Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1
Roman
Ein sechzehnjähriges Mädchen scheint alle Symptome eines nahenden, psychischen Zusammenbruchs aufzuweisen. Doch ihre Großmutter erkennt, was wirklich mit ihr los ist. Es ist das Erbe ihres Vaters, die Fähigkeit zwischen der Ober- und der Unterwelt zu wandeln.
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Produktinformationen zu „Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1 “
Ein sechzehnjähriges Mädchen scheint alle Symptome eines nahenden, psychischen Zusammenbruchs aufzuweisen. Doch ihre Großmutter erkennt, was wirklich mit ihr los ist. Es ist das Erbe ihres Vaters, die Fähigkeit zwischen der Ober- und der Unterwelt zu wandeln.
Klappentext zu „Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1 “
Eine zarte Liebe, von Dunkelheit bedrohtPlötzlich ist im Leben der 16-jährigen Daire Santos nichts mehr so, wie es war. Von einem Tag auf den anderen hat sie schreckliche Visionen, Krähen und Geister verfolgen sie, während die Zeit still zu stehen scheint. Und dann wird sie in ihren Träumen auch noch heimgesucht von einem unbekannten Jungen mit wunderschönen blauen Augen. Daire glaubt, den Verstand zu verlieren. Erst als sie zum ersten Mal Kontakt zu ihrer Großmutter aufnimmt, scheint sich alles zu klären. Denn von ihr erfährt sie, dass sie ein Soul Seeker ist. Nur sie hat die Fähigkeit, zwischen den Welten der Lebenden und der Toten zu wandeln. Doch dann begegnet sie Dace, dem Jungen mit den schönen blauen Augen in der Wirklichkeit, und von dem Augenblick an ringt ihre Großmutter mit dem Tod. Kann es sein, dass dieser charmante Junge nicht der ist, der er vorgibt zu sein und eine dunkle Gefahr von ihm ausgeht?
Als besondere Zugabe ergibt der Schutzumschlag aufgefaltet ein wunderschönes A3 Poster.
Lese-Probe zu „Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1 “
Soul Seeker - Vom Schicksal bestimmt von Alyson NoëlDamals
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Als Erstes kamen die Krähen.
Ein ganzer Schwarm.
Ihre schwarzen, geschmeidigen Leiber umkreisten in strenger Formation den Friedhof, die dunkel glänzenden Augen wachsam und unermüdlich. Unbeirrt von der trockenen, brütenden Hitze und der sauerstoffarmen Luft - einer Folge der tobenden Feuersbrünste, die den Himmel blutrot aufflammen und heiße Aschewolken auf die Trauernden niederregnen ließen.
Wer mit solchen Dingen vertraut war, erkannte darin ein untrügliches Zeichen. Und Paloma Santos, die ganz sicher war, dass der plötzliche Tod ihres Sohnes kein Unfall gewesen war, sah die Krähen als das, was sie waren: nicht nur als böses Omen, sondern gewissermaßen als Zeichen, dass es einen Nachkommen gab und sich sogar hier auf diesem Friedhof befand.
Ihre Vermutung wurde bestätigt, als sie den Arm tröstend um die gramerfüllte Freundin ihres Sohnes legte und das wachsende Leben in deren Körper spürte.
Die Letzte der Santos.
Eine Enkeltochter, deren Schicksal lange vorherbestimmt war.
Doch wenn die Krähen etwas ahnten, dann wussten vielleicht auch andere Bescheid. Jene, die nichts lieber täten, als das ungeborene Mädchen zu vernichten und sicherzustellen, dass es niemals die Möglichkeit haben würde, sein Geburtsrecht einzufordern.
Auf die Sicherheit ihrer Enkelin bedacht, verließ Paloma die Beerdigung lange bevor die erste Hand voll Erde auf den Sarg geworfen wurde. Schwor sich, still und unsichtbar zu bleiben, bis zum sechzehnten Geburtstag des Mädchens, wenn sie den Rat brauchen würde, den nur Paloma ihr geben konnte.
Sechzehn Jahre, um sich vorzubereiten.
Sechzehn Jahre, um ihre schwindenden Kräfte wiederherzustellen - das Vermächtnis am Leben zu erhalten -, bis es Zeit war, es weiterzureichen.
Sie hoffte, dass sie es schaffte - der Tod ihres Sohnes forderte einen Preis, der weit über Trauer hinausging.
Wenn es ihr nicht gelang, zu überleben und ihre Enkelin rechtzeitig zu erreichen, würde das Leben des Mädchens ebenso tragisch und vorzeitig enden wie das seines Vaters. Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen.
Es gab sonst niemanden, der die Nachfolge antreten konnte.
Zu viel stand auf dem Spiel.
Das ungeborene Kind hielt das Schicksal der ganzen Welt in seinen Händen.
Heute
Eins
Es gibt Momente im Leben, da kommt alles zum Stillstand. Die Erde gerät ins Stocken, die Atmosphäre verdichtet sich, und die Zeit schrumpft zusammen.
Als ich die schmale Holztür des riad öffne, in dem Jennika und ich seit ein paar Wochen wohnen, und aus dem ruhigen, nach Rosen und Geißblatt duftenden Garten hinaus in das verschlungene Gassenlabyrinth der Medina trete, passiert es schon wieder.
