Wahnsinn Amerika
Innenansicht einer Weltmacht
"Man muss Washington verlassen, um Amerika besser zu verstehen", sagt ARD-Korrespondent und Grimme-Preisträger Klaus Scherer. Und fügt kleine Geschichten aus Alltag, Politik und Lagerkämpfen zusammen - zu einem großen, aktuellen Bild...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
18.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Wahnsinn Amerika “
"Man muss Washington verlassen, um Amerika besser zu verstehen", sagt ARD-Korrespondent und Grimme-Preisträger Klaus Scherer. Und fügt kleine Geschichten aus Alltag, Politik und Lagerkämpfen zusammen - zu einem großen, aktuellen Bild der Supermacht. Klaus Scherer trifft nicht nur, wie es seine Chronistenpflicht ist, US-Politiker und ihre Berater, sondern nimmt das ganze Riesenland unter die Lupe. Er begleitet Armenhelfer in Arizona und Kentucky ebenso wie Immobilien-Zocker in Kalifornien. FBI-Fahnder erklären ihm, wie das Land in seine tiefste Krise rutschte, und langjährige US-Sicherheitsberater, was sie als nächste Herausforderungen fürchten. Detail- und pointenreich schildert er den Richtungskampf, der zwischen der letzten und der kommenden Präsidentschaftswahl nie aufgehört hat und der die Supermacht, womöglich gar gegen den Wählerwillen, noch weitere vier Jahre lähmen könnte. Seinen eigenen, oft kuriosen Alltag als Fernsehreporter, Familienvater und Vielreisender in den USA klammert Scherer - zum Gewinn des Lesers - dabei nicht aus.
Klappentext zu „Wahnsinn Amerika “
Klaus Scherer trifft nicht nur, wie es seine Chronistenpflicht ist, US-Politiker und ihre Berater, sondern nimmt das ganze Riesenland unter die Lupe. Er begleitet Armenhelfer in Arizona und Kentucky ebenso wie Immobilien-Zocker in Kalifornien. FBI-Fahnder erklären ihm, wie das Land in seine tiefste Krise rutschte, und langjährige US-Sicherheitsberater, was sie als nächste Herausforderungen fürchten. Detail- und pointenreich schildert er den Richtungskampf, der zwischen der letzten und der kommenden Präsidentschaftswahl nie aufgehört hat und der die Supermacht, womöglich gar gegen den Wählerwillen, noch weitere vier Jahre lähmen könnte. Seinen eigenen, oft kuriosen Alltag als Fernsehreporter, Familienvater und Vielreisender in den USA klammert Scherer - zum Gewinn des Lesers - dabei nicht aus.
Lese-Probe zu „Wahnsinn Amerika “
Wahnsinn Amerika von Klaus Scherer Fragen an Amerika: »End of the Game?«
Glaubt man den Rivalen, geht es um den wichtigsten Richtungsstreit im Leben ihrer Wähler. Um den Grundkonsens Amerikas. Um die Laufrichung der Weltmacht. »Wir werden eine neue, konservative Ära in Amerika beginnen«, feiert sich Multimillionär Mitt Romney nach seinen Vorwahlsiegen, angefeuert von den »We-wantMitt «-Sprechchören seiner Anhänger. Er geißelt »die bankrotte Ideologie Europas«, der Amerika nicht länger folgen dürfe. Dann setzt er zum finalen Satz an: »Wir werden beweisen, dass Barack Obama die letzte Zuckung des Liberalismus in unserem Land war.«
Dabei ist Romney vielen noch gar nicht konservativ genug, wie die Abstimmungserfolge des Ultrareligiösen Rick Santorum zeigten. Die Parteirechte hätte lieber ihn als Kandidaten gekürt, als Hardcore-Republikaner, der die Trennung von Kirche und Staat aufheben will, seine sieben Sprösslinge zu Hause unterrichtet - aus Sorge, sie könnten der Evolutionslehre verfallen - und der Obama einen »Snob« nennt, nur weil der in den amerikanischen Traum miteinschließt, dass Eltern ihre Kinder auf ein College schicken können. »Ein ehrenwerter Mann, nur leider lebt er im falschen Jahrhundert«, verabschiedete ihn die Washington Post am Ende des Vorwahlkampfs.
... mehr
Seitdem muss Romney selber die Parteirechte bei Laune halten, bis hin zu den Staatsgegnern der Tea Party. Den Armen zu helfen, poltern deren Frontleute, sei nicht Sache der Regierung, sondern der Kirchen. Derweil lassen mächtige Geldgeber an neuen Hasskampagnen gegen den Präsidenten feilen, die ihn wieder einmal als »unamerikanisch « angreifen, als sozialistischen Eiferer, wenn nicht als schwarzen Verschwörer. Dazu fragen die Konservativen angesichts der Konjunkturflaute fast schadenfroh: »Wo sind die Jobs?«
Doch auch Obama attackiert den Gegner längst mit Negativkampagnen, die dessen Glaubwürdigkeit gerade dort erschüttern sollen, wo er sie am lautesten reklamiert: in der Wirtschaftspolitik. Romneys vielzitierte Kompetenz als erfolgreicher Geschäftsmann beschränke sich darauf, kühlen Kapitalanlegern den Profit zu maximieren, trommelt das Obama-Lager. Ein Präsident aber müsse an das Wohl aller denken, an den Mittelstand, die sozial Schwachen, daran, dass auch die Reichen sich an Regeln halten. Nicht einmal in seiner Zeit als Gouverneur von Massachusetts habe Romney Jobs geschaffen. »In Wahrheit werfen uns die Republikaner vor«, heißt es in Rundmails demokratischer Strategen, »dass wir ihren eigenen Schlamassel nicht schnell genug aufräumen.«
Einen Weg zurück aber werde Obama nicht zulassen. »Forward«, nach vorn, erklärten sie zum Wahlkampfmotto, heraus aus der Krise, wenn auch langsam - statt sehenden Auges mit den lernunwilligen Republikanern in die nächste, samt Bankenkollaps und neuer Rezession. Auch der Amtsinhaber beschwört so landauf, landab jubelnde Wählermassen. »Ich habe auf euch gesetzt, die amerikanischen Arbeiter«, ruft er in volle Säle, »und ich tue es weiter, jeden Tag.« Nicht er, die Regierung oder das Management hätten die kriselnden US-Autokonzerne an die Weltspitze zurückgeführt, sondern Teamgeist, Verzichtbereitschaft und Leistungswille der Beschäftigten. »General Motors erzielt die höchsten Gewinne seiner Geschichte«, hält er fest - und erinnert daran, dass Kontrahent Romney damals in der New York Times empfohlen hatte: »Lasst Detroit pleitegehen!«
So wankt Amerika durch einen Schlagabtausch, der den Wahlkampf des Jahres 2008 verblassen lässt. Noch mehr als um die Wirklichkeit geht es um die Wahrnehmung derselben, um »Spin«, wie man hier sagt. Goldene Zeiten für Blogger, Twitter und die überhitzten News-Networks, die das Wortgemetzel schon seit Beginn der Vorwahlen ganztägig weitertreiben und deren eigene Mitarbeiter sie schon zynisch »24-Stunden-Monster« nennen, die nun einmal gefüttert werden müssten.
