Weiß der Himmel von dir
Roman
Nick und Zell sind überglücklich und verliebt. Dieses Glück wird eines Tages zerstört, als Nick bei einem Unfall ums Leben kommt. Für Zell bricht eine Welt zusammen und sie zieht sich völlig zurück. Doch durch ihre...
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Weiß der Himmel von dir “
Nick und Zell sind überglücklich und verliebt. Dieses Glück wird eines Tages zerstört, als Nick bei einem Unfall ums Leben kommt. Für Zell bricht eine Welt zusammen und sie zieht sich völlig zurück. Doch durch ihre Freunde findet sie wieder ins Leben zurück.
Klappentext zu „Weiß der Himmel von dir “
Zell und Nick waren zum Heulen glücklich: Skifahren, bis das Gesicht einfriert, Tanzen im Wohnzimmer, nächtliche Rennen mit ihrem Windhund Captain Ahab. Und eine ganze Fußballmannschaft an Kindern wollten sie haben. Dann verunglückt Nick, als er nach dem Hurrikan Katrina den Menschen in New Orleans beim Wiederaufbau hilft.Zell zieht sich völlig zurück, spricht nur noch mit ihrem Hund und hört alte Soul-Schlager auf einem kratzigen Plattenspieler. Erst mit Hilfe ihrer Freunde und ihres kleinen Nachbarsmädchen, mit dem sie am Wettbewerb einer Fernsehköchin teilnimmt, kommt das Leben langsam zurück. Manchmal braucht es eben eine ganze Stadt, um Trauer in Zukunft zu verwandeln
Lese-Probe zu „Weiß der Himmel von dir “
Weiß der Himmel von dir von Alicia Bessette 2
Am Dienstagnachmittag, es ist schon dunkel, komme ich aus
dem Lebensmittelladen, ausgerüstet mit Mehl, Backnatron
und Backpulver. Backpulver ist Backpower.
Die Alte Küchenhexe kann mir gestohlen bleiben, ich werde
diesen Wettbewerb gewinnen! Gladys Knight and the Pips:
aufgelegt. Tarnschürze: umgebunden. Leerer Ofen: vorgeheizt.
Und mein Greyhound Ahab ist da, lehnt am Küchenhocker,
blinzelt mir mit dem Augenklappen-Auge zu.
In der großen Schüssel vermische ich Zucker, Ei und Vanillearoma.
Ich gebe Butter, eine Handvoll Mehl und drei Beutelchen
Instantkakao dazu. Dann zerdrücke ich eine Banane
und vier kleine Milky-Way-Riegel, übrig geblieben von Halloween,
und menge alles unter. Zum Schluss streue ich etwas
Backnatron und Backpower hinein. Immer schön umrühren.
Ein Backblech einfetten. Den Teig nach dem Zufallsprinzip
in kleinen Häufchen auf dem Backblech verteilen. Uhr stellen.
Meine alte Hauswirtschaftslehrerin, auch genannt »die
Küchenhexe«, wäre nicht zufrieden. Ich sehe sie vor mir, wie
sie mich über ihre Lesebrille finster anstarrt, wie ich mich auf
den Boden setze, die Augen schließe und mit den Fingern
schnippe wie die Pips. Ahab legt mir seine Schnauze auf den
Kopf, und ich kraule seinen Hals. Ich singe mit: »Why don't
you - make me the woman you go home to - and not the one
that's left to cry and die?«
Ahab lässt sich ächzend neben mir nieder und legt den Kopf
auf meinen Oberschenkel. Ich reiße ein Mini-Milky-Way auf,
beiße ein Stück ab und biete Ahab den Rest an. Er frisst es
im Liegen, auf der Seite, macht sich nicht mal die Mühe, den
Kopf zu heben.
... mehr
Das Fenster über der Spüle rahmt den Mount Wippamunk
ein. Ich betrachte ihn versonnen, als mich ein Erinnerungsfl
ash überfällt. Ich gebe ihm nach und lasse mich forttragen:
Nick als Schüler im Sessellift von Mount Wippamunk. Sein
linker Stiefel baumelte über seinem Snowboard. Er schmetterte
»Welcome to the Jungle«, seine Stimme vibrierte in meinem
Rücken. Im Sessel hinter uns bewarf France - sechs oder sieben
Jahre, bevor sie Polizistin wurde - Nicks Hinterkopf mit
einem Schneeball, den sie aus den Eisstücken an ihrem Sicherheitsbügel
geformt hatte. »Halt's Maul, du Spinner!«, rief sie.