Doch statt wie üblich gleichfalls in Reglosigkeit zu verfallen, lasse ich mich auf die Situation ein, und beschließe, mich ein bisschen zu amüsieren. Auf meinem Weg vorbei an lachsfarbenen Hauswänden treffe ich auf einen kleinen, dünnen Mann, der beim Ausschreiten erstarrt ist, lege die Hand auf den weichen Baumwollstoff seiner gandora und drehe ihn behutsam im Kreis, bis er in die entgegengesetzte Richtung schaut. Nachdem ich einer räudigen schwarzen Katze ausgewichen bin, die mitten im Sprung in der Luft hängt, als würde sie fliegen, nehme ich mir kurz Zeit und ordne die glänzenden Messinglaternen neu, die von einem alten Mann feilgeboten werden, bevor ich am Stand daneben in ein Paar leuchtend blaue babouches schlüpfe, die mir so gut gefallen, dass ich meine alten Ledersandalen und einige zerknitterte Dirham-Scheine als Bezahlung zurücklasse.
Mittlerweile brennen mir die Augen, da ich sie krampfhaft offen halte, denn ich weiß, beim ersten Lidschlag wird der Mann in der gandora sich einen Schritt von seinem Ziel entfernt haben, die Katze wird an ihrem anvisierten Platz landen, die beiden Händler werden verwirrt auf ihre Waren schauen, und die Szenerie wird in ihr übliches geschäftiges Durcheinander zurückfallen.
Als ich jedoch die leuchtenden Gestalten erblicke, die am Rand lauern und mich wie immer aufmerksam beobachten, kneife ich schleunigst die Augen zu und blende sie aus, in der Hoffnung, dass sie wie sonst auch einfach verschwinden. Dorthin zurückkehren, wo auch immer sie hingehen, wenn sie mich nicht gerade anstarren.
Ich dachte immer, dass jeder solche Momente erlebt, bis ich mich Jennika anvertraute, die mir einen argwöhnischen Blick zuwarf und etwas von Jetlag murmelte.
Jennika schiebt alles auf den Jetlag und beharrt darauf, dass die Zeit für niemanden stillsteht - dass es unsere Aufgabe ist, mit ihrem hektischen Voranschreiten Schritt zu halten. Aber selbst damals wusste ich es besser - solange ich denken kann, habe ich Zeitzonen überquert, doch was ich gerade erlebt habe, hat nichts mit einem durcheinandergeratenen Biorhythmus zu tun.
Dennoch verkniff ich mir, es ein zweites Mal zur Sprache zu bringen. Ich wartete einfach ruhig und geduldig ab, in der Hoffnung, der Augenblick möge sich wiederholen.
Und das tat er.
Im Lauf der letzten paar Jahre wurden diese Momente allmählich häufiger, bis sie neuerdings, genauer gesagt, seit unserer Ankunft in Marokko, bis zu drei Mal die Woche auftreten.
Ein Junge in meinem Alter läuft an mir vorbei, und beim Anblick seiner lüsternen Augen zupfe ich automatisch mein blaues Tuch zurecht, damit es mein Haar bedeckt, und gehe einen Schritt schneller. Mit dem festen Vorsatz, lange vor Vane einzutreffen und den Djemaa el Fna vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, biege ich um die Ecke und lande auf dem Platz, wo mir die erhoffte Reizüberflutung entgegenschwappt.
Auf einer langen Reihe von Grills brutzeln Ziegen, Tauben und andere undefinierbare Tiere, deren gehäutete und glasierte Leiber sich auf Spießen drehen und die Luft mit würzigen Rauchwolken anreichern. Das hypnotisierende Flöten der greisenhaften Schlangenbeschwörer, die im Schneidersitz auf dicken Webteppichen hocken und ihre pungis spielen, während Kobras mit glasigen Augen vor ihnen aus Körben aufsteigen - all das vor dem eindringlichen Rhythmus der gnaouan-Trommeln, die allabendlich den faszinierenden Platz zu neuem Leben erwecken.
Ich atme tief ein, genieße die betörende Mischung aus exotischen Ölen und Jasmin, während ich das Ganze auf mich wirken lasse, in dem Bewusstsein, dass ich all dies nur noch wenige Male auf diese Weise sehen werde. Der Film ist bald abgedreht, und Jennika und ich machen uns wieder auf den Weg zu irgendeinem anderen Drehort, wo man ihre Dienste als preisgekrönte Visagistin benötigt. Wer weiß, ob wir jemals hierher zurückkehren werden?
Auf dem Weg zum ersten Essensstand, dem neben dem Schlangenbeschwörer, wo Vane auf mich wartet, gönne ich mir ein paar Sekunden, um das ärgerliche Schwächegefühl zu verscheuchen, das mich jedes Mal bei seinem Anblick überkommt - jedes Mal, wenn ich seine zerzausten blonden Haare sehe, die tiefblauen Augen und die sanft geschwungenen Lippen.
Blöde Kuh!, denke ich kopfschüttelnd. Idiotin!
Als ob ich es nicht besser wüsste. Als ob ich die Regeln nicht kennen würde.
Das Motto lautet: sich bloß nicht auf jemanden einlassen - sich bloß nicht hinreißen lassen, jemanden zu mögen, sondern nur ein bisschen Spaß haben, und niemals zurückschauen, wenn es Zeit wird, weiterzuziehen.