Dabei hätte Amerika weit Wichtigeres zu tun. Politik- Vordenker Zbigniew Brzezinski hält das Land für verwundbarer denn je, durch seine Schuldenlast, das unzulängliche Finanzsystem, die brüchige Infrastruktur, die wachsende soziale Ungerechtigkeit und den politischen Stillstand im Kongress. Zudem trübe der Konflikt zwischen Israel und dem Iran Obamas Aussichten auf eine Wiederwahl. Andere fügen die hohen Spritpreise hinzu, die Eurokrise, den konservativen Obersten Gerichtshof - oder gar Obamas Bekenntnis, dass er auch gleichgeschlechtliche Ehen für verfassungsgemäß halte. Hatte mir nicht derselbe Brzezinski einmal erklärt, dass Obama ein politisches Jahrhunderttalent sei? Da rühmte er dessen Überzeugungskraft und sein Gespür für den historischen Moment.
Hoffnung, Sorge, Skepsis - all das prägte Obamas Amtszeit. Doch Amerikas Politik regte die Welt schon immer auf. Als ich mit meiner Familie nach Washington zog, das Korrespondentenvisum druckfrisch im Reisepass, da neigte sich gerade die Amtszeit George W. Bushs dem Ende zu. Der junge Wahlkämpfer Barack Obama erschien da wie ein Erlöser. Doch kaum begann er zu regieren, schlug ihm der Unmut aufgebrachter Bürger wild entgegen. Der US-Kongress fuhr seitdem Achterbahn, die Wirtschaftsprognosen wechselten. Dennoch drückte Obama Reform um Reform durch. Und nun, da seine mögliche Wiederwahl näher rückt, malt ein so überzeugter Wegbegleiter wie Brzezinski erneut Amerikas Niedergang an die Wand? Wer soll das noch verstehen?
Aber der Reihe nach.
»Amerika begreifen«
»Sie müssen ziehen, Sir«, sagt die freundliche Stimme am Telefon nach der Ankunft im Hotel in Washington. Dabei glaubte ich bereits, so ziemlich alle Wasserhahnvarianten dieser Welt zu kennen. Das Badetuch schon umgebunden, bereit für die ersehnte Dusche, bedanke ich mich. Obwohl ich auch ziehen längst probiert habe, so sehr, dass mir schon fast die Wand entgegenkam.
Die Folgetage erscheinen ähnlich befremdlich, samt der Fragen, die man nun wiederum mir stellt. »Beabsichtigen Sie, hier terroristische Aktivitäten durchzuführen? «, will die Einreisebehörde wissen. »Was verursacht mehr Verkehrsunfälle? A: das Auto? B: der Fahrer? C: die Straße?«, lese ich bei der Führerscheinprüfung. »Wir haben über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen. Das war hier vorher auch schon so. Stört Sie das?«, höre ich von Handwerkern.
Willkommen in Amerika. Dem Land, das zu begreifen von nun an meine Hauptaufgabe ist.
»Wie sind die eigentlich so, die Amerikaner?«, werde ich von Deutschen seitdem oft gefragt. Nett, sage ich dann. Supermarktkassiererinnen nennen dich »Darling«, obwohl du ihnen zuvor nie begegnet bist. Und wenn dein Auto streikt, kommen sie schon mit dem Starthilfekabel an, bevor du danach fragen konntest. Kellner loben noch deine gewöhnlichste Bestellung als »exzellente Wahl« oder, noch besser, als »cool«. Nur die Servicezentralen von Firmen und Behörden sind weniger freundlich. Die geben dir schnell zu verstehen, dass dein Anruf eher stört.
Zudem ist ihr Land unfassbar groß. In jeder Linienmaschine sitzt ein Passagier mit Pelzmütze und einer mit Flipflops. Vom Heck ihrer Feuerwehrautos weht das Sternenbanner, als hätten sie gerade erst den Staat gegründet - dessen monströse Machtfülle sie wiederum beklagen, sobald das Feuer gelöscht ist. Denn sie fürchten nichts mehr als den Sozialismus.
Dabei sind sie ihm näher, als sie ahnen: Sie nennen ihr Land das freieste der Welt, aber nirgendwo stehen mehr Stoppschilder, manche sogar vor simplen Kurven. Einmal ertappte ich mich schon dabei, dass ich vor einem wartete, als würde es noch grün.