Nick drehte sich um und grinste sie unter seinen buschigen
Augenbrauen an. Nicks berühmtes breites Grinsen.
Sofort kommt der nächste Erinnerungsflash zum Thema
Ski: Vor zwei Jahren machten Nick und ich es uns in der Skihütte
von Mount Wippamunk vor einem mit Holz betriebenen
Brennofen gemütlich. Unsere triefendnassen Jacken und
Hosen hingen an Haken an der Wand. Regen peitschte gegen
die Fenster. Doch das schlechte Wetter war uns egal; wir hatten
einige nette Abfahrten gehabt.
Vorsichtig trank Nick dampfenden Cider aus einem Styroporbecher.
Er trug einen abgetragenen Wollpullover, den er
schon seit der Highschool besaß.
»Das ist die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt«, fl üsterte er.
Seine heiße Hand versank in meinem strähnigen aufgeheizten
Haar. Seine hellbraunen Wimpern flatterten. Sein Atem war
schläfrig, pfiff mal lauter, mal leiser. »Irgendwann werden wir
so sein wie die da«, sagte er und wies mit seinem Becher auf
eine Skifahrerfamilie aus Holz: lebensgroße Figuren von Mutter,
Vater und zwei Kindern, die sich am Sessellift anstellen.
In ihren Gesichtern spiegelt sich die Vorfreude auf die erste
Abfahrt der Saison.
»So werden wir bald aussehen, wenn diese komische Sache
mit deinem Herzen geklärt ist«, sagte Nick. Er betrachtete die
glückliche Familie aus Holz. »Dann fangen wir mit unserer
eigenen Familie an. Nur dass wir mehr als zwei Kinder haben
werden. Wir machen uns eine ganze Fußballmannschaft von
Kindern.«
»Wie viele wären das?«
»Neun plus du und ich, dann sind wir elf.«
»Neun Kinder?«
»Klar.«
»Soso, klar.«
Die Uhr klingelt. Die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Auf
dem Boden sitzend öffne ich die Ofentür. Meine Bananen-
Milky-Way-Kekse bilden eine große klebrige Masse, die dem
ausgelaufenen Gehirn eines riesigen Säugetiers gleicht. Sie
tropft auf den Innenboden des Ofens. Zisch!
Erst fackele ich mit meinen Erdnussbutterplätzchen fast
das Haus ab, dann bringe ich diesen blubbernden, unessbaren
Haufen zustande. Ich denke an die Fernsehköchin
Polly Pinch auf dem Cover ihres Koch-Magazins Eine Prise
Liebe mit den glücklichen Teenies um sie herum. Polly bringt
die ganze Welt zusammen mit einem Lächeln und einem
Napfkuchen.
Und ich kriege überhaupt nichts gebacken. Nick wollte
neun Kinder mit mir, aber ich kann noch nicht mal einen
Backofen bedienen oder einen einzigen stinknormalen Keks
backen. In meiner Brust entsteht ein Loch aus Scham und
Einsamkeit. Ich bin der unförmige Kloß, den ich produziert
habe, ein zitterndes, unidentifizierbares Häufchen Elend.
»Wie kann man es schaffen, sein ganzes Leben lang nie was
zu kochen oder backen, Capt'n?«, frage ich Ahab. »Nicht ein
einziges Mal?«
Ahab hebt den Kopf und sieht zu, wie ich aufstehe. Ich wickele
mir ein Geschirrtuch um die Hand und ziehe das schwere
Backblech heraus. Es klappert, als ich es auf den Herd stelle.
»Wie konnte Nick das ertragen? Wie konnte er mich bloß
ertragen?« Eine Träne fällt auf die riesige, halbgare Masse.
Und dann bricht es aus mir heraus, dicke heiße Tränen auf
meinen Wangen und dem Kinn, in den Haarspitzen und auf
der Schürze. Sogar auf Ahabs Kopf, als er sich gegen mein
Bein lehnt.
Es klingelt an der Tür. Rrring!
»Mist.« Mit einem Zipfel der Schürze tupfe ich mir die Augen
trocken. Ich beschließe, die Klingel zu überhören, bis der
Besucher aufgibt und verschwindet.
Rrrrrring!
Kacke.
Mein neuer Nachbar steht auf der Veranda. Er lockert seine
Krawatte. »Habe ich ... habe ich Sie gestört?«, fragt er.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn natürlich stört er.