Wie all die anderen hübschen Gesichter vor ihm gehört auch Vanes Gesicht seinen Heerscharen von Fans. Nicht eines dieser Gesichter hat je zu mir gehört - und das wird sich auch nie ändern.
Da ich auf Filmsets groß geworden bin, seit ich alt genug war, dass Jennika mich im Tragegurt mitschleppen konnte, habe ich meine Rolle als Kind eines Teammitglieds schon unzählige Male gespielt: Mund halten, nicht im Weg stehen, helfen, wenn man darum gebeten wird, und die Beziehungen am Filmset niemals mit dem wirklichen Leben verwechseln.
Und weil ich schon von klein auf ständig mit Berühmtheiten zu tun habe, lasse ich mich nicht so leicht beeindrucken, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich ihnen meist auf Anhieb sympathisch bin. Ich meine, obwohl ich nicht schlecht aussehe - ziemlich groß und schlank, langes, dunkles Haar, recht heller Teint und leuchtend grüne Augen, die vielen Leuten auffallen -, bin ich eher der durchschnittliche Mädchentyp. Abgesehen davon, dass ich nicht gleich ausflippe, wenn mir irgendwelche Berühmtheiten über den Weg laufen. Ich werde nicht rot oder stottere verunsichert herum. Und das ist so ungewohnt für sie, dass häufig sie auf die Idee kommen, hinter mir herzulaufen.
Meinen ersten Kuss bekam ich an einem Strand in Rio de Janeiro von einem Jungen, der gerade den »Best Kiss Award« von MTV bekommen hatte - offensichtlich hatte keine der Wählerinnen ihn tatsächlich geküsst. Mein Zweiter war auf dem Pont Neuf in Paris mit einem Jungen, der es soeben aufs Titelblatt von Vanity Fair geschafft hatte. Und abgesehen davon, dass sie reicher, berühmter und von Paparazzi umlagert sind, unterscheidet sich ihr Leben nicht großartig von unserem.
Die meisten von ihnen sind Durchreisende - sie ziehen durchs Leben, genau wie ich. Wandern von einem Ort zum anderen, von einer Freundschaft oder Beziehung zur nächsten - es ist das einzige Leben, das ich kenne.
Es ist schwierig, dauerhafte Bindungen aufzubauen, wenn man als ständige Adresse nichts als einen zwanzig Zentimeter großen Briefkasten in einer UPS-Filiale hat.
Doch während ich mich langsam zu ihm vorarbeite, stockt mir unwillkürlich der Atem, und die Schmetterlinge in meinem Bauch sind kaum noch zu beruhigen. Und als er sich herumdreht und mir jenes lässige, verträumte Lächeln schenkt, das ihn weltberühmt machen wird, mir in die Augen schaut und sagt, »Hey, Daire - alles Gute zum Sechzehnten«, muss ich an die Millionen von Mädchen denken, die alles darum gäben, in meinen spitzen, blauen babouches zu stecken.
Ich erwidere sein Lächeln, winke ihm kurz zu und schiebe die Hand in die Tasche der olivgrünen Armeejacke, die ich immer trage. Tue so, als würde ich nicht bemerken, wie er den Blick über meinen Körper wandern lässt, von meinem taillenlangen braunen Haar, das unter dem Tuch hervorschaut, zu dem ärmellosen Batiktop, den hautengen Dark-Denim-Jeans, bis zu meinen Füßen in den nagelneuen Schläppchen.
»Hübsch.« Er stellt seinen Fuß neben meinen und präsentiert die Herren- und Damenversion desselben Schuhmodells. »Vielleicht können wir einen neuen Trend setzen, wenn wir wieder in den Staaten sind«, lacht er. »Was meinst du?«
Wir.
Es gibt kein Wir.
Ich weiß es. Er weiß es. Und es nervt mich, dass er so tut, als wäre es anders.
Die Kameras laufen schon seit Stunden nicht mehr, und trotzdem spielt er weiterhin eine Rolle und gibt vor, unser kurzer Drehort-Flirt würde ihm irgendetwas bedeuten.
Tut so, als wären wir bei unserer Rückkehr in die Staaten nicht längst Geschichte.
Und dieser Gedanke lässt meine lästigen Mädchenträume zerplatzen und ruft die Daire auf den Plan, die ich kenne, zu der ich mich selbst erzogen habe.
»Wohl kaum.« Ich grinse und stoße seinen Fuß weg. Ein bisschen heftiger als nötig, aber das ist die Strafe dafür, dass er mich für dumm genug hält, auf sein Theater hereinzufallen. »Was hältst du von Essen? Ich hab Lust auf einen Rindfleischspieß, vielleicht auch noch einen mit Wurst. Und Pommes wären auch nicht schlecht.«
Ich will die Essensstände ansteuern, doch Vane hat andere Pläne. Er greift nach meiner Hand und gibt nicht eher Ruhe, bis unsere Finger fest miteinander verflochten sind. »Gleich«, sagt er und zieht mich so fest an sich, dass sich meine Hüfte gegen seine presst. »Ich dachte, wir könnten was Besonderes machen - ich meine, weil du doch Geburtstag hast und so. Was hältst du davon, wenn wir uns identische Tattoos machen lassen?«
Mir fällt die Kinnlade herunter. Das kann er unmöglich ernst meinen.