Die Staubsauger, die sie benutzen - lärmende, sperrige Monster -, möchte man ihnen schon vor die Füße werfen, bevor man sich damit über einen Treppenbelag hat quälen müssen. Ihr wahres Leibgericht, der Hot Dog, erinnert fatal an die geschmacksneutrale, wässrige Ketwurst der späten DDR. Der einzige Ausgehkomplex am Wasser, den die Potomac-Stadt Washington zu bieten hat, ein hilfloser Murks aus Plattenbau, Erkerchen und Springbrunnen, hätte auch Erich Honecker gefallen. Und wer in der Weltmacht-Kapitale nach neun Uhr abends ein Taxi für Gäste braucht, kann zwar eines bestellen, aber kommen wird es nie.
Trotzdem sollte man sie nicht unterschätzen. Denn zwischendurch erfinden sie immer mal wieder Kleinigkeiten wie das Internet. Und auch wenn sie tausendmal den Klimawandel leugnen: Ein nationales Tempolimit haben sie hinbekommen. Wir nicht.
Ja, Fragen an Amerika gibt es genug, sobald man es betreten und sich eingerichtet hat. Die meisten wären mit einem Augenzwinkern zu ertragen. Wer als Fremder nach Deutschland kommt, wird ähnliche Widersprüche und Merkwürdigkeiten finden.
Nun ist fragen aber mein Beruf. Und die Rätsel, die Amerika uns derzeit stellt, reichen über Banalitäten weit hinaus. Die Welt sorgt sich um die Amerikaner, denn viele verstehen von außen kaum noch, was sie treibt - und wohin es sie treibt. Die häufigste Reaktion in Telefonaten mit der Heimat, privat wie beruflich, lautete zuletzt: »Was ist denn mit denen los? Knallen die jetzt völlig durch?«
Da wählten sie mit historischer Mehrheit einen schwungvollen, jungen Präsidenten, um den sie die ganze Welt beneidete. Aber sobald er zu regieren anfing, beschimpften sie ihn als Kommunisten und Ersatz-Hitler, warfen ihm vor, er sei nicht einmal Amerikaner, und wünschten ihn zum Teufel.
Ausgerechnet er, der mit so viel Rückhalt angetreten war, um das übliche Washingtoner »Game Playing«, wie er sagte, nicht etwa besser zu spielen, sondern es durch kluge, nachvollziehbare Innen- und Außenpolitik zu ersetzen, könnte schon nach vier Jahren dessen Opfer werden - auch weil die offenen Hasskampagnen der Unterlegenen bald überhaupt keine Spielregeln mehr kannten.
Dabei hatte Obama vom ersten Tag an eine Problemliste auf dem Tisch, die selbst Politprofis bis heute den Schweiß auf die Stirn treibt: die Wirtschaft im freien Fall, die Wall Street vor der Pleite, ebenso die Auto-Giganten in Detroit, die Arbeitslosenzahlen auf Rekordkurs. Sieglose Kriege, Gesundheitsmisere, Folter- und Vertuschungsskandale, die Schande Guantanamos. Wer hätte mit Obama tauschen wollen?
Zu links, zu rechts, zu mittig
Dass ihm erfahrene Washington-Kenner wie Politikveteran Stephen Hess von der Brookings Institution bescheinigten, er gehe die Dinge nicht nur in schwindelerregendem Tempo, sondern auch erfolgreicher an als nahezu alle seiner Vorgänger, half ihm nichts. Er wurde gallig kritisiert, wofür auch immer: Dass er zu viel versprochen habe. Dass er das Land zu wenig führe oder zu sehr. Dass er zu links sei, zu rechts oder zu unentschlossen in der Mitte. Zu wenig versöhnend oder zu wenig kämpferisch. Zu abgehoben, zu klug und zugleich leider nicht klug genug. Die Opposition, auf die zuzugehen er versprochen hatte, radikalisierte sich derweil - und verständigte sich darauf, im Volk »möglichst viele negative Emotionen« gegen ihn zu wecken. Drei Jahre sollte er benötigen, um sich darauf einzustellen.
Den Kollegen von den US-Nachrichtenkanälen war das immer recht: Statt die Kritiker auf Substanz abzuklopfen, konnten sie den täglichen Showdown zwischen Obama und seinen Rivalen weiter zelebrieren, als hätte der Wahlkampf von 2008 nie aufgehört. Selbst offenkundig durchgeknallte Zeitgenossen hievten sie auf Augenhöhe Washingtons: einen Pastor aus Florida, der ankündigte, Korane zu verbrennen; Tea-Party-Schreihälse, die sich zum Hexenkult bekannten oder die Berliner Mauer priesen; das jeweils unvermeidliche Twitter-Zitat von Sarah Palin; Präsidentschaftsanwärter, die - nur halb im Scherz - von Erdbeben und Hurrikans als Fingerzeig Gottes gegen eine falsche Regierung sprachen. Selbst das ging noch als »Denkzettel für Obama« durch. Sind sie zu stark, ist er zu schwach.
Und nun? Als das Wahljahr 2012 ausbricht, entdecken sie ihn plötzlich neu, sehen in Umfragen seine Sympathiewerte wieder nach oben klettern, fast als wäre nichts gewesen. Obama ist zurück, er schafft es wieder, wir haben es ja immer gewusst?
»Ja, was denn nun«, fragen die Deutschen erneut uns Korrespondenten, »wissen die Amerikaner denn noch, was sie wollen?«
Nein, viele wissen es nicht. Nicht was - denn die Gebrauchsanleitung für den amerikanischen Traum taugt seit der Immobilienkrise nicht mehr viel. Und nicht wen - denn wer alle zwei Jahre die Machtverhältnisse in Washington derart auf den Kopf stellt, weil er auf Wandel hofft, dem ist mit Wahlen womöglich nicht zu helfen.