»Das riecht aber lecker!«
»Wirklich?«, sage ich. »Danke. Ich hab nur ein paar ...
Plätzchen gemacht.« Ich streiche die Schürze über dem Bauch
glatt und stelle mich ein bisschen gerader hin.
Er schaut mich an, und ich frage mich, ob er merkt, dass
ich mir gerade über dem Herd die Augen ausgeheult habe. Ich
versuche ein kleines Lächeln.
»Backen Sie oft?«, fragt er.
»Ach, so ab und zu.«
»Kein Wunder, dass meine Tochter Sie mag.« Er lacht und
streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Garrett.« Seine Hand
ist weich, eine Schreibtischhand. »Und Ingrid ist echt ein Fan
von Ihnen.«
»Tatsächlich? Sie scheint mir ein tolles Mädchen zu sein«,
sage ich.
»Danke. Sie ist wirklich was Besonderes. Ähm, Sie haben
da ...« Er weist auf eine Stelle unter seinem linken Auge.
Ich taste bei mir am gleichen Punkt. An meinen Fingerspitzen
klebt schokoladige Butter. »Oh, schön.« Ich ringe mir
ein Lächeln ab.
»Das ist mir jetzt unangenehm«, sagt Garrett.
»Mir auch.«
»Nein, ich meine, was ich jetzt sagen werde, ist mir unange-
nehm. Ich sitze nämlich ein bisschen in der Klemme und müsste
Sie um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen.«
Ahab kommt an die Tür und lehnt sich gegen mich. Er betrachtet
Garrett - was für einen Greyhound schon ziemlich
freundlich ist, weil sie Fremde normalerweise ignorieren.
»Schöner Hund.« Garrett krault Ahab den Kopf, dann entdeckt
er auf meiner Schürze ein bisschen Zimt, auf Höhe
meiner Brust. Schnell schaut er mir wieder in die Augen, die
sicherlich geschwollen und rotunterlaufen vom Weinen sind.
»Was ist denn los?«, frage ich. Ahab leckt den Rand der
Schürze.
»Also, meine Kinderfrau ist abgesprungen«, sagt Garrett.
»Sie hat immer dienstags- und donnerstagsabends auf Ingrid
aufgepasst, wenn ich in Boston bin, außerdem den ganzen
Samstag über. Jetzt hat sie einen richtigen Job gefunden und
mich hängengelassen. Tja, und jetzt ist Dienstagabend, und
ich hätte schon vor zwanzig Minuten zum Unterricht fahren
müssen. Ich habe Ingrid ein paarmal mit in den Unterricht
genommen, aber sie findet es einfach furchtbar.«
»Kann sie nicht bei einer Freundin übernachten?«, frage ich
und versuche, dabei hilfsbereit zu klingen.
»Bei einer Freundin?«, fragt er. »Ich ... ähm ... daran habe
ich noch gar nicht gedacht. Das ist eine wirklich gute Idee.
Fürs nächste Mal, meine ich. Aber, ähm, ja ... ich habe überlegt,
ob Sie vielleicht auf sie aufpassen könnten. Heute Abend.
Also jetzt gleich.«
Sie wollen mich verarschen, möchte ich ihm sagen und
ihm erzählen, wie ich vor ein paar Minuten in mein ruiniertes
Dessert geheult habe. Bin ich moralisch verpfl ichtet, Garrett
darüber zu informieren, dass ich wegen Depression nicht geeignet
bin, auf ein Kind aufzupassen, nicht mal für einen einzigen
Abend?
Ich versuche erneut ein Lächeln, aber sehe ganz sicher einfach
nur panisch aus.
Garrett sieht mich an. Sein Gesicht ist ernst, sein Blick offen.
»Bitte. Wir sind gerade erst hergezogen, es war so viel los.
Es tut mir wirklich leid, Sie damit zu belästigen, aber ich fl ehe
Sie an.«
Babysitten? Mit vierunddreißig Jahren? Na ja, vielleicht ist
das so bei einer Witwe. Bei einer coolen Witwe.
Ich zucke mit den Schultern. »Okay ...«
»Oh, Sie sind mein Lebensretter! Hören Sie, Ingrid kommt
gleich sofort zu Ihnen rüber. Sie ist schon auf dem Weg. Sie
macht ihre Hausaufgaben, kein Problem. Wir haben schon gegessen,
darüber müssen Sie sich also keine Gedanken machen.