»Du weißt schon, mehndis. Hennatattoos. Nichts Dauerhaftes. Wär doch vielleicht trotzdem cool, oder?« Auf seine typische Vane-Wyck-Art zieht er die linke Braue hoch, und ich muss mich beherrschen, ihm keinen finsteren Blick zuzuwerfen.
Nichts Dauerhaftes. Das ist mein Motto - mein Leitsatz sozusagen. Aber dennoch ist ein mehndi nicht dasselbe wie ein Abziehbild. Es hat eine gewisse Lebensdauer, die noch anhalten wird, wenn Vanes vom Studio bezahlter Privatjet ihn längst aus meinem Leben katapultiert hat.
All das lasse ich jedoch unerwähnt und sage stattdessen nur: »Der Regisseur bringt dich um, wenn du morgen mit Henna beschmiert am Set auftauchst.«
Vane zuckt die Achseln, wie ich es schon zu viele Male bei zu vielen jungen Schauspielern vor ihm gesehen habe. Er führt sich auf wie ein Superstar. Hält sich für unersetzlich. Als wäre er der einzige siebzehnjährige Junge mit einem Hauch von Talent, goldfarbenem Teint, welligem blonden Haar und strahlend blauen Augen, die eine Leinwand zum Leuchten bringen und Mädchen (und viele ihrer Mütter) dahinschmelzen lassen. Eine gefährliche Form der Selbsteinschätzung - besonders, wenn man seinen Lebensunterhalt in Hollywood verdient. Diese Denkweise führt direkt in Entziehungskliniken und miese Reality-Shows, zu verzweifelten, von Ghostwritern geschriebenen Memoiren und billigen Filmproduktionen, die nur auf DVD erscheinen.
Dennoch protestiere ich nicht, als er an meinem Arm zieht. Ich folge ihm zu der alten, schwarz gekleideten Frau, die mit einem Haufen Hennatüten auf dem Schoß auf einem hellen Webteppich hockt.
Vane handelt den Preis aus, während ich mich hinsetze und ihr meine Hände entgegenstrecke. Geschäftig schnippelt sie die Ecke einer Farbtüte ab und malt mir ein paar verschnörkelte Linien auf die Handrücken, ohne mich zu fragen, welches Muster mir vorschwebt. Aber ich habe eh kein bestimmtes im Sinn. Also lehne ich mich an Vane, der neben mir kniet, und lasse sie gewähren.
»Farbe muss wirken so lange wie möglich. Je dunkler Farbe, je größer Liebe«, sagt sie stockend, doch die Botschaft ist deutlich und wird von dem bedeutungsschwangeren Blick betont, den sie Vane und mir zuwirft.
»Oh, wir sind nicht -« Wir sind nicht verliebt!, will ich sagen, doch Vane unterbricht mich.
Er legt mir einen Arm um die Schulter, presst mir die Lippen auf die Wange und schenkt der alten Frau ein Lächeln, das sie ermutigt, es zu erwidern, wobei sie eine erschreckende Reihe aus bräunlichen und fehlenden Zähnen präsentiert. Sein Verhalten macht mich sprachlos, ich sitze mit offenem Mund da - mit heißen Wangen und beschmierten Händen und einem neuen Shootingstar am Hals.
Da ich noch nie verliebt war, habe ich zugegebenermaßen keine Ahnung, wie es sich anfühlt.
Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es sich wie das hier anfühlt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Vane einfach nur in eine andere Rolle geschlüpft ist und jetzt meinen hinreißenden Schwarm spielt, wenn auch nur, um diese marokkanische Frau, die wir niemals wiedersehen werden, zu erfreuen.
Aber Vane ist nun einmal Schauspieler, und ein Publikum ist ein Publikum, und sei es noch so klein.
Als meine Hände von einem kunstvollen Schnörkelmuster bedeckt sind, ermahnt mich die alte Frau, die Farbe einwirken zu lassen, während sie sich Vanes Füßen zuwendet. Doch sobald sie nicht mehr auf mich achtet, kratze ich mit den Fingernägeln ein bisschen davon ab und schaue heimlich lächelnd zu, wie die Paste herunterfällt und zu losem Staub wird, der sich mit dem Straßenschmutz vermischt.
Es ist albern, ich weiß, aber ich darf nicht riskieren, ihren Worten auch nur einen Hauch von Wahrheit zuzuschreiben. Der Film wird bald abgedreht sein, Vane und ich werden getrennte Wege gehen, und mich zu verlieben ist eine Option, die ich mir nicht leisten kann.
Mit unseren reich verzierten Händen und Füßen schlendern wir an den Straßengrills vorbei, verputzen fünf Rindfleisch- und Wurst-Spieße, einen Berg Pommes und zwei Fanta, bevor wir uns durch den nächtlichen Zirkus aus Schlangenbeschwörern, Akrobaten, Jongleuren, Wahrsagerinnen, Heilern, Affendompteuren und Musikanten treiben lassen. Es gibt sogar einen Stand, an dem eine Frau alten Leuten die faulen Zähne herauszieht, was wir uns mit einer Mischung aus Grauen und Faszination anschauen.
Während wir so eng umschlungen umhergehen, dass sich unsere Hüften aneinanderreiben, spüre ich Vanes heißen Atem an meinem Hals und sehe, wie er eine Miniwodkaflasche aus der Tasche zieht und sie mir unter die Nase hält.