Vieles spricht dafür, dass die Probleme sogar noch tiefer liegen, als es die Amerikaner wahrhaben wollen - auch wenn die Krise manchen schon überwunden scheint. Tatsächlich ist der Industrie- und Gewerbesektor veraltet, die Infrastruktur brüchig. Bisherige Konjunkturprogramme verhinderten zwar Schlimmeres, doch neue schlägt der Präsident gar nicht mehr vor, aus Sorge um das Haushaltsdefizit. Was wächst, ist die dunkle Ahnung, dass schon die letzten Aufschwünge nicht echt, sondern geborgt waren: finanziert durch Luftbuchungen auf Hypotheken - und geduldige Kreditkarten.
»Wenn Obama Erfolg hat, wird er wiedergewählt. Wenn nicht, nicht«, prophezeite uns der konservative Kolumnist George Will, als Obama zu straucheln begann. Doch wer drückt aus einer Krise heraus schon mal zugleich sowohl die Staatsschulden als auch die Arbeitslosigkeit nach unten, wie es seine Gegner clever von ihm forderten?
Bald glaubten sie, der einstige Hoffnungsträger säße schon sicher in ihrer Falle: All seine Initiativen bremsten die Republikaner um John Boehner aus, den neuen Chef des Repräsentantenhauses, zuversichtlich, dass für die Folgen allein Obama büßen würde. Warum sollten sie ihn stützen, wo doch ihr erstes Ziel stets war, ihm eine zweite Amtszeit zu verbauen? Wo immer er ihnen entgegenkam, erhielt er kaum etwas zurück. Stattdessen verlor er im eigenen Lager immer mehr an Rückhalt.
»Der Weltenretter schon am Ende?«, fragten die Deutschen uns Korrespondenten da, wenn sie es nicht selbst bereits zu wissen glaubten - oder ohnehin schon immer wussten.
Obama als Opfer seiner eigenen Maßstäbe, die er vor seiner Wahl setzte? Oder musste er, trotz allen Talents, einfach an historischen Sachzwängen scheitern, die der Supermacht lange schon zusetzten, nun aber ihren Preis verlangten?
Andererseits, wer sollte ihn strahlend ablösen? Das Bewerberfeld der Opposition für das Präsidentenamt blamierte sich schon in ersten TV-Debatten bis auf die Knochen, sodass sich selbst Stammwähler und Großspender kopfschüttelnd abwendeten. Kandidaten wussten kaum, wo Libyen liegt, oder drohten die US-Botschaft im Iran zu schließen, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt.
Wohin will die Weltmacht?
Doch reicht das dem Amtsinhaber, um noch einmal Amerikas politische Mitte zu begeistern, die schon immer jede Wahl entschieden hat, aber nun mehr zaudert denn je? Kaum einer weiß noch, was diese Mitte möchte. Will sie nach der verheerenden Finanzkrise, in der die Steuerzahler das Bankensystem retten mussten, nun die Regierung stärken oder lieber ihren Einfluss mäßigen?
Im Machtvakuum zwischen dem Präsidenten und den sperrigen Kongresskammern haben Neu-Parlamentarier Einfluss gewonnen, die offenbar nicht davor zurückschrecken, das Land ganz lahmzulegen: populistische Staats- und Steuergegner, Klimawandel- und Evolutions-Verleugner, außenpolitische Isolationisten, ultrareligiöse Radikale - denen keiner der Altvorderen wirksam entgegentritt. Zu groß ist die Sorge, er könnte im Wahlkreis zu Hause deren nächstes Opfer werden.
Wohin also taumelt die Weltmacht, mit oder ohne Obama? Viele Amerikaner, auf die ich täglich treffe - als Berichterstatter, Kollege, Nachbar, Vater von Schulkindern oder Reisender -, machen kein Geheimnis mehr daraus, dass sie selber ratlos sind.
»Was ist mit diesem Land passiert, das ich zu kennen glaubte?«, fragt NBC-Urgestein Tom Brokaw, einer der renommiertesten Reporter Amerikas, der bisher nie verlegen war, seinem Publikum Zusammenhänge zu erklären. »Sind wir nur kurz vom Weg abgekommen oder sind wir so gespalten, dass wir uns schon fast von jedem Richtung Abgrund treiben lassen?«
Als der Sommer ausbricht, verabschieden sich die Umfrageinstitute von ihrer Erwartung, dass der Zustand der US-Wirtschaft den Wahlausgang vorherbestimme. Zwar schreibe man Wachstum, aber nur zögerlich. Monatlich entstünden neue Jobs, aber eben nicht überzeugend viele. Manche Blätter wie USA TODAY berichten von steigender Zuversicht im Lande. Andere verweisen auf anhaltende Skepsis. Tatsächlich sind da über 70 Prozent der Bürger mit der Lage unzufrieden. Zugleich aber geben 60 Prozent an, sie rechneten mit einer Besserung. Als ABC und Washington Post ermitteln, von wem die Wähler die erfolgreichere Wirtschaftspolitik erwarten, erreichen beide Kandidaten exakt den gleichen Wert: jeweils 47 Prozent. Beste Voraussetzungen für einen erbitterten Wahlkampf.
Wie sehr Amerika seine Zweiteilung zelebriert, fällt mir schon auf, als ich nach meiner Ankunft das Radio einschalte. Um ihre Diskussionsrunde zu beleben, in der in akkurater Folge linke und rechte Experten um die beste Weltsicht streiten, gibt die Moderatorin das Mikrofon für Hörermeinungen frei - bittet aber nun auch sie, wie gewohnt entweder über die »demokratische« oder die »republikanische« Leitung anzurufen. Wie soll einer da versöhnen, wenn die Spaltung immer schon vorab feststeht? Wie soll einer Dinge richten, wenn der Richtungsstreit nie endet?
Dabei waren wir gewohnt, dass gerade Amerika der Welt die Richtung vorgab. Deshalb werden zugleich Rufe von außen lauter, Obama möge sein Riesenreich endlich auf Kurs bringen. Mal hoffend, weil er tatsächlich diese Erwartung geweckt hatte. Mal hämisch, als habe er der Welt versprochen, übers Wasser zu laufen. Dabei ist der angeblich mächtigste Mann der Welt im täglichen Washingtoner Wahnsinn derart von Untiefen, Machtstrudeln und Medienwirbeln umgeben, dass ihm kaum Raum zum Schwimmen bleibt.
