Wassermanns Zorn
Thriller
Manuela Sperling muss sich gleich an ihrem ersten Tag bei der Polizei mit dem Mord an einer Prostituierten befassen, deren Leiche eingekeilt zwischen Baumwurzeln im Fluss liegt ertränkt. An der Leiche finden die Spurensicherer eine grausige...
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Produktinformationen zu „Wassermanns Zorn “
Manuela Sperling muss sich gleich an ihrem ersten Tag bei der Polizei mit dem Mord an einer Prostituierten befassen, deren Leiche eingekeilt zwischen Baumwurzeln im Fluss liegt ertränkt. An der Leiche finden die Spurensicherer eine grausige Botschaft, gerichtet an Manuelas Chef, Kommissar Stiffler.
Klappentext zu „Wassermanns Zorn “
Manuela Sperling ist neu bei der Polizei. Gleich an ihrem ersten Tag muss sie sich mit dem grausigen Mord an einer Prostituierten befassen, deren Leiche eingekeilt zwischen Baumwurzeln im seichten Teil des Flusses liegt - ertränkt. Auf dem Bauch der Toten finden die Spurensicherer eine grausige Botschaft, gerichtet an Manuelas Chef, Kriminalhauptkommissar Stiffler.Manuela muss erkennen, dass ihr Eifer nicht von allen im Präsidium gern gesehen wird. Da ertrinkt erneut eine Frau, direkt vor ihren Augen. Eine unsichtbare Macht zieht sie auf den See hinaus und unter die Wasseroberfläche. Und Stiffler dreht durch ...
Lese-Probe zu „Wassermanns Zorn “
Wassermanns Zorn von Andreas WinkelmannVorher
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Eiskaltes Wasser umschloss ihren Körper und spülte die Benommenheit fort, die der heftige Schlag auf ihren Hinterkopf ausgelöst hatte. Instinktiv presste sie die Lippen aufeinander, riss die Augen weit auf und spürte sofort das Wasser brennend auf ihren Augäpfeln.
Wenige Zentimeter unter sich sah sie einen Abfluss mit einem schwarzen Plastikstöpsel darin und einem schmutzig braunen Rand darum. An dem Stöpsel hing der kurze Rest einer silbernen Kugelkette, die schon zerrissen gewesen war, als sie die Wohnung bezogen hatten. Auch der braune Rand war damals schon da gewesen. Einige lange Haare waren unter dem Stöpsel eingeklemmt und trieben im Wasser wie Fangarme umher. Die meisten stammten von ihr. Ausgerechnet in diesem unpassenden Moment erinnerte sie sich an die häufigen Ermahnungen, endlich den Abfluss zu reinigen. Sie hatte nie darauf gehört und wünschte sich jetzt, es nachholen zu können. Zeit zu bekommen dafür. Doch ihre Zeit lief gerade unaufhaltsam ab.
Zwei kräftige Hände drückten sie unter Wasser. Eine packte sie im Nacken, die Finger der anderen gruben sich wie Stahlklauen in die Muskulatur ihres Hinterns.
Sie strampelte mit den Beinen, schlug mit den Händen auf den Wannenrand, fand aber keinen Halt, sondern glitt immer wieder ab an der nassen, rutschigen Emaillebeschichtung. Ihre langen Nägel kratzten darüber und quietschten jämmerlich.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nackt war. Er musste sie entkleidet haben, während sie besinnungslos gewesen war. Alles war so schnell gegangen, sie hatte keine Chance gehabt, sich zu wehren. Dabei hätte sie es wissen können. Sie hätte aus den Geschehnissen der letzten Wochen nur die richtigen Schlüsse ziehen müssen.
Zu spät. Jetzt war es dafür zu spät.
Die Anstrengungen ihrer Gegenwehr forderten bereits nach wenigen Sekunden ihren Tribut. Ihre Lunge lechzte nach Sauerstoff, ihr ganzer Körper schrie danach. Aber ihr Verstand stemmte sich verzweifelt dagegen.
... nicht atmen, auf keinen Fall atmen ...
Sie war es nicht gewohnt, die Luft anzuhalten, kämpfte gegen den Atemreflex an, presste weiterhin ihre Lippen fest aufeinander und nahm sich vor, sie nie, nie, nie zu öffnen. Denn mit dem Wasser würde der Tod in sie eindringen, und sie wollte nicht sterben, nicht jetzt und nicht hier. Nicht in ihrer Wanne, jenem Platz in der Wohnung, an dem sie sich, eingehüllt in warmes Wasser und Schaumberge, stets so sicher und geborgen gefühlt hatte.