Ich schüttele den Kopf und schiebe das Fläschchen beiseite. In irgendeiner x-beliebigen Stadt mag so etwas vielleicht in Ordnung sein, aber Marrakesch ist anders, geheimnisvoll und vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie die hiesigen Gesetze aussehen, aber wahrscheinlich sind sie streng, und als Minderjährige wegen Alkoholkonsums in einem marokkanischen Gefängnis zu landen ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.
Es ist auch das Letzte, was er gebrauchen kann, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Er lächelt nur, schraubt den Deckel ab und nimmt ein paar Schlucke, bevor er mich in eine dunkle, verlassene Gasse zieht.
Übersetzung: Ariane Böckler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München
Als Erstes kamen die Krähen.
Ein ganzer Schwarm.
Ihre schwarzen, geschmeidigen Leiber umkreisten in strenger Formation den Friedhof, die dunkel glänzenden Augen wachsam und unermüdlich. Unbeirrt von der trockenen, brütenden Hitze und der sauerstoffarmen Luft - einer Folge der tobenden Feuersbrünste, die den Himmel blutrot aufflammen und heiße Aschewolken auf die Trauernden niederregnen ließen.
Wer mit solchen Dingen vertraut war, erkannte darin ein untrügliches Zeichen. Und Paloma Santos, die ganz sicher war, dass der plötzliche Tod ihres Sohnes kein Unfall gewesen war, sah die Krähen als das, was sie waren: nicht nur als böses Omen, sondern gewissermaßen als Zeichen, dass es einen Nachkommen gab und sich sogar hier auf diesem Friedhof befand.
Ihre Vermutung wurde bestätigt, als sie den Arm tröstend um die gramerfüllte Freundin ihres Sohnes legte und das wachsende Leben in deren Körper spürte.
Die Letzte der Santos.
Eine Enkeltochter, deren Schicksal lange vorherbestimmt war.
Doch wenn die Krähen etwas ahnten, dann wussten vielleicht auch andere Bescheid. Jene, die nichts lieber täten, als das ungeborene Mädchen zu vernichten und sicherzustellen, dass es niemals die Möglichkeit haben würde, sein Geburtsrecht einzufordern.
Auf die Sicherheit ihrer Enkelin bedacht, verließ Paloma die Beerdigung lange bevor die erste Hand voll Erde auf den Sarg geworfen wurde. Schwor sich, still und unsichtbar zu bleiben, bis zum sechzehnten Geburtstag des Mädchens, wenn sie den Rat brauchen würde, den nur Paloma ihr geben konnte.
Sechzehn Jahre, um sich vorzubereiten.
Sechzehn Jahre, um ihre schwindenden Kräfte wiederherzustellen - das Vermächtnis am Leben zu erhalten -, bis es Zeit war, es weiterzureichen.
Sie hoffte, dass sie es schaffte - der Tod ihres Sohnes forderte einen Preis, der weit über Trauer hinausging.
Wenn es ihr nicht gelang, zu überleben und ihre Enkelin rechtzeitig zu erreichen, würde das Leben des Mädchens ebenso tragisch und vorzeitig enden wie das seines Vaters. Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen.
Es gab sonst niemanden, der die Nachfolge antreten konnte.
Zu viel stand auf dem Spiel.
Das ungeborene Kind hielt das Schicksal der ganzen Welt in seinen Händen.
Heute
Eins
Es gibt Momente im Leben, da kommt alles zum Stillstand. Die Erde gerät ins Stocken, die Atmosphäre verdichtet sich, und die Zeit schrumpft zusammen.
Als ich die schmale Holztür des riad öffne, in dem Jennika und ich seit ein paar Wochen wohnen, und aus dem ruhigen, nach Rosen und Geißblatt duftenden Garten hinaus in das verschlungene Gassenlabyrinth der Medina trete, passiert es schon wieder.
Doch statt wie üblich gleichfalls in Reglosigkeit zu verfallen, lasse ich mich auf die Situation ein, und beschließe, mich ein bisschen zu amüsieren. Auf meinem Weg vorbei an lachsfarbenen Hauswänden treffe ich auf einen kleinen, dünnen Mann, der beim Ausschreiten erstarrt ist, lege die Hand auf den weichen Baumwollstoff seiner gandora und drehe ihn behutsam im Kreis, bis er in die entgegengesetzte Richtung schaut. Nachdem ich einer räudigen schwarzen Katze ausgewichen bin, die mitten im Sprung in der Luft hängt, als würde sie fliegen, nehme ich mir kurz Zeit und ordne die glänzenden Messinglaternen neu, die von einem alten Mann feilgeboten werden, bevor ich am Stand daneben in ein Paar leuchtend blaue babouches schlüpfe, die mir so gut gefallen, dass ich meine alten Ledersandalen und einige zerknitterte Dirham-Scheine als Bezahlung zurücklasse.
Mittlerweile brennen mir die Augen, da ich sie krampfhaft offen halte, denn ich weiß, beim ersten Lidschlag wird der Mann in der gandora sich einen Schritt von seinem Ziel entfernt haben, die Katze wird an ihrem anvisierten Platz landen, die beiden Händler werden verwirrt auf ihre Waren schauen, und die Szenerie wird in ihr übliches geschäftiges Durcheinander zurückfallen.