Worauf dieses Buch baut, sind Eindrücke und Erfahrungen eines Korrespondenten seit dem Ende der letzten Amtszeit George W. Bushs. Es verarbeitet Gespräche und Reiseerlebnisse, Analysen und Alltagsepisoden aus fünf Reporterjahren in und vor allem jenseits von Washington. Darunter sind großartige Momente und amüsante, schockierende und schicksalhafte. Oft dachte ich in diesen Jahren, ich habe es mit Symptomen - im Wortsinn: vorübergehenden Eigentümlichkeiten - einer kränkelnden Supermacht zu tun. Wobei nicht immer klar ist, was dem amerikanischen Patienten womöglich angeboren ist, wie etwa der Hang zu Kapitalismus in Reinkultur und zur ewigen Superlative einer Ausnahme-Nation, und was tatsächlich nur zu befristeten Auffälligkeiten zählt, wie das zeitweilige Übermaß an Tea-Party-Einfluss. Dennoch: Das Bild, das sich mir als Berichterstatter bot, mag das einer zunehmend verunsicherten und aufgeregten Supermacht sein. Aber auch stets das eines, in jeder Hinsicht, aufregenden Landes.
Copyright © Piper Verlag GmbH, München 2012
Seitdem muss Romney selber die Parteirechte bei Laune halten, bis hin zu den Staatsgegnern der Tea Party. Den Armen zu helfen, poltern deren Frontleute, sei nicht Sache der Regierung, sondern der Kirchen. Derweil lassen mächtige Geldgeber an neuen Hasskampagnen gegen den Präsidenten feilen, die ihn wieder einmal als »unamerikanisch « angreifen, als sozialistischen Eiferer, wenn nicht als schwarzen Verschwörer. Dazu fragen die Konservativen angesichts der Konjunkturflaute fast schadenfroh: »Wo sind die Jobs?«
Doch auch Obama attackiert den Gegner längst mit Negativkampagnen, die dessen Glaubwürdigkeit gerade dort erschüttern sollen, wo er sie am lautesten reklamiert: in der Wirtschaftspolitik. Romneys vielzitierte Kompetenz als erfolgreicher Geschäftsmann beschränke sich darauf, kühlen Kapitalanlegern den Profit zu maximieren, trommelt das Obama-Lager. Ein Präsident aber müsse an das Wohl aller denken, an den Mittelstand, die sozial Schwachen, daran, dass auch die Reichen sich an Regeln halten. Nicht einmal in seiner Zeit als Gouverneur von Massachusetts habe Romney Jobs geschaffen. »In Wahrheit werfen uns die Republikaner vor«, heißt es in Rundmails demokratischer Strategen, »dass wir ihren eigenen Schlamassel nicht schnell genug aufräumen.«
Einen Weg zurück aber werde Obama nicht zulassen. »Forward«, nach vorn, erklärten sie zum Wahlkampfmotto, heraus aus der Krise, wenn auch langsam - statt sehenden Auges mit den lernunwilligen Republikanern in die nächste, samt Bankenkollaps und neuer Rezession. Auch der Amtsinhaber beschwört so landauf, landab jubelnde Wählermassen. »Ich habe auf euch gesetzt, die amerikanischen Arbeiter«, ruft er in volle Säle, »und ich tue es weiter, jeden Tag.« Nicht er, die Regierung oder das Management hätten die kriselnden US-Autokonzerne an die Weltspitze zurückgeführt, sondern Teamgeist, Verzichtbereitschaft und Leistungswille der Beschäftigten. »General Motors erzielt die höchsten Gewinne seiner Geschichte«, hält er fest - und erinnert daran, dass Kontrahent Romney damals in der New York Times empfohlen hatte: »Lasst Detroit pleitegehen!«
So wankt Amerika durch einen Schlagabtausch, der den Wahlkampf des Jahres 2008 verblassen lässt. Noch mehr als um die Wirklichkeit geht es um die Wahrnehmung derselben, um »Spin«, wie man hier sagt. Goldene Zeiten für Blogger, Twitter und die überhitzten News-Networks, die das Wortgemetzel schon seit Beginn der Vorwahlen ganztägig weitertreiben und deren eigene Mitarbeiter sie schon zynisch »24-Stunden-Monster« nennen, die nun einmal gefüttert werden müssten.
Dabei hätte Amerika weit Wichtigeres zu tun. Politik- Vordenker Zbigniew Brzezinski hält das Land für verwundbarer denn je, durch seine Schuldenlast, das unzulängliche Finanzsystem, die brüchige Infrastruktur, die wachsende soziale Ungerechtigkeit und den politischen Stillstand im Kongress. Zudem trübe der Konflikt zwischen Israel und dem Iran Obamas Aussichten auf eine Wiederwahl. Andere fügen die hohen Spritpreise hinzu, die Eurokrise, den konservativen Obersten Gerichtshof - oder gar Obamas Bekenntnis, dass er auch gleichgeschlechtliche Ehen für verfassungsgemäß halte. Hatte mir nicht derselbe Brzezinski einmal erklärt, dass Obama ein politisches Jahrhunderttalent sei? Da rühmte er dessen Überzeugungskraft und sein Gespür für den historischen Moment.
Hoffnung, Sorge, Skepsis - all das prägte Obamas Amtszeit. Doch Amerikas Politik regte die Welt schon immer auf. Als ich mit meiner Familie nach Washington zog, das Korrespondentenvisum druckfrisch im Reisepass, da neigte sich gerade die Amtszeit George W. Bushs dem Ende zu. Der junge Wahlkämpfer Barack Obama erschien da wie ein Erlöser. Doch kaum begann er zu regieren, schlug ihm der Unmut aufgebrachter Bürger wild entgegen. Der US-Kongress fuhr seitdem Achterbahn, die Wirtschaftsprognosen wechselten. Dennoch drückte Obama Reform um Reform durch. Und nun, da seine mögliche Wiederwahl näher rückt, malt ein so überzeugter Wegbegleiter wie Brzezinski erneut Amerikas Niedergang an die Wand? Wer soll das noch verstehen?