... nicht atmen. Auf keinen Fall atmen ...
Sie mobilisierte all ihre Kräfte, trat noch heftiger aus, wand sich wie ein Aal, und tatsächlich schaffte sie es, den Kopf aus dem Wasser zu recken. Sofort riss sie den Mund auf und schnappte mit einem gierigen Geräusch nach Luft.
Doch mit brachialer Gewalt wurde sie wieder hinuntergedrückt und atmete unweigerlich Wasser ein.
Jetzt war es in ihr, in ihrem Hals, wo es einen Würgereflex auslöste. Obwohl sie es nicht wollte, atmete sie ein weiteres Mal ein. Ihre Lunge verkrampfte sich.
Unbarmherzig wurde sie tiefer hinuntergedrückt, gegen den Wannenboden, bis ihre Nase brach. Der heftige Schmerz ließ sie die Augen erneut weit aufreißen, und sie sah, wie sich ihr Blut wie roter Nebel mit dem Wasser vermischte. Die langen, unter dem schwarzen Plastikstöpsel eingeklemmten Haare verschwanden hinter dem Rot.
Das Letzte, was ich sehe, sind unsere Haare, dachte sie. Meine und ihre, miteinander verflochten, so wie unsere Leben.
Ein paar Luftblasen stiegen von ihren Lippen auf. Silbrig schimmernde Kugeln, die sie so gern zurückgestopft hätte in ihren Mund, damit das bisschen Sauerstoff ihr noch eine Sekunde verschaffte. Eine Sekunde länger im Leben, im Hier und Jetzt ...
Ihre unkontrollierten Zuckungen erlahmten. Durch das Wasser gedämpft und verzerrt hörte sie ihre eigenen Schluckgeräusche, entsetzlich, unmenschlich. Die dröhnende Stimme des Todes hallte durch ihren Kopf, füllte ihn aus, lauter als die Angst, lauter noch als der Schrei nach Leben.
Sie atmete ein letztes Mal ein.
Und dann war Stille.
Jetzt
1
«Hast du Lust zu baden, Stiffler?»
Die Stimme am anderen Ende des Telefons klang wässrig, so, als trinke der Mann beim Sprechen.
«Wer ist da?», fragte Eric Stiffler.
Ein paar Sekunden sagte niemand etwas. Der Anrufer atmete mühsam, und das rasselnde, schleimige Geräusch jagte Eric einen Schauer über den Rücken. In seinem Kopf wollte sich eine Erinnerung entfalten.
«Die Vergangenheit holt dich ein, Stiffler.»
Eric nahm das Handy vom Ohr und sah auf das Display. Entgegen seiner Gewohnheit hatte er es nicht getan, bevor er das Gespräch entgegengenommen hatte. Er hatte gerade Kaffee getrunken. Werkstatt ruft an, stand dort, gefolgt von einer Mobilnummer, die er nur zu gut kannte.
Er presste das Handy wieder ans Ohr.
«Hören Sie. Wenn ...»
«Nein. Du hörst zu, und besser ganz genau, denn ich werde es nur einmal sagen. Sie badet, Stiffler ... Sie badet, und wenn du sie nicht rechtzeitig findest, wird es das letzte Bad ihres Lebens sein. Sie hat nach dir gefragt, und ich habe ihr gesagt, dass du zu feige bist, um ihr zu helfen. Hab ich recht damit? Bist du immer noch so ein gottverdammter Feigling?»
Die Stimme troff geradezu vor Hass. Eric spürte, wie sich sein Magen zu einem festen Klumpen verkrampfte und die Säure in die Speiseröhre drückte.
Er hasste es, ein Feigling genannt zu werden, hatte es schon in der Schule gehasst. Schon damals war er klein und spindeldürr gewesen, keiner körperlichen Auseinandersetzung gewachsen. Er hatte früh gelernt, dass man den rauflustigen Rabauken nur durch Flucht oder Schlauheit entkommen konnte, und darauf seine Lebensstrategien aufgebaut. Auf dem Präsidium hatte mal jemand behauptet, er habe keinen Arsch in der Hose. In physischer Hinsicht stimmte das, jede Hose schlackerte an ihm herum wie ein Segel im Wind, aber der Kollege hatte es natürlich im übertragenen Sinn gemeint. Tja, heute war er nicht mehr da, weil er sich nach diesem dummen Spruch auch noch einen Fehler geleistet hatte.