Als ich jedoch die leuchtenden Gestalten erblicke, die am Rand lauern und mich wie immer aufmerksam beobachten, kneife ich schleunigst die Augen zu und blende sie aus, in der Hoffnung, dass sie wie sonst auch einfach verschwinden. Dorthin zurückkehren, wo auch immer sie hingehen, wenn sie mich nicht gerade anstarren.
Ich dachte immer, dass jeder solche Momente erlebt, bis ich mich Jennika anvertraute, die mir einen argwöhnischen Blick zuwarf und etwas von Jetlag murmelte.
Jennika schiebt alles auf den Jetlag und beharrt darauf, dass die Zeit für niemanden stillsteht - dass es unsere Aufgabe ist, mit ihrem hektischen Voranschreiten Schritt zu halten. Aber selbst damals wusste ich es besser - solange ich denken kann, habe ich Zeitzonen überquert, doch was ich gerade erlebt habe, hat nichts mit einem durcheinandergeratenen Biorhythmus zu tun.
Dennoch verkniff ich mir, es ein zweites Mal zur Sprache zu bringen. Ich wartete einfach ruhig und geduldig ab, in der Hoffnung, der Augenblick möge sich wiederholen.
Und das tat er.
Im Lauf der letzten paar Jahre wurden diese Momente allmählich häufiger, bis sie neuerdings, genauer gesagt, seit unserer Ankunft in Marokko, bis zu drei Mal die Woche auftreten.
Ein Junge in meinem Alter läuft an mir vorbei, und beim Anblick seiner lüsternen Augen zupfe ich automatisch mein blaues Tuch zurecht, damit es mein Haar bedeckt, und gehe einen Schritt schneller. Mit dem festen Vorsatz, lange vor Vane einzutreffen und den Djemaa el Fna vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, biege ich um die Ecke und lande auf dem Platz, wo mir die erhoffte Reizüberflutung entgegenschwappt.
Auf einer langen Reihe von Grills brutzeln Ziegen, Tauben und andere undefinierbare Tiere, deren gehäutete und glasierte Leiber sich auf Spießen drehen und die Luft mit würzigen Rauchwolken anreichern. Das hypnotisierende Flöten der greisenhaften Schlangenbeschwörer, die im Schneidersitz auf dicken Webteppichen hocken und ihre pungis spielen, während Kobras mit glasigen Augen vor ihnen aus Körben aufsteigen - all das vor dem eindringlichen Rhythmus der gnaouan-Trommeln, die allabendlich den faszinierenden Platz zu neuem Leben erwecken.
Ich atme tief ein, genieße die betörende Mischung aus exotischen Ölen und Jasmin, während ich das Ganze auf mich wirken lasse, in dem Bewusstsein, dass ich all dies nur noch wenige Male auf diese Weise sehen werde. Der Film ist bald abgedreht, und Jennika und ich machen uns wieder auf den Weg zu irgendeinem anderen Drehort, wo man ihre Dienste als preisgekrönte Visagistin benötigt. Wer weiß, ob wir jemals hierher zurückkehren werden?
Auf dem Weg zum ersten Essensstand, dem neben dem Schlangenbeschwörer, wo Vane auf mich wartet, gönne ich mir ein paar Sekunden, um das ärgerliche Schwächegefühl zu verscheuchen, das mich jedes Mal bei seinem Anblick überkommt - jedes Mal, wenn ich seine zerzausten blonden Haare sehe, die tiefblauen Augen und die sanft geschwungenen Lippen.
Blöde Kuh!, denke ich kopfschüttelnd. Idiotin!
Als ob ich es nicht besser wüsste. Als ob ich die Regeln nicht kennen würde.
Das Motto lautet: sich bloß nicht auf jemanden einlassen - sich bloß nicht hinreißen lassen, jemanden zu mögen, sondern nur ein bisschen Spaß haben, und niemals zurückschauen, wenn es Zeit wird, weiterzuziehen.
Wie all die anderen hübschen Gesichter vor ihm gehört auch Vanes Gesicht seinen Heerscharen von Fans. Nicht eines dieser Gesichter hat je zu mir gehört - und das wird sich auch nie ändern.
Da ich auf Filmsets groß geworden bin, seit ich alt genug war, dass Jennika mich im Tragegurt mitschleppen konnte, habe ich meine Rolle als Kind eines Teammitglieds schon unzählige Male gespielt: Mund halten, nicht im Weg stehen, helfen, wenn man darum gebeten wird, und die Beziehungen am Filmset niemals mit dem wirklichen Leben verwechseln.
Und weil ich schon von klein auf ständig mit Berühmtheiten zu tun habe, lasse ich mich nicht so leicht beeindrucken, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich ihnen meist auf Anhieb sympathisch bin. Ich meine, obwohl ich nicht schlecht aussehe - ziemlich groß und schlank, langes, dunkles Haar, recht heller Teint und leuchtend grüne Augen, die vielen Leuten auffallen -, bin ich eher der durchschnittliche Mädchentyp. Abgesehen davon, dass ich nicht gleich ausflippe, wenn mir irgendwelche Berühmtheiten über den Weg laufen. Ich werde nicht rot oder stottere verunsichert herum. Und das ist so ungewohnt für sie, dass häufig sie auf die Idee kommen, hinter mir herzulaufen.