Aber der Reihe nach.
»Amerika begreifen«
»Sie müssen ziehen, Sir«, sagt die freundliche Stimme am Telefon nach der Ankunft im Hotel in Washington. Dabei glaubte ich bereits, so ziemlich alle Wasserhahnvarianten dieser Welt zu kennen. Das Badetuch schon umgebunden, bereit für die ersehnte Dusche, bedanke ich mich. Obwohl ich auch ziehen längst probiert habe, so sehr, dass mir schon fast die Wand entgegenkam.
Die Folgetage erscheinen ähnlich befremdlich, samt der Fragen, die man nun wiederum mir stellt. »Beabsichtigen Sie, hier terroristische Aktivitäten durchzuführen? «, will die Einreisebehörde wissen. »Was verursacht mehr Verkehrsunfälle? A: das Auto? B: der Fahrer? C: die Straße?«, lese ich bei der Führerscheinprüfung. »Wir haben über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen. Das war hier vorher auch schon so. Stört Sie das?«, höre ich von Handwerkern.
Willkommen in Amerika. Dem Land, das zu begreifen von nun an meine Hauptaufgabe ist.
»Wie sind die eigentlich so, die Amerikaner?«, werde ich von Deutschen seitdem oft gefragt. Nett, sage ich dann. Supermarktkassiererinnen nennen dich »Darling«, obwohl du ihnen zuvor nie begegnet bist. Und wenn dein Auto streikt, kommen sie schon mit dem Starthilfekabel an, bevor du danach fragen konntest. Kellner loben noch deine gewöhnlichste Bestellung als »exzellente Wahl« oder, noch besser, als »cool«. Nur die Servicezentralen von Firmen und Behörden sind weniger freundlich. Die geben dir schnell zu verstehen, dass dein Anruf eher stört.
Zudem ist ihr Land unfassbar groß. In jeder Linienmaschine sitzt ein Passagier mit Pelzmütze und einer mit Flipflops. Vom Heck ihrer Feuerwehrautos weht das Sternenbanner, als hätten sie gerade erst den Staat gegründet - dessen monströse Machtfülle sie wiederum beklagen, sobald das Feuer gelöscht ist. Denn sie fürchten nichts mehr als den Sozialismus.
Dabei sind sie ihm näher, als sie ahnen: Sie nennen ihr Land das freieste der Welt, aber nirgendwo stehen mehr Stoppschilder, manche sogar vor simplen Kurven. Einmal ertappte ich mich schon dabei, dass ich vor einem wartete, als würde es noch grün.
Die Staubsauger, die sie benutzen - lärmende, sperrige Monster -, möchte man ihnen schon vor die Füße werfen, bevor man sich damit über einen Treppenbelag hat quälen müssen. Ihr wahres Leibgericht, der Hot Dog, erinnert fatal an die geschmacksneutrale, wässrige Ketwurst der späten DDR. Der einzige Ausgehkomplex am Wasser, den die Potomac-Stadt Washington zu bieten hat, ein hilfloser Murks aus Plattenbau, Erkerchen und Springbrunnen, hätte auch Erich Honecker gefallen. Und wer in der Weltmacht-Kapitale nach neun Uhr abends ein Taxi für Gäste braucht, kann zwar eines bestellen, aber kommen wird es nie.
Trotzdem sollte man sie nicht unterschätzen. Denn zwischendurch erfinden sie immer mal wieder Kleinigkeiten wie das Internet. Und auch wenn sie tausendmal den Klimawandel leugnen: Ein nationales Tempolimit haben sie hinbekommen. Wir nicht.
Ja, Fragen an Amerika gibt es genug, sobald man es betreten und sich eingerichtet hat. Die meisten wären mit einem Augenzwinkern zu ertragen. Wer als Fremder nach Deutschland kommt, wird ähnliche Widersprüche und Merkwürdigkeiten finden.
Nun ist fragen aber mein Beruf. Und die Rätsel, die Amerika uns derzeit stellt, reichen über Banalitäten weit hinaus. Die Welt sorgt sich um die Amerikaner, denn viele verstehen von außen kaum noch, was sie treibt - und wohin es sie treibt. Die häufigste Reaktion in Telefonaten mit der Heimat, privat wie beruflich, lautete zuletzt: »Was ist denn mit denen los? Knallen die jetzt völlig durch?«
Da wählten sie mit historischer Mehrheit einen schwungvollen, jungen Präsidenten, um den sie die ganze Welt beneidete. Aber sobald er zu regieren anfing, beschimpften sie ihn als Kommunisten und Ersatz-Hitler, warfen ihm vor, er sei nicht einmal Amerikaner, und wünschten ihn zum Teufel.
Ausgerechnet er, der mit so viel Rückhalt angetreten war, um das übliche Washingtoner »Game Playing«, wie er sagte, nicht etwa besser zu spielen, sondern es durch kluge, nachvollziehbare Innen- und Außenpolitik zu ersetzen, könnte schon nach vier Jahren dessen Opfer werden - auch weil die offenen Hasskampagnen der Unterlegenen bald überhaupt keine Spielregeln mehr kannten.
Dabei hatte Obama vom ersten Tag an eine Problemliste auf dem Tisch, die selbst Politprofis bis heute den Schweiß auf die Stirn treibt: die Wirtschaft im freien Fall, die Wall Street vor der Pleite, ebenso die Auto-Giganten in Detroit, die Arbeitslosenzahlen auf Rekordkurs. Sieglose Kriege, Gesundheitsmisere, Folter- und Vertuschungsskandale, die Schande Guantanamos. Wer hätte mit Obama tauschen wollen?
