngste Opfer des
Staatsterrors gegen die unterste soziale Schicht des kleinen Staates war
der erst sieben- oder achtjährige Matthias Hauser aus dem Pongau,
der geköpft und anschließend verbrannt wurde, das älteste Margarete
Reinberger, die mit 80 Jahren eine für damalige Verhältnisse bereits
uralte Frau war. Die Prozesse leitete federführend der ehrgeizige und gnadenlose
Jurist Sebastian Zillner. Er wurde auch von seiner eigenen panischen Angst vor Hexen und Zauberern angetrieben und von der
Abscheu vor sozialer Not.
Höchst umstritten ist die Rolle des Landesherrn: Einerseits entschuldigen
einige Historiker den damaligen Fürsterzbischof und späteren
Kardinal Maximilian Gandolph Graf von Kuenburg mit dem Hinweis, dieser sei ein Kind seiner Zeit gewesen, habe sich als solches
nicht über den allgemeinen Volksglauben hinwegsetzen können und
daher monatelang alle Todesurteile des Hofrats bestätigt. Andererseits
ließ er zeitgleich alte Volksbräuche wie rituelle Bittgebete verbieten,
die seiner Meinung nach „mehrerteils aus einem Aberglauben" praktiziert
wurden. Außerdem stellte der Kirchenfürst die Beichtväter der
verhafteten Hexen und Zauberer kalt, weil diese Zweifel und Kritik an
den Geständnissen geäußert hatten. In der Gesamtschau ergibt sich
das Bild, Max Gandolph und seine Beamten benutzten die Hexenprozesse,
um sich eines immer drängender werdenden sozialen Problems zu entledigen: der Bettelei durch herumziehende Kinder, Jugendliche
und ganze Familien.
Die Prozessflut im Zusammenhang mit dem Zauberer Jackl ist aus
mehreren Gründen eine traurige Besonderheit - vor allem im Hinblick
auf die Zahl der Angeklagten, Verurteilten und Hingerichteten.
Zudem fand die Verfolgung statt, als an anderen Orten der Hexenwahn
bereits überwunden war. Und man ging in Salzburg nicht gegen
die üblichen Verdächtigen vor, also gegen Hebammen, Kräuterweiberl,
Bader oder Quacksalber. Vielmehr sollte zum ersten Mal eine
gesamte soziale Gruppe ausgerottet werden - die Verfolgung wurde
nicht so, wie anderenorts üblich, durch die Bevölkerung getragen,
sondern von der Obrigkeit. Jackl war als vermeintlicher Anführer
der Bettler, zu dem er wahrscheinlich erst durch die Verfolgung
hochstilisiert wurde, doppelt gefährlich: Zum einen glaubten die
Menschen tatsächlich an Zauberei, zum anderen war er in den Augen
des Hofrats, welcher die oberste Polizei- und Justizbehörde darstellte,
ein Aufrührer und potenzieller Anführer einer Rebellion der
Armen. Nach einer Reihe von Biografien über bekannte österreichische Unternehmer
und Politiker, wie Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, VW-Patriarch Ferdinand Piëch, Magna-Milliardär Frank Stronach,
Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser oder zuletzt Hans Peter
Haselsteiner, widme ich mich dieses Mal einem historischen Thema,
das mich bereits seit Jahren im Hinterkopf beschäftigt und das in unregelmäßigen
Abständen immer wieder unvermittelt vor mir auftauchte - sei es in Form eines Romans, den meine Frau zum Geburtstag
geschenkt bekam, oder bei einem Besuch eines Freundes, der zufällig
dort wohnt, wo einst der Hexenturm stand. Dieses Buch soll keine
Schauergeschichte mit wahrem Hintergrund erzählen, wenngleich
der Stoff alles dafür hergeben würde. Vielmehr soll es die historische
Wahrheit über eines der dunkelsten Kapitel der Salzburger Geschichte
einer breiteren Masse näherbringen. Denn bisher gibt es zwar Romane,
ein Theaterstück, eine TV-Doku (an deren Entstehung ich nicht
ganz unbeteiligt war), wissenschaftliche Arbeiten sowie einige Zeitungs-
und Zeitschriftenartikel über den Zauberer Jackl, aber noch