Eric drehte sich mit dem Handy am Ohr im Kreis. Er stand in der Nähe des Marktplatzes am Zeitungskiosk, an dem er sich seinen üblichen Feierabendkaffee geholt hatte. Jetzt, am späten Nachmittag, herrschte in der Fußgängerzone der Vierhunderttausend-Einwohner-Stadt reger Betrieb. Menschen eilten vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen, aber er konnte in der Menge niemanden ausmachen, der sich für ihn interessierte. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
«Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, ich schwöre dir ...»
«Halt deine Klappe und beeil dich besser.»
Damit war das Gespräch beendet.
Eric Stiffler blieb mit dem Echo dieser nasal-nassen, hasserfüllten Stimme im Kopf zurück. Er fühlte sich wie gelähmt. Den Betrieb um sich herum nahm er nur noch als ein gedämpftes Hintergrundrauschen wahr.
Eben noch hatte er sich auf den Feierabend gefreut, hatte mit dem Duft des frischen Kaffees in der Nase und den warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht überlegt, ob er heute vielleicht den Rasen mähen und sich danach auf die Terrasse legen sollte, statt wie immer nur vor der Glotze abzuhängen. Er könnte auch den Grill, der seit Jahren schon nicht mehr benutzt worden war, aus dem Schuppen holen und ein paar Würstchen auf den Rost legen. Das Wetter war danach, also warum nicht? Es war ein schöner Gedanke gewesen, und er hatte sich gut gefühlt. All die Schatten, die ihn sonst stets umgaben, waren einer sonnigen Helligkeit gewichen. Alles schien möglich.
Aber jetzt nicht mehr. Dieser Anruf hatte das kurze Aufflackern von Entschlossenheit und Unternehmungslust im Keim erstickt.
Er sah Annabells Gesicht vor sich. Ihr schwarzes Haar, ihre helle, ebenmäßige Haut. Die leichten Grübchen neben ihren Mundwinkeln, die ihr Lächeln so ehrlich wirken ließen. Ihre dunkelbraunen, mandelförmigen Augen, die Ruhe und Gelassenheit ausdrückten. In diesem Moment begriff er, dass ihn schon immer ihre Augen am allermeisten fasziniert hatten. Aber dieses Begreifen ging darüber hinaus, bohrte sich schmerzhaft in seine Eingeweide und riss ein Tor weit auf, hinter dem Einsamkeit und Verlust lauerten.
Mit zittrigen Fingern öffnete er das Telefonbuch seines Handys und suchte ihre Nummer heraus, die er unter «Werkstatt» gespeichert hatte. Er ließ es eine Weile klingeln, legte aber auf, bevor die Mailbox seinen Anruf entgegennehmen konnte.
Seine Gedanken überschlugen sich. Wieso jetzt? Wieso sie? Wer war das gewesen am Telefon? Die Vergangenheit holt dich ein, Stiffler. Die lange verschüttete Erinnerung drängte sich erneut machtvoll in sein Bewusstsein, und Eric bemühte sich nach Kräften, sie zurückzudrängen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen und sich nicht zu überstürzten Aktionen hinreißen lassen, denn wahrscheinlich war es genau das, was der Anrufer beabsichtigte.
Eric warf den vollen Kaffeebecher in den Mülleimer. Dann fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch sein langes, dünnes Haar.
Denk nach, denk nach, denk nach ...
Schließlich fällte er eine Entscheidung und machte sich mit langen Schritten auf den Weg.
2
Die alte Angst tauchte auf wie eine Hand aus dunklem Wasser, packte sie und riss sie aus der Realität zurück in den Albtraum, den sie nie vergessen hatte und der offenbar längst noch nicht zu Ende war. Augenblicklich brach ihr kalter Schweiß aus.
Lavinia Wolff sah in der Schaufensterscheibe nur das weichgezeichnete Spiegelbild einer schlanken Frau Mitte zwanzig, fast schon zu dünn, die Hüften knabenhaft, der Busen nicht der Rede wert. Das blond gefärbte Haar fiel ihr sanft auf die Schultern.
Ein Blinzeln wechselte die Perspektive. Lavinia konzentrierte sich und beobachtete ihre Umgebung im Fensterglas. Die Auslage dahinter störte. Sie stand vor einem auf Krimis und Thriller spezialisierten Buchladen. Auf blutrotem Tuch lagen die Bestseller aus dem Genre.
Zorn. Hass. Tod. Wut. Terror.