Und anschließend guckt sie Fernsehen.«
»Was darf sie denn sehen?«
»Sie guckt eh nur eine Sendung, Sie wissen schon.« Garrett
grinst. »Ich komme spät nach Hause«, sagt er. »Sehr spät. Lassen
Sie die Kleine einfach auf Ihrer Couch schlafen, dann trage
ich sie rüber, wenn ich heimkomme. Sie schläft überall ein.«
»Ich gehe normalerweise um halb elf ins Bett«, sage ich.
»O Mist, wirklich? Ich komme viel später zurück. Warten
Sie nicht auf mich! Ich lasse mich selbst herein.«
»Ähm, tja«, sage ich, »die Sache ist bloß, dass ich nachts
immer die Tür verschließe.« Keine Lüge. Nick schloss nie ab,
viele Leute in Wippamunk tun das nicht. Ich schon, ich bin ja
eine Witwe.
Garrett beißt sich auf die Unterlippe. »Ja, klar. Natürlich.
Hm.«
Ingrid kommt aus dem Haus. Sie lässt ihren Rucksack über
das Geländer auf meine Seite der Veranda gleiten und klettert
herüber. »Und?«, fragt sie. »Wie sieht es aus?«
Ihr Vater schaut auf die Uhr. »Ich dachte, dass Sie sich bei
sich zu Hause bestimmt viel wohler fühlen. Oh, wie ich das
hasse, mich jemandem so aufzudrängen. Könnten Sie vielleicht
zu uns rüberkommen?«
»Moment mal«, sage ich. »Eine Sekunde.«
Ich husche hinein. Nicks Guns-'N-Roses-Schlüsselband
hängt an einer kleinen Hakenreihe direkt hinter der Tür. Ich
mache eine Faust um die kühlen Schlüssel und führe sie an
meine Lippen.
Draußen auf der Veranda umarmt Ingrid ihren Vater, er
streicht ihr über den Kopf.
»Hören Sie«, sagt er, »es tut mir leid, Sie belästigt zu haben.
Ich nehme Ingrid heute Abend doch mit zum Unterricht. Ist
schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Ich reiche ihm die Schlüssel. »Kommen Sie einfach rein,
wenn Sie zurück sind.«
»Yesss!« Ingrid nimmt ihren Rucksack und saust an mir
vorbei ins Haus. Ahab folgt ihr.
Garrett betrachtet die Schlüssel. »Ganz bestimmt?«
»Das geht schon.«
»Guns 'N Roses, hm?«
»Sweet child o' mine«, sage ich lächelnd.
Er schmunzelt über die Anspielung und steckt die Schlüssel
in die Tasche seines Wollmantels. »Ach«, sagt er. Er holt
ein kleines grünes Kästchen hervor. »Das hätte ich fast vergessen.
«
»Was ist das?«
Er reicht mir das Kästchen, auf dem steht: »Automatisches
Injektionsgerät.«
»Normalerweise werden Sie das nicht brauchen. Ist nur für
alle Fälle.« Er will die Stufen der Veranda herunterspringen.
»Hey«, rufe ich ihm nach. »Garrett, ich bin nicht dazu ausgebildet,
einem Kind eine Spritze zu geben.«
»Keine Sorge. Ingrid darf alles essen, nur nichts mit Erdnüssen.
Sie weiß aber, wovon sie sich fernhalten muss. Sie ist
sehr vorsichtig - ein alter Profi. Und sie ist wirklich ein tolles
Mädchen, Zell.«
Garrett wirft Aktentasche und Mantel auf die Beifahrerseite
seines Pick-ups und steigt ein.
»Wo bleibt das Aber?«, rufe ich.
»Sie mag Sie.« Er schlägt die Tür zu, grüßt nochmals und
fährt um die Ecke.
Ingrid ist in der Küche. Sie mustert meinen zusammengesackten
Backversuch. »Was ist das denn?«, fragt sie.
»Oh, nichts«, sage ich. »Ich versuche nur, mir was für den
Polly-Pinch-Wettbewerb auszudenken.«
»Sind da Erdnüsse drin?«, fragt sie und hat schon den Finger
ausgestreckt. »Oder Erdnussbutter?«
»Nein. Aber da sind Milky Ways drin.«
»Aha. Ich riskier's besser nicht.« Sie tritt einen Schritt zurück.
»Also, das sieht wirklich komisch aus, aber ich wette, es
schmeckt gar nicht so übel.«
Ich bedanke mich mit einem Nicken. Ingrid klettert auf
einen Hocker und stapelt ihre Schulbücher auf die Arbeitsplatte.