kein allgemein verständliches Sachbuch. Ich wollte nicht nur den Ablauf
der Prozesse schildern und die haarsträubenden Zauberei-Delikte,
die völlig verängstigte
Straßenkinder und Bettler gestanden hatten, sondern mich beschäftigte auch die Frage, wie sich die Stimmung der
Bevölkerung und Obrigkeit dermaßen aufheizen konnte, dass es zu
einer solchen Serie von Verbrechen unter dem Deckmantel der Justiz
kommen konnte. Dieses Buch wird zeigen, dass ein Klima der Angst und der Intoleranz
den Nährboden bildete, auf dem ein fanatischer Schreibtischtäter
wie Sebastian Zillner seine volle Wut entfalten konnte. Dieses
Klima der Angst und Intoleranz nährte sich aus einer lange anhaltenden
wirtschaftlichen Krise, aus einer Reihe von Missernten und den daraus folgenden Jahren der Not und aus religiösem Eifer. Die
Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges lag erst eine Generation zurück
- der Handel hatte sich noch lange nicht erholt. Dazu brachte die
sogenannte Kleine Eiszeit ungewöhnlich starke Unwetter und harte
Winter. Ganze Ernten wurden durch Frost, Hagel und Sturm vernichtet; auch zahlreiche Menschen kamen bei Naturkatastrophen ums
Leben. In Zeiten der Not tut es der Gesellschaft offenbar gut, wenn sie
sich an Sündenböcken abreagieren kann.
Und damit erhält das an sich historische Thema auch eine aktuelle
Komponente: Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland und
Österreich unter dem Zeichen des Hakenkreuzes oder in den Neunzigerjahren
des vergangenen Jahrhunderts während des Krieges auf dem Balkan aus ethnischem Hass zu „Hexenjagden" aufgerufen wurde.
Noch heute werden in afrikanischen Staaten und im Nahen Osten
unter dem Deckmantel der religiösen Frömmigkeit die fürchterlichsten
Verbrechen begangen. Auch der Glaube an Hexen und Zauberer ist noch lange nicht überwunden: Seit den 1960er-Jahren sollen in
Afrika mehr Menschen wegen des Vorwurfs der Hexerei hingerichtet
oder ermordet worden sein als während des gesamten Spätmittelalters
und der Frühen Neuzeit in Europa. In Kamerun, Togo und Malawi
wurden nach dem Erreichen der Unabhängigkeit eigene Gesetze gegen
Hexerei eingeführt. In Tansania sollen bis heute pro Jahr bis zu
200 angebliche Hexen und Zauberer getötet worden sein. Ähnliche
Zahlen werden auch für Indien gemeldet, wo immer wieder Frauen
als vermeintliche Hexen öffentlich gelyncht werden. Leider ist die
Verfolgung von Straßenkindern ebenfalls kein rein geschichtliches
Thema. Das zeigen beklemmende Berichte über Morde an Kindern
in Angola, Benin, im Kongo oder in Nigeria, die für die Verbreitung
von Aids verantwortlich gemacht werden, oder das Wüten von Todesschwadronen
in brasilianischen Favelas - zuletzt wieder im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2014.
Aber auch im reichen Salzburg gibt es wieder Bettler und Straßenkinder:
Weil sie in ihrer Heimat von Politik und Verwaltung völlig im Stich gelassen werden, kommen jedes Jahr Hunderte Roma aus
Rumänien, um hier durch Betteln für einige Wochen ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. Darunter ganze Familien, deren Kinder keine Schulen besuchen und unter fürchterlichen hygienischen und sozialen
Verhältnissen und auf der Straße aufwachsen. In den Augen vieler
sind diese Bettler nur ein Ärgernis, das die Behörden beseitigen müssten. Von der starken Hand zum Staatsterror ist es oft nur ein kleiner Schritt, wie ein Blick zurück in die eigene Geschichte zeigt. Insofern
soll dieses Buch auch zum Nachdenken anregen. Der große (Volks-)Dichter Felix Mitterer setzte mit seinem Schauspiel
„Die Kinder des Teufels" den Opfern der Zauberer-Jackl-Verfolgung
ein so beeindruckendes wie beklemmendes literarisches Denkmal.