Die einzelnen Worte auf den Buchdeckeln drangen wie Gewehrfeuer in ihren Kopf. Angst wurde zu Panik. Lavinia begann am Nagel ihres rechten Zeigefingers zu kauen, wie sie es immer tat, wenn sie sich sehr unwohl fühlte. Es half, die Panik niederzuringen. Sie durfte es auf keinen Fall so weit kommen lassen.
Hatte er sie gefunden?
Oder erlag sie nur wieder einem dieser Anfälle, die sie in schöner Regelmäßigkeit heimsuchten? Sie wusste, dass sie paranoide Züge entwickelt hatte seit damals, aber das hatte nichts mit dem zu tun, was sie gerade fühlte.
Dabei war heute früh um acht, zum Schichtbeginn, noch alles in Ordnung gewesen - sah man davon ab, dass sie sich wieder einmal nur mühsam zu ihrem Arbeitsplatz beim Bekleidungsdiscounter geschleppt hatte. Die beschissene Bezahlung und der Gestank nach Plastik und Chemikalien in den billigen Klamotten konnte sie gerade noch ertragen. Nicht aber die neue Filialleiterin, die sie jeden Tag drangsalierte. Lavinia wäre spielend mit Frau Kropf fertiggeworden, wenn sie den Job nicht so dringend bräuchte. Sich jemandem unterzuordnen, dem sie eigentlich überlegen war, war so sehr gegen ihre Natur, dass es ihr körperliche Schmerzen verursachte.
Während der Acht-Stunden-Schicht hatte sie nichts bemerkt. Wie jeden Tag in den letzten zwei Jahren waren die Kunden wie eine graue Masse an ihr vorübergezogen. Aber kaum hatte sie gegen siebzehn Uhr die Filiale verlassen, hatte sie sofort das Gefühl gehabt, beobachtet und verfolgt zu werden.
Früher hatte Lavinia nie an ihren Instinkten gezweifelt, aber nachdem sie sie bereits ein paar Mal getrogen hatten, war sie vorsichtiger geworden. Sie wollte nur zu gern glauben, wieder einer Täuschung zu erliegen, doch da gab es so etwas wie eine Stimme in den Tiefen ihres Kopfes, und die sprach die Wahrheit aus.
Er ist wieder da ... Er ist wieder da ..., flüsterte sie ... Und diesmal wird er dich ertränken.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und wandte sich mit einem Ruck von dem Schaufenster ab.
Und dann sah sie ihn.
Ungefähr fünfzig Meter die Straße hinunter stand er unter der ausgefahrenen dunkelgrünen Markise eines türkischen Gemüsehändlers. Er stand neben den mit Melonen vollbeladenen Körben ganz dicht an der Hauswand, wo der Schatten undurchdringlich war, und Lavinia konnte weder sein Gesicht noch seine Augen sehen. Aber sie wusste, dass er sie anstarrte.
Er war es, ganz sicher.
Lavinia starrte zurück. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
Die warme Luft über dem sonnenheißen Pflaster begann zu flirren und zu schwimmen, so als verwandele sich der feste Boden in Wasser. Alles, was sich jenseits dieses Sees befand, geriet in geisterhafte Bewegung.
Schwindel erfasste Lavinia, Erinnerungsbilder schossen an ihren Augen vorbei. Ein See. Ein Kopf, der durch die Oberfläche brach. Ein zersprungener Glasbilderrahmen auf dem Flur. Aufgefächertes Haar in blutrotem Wasser. Sie schüttelte den Kopf, zwang ihren Blick zu Boden, um die Bilder loszuwerden, und als sie wieder aufsah, war die Gestalt unter der grünen Markise verschwunden.
Er schleicht sich an! Mach, dass du fortkommst!, schrie es in ihr.
Hektisch sah Lavinia sich um, konnte aber niemanden in der Nähe entdecken. Trotzdem wurde die Angst immer größer. Sie packte ihre Handtasche fester, wandte sich nachts rechts und lief die Fußgängerzone hinunter. Die harten Absätze ihrer Stiefel klapperten geradezu ohrenbetäubend, sie zog Blicke auf sich, aber das war ihr egal. Sie musste weg hier. So schnell es ging.
Um sie herum waren zahllose Menschen, und doch hätte ihre Einsamkeit in diesem Moment nicht größer sein können. Niemand würde ihr jemals helfen können, solange dieser Schatten der Vergangenheit hinter ihr her war.
Mit wild pochendem Herzen und einem Stechen in der Lunge erreichte sie endlich die S-Bahn-Station und erwischte gerade noch eine Bahn. Sie sprang hinein, blieb mit der Handtasche am Griff hängen, zerrte daran, bis der billige Karabiner zersprang, und fiel dadurch beinahe hin.