Meinen ersten Kuss bekam ich an einem Strand in Rio de Janeiro von einem Jungen, der gerade den »Best Kiss Award« von MTV bekommen hatte - offensichtlich hatte keine der Wählerinnen ihn tatsächlich geküsst. Mein Zweiter war auf dem Pont Neuf in Paris mit einem Jungen, der es soeben aufs Titelblatt von Vanity Fair geschafft hatte. Und abgesehen davon, dass sie reicher, berühmter und von Paparazzi umlagert sind, unterscheidet sich ihr Leben nicht großartig von unserem.
Die meisten von ihnen sind Durchreisende - sie ziehen durchs Leben, genau wie ich. Wandern von einem Ort zum anderen, von einer Freundschaft oder Beziehung zur nächsten - es ist das einzige Leben, das ich kenne.
Es ist schwierig, dauerhafte Bindungen aufzubauen, wenn man als ständige Adresse nichts als einen zwanzig Zentimeter großen Briefkasten in einer UPS-Filiale hat.
Doch während ich mich langsam zu ihm vorarbeite, stockt mir unwillkürlich der Atem, und die Schmetterlinge in meinem Bauch sind kaum noch zu beruhigen. Und als er sich herumdreht und mir jenes lässige, verträumte Lächeln schenkt, das ihn weltberühmt machen wird, mir in die Augen schaut und sagt, »Hey, Daire - alles Gute zum Sechzehnten«, muss ich an die Millionen von Mädchen denken, die alles darum gäben, in meinen spitzen, blauen babouches zu stecken.
Ich erwidere sein Lächeln, winke ihm kurz zu und schiebe die Hand in die Tasche der olivgrünen Armeejacke, die ich immer trage. Tue so, als würde ich nicht bemerken, wie er den Blick über meinen Körper wandern lässt, von meinem taillenlangen braunen Haar, das unter dem Tuch hervorschaut, zu dem ärmellosen Batiktop, den hautengen Dark-Denim-Jeans, bis zu meinen Füßen in den nagelneuen Schläppchen.
»Hübsch.« Er stellt seinen Fuß neben meinen und präsentiert die Herren- und Damenversion desselben Schuhmodells. »Vielleicht können wir einen neuen Trend setzen, wenn wir wieder in den Staaten sind«, lacht er. »Was meinst du?«
Wir.
Es gibt kein Wir.
Ich weiß es. Er weiß es. Und es nervt mich, dass er so tut, als wäre es anders.
Die Kameras laufen schon seit Stunden nicht mehr, und trotzdem spielt er weiterhin eine Rolle und gibt vor, unser kurzer Drehort-Flirt würde ihm irgendetwas bedeuten.
Tut so, als wären wir bei unserer Rückkehr in die Staaten nicht längst Geschichte.
Und dieser Gedanke lässt meine lästigen Mädchenträume zerplatzen und ruft die Daire auf den Plan, die ich kenne, zu der ich mich selbst erzogen habe.
»Wohl kaum.« Ich grinse und stoße seinen Fuß weg. Ein bisschen heftiger als nötig, aber das ist die Strafe dafür, dass er mich für dumm genug hält, auf sein Theater hereinzufallen. »Was hältst du von Essen? Ich hab Lust auf einen Rindfleischspieß, vielleicht auch noch einen mit Wurst. Und Pommes wären auch nicht schlecht.«
Ich will die Essensstände ansteuern, doch Vane hat andere Pläne. Er greift nach meiner Hand und gibt nicht eher Ruhe, bis unsere Finger fest miteinander verflochten sind. »Gleich«, sagt er und zieht mich so fest an sich, dass sich meine Hüfte gegen seine presst. »Ich dachte, wir könnten was Besonderes machen - ich meine, weil du doch Geburtstag hast und so. Was hältst du davon, wenn wir uns identische Tattoos machen lassen?«
Mir fällt die Kinnlade herunter. Das kann er unmöglich ernst meinen.
»Du weißt schon, mehndis. Hennatattoos. Nichts Dauerhaftes. Wär doch vielleicht trotzdem cool, oder?« Auf seine typische Vane-Wyck-Art zieht er die linke Braue hoch, und ich muss mich beherrschen, ihm keinen finsteren Blick zuzuwerfen.
Nichts Dauerhaftes. Das ist mein Motto - mein Leitsatz sozusagen. Aber dennoch ist ein mehndi nicht dasselbe wie ein Abziehbild. Es hat eine gewisse Lebensdauer, die noch anhalten wird, wenn Vanes vom Studio bezahlter Privatjet ihn längst aus meinem Leben katapultiert hat.
All das lasse ich jedoch unerwähnt und sage stattdessen nur: »Der Regisseur bringt dich um, wenn du morgen mit Henna beschmiert am Set auftauchst.«
Vane zuckt die Achseln, wie ich es schon zu viele Male bei zu vielen jungen Schauspielern vor ihm gesehen habe. Er führt sich auf wie ein Superstar. Hält sich für unersetzlich. Als wäre er der einzige siebzehnjährige Junge mit einem Hauch von Talent, goldfarbenem Teint, welligem blonden Haar und strahlend blauen Augen, die eine Leinwand zum Leuchten bringen und Mädchen (und viele ihrer Mütter) dahinschmelzen lassen. Eine gefährliche Form der Selbsteinschätzung - besonders, wenn man seinen Lebensunterhalt in Hollywood verdient. Diese Denkweise führt direkt in Entziehungskliniken und miese Reality-Shows, zu verzweifelten, von Ghostwritern geschriebenen Memoiren und billigen Filmproduktionen, die nur auf DVD erscheinen.