Zu links, zu rechts, zu mittig
Dass ihm erfahrene Washington-Kenner wie Politikveteran Stephen Hess von der Brookings Institution bescheinigten, er gehe die Dinge nicht nur in schwindelerregendem Tempo, sondern auch erfolgreicher an als nahezu alle seiner Vorgänger, half ihm nichts. Er wurde gallig kritisiert, wofür auch immer: Dass er zu viel versprochen habe. Dass er das Land zu wenig führe oder zu sehr. Dass er zu links sei, zu rechts oder zu unentschlossen in der Mitte. Zu wenig versöhnend oder zu wenig kämpferisch. Zu abgehoben, zu klug und zugleich leider nicht klug genug. Die Opposition, auf die zuzugehen er versprochen hatte, radikalisierte sich derweil - und verständigte sich darauf, im Volk »möglichst viele negative Emotionen« gegen ihn zu wecken. Drei Jahre sollte er benötigen, um sich darauf einzustellen.
Den Kollegen von den US-Nachrichtenkanälen war das immer recht: Statt die Kritiker auf Substanz abzuklopfen, konnten sie den täglichen Showdown zwischen Obama und seinen Rivalen weiter zelebrieren, als hätte der Wahlkampf von 2008 nie aufgehört. Selbst offenkundig durchgeknallte Zeitgenossen hievten sie auf Augenhöhe Washingtons: einen Pastor aus Florida, der ankündigte, Korane zu verbrennen; Tea-Party-Schreihälse, die sich zum Hexenkult bekannten oder die Berliner Mauer priesen; das jeweils unvermeidliche Twitter-Zitat von Sarah Palin; Präsidentschaftsanwärter, die - nur halb im Scherz - von Erdbeben und Hurrikans als Fingerzeig Gottes gegen eine falsche Regierung sprachen. Selbst das ging noch als »Denkzettel für Obama« durch. Sind sie zu stark, ist er zu schwach.
Und nun? Als das Wahljahr 2012 ausbricht, entdecken sie ihn plötzlich neu, sehen in Umfragen seine Sympathiewerte wieder nach oben klettern, fast als wäre nichts gewesen. Obama ist zurück, er schafft es wieder, wir haben es ja immer gewusst?
»Ja, was denn nun«, fragen die Deutschen erneut uns Korrespondenten, »wissen die Amerikaner denn noch, was sie wollen?«
Nein, viele wissen es nicht. Nicht was - denn die Gebrauchsanleitung für den amerikanischen Traum taugt seit der Immobilienkrise nicht mehr viel. Und nicht wen - denn wer alle zwei Jahre die Machtverhältnisse in Washington derart auf den Kopf stellt, weil er auf Wandel hofft, dem ist mit Wahlen womöglich nicht zu helfen.
Vieles spricht dafür, dass die Probleme sogar noch tiefer liegen, als es die Amerikaner wahrhaben wollen - auch wenn die Krise manchen schon überwunden scheint. Tatsächlich ist der Industrie- und Gewerbesektor veraltet, die Infrastruktur brüchig. Bisherige Konjunkturprogramme verhinderten zwar Schlimmeres, doch neue schlägt der Präsident gar nicht mehr vor, aus Sorge um das Haushaltsdefizit. Was wächst, ist die dunkle Ahnung, dass schon die letzten Aufschwünge nicht echt, sondern geborgt waren: finanziert durch Luftbuchungen auf Hypotheken - und geduldige Kreditkarten.
»Wenn Obama Erfolg hat, wird er wiedergewählt. Wenn nicht, nicht«, prophezeite uns der konservative Kolumnist George Will, als Obama zu straucheln begann. Doch wer drückt aus einer Krise heraus schon mal zugleich sowohl die Staatsschulden als auch die Arbeitslosigkeit nach unten, wie es seine Gegner clever von ihm forderten?
Bald glaubten sie, der einstige Hoffnungsträger säße schon sicher in ihrer Falle: All seine Initiativen bremsten die Republikaner um John Boehner aus, den neuen Chef des Repräsentantenhauses, zuversichtlich, dass für die Folgen allein Obama büßen würde. Warum sollten sie ihn stützen, wo doch ihr erstes Ziel stets war, ihm eine zweite Amtszeit zu verbauen? Wo immer er ihnen entgegenkam, erhielt er kaum etwas zurück. Stattdessen verlor er im eigenen Lager immer mehr an Rückhalt.
»Der Weltenretter schon am Ende?«, fragten die Deutschen uns Korrespondenten da, wenn sie es nicht selbst bereits zu wissen glaubten - oder ohnehin schon immer wussten.
Obama als Opfer seiner eigenen Maßstäbe, die er vor seiner Wahl setzte? Oder musste er, trotz allen Talents, einfach an historischen Sachzwängen scheitern, die der Supermacht lange schon zusetzten, nun aber ihren Preis verlangten?
Andererseits, wer sollte ihn strahlend ablösen? Das Bewerberfeld der Opposition für das Präsidentenamt blamierte sich schon in ersten TV-Debatten bis auf die Knochen, sodass sich selbst Stammwähler und Großspender kopfschüttelnd abwendeten. Kandidaten wussten kaum, wo Libyen liegt, oder drohten die US-Botschaft im Iran zu schließen, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt.
Wohin will die Weltmacht?
Doch reicht das dem Amtsinhaber, um noch einmal Amerikas politische Mitte zu begeistern, die schon immer jede Wahl entschieden hat, aber nun mehr zaudert denn je? Kaum einer weiß noch, was diese Mitte möchte. Will sie nach der verheerenden Finanzkrise, in der die Steuerzahler das Bankensystem retten mussten, nun die Regierung stärken oder lieber ihren Einfluss mäßigen?