Leise zischend schlossen sich die Türen. Die Bahn setzte sich in Bewegung.
Lavinia presste sich an die Tür, ihr Atem beschlug die schmutzige Scheibe. Durch den Nebel hindurch beobachtete sie die rasch kleiner werdende Haltestelle. Es war, als hätte die Bahn sie aus ihrem Leben gerissen.
...
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Eiskaltes Wasser umschloss ihren Körper und spülte die Benommenheit fort, die der heftige Schlag auf ihren Hinterkopf ausgelöst hatte. Instinktiv presste sie die Lippen aufeinander, riss die Augen weit auf und spürte sofort das Wasser brennend auf ihren Augäpfeln.
Wenige Zentimeter unter sich sah sie einen Abfluss mit einem schwarzen Plastikstöpsel darin und einem schmutzig braunen Rand darum. An dem Stöpsel hing der kurze Rest einer silbernen Kugelkette, die schon zerrissen gewesen war, als sie die Wohnung bezogen hatten. Auch der braune Rand war damals schon da gewesen. Einige lange Haare waren unter dem Stöpsel eingeklemmt und trieben im Wasser wie Fangarme umher. Die meisten stammten von ihr. Ausgerechnet in diesem unpassenden Moment erinnerte sie sich an die häufigen Ermahnungen, endlich den Abfluss zu reinigen. Sie hatte nie darauf gehört und wünschte sich jetzt, es nachholen zu können. Zeit zu bekommen dafür. Doch ihre Zeit lief gerade unaufhaltsam ab.
Zwei kräftige Hände drückten sie unter Wasser. Eine packte sie im Nacken, die Finger der anderen gruben sich wie Stahlklauen in die Muskulatur ihres Hinterns.
Sie strampelte mit den Beinen, schlug mit den Händen auf den Wannenrand, fand aber keinen Halt, sondern glitt immer wieder ab an der nassen, rutschigen Emaillebeschichtung. Ihre langen Nägel kratzten darüber und quietschten jämmerlich.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nackt war. Er musste sie entkleidet haben, während sie besinnungslos gewesen war. Alles war so schnell gegangen, sie hatte keine Chance gehabt, sich zu wehren. Dabei hätte sie es wissen können. Sie hätte aus den Geschehnissen der letzten Wochen nur die richtigen Schlüsse ziehen müssen.
Zu spät. Jetzt war es dafür zu spät.
Die Anstrengungen ihrer Gegenwehr forderten bereits nach wenigen Sekunden ihren Tribut. Ihre Lunge lechzte nach Sauerstoff, ihr ganzer Körper schrie danach. Aber ihr Verstand stemmte sich verzweifelt dagegen.
... nicht atmen, auf keinen Fall atmen ...
Sie war es nicht gewohnt, die Luft anzuhalten, kämpfte gegen den Atemreflex an, presste weiterhin ihre Lippen fest aufeinander und nahm sich vor, sie nie, nie, nie zu öffnen. Denn mit dem Wasser würde der Tod in sie eindringen, und sie wollte nicht sterben, nicht jetzt und nicht hier. Nicht in ihrer Wanne, jenem Platz in der Wohnung, an dem sie sich, eingehüllt in warmes Wasser und Schaumberge, stets so sicher und geborgen gefühlt hatte.
... nicht atmen. Auf keinen Fall atmen ...
Sie mobilisierte all ihre Kräfte, trat noch heftiger aus, wand sich wie ein Aal, und tatsächlich schaffte sie es, den Kopf aus dem Wasser zu recken. Sofort riss sie den Mund auf und schnappte mit einem gierigen Geräusch nach Luft.
Doch mit brachialer Gewalt wurde sie wieder hinuntergedrückt und atmete unweigerlich Wasser ein.
Jetzt war es in ihr, in ihrem Hals, wo es einen Würgereflex auslöste. Obwohl sie es nicht wollte, atmete sie ein weiteres Mal ein. Ihre Lunge verkrampfte sich.
Unbarmherzig wurde sie tiefer hinuntergedrückt, gegen den Wannenboden, bis ihre Nase brach. Der heftige Schmerz ließ sie die Augen erneut weit aufreißen, und sie sah, wie sich ihr Blut wie roter Nebel mit dem Wasser vermischte. Die langen, unter dem schwarzen Plastikstöpsel eingeklemmten Haare verschwanden hinter dem Rot.
Das Letzte, was ich sehe, sind unsere Haare, dachte sie. Meine und ihre, miteinander verflochten, so wie unsere Leben.