Dennoch protestiere ich nicht, als er an meinem Arm zieht. Ich folge ihm zu der alten, schwarz gekleideten Frau, die mit einem Haufen Hennatüten auf dem Schoß auf einem hellen Webteppich hockt.
Vane handelt den Preis aus, während ich mich hinsetze und ihr meine Hände entgegenstrecke. Geschäftig schnippelt sie die Ecke einer Farbtüte ab und malt mir ein paar verschnörkelte Linien auf die Handrücken, ohne mich zu fragen, welches Muster mir vorschwebt. Aber ich habe eh kein bestimmtes im Sinn. Also lehne ich mich an Vane, der neben mir kniet, und lasse sie gewähren.
»Farbe muss wirken so lange wie möglich. Je dunkler Farbe, je größer Liebe«, sagt sie stockend, doch die Botschaft ist deutlich und wird von dem bedeutungsschwangeren Blick betont, den sie Vane und mir zuwirft.
»Oh, wir sind nicht -« Wir sind nicht verliebt!, will ich sagen, doch Vane unterbricht mich.
Er legt mir einen Arm um die Schulter, presst mir die Lippen auf die Wange und schenkt der alten Frau ein Lächeln, das sie ermutigt, es zu erwidern, wobei sie eine erschreckende Reihe aus bräunlichen und fehlenden Zähnen präsentiert. Sein Verhalten macht mich sprachlos, ich sitze mit offenem Mund da - mit heißen Wangen und beschmierten Händen und einem neuen Shootingstar am Hals.
Da ich noch nie verliebt war, habe ich zugegebenermaßen keine Ahnung, wie es sich anfühlt.
Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es sich wie das hier anfühlt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Vane einfach nur in eine andere Rolle geschlüpft ist und jetzt meinen hinreißenden Schwarm spielt, wenn auch nur, um diese marokkanische Frau, die wir niemals wiedersehen werden, zu erfreuen.
Aber Vane ist nun einmal Schauspieler, und ein Publikum ist ein Publikum, und sei es noch so klein.
Als meine Hände von einem kunstvollen Schnörkelmuster bedeckt sind, ermahnt mich die alte Frau, die Farbe einwirken zu lassen, während sie sich Vanes Füßen zuwendet. Doch sobald sie nicht mehr auf mich achtet, kratze ich mit den Fingernägeln ein bisschen davon ab und schaue heimlich lächelnd zu, wie die Paste herunterfällt und zu losem Staub wird, der sich mit dem Straßenschmutz vermischt.
Es ist albern, ich weiß, aber ich darf nicht riskieren, ihren Worten auch nur einen Hauch von Wahrheit zuzuschreiben. Der Film wird bald abgedreht sein, Vane und ich werden getrennte Wege gehen, und mich zu verlieben ist eine Option, die ich mir nicht leisten kann.
Mit unseren reich verzierten Händen und Füßen schlendern wir an den Straßengrills vorbei, verputzen fünf Rindfleisch- und Wurst-Spieße, einen Berg Pommes und zwei Fanta, bevor wir uns durch den nächtlichen Zirkus aus Schlangenbeschwörern, Akrobaten, Jongleuren, Wahrsagerinnen, Heilern, Affendompteuren und Musikanten treiben lassen. Es gibt sogar einen Stand, an dem eine Frau alten Leuten die faulen Zähne herauszieht, was wir uns mit einer Mischung aus Grauen und Faszination anschauen.
Während wir so eng umschlungen umhergehen, dass sich unsere Hüften aneinanderreiben, spüre ich Vanes heißen Atem an meinem Hals und sehe, wie er eine Miniwodkaflasche aus der Tasche zieht und sie mir unter die Nase hält.
Ich schüttele den Kopf und schiebe das Fläschchen beiseite. In irgendeiner x-beliebigen Stadt mag so etwas vielleicht in Ordnung sein, aber Marrakesch ist anders, geheimnisvoll und vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie die hiesigen Gesetze aussehen, aber wahrscheinlich sind sie streng, und als Minderjährige wegen Alkoholkonsums in einem marokkanischen Gefängnis zu landen ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.
Es ist auch das Letzte, was er gebrauchen kann, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Er lächelt nur, schraubt den Deckel ab und nimmt ein paar Schlucke, bevor er mich in eine dunkle, verlassene Gasse zieht.
Übersetzung: Ariane Böckler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München
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Autoren-Porträt von Alyson Noël
Alyson Noël ist eine preisgekrönte Autorin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. Mit ihrer auf inzwischen sechs Teile angelegten Serie "Evermore" stürmte sie auf Anhieb die internationalen Bestsellerlisten und eroberte unzählige Leserinnenherzen. Die Übersetzungsrechte wurden bisher in 15 Länder verkauft und auch die Filmrechte schnell vergeben. Alyson Noël lebt in Laguna Beach, Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alyson Noël
- 2012, 440 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Böckler, Ariane
- Übersetzer: Ariane Böckler
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442204062
- ISBN-13: 9783442204069
Rezension zu „Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1 “
"Flüssiger und temporeicher Schreibstil und eine unglaublich bildgewaltige Sprache, die durch die zarte und komplizierte Liebesgeschichte noch untermalt wird." Love Letter
Kommentare zu "Vom Schicksal bestimmt / Soul Seeker Bd.1"
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