Ich habe mir erlaubt, einzelne Kapitel dieses Buches mit Szenen
aus dem Stück einzuleiten, um sie mit mehr Leben zu erfüllen.
Abschließend noch zwei formale Bemerkungen: Erstens habe ich Zitate aus jüngerer Literatur in die neue Rechtschreibung übergeführt,
da uns diese mittlerweile geläufiger ist als die alte. Jene aus
historischen Quellen beließ ich in der damals verwendeten Sprache
und setzte sie kursiv, um sie textlich hervorzuheben. Das Lesen des
Schriftdeutschs aus dem 16. und 17. Jahrhundert mag zwar am Anfang
etwas schwierig sein; es lohnt sich aber, schon allein der Authentizität
wegen. Zweitens: Da mir und meinen Lesern klar ist, dass es
keine Hexen und Zauberer gibt, habe ich darauf verzichtet, die Begriffe
unter Anführungszeichen zu setzen oder sie nur in Verbindung mit
den Attributen „angeblich" oder „vermeintlich" zu verwenden, damit
der Textfluss nicht gestört wird.
Maishofen, im November 2014
© Überreuter Verlag
Zauberer-Komplizen erlassen. Damit begann der größte Hexenprozess,
den es je im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation gab.
1677 erhielten die Behörden Nachricht, Jackl sei gestorben. Allerdings
wurde wenige Wochen später der zwölfjährige Bettler Dionys (auch Dionysus) Feldner festgenommen. Dieser sagte aus, er sei mit
dem vermeintlich Toten und anderen Buben und Burschen umhergezogen.
Jakob Koller, der damals Anfang zwanzig war, scheint ein charismatischer Anführer gewesen zu sein und hatte es geschafft, eine
Bande junger Bettler um sich zu scharen, der auch Dionys Feldner
angehörte. Die Straßenkinder wanderten bettelnd, stehlend und betrügend
durch das Salzburger Land, vor allem durch den Pongau und Lungau, und dürften auch ihre eigenen, geheimen Rituale gepflegt
haben. So ist etwa überliefert, die Mitglieder hätten sich durch Blutsfreundschaft
miteinander verbunden. Von dahin bis zum Vorwurf der Zauberei gegen alle Gefährten Jackls war es nur ein schmaler Grat, der
mit dem Verhör des 14-jährigen Matthias Thoman
Hasendorfer überschritten
wurde. Dieser gestand, Jackl habe ihn das Zaubern gelehrt; und er nannte die Namen weiterer Bettlerbuben, die er damit ins Verderben
stürzte: Die Behörden wollten nun nicht nur Jakob Koller zur
Strecke bringen, sondern auch alle seine Gefährten, um eine weitere
Ausbreitung der Hexerei unter Jugendlichen zu verhindern. Im gesamten Erzstift, aber auch in Österreich und Bayern wurde
gefahndet, trotzdem konnte Jackl nie gefasst werden. Dafür nahmen
die Behörden von Ende 1677 bis ins Frühjahr 1679 immer mehr Bettler
fest - vor allem kleine Buben, halbwüchsige Knaben und junge
Männer. Die meisten hatten nur mehr losen oder gar keinen Kontakt
zu Jackl gehabt. Viele waren Waisenkinder, aus Not von zu Hause
fortgeschickt worden oder von selbst weggelaufen. Die meisten litten
körperlich an den Folgen von Krankheiten, Unfällen oder Gewalterlebnissen.
Einige waren geistig behindert und wussten nicht einmal ihre Namen. Unter Druck, nach Schlägen oder aus Angst vor (weiterer)
Folter gestanden sie nach Vorlage eines vorgefertigten Kataloges
an Suggestivfragen die unmöglichsten Vergehen: Eine geschändete
Hostie soll sich etwa in den Heiland verwandelt haben, dieser sei
dann von der Bande erneut gekreuzigt worden. Die Unzucht mit Tieren
und dem Teufel gehörte zum Standardrepertoire der erpresstenGeständnisse. Natürlich sollen Jackl und seine Zauberergesellen auf
Besen zum Hexentanz geritten sein. Jackl soll außerdem die Fähigkeit
besessen haben, sich entweder in ein Tier zu verwandeln oder sich
unsichtbar machen zu können. Die Geschichten um ihn wurden von
Verhör zu Verhör einfallsreicher, schauriger und blutrünstiger. Dabei
ist nicht einmal klar, ob Jakob Koller auf dem Höhepunkt der Verfolgung
noch lebte.