Ein paar Luftblasen stiegen von ihren Lippen auf. Silbrig schimmernde Kugeln, die sie so gern zurückgestopft hätte in ihren Mund, damit das bisschen Sauerstoff ihr noch eine Sekunde verschaffte. Eine Sekunde länger im Leben, im Hier und Jetzt ...
Ihre unkontrollierten Zuckungen erlahmten. Durch das Wasser gedämpft und verzerrt hörte sie ihre eigenen Schluckgeräusche, entsetzlich, unmenschlich. Die dröhnende Stimme des Todes hallte durch ihren Kopf, füllte ihn aus, lauter als die Angst, lauter noch als der Schrei nach Leben.
Sie atmete ein letztes Mal ein.
Und dann war Stille.
Jetzt
1
«Hast du Lust zu baden, Stiffler?»
Die Stimme am anderen Ende des Telefons klang wässrig, so, als trinke der Mann beim Sprechen.
«Wer ist da?», fragte Eric Stiffler.
Ein paar Sekunden sagte niemand etwas. Der Anrufer atmete mühsam, und das rasselnde, schleimige Geräusch jagte Eric einen Schauer über den Rücken. In seinem Kopf wollte sich eine Erinnerung entfalten.
«Die Vergangenheit holt dich ein, Stiffler.»
Eric nahm das Handy vom Ohr und sah auf das Display. Entgegen seiner Gewohnheit hatte er es nicht getan, bevor er das Gespräch entgegengenommen hatte. Er hatte gerade Kaffee getrunken. Werkstatt ruft an, stand dort, gefolgt von einer Mobilnummer, die er nur zu gut kannte.
Er presste das Handy wieder ans Ohr.
«Hören Sie. Wenn ...»
«Nein. Du hörst zu, und besser ganz genau, denn ich werde es nur einmal sagen. Sie badet, Stiffler ... Sie badet, und wenn du sie nicht rechtzeitig findest, wird es das letzte Bad ihres Lebens sein. Sie hat nach dir gefragt, und ich habe ihr gesagt, dass du zu feige bist, um ihr zu helfen. Hab ich recht damit? Bist du immer noch so ein gottverdammter Feigling?»
Die Stimme troff geradezu vor Hass. Eric spürte, wie sich sein Magen zu einem festen Klumpen verkrampfte und die Säure in die Speiseröhre drückte.
Er hasste es, ein Feigling genannt zu werden, hatte es schon in der Schule gehasst. Schon damals war er klein und spindeldürr gewesen, keiner körperlichen Auseinandersetzung gewachsen. Er hatte früh gelernt, dass man den rauflustigen Rabauken nur durch Flucht oder Schlauheit entkommen konnte, und darauf seine Lebensstrategien aufgebaut. Auf dem Präsidium hatte mal jemand behauptet, er habe keinen Arsch in der Hose. In physischer Hinsicht stimmte das, jede Hose schlackerte an ihm herum wie ein Segel im Wind, aber der Kollege hatte es natürlich im übertragenen Sinn gemeint. Tja, heute war er nicht mehr da, weil er sich nach diesem dummen Spruch auch noch einen Fehler geleistet hatte.
Eric drehte sich mit dem Handy am Ohr im Kreis. Er stand in der Nähe des Marktplatzes am Zeitungskiosk, an dem er sich seinen üblichen Feierabendkaffee geholt hatte. Jetzt, am späten Nachmittag, herrschte in der Fußgängerzone der Vierhunderttausend-Einwohner-Stadt reger Betrieb. Menschen eilten vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen, aber er konnte in der Menge niemanden ausmachen, der sich für ihn interessierte. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
«Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, ich schwöre dir ...»
«Halt deine Klappe und beeil dich besser.»
Damit war das Gespräch beendet.
Eric Stiffler blieb mit dem Echo dieser nasal-nassen, hasserfüllten Stimme im Kopf zurück. Er fühlte sich wie gelähmt. Den Betrieb um sich herum nahm er nur noch als ein gedämpftes Hintergrundrauschen wahr.
Eben noch hatte er sich auf den Feierabend gefreut, hatte mit dem Duft des frischen Kaffees in der Nase und den warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht überlegt, ob er heute vielleicht den Rasen mähen und sich danach auf die Terrasse legen sollte, statt wie immer nur vor der Glotze abzuhängen. Er könnte auch den Grill, der seit Jahren schon nicht mehr benutzt worden war, aus dem Schuppen holen und ein paar Würstchen auf den Rost legen. Das Wetter war danach, also warum nicht? Es war ein schöner Gedanke gewesen, und er hatte sich gut gefühlt. All die Schatten, die ihn sonst stets umgaben, waren einer sonnigen Helligkeit gewichen. Alles schien möglich.