Im Machtvakuum zwischen dem Präsidenten und den sperrigen Kongresskammern haben Neu-Parlamentarier Einfluss gewonnen, die offenbar nicht davor zurückschrecken, das Land ganz lahmzulegen: populistische Staats- und Steuergegner, Klimawandel- und Evolutions-Verleugner, außenpolitische Isolationisten, ultrareligiöse Radikale - denen keiner der Altvorderen wirksam entgegentritt. Zu groß ist die Sorge, er könnte im Wahlkreis zu Hause deren nächstes Opfer werden.
Wohin also taumelt die Weltmacht, mit oder ohne Obama? Viele Amerikaner, auf die ich täglich treffe - als Berichterstatter, Kollege, Nachbar, Vater von Schulkindern oder Reisender -, machen kein Geheimnis mehr daraus, dass sie selber ratlos sind.
»Was ist mit diesem Land passiert, das ich zu kennen glaubte?«, fragt NBC-Urgestein Tom Brokaw, einer der renommiertesten Reporter Amerikas, der bisher nie verlegen war, seinem Publikum Zusammenhänge zu erklären. »Sind wir nur kurz vom Weg abgekommen oder sind wir so gespalten, dass wir uns schon fast von jedem Richtung Abgrund treiben lassen?«
Als der Sommer ausbricht, verabschieden sich die Umfrageinstitute von ihrer Erwartung, dass der Zustand der US-Wirtschaft den Wahlausgang vorherbestimme. Zwar schreibe man Wachstum, aber nur zögerlich. Monatlich entstünden neue Jobs, aber eben nicht überzeugend viele. Manche Blätter wie USA TODAY berichten von steigender Zuversicht im Lande. Andere verweisen auf anhaltende Skepsis. Tatsächlich sind da über 70 Prozent der Bürger mit der Lage unzufrieden. Zugleich aber geben 60 Prozent an, sie rechneten mit einer Besserung. Als ABC und Washington Post ermitteln, von wem die Wähler die erfolgreichere Wirtschaftspolitik erwarten, erreichen beide Kandidaten exakt den gleichen Wert: jeweils 47 Prozent. Beste Voraussetzungen für einen erbitterten Wahlkampf.
Wie sehr Amerika seine Zweiteilung zelebriert, fällt mir schon auf, als ich nach meiner Ankunft das Radio einschalte. Um ihre Diskussionsrunde zu beleben, in der in akkurater Folge linke und rechte Experten um die beste Weltsicht streiten, gibt die Moderatorin das Mikrofon für Hörermeinungen frei - bittet aber nun auch sie, wie gewohnt entweder über die »demokratische« oder die »republikanische« Leitung anzurufen. Wie soll einer da versöhnen, wenn die Spaltung immer schon vorab feststeht? Wie soll einer Dinge richten, wenn der Richtungsstreit nie endet?
Dabei waren wir gewohnt, dass gerade Amerika der Welt die Richtung vorgab. Deshalb werden zugleich Rufe von außen lauter, Obama möge sein Riesenreich endlich auf Kurs bringen. Mal hoffend, weil er tatsächlich diese Erwartung geweckt hatte. Mal hämisch, als habe er der Welt versprochen, übers Wasser zu laufen. Dabei ist der angeblich mächtigste Mann der Welt im täglichen Washingtoner Wahnsinn derart von Untiefen, Machtstrudeln und Medienwirbeln umgeben, dass ihm kaum Raum zum Schwimmen bleibt.
Worauf dieses Buch baut, sind Eindrücke und Erfahrungen eines Korrespondenten seit dem Ende der letzten Amtszeit George W. Bushs. Es verarbeitet Gespräche und Reiseerlebnisse, Analysen und Alltagsepisoden aus fünf Reporterjahren in und vor allem jenseits von Washington. Darunter sind großartige Momente und amüsante, schockierende und schicksalhafte. Oft dachte ich in diesen Jahren, ich habe es mit Symptomen - im Wortsinn: vorübergehenden Eigentümlichkeiten - einer kränkelnden Supermacht zu tun. Wobei nicht immer klar ist, was dem amerikanischen Patienten womöglich angeboren ist, wie etwa der Hang zu Kapitalismus in Reinkultur und zur ewigen Superlative einer Ausnahme-Nation, und was tatsächlich nur zu befristeten Auffälligkeiten zählt, wie das zeitweilige Übermaß an Tea-Party-Einfluss. Dennoch: Das Bild, das sich mir als Berichterstatter bot, mag das einer zunehmend verunsicherten und aufgeregten Supermacht sein. Aber auch stets das eines, in jeder Hinsicht, aufregenden Landes.
Copyright © Piper Verlag GmbH, München 2012
... weniger
Autoren-Porträt von Klaus Scherer
Klaus Scherer, geboren 1961 in der Pfalz, volontierte nach dem Soziologie-, Geografie- und Publizistik-Studium in Mainz beim Sender Freies Berlin. Von 1990 - 1995 war er Inlandskorrespondent für "Tagesschau" und "Tagesthemen", danach arbeitete er als Reporter beim NDR-Politmagazin "Panorama". 1999 ging er als Fernost-Korrespondent und Leiter des ARD-Studios für fünf Jahre nach Tokio und produzierte anschließend von Hamburg aus hochkarätige Reisereportagen. Seit 2007 ist er Amerika-Korrespondent der ARD in Washington. Für seine Arbeit als Korrespondent und Reporter erhielt Scherer den Axel-Springer-Preis, den Deutschen Fernsehpreis TeleStar und den Adolf-Grimme-Preis. Über seine Reisen und Recherchen hat er mehrere Bücher veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Klaus Scherer
- 2012, 288 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492055311
- ISBN-13: 9783492055314
Rezension zu „Wahnsinn Amerika “
"Ein witziger, erfrischend differenzierter und nie überheblicher Blick in den Seelenzustand einer verunsicherten Nation.", MDR Figaro, Silke Hasselmann, 16.07.2012
Kommentar zu "Wahnsinn Amerika"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Wahnsinn Amerika".
Kommentar verfassen