Seine gefangenen Komplizen bekamen den gesamten Hass der Gesellschaft
zu spüren, der sich vor allem aus der Angst vor der Zauberer-
Gestalt und dem Abscheu vor den heruntergekommenen Bettlern
speiste. Der Hexenwahn war zwar religiös unterfüttert und bezog seine
Legitimation aus der Bibel, dennoch war für die Prozesse in Salzburg
nicht die kirchliche Inquisition verantwortlich, sondern die weltliche
Gerichtsbarkeit. Die vermeintlichen Hexen und Zauberer wurden aus
allen Teilen des Landes in die Residenzstadt gebracht und im Rathaus
in enge Zellen gepfercht. Als diese überfüllt waren, wurde in einem
Turm der Stadtmauer ein eigenes Hexengefängnis eingerichtet. Der
Hofrat fällte als Justizbehörde unendlich grausame Urteile: Die oft
noch jugendlichen Opfer wurden meist erdrosselt oder enthauptet
und anschließend verbrannt. Für die Hinrichtung von Kindern zwischen
10 und 14 Jahren wurde als „Gnadenakt" eigens ein Fallbeil aus
Italien importiert. Schonung gab es nur für die meisten, aber nicht
alle Mädchen und Buben, die jünger als zehn Jahre alt waren - sie kamen
zu Pflegeeltern, mussten aber vorher zum Teil die Hinrichtungen
ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen.
Die große Verfolgungswelle dauerte von Ende 1677 bis Mitte 1678. Inklusive einiger „Nachbeben" loderten bis 1690 die Scheiterhaufen
im Salzburger Land. Rund 200 vermeintliche Zauberer wurden verhaftet, insgesamt fanden 159 den Tod. Das jüngste Opfer des
Staatsterrors gegen die unterste soziale Schicht des kleinen Staates war
der erst sieben- oder achtjährige Matthias Hauser aus dem Pongau,
der geköpft und anschließend verbrannt wurde, das älteste Margarete
Reinberger, die mit 80 Jahren eine für damalige Verhältnisse bereits
uralte Frau war. Die Prozesse leitete federführend der ehrgeizige und gnadenlose
Jurist Sebastian Zillner. Er wurde auch von seiner eigenen panischen Angst vor Hexen und Zauberern angetrieben und von der
Abscheu vor sozialer Not.
Höchst umstritten ist die Rolle des Landesherrn: Einerseits entschuldigen
einige Historiker den damaligen Fürsterzbischof und späteren
Kardinal Maximilian Gandolph Graf von Kuenburg mit dem Hinweis, dieser sei ein Kind seiner Zeit gewesen, habe sich als solches
nicht über den allgemeinen Volksglauben hinwegsetzen können und
daher monatelang alle Todesurteile des Hofrats bestätigt. Andererseits
ließ er zeitgleich alte Volksbräuche wie rituelle Bittgebete verbieten,
die seiner Meinung nach „mehrerteils aus einem Aberglauben" praktiziert
wurden. Außerdem stellte der Kirchenfürst die Beichtväter der
verhafteten Hexen und Zauberer kalt, weil diese Zweifel und Kritik an
den Geständnissen geäußert hatten. In der Gesamtschau ergibt sich
das Bild, Max Gandolph und seine Beamten benutzten die Hexenprozesse,
um sich eines immer drängender werdenden sozialen Problems zu entledigen: der Bettelei durch herumziehende Kinder, Jugendliche
und ganze Familien.
Die Prozessflut im Zusammenhang mit dem Zauberer Jackl ist aus
mehreren Gründen eine traurige Besonderheit - vor allem im Hinblick
auf die Zahl der Angeklagten, Verurteilten und Hingerichteten.