Aber jetzt nicht mehr. Dieser Anruf hatte das kurze Aufflackern von Entschlossenheit und Unternehmungslust im Keim erstickt.
Er sah Annabells Gesicht vor sich. Ihr schwarzes Haar, ihre helle, ebenmäßige Haut. Die leichten Grübchen neben ihren Mundwinkeln, die ihr Lächeln so ehrlich wirken ließen. Ihre dunkelbraunen, mandelförmigen Augen, die Ruhe und Gelassenheit ausdrückten. In diesem Moment begriff er, dass ihn schon immer ihre Augen am allermeisten fasziniert hatten. Aber dieses Begreifen ging darüber hinaus, bohrte sich schmerzhaft in seine Eingeweide und riss ein Tor weit auf, hinter dem Einsamkeit und Verlust lauerten.
Mit zittrigen Fingern öffnete er das Telefonbuch seines Handys und suchte ihre Nummer heraus, die er unter «Werkstatt» gespeichert hatte. Er ließ es eine Weile klingeln, legte aber auf, bevor die Mailbox seinen Anruf entgegennehmen konnte.
Seine Gedanken überschlugen sich. Wieso jetzt? Wieso sie? Wer war das gewesen am Telefon? Die Vergangenheit holt dich ein, Stiffler. Die lange verschüttete Erinnerung drängte sich erneut machtvoll in sein Bewusstsein, und Eric bemühte sich nach Kräften, sie zurückzudrängen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen und sich nicht zu überstürzten Aktionen hinreißen lassen, denn wahrscheinlich war es genau das, was der Anrufer beabsichtigte.
Eric warf den vollen Kaffeebecher in den Mülleimer. Dann fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch sein langes, dünnes Haar.
Denk nach, denk nach, denk nach ...
Schließlich fällte er eine Entscheidung und machte sich mit langen Schritten auf den Weg.
2
Die alte Angst tauchte auf wie eine Hand aus dunklem Wasser, packte sie und riss sie aus der Realität zurück in den Albtraum, den sie nie vergessen hatte und der offenbar längst noch nicht zu Ende war. Augenblicklich brach ihr kalter Schweiß aus.
Lavinia Wolff sah in der Schaufensterscheibe nur das weichgezeichnete Spiegelbild einer schlanken Frau Mitte zwanzig, fast schon zu dünn, die Hüften knabenhaft, der Busen nicht der Rede wert. Das blond gefärbte Haar fiel ihr sanft auf die Schultern.
Ein Blinzeln wechselte die Perspektive. Lavinia konzentrierte sich und beobachtete ihre Umgebung im Fensterglas. Die Auslage dahinter störte. Sie stand vor einem auf Krimis und Thriller spezialisierten Buchladen. Auf blutrotem Tuch lagen die Bestseller aus dem Genre.
Zorn. Hass. Tod. Wut. Terror.
Die einzelnen Worte auf den Buchdeckeln drangen wie Gewehrfeuer in ihren Kopf. Angst wurde zu Panik. Lavinia begann am Nagel ihres rechten Zeigefingers zu kauen, wie sie es immer tat, wenn sie sich sehr unwohl fühlte. Es half, die Panik niederzuringen. Sie durfte es auf keinen Fall so weit kommen lassen.
Hatte er sie gefunden?
Oder erlag sie nur wieder einem dieser Anfälle, die sie in schöner Regelmäßigkeit heimsuchten? Sie wusste, dass sie paranoide Züge entwickelt hatte seit damals, aber das hatte nichts mit dem zu tun, was sie gerade fühlte.
Dabei war heute früh um acht, zum Schichtbeginn, noch alles in Ordnung gewesen - sah man davon ab, dass sie sich wieder einmal nur mühsam zu ihrem Arbeitsplatz beim Bekleidungsdiscounter geschleppt hatte. Die beschissene Bezahlung und der Gestank nach Plastik und Chemikalien in den billigen Klamotten konnte sie gerade noch ertragen. Nicht aber die neue Filialleiterin, die sie jeden Tag drangsalierte. Lavinia wäre spielend mit Frau Kropf fertiggeworden, wenn sie den Job nicht so dringend bräuchte. Sich jemandem unterzuordnen, dem sie eigentlich überlegen war, war so sehr gegen ihre Natur, dass es ihr körperliche Schmerzen verursachte.