»Machst du Hausaufgaben?«, frage ich.
»Ja.«
Sie kaut auf ihrer Lippe und löst einige Matheaufgaben. Ich
kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal auf Kinder
aufgepasst habe. In der Middle School wahrscheinlich, als die
Zwillinge von den Pierces sechs oder sieben Jahre alt waren.
Während Ingrid es sich in meiner Küche bequem macht, hab
ich ein komisches Gefühl, so als wäre ich hier nicht zu Hause.
Nach einer Minute schaut sie hoch. »Du musst mir nicht
dabei zugucken, ja?«
»Soll ich dir das Haus zeigen?«
»Nö. Es sieht genauso aus wie unseres.« Sie wendet sich
wieder ihren Aufgaben zu.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ich will sie eigentlich
gar nicht hierhaben. Aber da kann ich jetzt nichts machen.
»Ist das in Ordnung, wenn ich nach oben gehe und ein
bisschen arbeite?«, frage ich.
Ingrid kichert. »Ich bin doch kein Baby, ich bin neun.«
»Gut. Ich bin oben, wenn du was brauchst. Ruf mich einfach.«
Sie schaut von ihrem Heft hoch und grinst mich an. »Okeydokey.«
Als ich eine halbe Stunde später wieder nach unten komme,
läuft der Fernseher. Polly Pinch säubert silbrige Krabben im
feinen Wasserstrahl der Spüle. Sie zwinkert in die Kamera.
»Das wird ... total ... mjamm!«
»Mach's dir gemütlich«, sage ich ironisch. Irgendwie ärgert
es mich, dass Ingrid mit angezogenen Beinen meine Couch in
Beschlag genommen hat.
»Danke«, sagt sie, ohne den Sarkasmus zu bemerken. Sie
grinst mich breit an. »Guckst du mit?«
Ich lasse mich neben Ingrid aufs Sofa fallen.
Sie hebt ihre mit Filzstift verschmierte Hand. »Psst!«
Die Kamera verweilt auf Polly Pinch, zeigt eine Nahaufnahme
ihrer leichtgeöffneten, geschwungenen Lippen. Sie
träufelt ihre Sauce, »Geheimnis der Liebe Nr. 2«, auf Zuckererbsenschoten
in einem Wok.
Nahaufnahme von ihren grünen Augen, groß wie Walnüsse.
Polly gesteht, von einer beliebten Marke Kartoffelchips »total
abhängig« zu sein.
Nahaufnahme von ihren schmalen Fingern, die eine Möhre
auf einem feuchten Holzbrett schneiden.
Nahaufnahme ihrer Hüfte. Polly rollt einen Supereasy-Fluffy-
Pastetenteig aus.
»So, und was dieses Schätzchen jetzt braucht ... ist eine
Prise Liebe!«, erklärt Polly. Sie fasst in ein bauchiges Keramikgefäß
mit der Aufschrift LIEBE und streut den Inhalt in den
inzwischen zischenden Wok.
Nach einer Werbepause schiebt Polly eine Gabel in die von
ihr zubereitete Variante eines orientalischen Pfannengerichts.
Neben ihr wartet schon ein Stück Brombeertorte, supereasy zu
machen natürlich. »Bis zum nächsten Mal, und vergessen Sie
nicht die Prise Liebe!«, sagt sie. Ihre glänzenden Lippen schließen
sich um eine Gabel voll Krabben. »Hmm! Mjamm!«
Das nächste Mal, stellt sich heraus, kommt direkt anschließend;
schon läuft der Vorspann zur nächsten Folge von Eine
Prise Liebe. Große, geschwungene Buchstaben schweben über
den Bildschirm, dann erscheint Polly in ihrer Fünfziger-Jahre-
Küche und tanzt und singt zum Doo-whop-Titellied.
»Doppelfolge?«, frage ich.
»Ja.« Ingrid verschränkt die Finger hinter dem Kopf. »Na klar.«
Ahab kommt hereingetrottet und steigt auf die Couch zwischen
Ingrid und mich. Er legt den Kopf in Ingrids Schoß. Sie
fährt mit den Fingerspitzen über seine Schnauze. Es fühlt sich
so seltsam an, hier mit diesem kleinen Persönchen zu sitzen,
das ich kaum kenne, und eine Kochshow anzuschauen.
»Bist du fertig mit deinen Hausaufgaben?«, frage ich.