Zudem fand die Verfolgung statt, als an anderen Orten der Hexenwahn
bereits überwunden war. Und man ging in Salzburg nicht gegen
die üblichen Verdächtigen vor, also gegen Hebammen, Kräuterweiberl,
Bader oder Quacksalber. Vielmehr sollte zum ersten Mal eine
gesamte soziale Gruppe ausgerottet werden - die Verfolgung wurde
nicht so, wie anderenorts üblich, durch die Bevölkerung getragen,
sondern von der Obrigkeit. Jackl war als vermeintlicher Anführer
der Bettler, zu dem er wahrscheinlich erst durch die Verfolgung
hochstilisiert wurde, doppelt gefährlich: Zum einen glaubten die
Menschen tatsächlich an Zauberei, zum anderen war er in den Augen
des Hofrats, welcher die oberste Polizei- und Justizbehörde darstellte,
ein Aufrührer und potenzieller Anführer einer Rebellion der
Armen. Nach einer Reihe von Biografien über bekannte österreichische Unternehmer
und Politiker, wie Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, VW-Patriarch Ferdinand Piëch, Magna-Milliardär Frank Stronach,
Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser oder zuletzt Hans Peter
Haselsteiner, widme ich mich dieses Mal einem historischen Thema,
das mich bereits seit Jahren im Hinterkopf beschäftigt und das in unregelmäßigen
Abständen immer wieder unvermittelt vor mir auftauchte - sei es in Form eines Romans, den meine Frau zum Geburtstag
geschenkt bekam, oder bei einem Besuch eines Freundes, der zufällig
dort wohnt, wo einst der Hexenturm stand. Dieses Buch soll keine
Schauergeschichte mit wahrem Hintergrund erzählen, wenngleich
der Stoff alles dafür hergeben würde. Vielmehr soll es die historische
Wahrheit über eines der dunkelsten Kapitel der Salzburger Geschichte
einer breiteren Masse näherbringen. Denn bisher gibt es zwar Romane,
ein Theaterstück, eine TV-Doku (an deren Entstehung ich nicht
ganz unbeteiligt war), wissenschaftliche Arbeiten sowie einige Zeitungs-
und Zeitschriftenartikel über den Zauberer Jackl, aber noch
kein allgemein verständliches Sachbuch. Ich wollte nicht nur den Ablauf
der Prozesse schildern und die haarsträubenden Zauberei-Delikte,
die völlig verängstigte
Straßenkinder und Bettler gestanden hatten, sondern mich beschäftigte auch die Frage, wie sich die Stimmung der
Bevölkerung und Obrigkeit dermaßen aufheizen konnte, dass es zu
einer solchen Serie von Verbrechen unter dem Deckmantel der Justiz
kommen konnte. Dieses Buch wird zeigen, dass ein Klima der Angst und der Intoleranz
den Nährboden bildete, auf dem ein fanatischer Schreibtischtäter
wie Sebastian Zillner seine volle Wut entfalten konnte. Dieses
Klima der Angst und Intoleranz nährte sich aus einer lange anhaltenden
wirtschaftlichen Krise, aus einer Reihe von Missernten und den daraus folgenden Jahren der Not und aus religiösem Eifer. Die
Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges lag erst eine Generation zurück
- der Handel hatte sich noch lange nicht erholt. Dazu brachte die
sogenannte Kleine Eiszeit ungewöhnlich starke Unwetter und harte
Winter. Ganze Ernten wurden durch Frost, Hagel und Sturm vernichtet; auch zahlreiche Menschen kamen bei Naturkatastrophen ums
Leben. In Zeiten der Not tut es der Gesellschaft offenbar gut, wenn sie
sich an Sündenböcken abreagieren kann.
Und damit erhält das an sich historische Thema auch eine aktuelle
Komponente: Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland und
Österreich unter dem Zeichen des Hakenkreuzes oder in den Neunzigerjahren
des vergangenen Jahrhunderts während des Krieges auf dem Balkan aus ethnischem Hass zu „Hexenjagden" aufgerufen wurde.