Während der Acht-Stunden-Schicht hatte sie nichts bemerkt. Wie jeden Tag in den letzten zwei Jahren waren die Kunden wie eine graue Masse an ihr vorübergezogen. Aber kaum hatte sie gegen siebzehn Uhr die Filiale verlassen, hatte sie sofort das Gefühl gehabt, beobachtet und verfolgt zu werden.
Früher hatte Lavinia nie an ihren Instinkten gezweifelt, aber nachdem sie sie bereits ein paar Mal getrogen hatten, war sie vorsichtiger geworden. Sie wollte nur zu gern glauben, wieder einer Täuschung zu erliegen, doch da gab es so etwas wie eine Stimme in den Tiefen ihres Kopfes, und die sprach die Wahrheit aus.
Er ist wieder da ... Er ist wieder da ..., flüsterte sie ... Und diesmal wird er dich ertränken.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und wandte sich mit einem Ruck von dem Schaufenster ab.
Und dann sah sie ihn.
Ungefähr fünfzig Meter die Straße hinunter stand er unter der ausgefahrenen dunkelgrünen Markise eines türkischen Gemüsehändlers. Er stand neben den mit Melonen vollbeladenen Körben ganz dicht an der Hauswand, wo der Schatten undurchdringlich war, und Lavinia konnte weder sein Gesicht noch seine Augen sehen. Aber sie wusste, dass er sie anstarrte.
Er war es, ganz sicher.
Lavinia starrte zurück. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
Die warme Luft über dem sonnenheißen Pflaster begann zu flirren und zu schwimmen, so als verwandele sich der feste Boden in Wasser. Alles, was sich jenseits dieses Sees befand, geriet in geisterhafte Bewegung.
Schwindel erfasste Lavinia, Erinnerungsbilder schossen an ihren Augen vorbei. Ein See. Ein Kopf, der durch die Oberfläche brach. Ein zersprungener Glasbilderrahmen auf dem Flur. Aufgefächertes Haar in blutrotem Wasser. Sie schüttelte den Kopf, zwang ihren Blick zu Boden, um die Bilder loszuwerden, und als sie wieder aufsah, war die Gestalt unter der grünen Markise verschwunden.
Er schleicht sich an! Mach, dass du fortkommst!, schrie es in ihr.
Hektisch sah Lavinia sich um, konnte aber niemanden in der Nähe entdecken. Trotzdem wurde die Angst immer größer. Sie packte ihre Handtasche fester, wandte sich nachts rechts und lief die Fußgängerzone hinunter. Die harten Absätze ihrer Stiefel klapperten geradezu ohrenbetäubend, sie zog Blicke auf sich, aber das war ihr egal. Sie musste weg hier. So schnell es ging.
Um sie herum waren zahllose Menschen, und doch hätte ihre Einsamkeit in diesem Moment nicht größer sein können. Niemand würde ihr jemals helfen können, solange dieser Schatten der Vergangenheit hinter ihr her war.
Mit wild pochendem Herzen und einem Stechen in der Lunge erreichte sie endlich die S-Bahn-Station und erwischte gerade noch eine Bahn. Sie sprang hinein, blieb mit der Handtasche am Griff hängen, zerrte daran, bis der billige Karabiner zersprang, und fiel dadurch beinahe hin.
Leise zischend schlossen sich die Türen. Die Bahn setzte sich in Bewegung.
Lavinia presste sich an die Tür, ihr Atem beschlug die schmutzige Scheibe. Durch den Nebel hindurch beobachtete sie die rasch kleiner werdende Haltestelle. Es war, als hätte die Bahn sie aus ihrem Leben gerissen.
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Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
... weniger
Autoren-Porträt von Andreas Winkelmann
Winkelmann, AndreasAndreas Winkelmann, geboren 1968 in Niedersachsen, ist verheiratet und hat eine Tochter. Er lebt mit seiner Familie in einem einsamen Haus am Waldrand nahe Bremen. Wenn er nicht gerade in menschliche Abgründe abtaucht, überquert er zu Fuß die Alpen, steigt dort auf die höchsten Berge oder fischt und jagt mit Pfeil und Bogen in der Wildnis Kanadas.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Winkelmann
- 2012, 2. Aufl., 411 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250371
- ISBN-13: 9783805250375
- Erscheinungsdatum: 17.08.2012
Rezension zu „Wassermanns Zorn “
Dieser Roman macht Angst. Kurier Wien
Kommentare zu "Wassermanns Zorn"
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