Ingrids Augen sind auf den Bildschirm geheftet. »Ja, ich bin
fertig. Alles gemacht. Jede einzelne Aufgabe.«
Unverkäufliche Leseprobe des Krüger Verlages
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig
und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
Das Fenster über der Spüle rahmt den Mount Wippamunk
ein. Ich betrachte ihn versonnen, als mich ein Erinnerungsfl
ash überfällt. Ich gebe ihm nach und lasse mich forttragen:
Nick als Schüler im Sessellift von Mount Wippamunk. Sein
linker Stiefel baumelte über seinem Snowboard. Er schmetterte
»Welcome to the Jungle«, seine Stimme vibrierte in meinem
Rücken. Im Sessel hinter uns bewarf France - sechs oder sieben
Jahre, bevor sie Polizistin wurde - Nicks Hinterkopf mit
einem Schneeball, den sie aus den Eisstücken an ihrem Sicherheitsbügel
geformt hatte. »Halt's Maul, du Spinner!«, rief sie.
Nick drehte sich um und grinste sie unter seinen buschigen
Augenbrauen an. Nicks berühmtes breites Grinsen.
Sofort kommt der nächste Erinnerungsflash zum Thema
Ski: Vor zwei Jahren machten Nick und ich es uns in der Skihütte
von Mount Wippamunk vor einem mit Holz betriebenen
Brennofen gemütlich. Unsere triefendnassen Jacken und
Hosen hingen an Haken an der Wand. Regen peitschte gegen
die Fenster. Doch das schlechte Wetter war uns egal; wir hatten
einige nette Abfahrten gehabt.
Vorsichtig trank Nick dampfenden Cider aus einem Styroporbecher.
Er trug einen abgetragenen Wollpullover, den er
schon seit der Highschool besaß.
»Das ist die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt«, fl üsterte er.
Seine heiße Hand versank in meinem strähnigen aufgeheizten
Haar. Seine hellbraunen Wimpern flatterten. Sein Atem war
schläfrig, pfiff mal lauter, mal leiser. »Irgendwann werden wir
so sein wie die da«, sagte er und wies mit seinem Becher auf
eine Skifahrerfamilie aus Holz: lebensgroße Figuren von Mutter,
Vater und zwei Kindern, die sich am Sessellift anstellen.
In ihren Gesichtern spiegelt sich die Vorfreude auf die erste
Abfahrt der Saison.
»So werden wir bald aussehen, wenn diese komische Sache
mit deinem Herzen geklärt ist«, sagte Nick. Er betrachtete die
glückliche Familie aus Holz. »Dann fangen wir mit unserer
eigenen Familie an. Nur dass wir mehr als zwei Kinder haben
werden. Wir machen uns eine ganze Fußballmannschaft von
Kindern.«
»Wie viele wären das?«
»Neun plus du und ich, dann sind wir elf.«
»Neun Kinder?«
»Klar.«
»Soso, klar.«
Die Uhr klingelt. Die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Auf
dem Boden sitzend öffne ich die Ofentür. Meine Bananen-
Milky-Way-Kekse bilden eine große klebrige Masse, die dem
ausgelaufenen Gehirn eines riesigen Säugetiers gleicht. Sie
tropft auf den Innenboden des Ofens. Zisch!
Erst fackele ich mit meinen Erdnussbutterplätzchen fast
das Haus ab, dann bringe ich diesen blubbernden, unessbaren
Haufen zustande. Ich denke an die Fernsehköchin
Polly Pinch auf dem Cover ihres Koch-Magazins Eine Prise
Liebe mit den glücklichen Teenies um sie herum. Polly bringt
die ganze Welt zusammen mit einem Lächeln und einem
Napfkuchen.
Und ich kriege überhaupt nichts gebacken. Nick wollte
neun Kinder mit mir, aber ich kann noch nicht mal einen
Backofen bedienen oder einen einzigen stinknormalen Keks
backen. In meiner Brust entsteht ein Loch aus Scham und
Einsamkeit. Ich bin der unförmige Kloß, den ich produziert
habe, ein zitterndes, unidentifizierbares Häufchen Elend.
»Wie kann man es schaffen, sein ganzes Leben lang nie was
zu kochen oder backen, Capt'n?«, frage ich Ahab. »Nicht ein
einziges Mal?«
Ahab hebt den Kopf und sieht zu, wie ich aufstehe. Ich wickele
mir ein Geschirrtuch um die Hand und ziehe das schwere
Backblech heraus. Es klappert, als ich es auf den Herd stelle.