Noch heute werden in afrikanischen Staaten und im Nahen Osten
unter dem Deckmantel der religiösen Frömmigkeit die fürchterlichsten
Verbrechen begangen. Auch der Glaube an Hexen und Zauberer ist noch lange nicht überwunden: Seit den 1960er-Jahren sollen in
Afrika mehr Menschen wegen des Vorwurfs der Hexerei hingerichtet
oder ermordet worden sein als während des gesamten Spätmittelalters
und der Frühen Neuzeit in Europa. In Kamerun, Togo und Malawi
wurden nach dem Erreichen der Unabhängigkeit eigene Gesetze gegen
Hexerei eingeführt. In Tansania sollen bis heute pro Jahr bis zu
200 angebliche Hexen und Zauberer getötet worden sein. Ähnliche
Zahlen werden auch für Indien gemeldet, wo immer wieder Frauen
als vermeintliche Hexen öffentlich gelyncht werden. Leider ist die
Verfolgung von Straßenkindern ebenfalls kein rein geschichtliches
Thema. Das zeigen beklemmende Berichte über Morde an Kindern
in Angola, Benin, im Kongo oder in Nigeria, die für die Verbreitung
von Aids verantwortlich gemacht werden, oder das Wüten von Todesschwadronen
in brasilianischen Favelas - zuletzt wieder im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2014.
Aber auch im reichen Salzburg gibt es wieder Bettler und Straßenkinder:
Weil sie in ihrer Heimat von Politik und Verwaltung völlig im Stich gelassen werden, kommen jedes Jahr Hunderte Roma aus
Rumänien, um hier durch Betteln für einige Wochen ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. Darunter ganze Familien, deren Kinder keine Schulen besuchen und unter fürchterlichen hygienischen und sozialen
Verhältnissen und auf der Straße aufwachsen. In den Augen vieler
sind diese Bettler nur ein Ärgernis, das die Behörden beseitigen müssten. Von der starken Hand zum Staatsterror ist es oft nur ein kleiner Schritt, wie ein Blick zurück in die eigene Geschichte zeigt. Insofern
soll dieses Buch auch zum Nachdenken anregen. Der große (Volks-)Dichter Felix Mitterer setzte mit seinem Schauspiel
„Die Kinder des Teufels" den Opfern der Zauberer-Jackl-Verfolgung
ein so beeindruckendes wie beklemmendes literarisches Denkmal.
Ich habe mir erlaubt, einzelne Kapitel dieses Buches mit Szenen
aus dem Stück einzuleiten, um sie mit mehr Leben zu erfüllen.
Abschließend noch zwei formale Bemerkungen: Erstens habe ich Zitate aus jüngerer Literatur in die neue Rechtschreibung übergeführt,
da uns diese mittlerweile geläufiger ist als die alte. Jene aus
historischen Quellen beließ ich in der damals verwendeten Sprache
und setzte sie kursiv, um sie textlich hervorzuheben. Das Lesen des
Schriftdeutschs aus dem 16. und 17. Jahrhundert mag zwar am Anfang
etwas schwierig sein; es lohnt sich aber, schon allein der Authentizität
wegen. Zweitens: Da mir und meinen Lesern klar ist, dass es
keine Hexen und Zauberer gibt, habe ich darauf verzichtet, die Begriffe
unter Anführungszeichen zu setzen oder sie nur in Verbindung mit
den Attributen „angeblich" oder „vermeintlich" zu verwenden, damit
der Textfluss nicht gestört wird.
Maishofen, im November 2014
© Überreuter Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Wolfgang Fürweger
Mag. Dr. Wolfgang Fürweger, geboren 1971, lebt und arbeitet als Zeitungsjournalist in Wien und Salzburg. Er hat bereits mehrere Biografien bei Ueberreuter veröffentlicht, u. a. "Frank Stronach", "Die Red Bull Story" und "Ferdinand Piëch. Automanager des Jahrhunderts".
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Fürweger
- 2015, 208 Seiten, Maße: 14,3 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Carl Ueberreuter Verlag
- ISBN-10: 3800076063
- ISBN-13: 9783800076062
- Erscheinungsdatum: 13.02.2015
Kommentar zu "Verbrannte Kindheit 1677-1679"