»Wie konnte Nick das ertragen? Wie konnte er mich bloß
ertragen?« Eine Träne fällt auf die riesige, halbgare Masse.
Und dann bricht es aus mir heraus, dicke heiße Tränen auf
meinen Wangen und dem Kinn, in den Haarspitzen und auf
der Schürze. Sogar auf Ahabs Kopf, als er sich gegen mein
Bein lehnt.
Es klingelt an der Tür. Rrring!
»Mist.« Mit einem Zipfel der Schürze tupfe ich mir die Augen
trocken. Ich beschließe, die Klingel zu überhören, bis der
Besucher aufgibt und verschwindet.
Rrrrrring!
Kacke.
Mein neuer Nachbar steht auf der Veranda. Er lockert seine
Krawatte. »Habe ich ... habe ich Sie gestört?«, fragt er.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn natürlich stört er.
»Das riecht aber lecker!«
»Wirklich?«, sage ich. »Danke. Ich hab nur ein paar ...
Plätzchen gemacht.« Ich streiche die Schürze über dem Bauch
glatt und stelle mich ein bisschen gerader hin.
Er schaut mich an, und ich frage mich, ob er merkt, dass
ich mir gerade über dem Herd die Augen ausgeheult habe. Ich
versuche ein kleines Lächeln.
»Backen Sie oft?«, fragt er.
»Ach, so ab und zu.«
»Kein Wunder, dass meine Tochter Sie mag.« Er lacht und
streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Garrett.« Seine Hand
ist weich, eine Schreibtischhand. »Und Ingrid ist echt ein Fan
von Ihnen.«
»Tatsächlich? Sie scheint mir ein tolles Mädchen zu sein«,
sage ich.
»Danke. Sie ist wirklich was Besonderes. Ähm, Sie haben
da ...« Er weist auf eine Stelle unter seinem linken Auge.
Ich taste bei mir am gleichen Punkt. An meinen Fingerspitzen
klebt schokoladige Butter. »Oh, schön.« Ich ringe mir
ein Lächeln ab.
»Das ist mir jetzt unangenehm«, sagt Garrett.
»Mir auch.«
»Nein, ich meine, was ich jetzt sagen werde, ist mir unange-
nehm. Ich sitze nämlich ein bisschen in der Klemme und müsste
Sie um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen.«
Ahab kommt an die Tür und lehnt sich gegen mich. Er betrachtet
Garrett - was für einen Greyhound schon ziemlich
freundlich ist, weil sie Fremde normalerweise ignorieren.
»Schöner Hund.« Garrett krault Ahab den Kopf, dann entdeckt
er auf meiner Schürze ein bisschen Zimt, auf Höhe
meiner Brust. Schnell schaut er mir wieder in die Augen, die
sicherlich geschwollen und rotunterlaufen vom Weinen sind.
»Was ist denn los?«, frage ich. Ahab leckt den Rand der
Schürze.
»Also, meine Kinderfrau ist abgesprungen«, sagt Garrett.
»Sie hat immer dienstags- und donnerstagsabends auf Ingrid
aufgepasst, wenn ich in Boston bin, außerdem den ganzen
Samstag über. Jetzt hat sie einen richtigen Job gefunden und
mich hängengelassen. Tja, und jetzt ist Dienstagabend, und
ich hätte schon vor zwanzig Minuten zum Unterricht fahren
müssen. Ich habe Ingrid ein paarmal mit in den Unterricht
genommen, aber sie findet es einfach furchtbar.«
»Kann sie nicht bei einer Freundin übernachten?«, frage ich
und versuche, dabei hilfsbereit zu klingen.
»Bei einer Freundin?«, fragt er. »Ich ... ähm ... daran habe
ich noch gar nicht gedacht. Das ist eine wirklich gute Idee.
Fürs nächste Mal, meine ich. Aber, ähm, ja ... ich habe überlegt,
ob Sie vielleicht auf sie aufpassen könnten. Heute Abend.
Also jetzt gleich.«
Sie wollen mich verarschen, möchte ich ihm sagen und
ihm erzählen, wie ich vor ein paar Minuten in mein ruiniertes
Dessert geheult habe. Bin ich moralisch verpfl ichtet, Garrett
darüber zu informieren, dass ich wegen Depression nicht geeignet
bin, auf ein Kind aufzupassen, nicht mal für einen einzigen
Abend?
Ich versuche erneut ein Lächeln, aber sehe ganz sicher einfach
nur panisch aus.
Garrett sieht mich an. Sein Gesicht ist ernst, sein Blick offen.
»Bitte. Wir sind gerade erst hergezogen, es war so viel los.
Es tut mir wirklich leid, Sie damit zu belästigen, aber ich fl ehe
Sie an.«
Babysitten? Mit vierunddreißig Jahren? Na ja, vielleicht ist
das so bei einer Witwe. Bei einer coolen Witwe.
Ich zucke mit den Schultern. »Okay ...«
»Oh, Sie sind mein Lebensretter! Hören Sie, Ingrid kommt
gleich sofort zu Ihnen rüber. Sie ist schon auf dem Weg. Sie
macht ihre Hausaufgaben, kein Problem. Wir haben schon gegessen,
darüber müssen Sie sich also keine Gedanken machen.
Und anschließend guckt sie Fernsehen.«
»Was darf sie denn sehen?«
»Sie guckt eh nur eine Sendung, Sie wissen schon.« Garrett
grinst. »Ich komme spät nach Hause«, sagt er. »Sehr spät. Lassen
Sie die Kleine einfach auf Ihrer Couch schlafen, dann trage
ich sie rüber, wenn ich heimkomme. Sie schläft überall ein.«
»Ich gehe normalerweise um halb elf ins Bett«, sage ich.
»O Mist, wirklich? Ich komme viel später zurück. Warten
Sie nicht auf mich! Ich lasse mich selbst herein.«
»Ähm, tja«, sage ich, »die Sache ist bloß, dass ich nachts
immer die Tür verschließe.« Keine Lüge. Nick schloss nie ab,
viele Leute in Wippamunk tun das nicht. Ich schon, ich bin ja
eine Witwe.
Garrett beißt sich auf die Unterlippe. »Ja, klar. Natürlich.
Hm.«
Ingrid kommt aus dem Haus. Sie lässt ihren Rucksack über
das Geländer auf meine Seite der Veranda gleiten und klettert
herüber. »Und?«, fragt sie. »Wie sieht es aus?«
Ihr Vater schaut auf die Uhr. »Ich dachte, dass Sie sich bei
sich zu Hause bestimmt viel wohler fühlen. Oh, wie ich das
hasse, mich jemandem so aufzudrängen. Könnten Sie vielleicht
zu uns rüberkommen?«
»Moment mal«, sage ich. »Eine Sekunde.«
Ich husche hinein. Nicks Guns-'N-Roses-Schlüsselband
hängt an einer kleinen Hakenreihe direkt hinter der Tür. Ich
mache eine Faust um die kühlen Schlüssel und führe sie an
meine Lippen.
Draußen auf der Veranda umarmt Ingrid ihren Vater, er
streicht ihr über den Kopf.
»Hören Sie«, sagt er, »es tut mir leid, Sie belästigt zu haben.
Ich nehme Ingrid heute Abend doch mit zum Unterricht. Ist
schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Ich reiche ihm die Schlüssel. »Kommen Sie einfach rein,
wenn Sie zurück sind.«
»Yesss!« Ingrid nimmt ihren Rucksack und saust an mir
vorbei ins Haus. Ahab folgt ihr.
Garrett betrachtet die Schlüssel. »Ganz bestimmt?«
»Das geht schon.«
»Guns 'N Roses, hm?«
»Sweet child o' mine«, sage ich lächelnd.
Er schmunzelt über die Anspielung und steckt die Schlüssel
in die Tasche seines Wollmantels. »Ach«, sagt er. Er holt
ein kleines grünes Kästchen hervor. »Das hätte ich fast vergessen.
«
»Was ist das?«
Er reicht mir das Kästchen, auf dem steht: »Automatisches
Injektionsgerät.«
»Normalerweise werden Sie das nicht brauchen. Ist nur für
alle Fälle.« Er will die Stufen der Veranda herunterspringen.
»Hey«, rufe ich ihm nach. »Garrett, ich bin nicht dazu ausgebildet,
einem Kind eine Spritze zu geben.«
»Keine Sorge. Ingrid darf alles essen, nur nichts mit Erdnüssen.
Sie weiß aber, wovon sie sich fernhalten muss. Sie ist
sehr vorsichtig - ein alter Profi. Und sie ist wirklich ein tolles
Mädchen, Zell.«
Garrett wirft Aktentasche und Mantel auf die Beifahrerseite
seines Pick-ups und steigt ein.
»Wo bleibt das Aber?«, rufe ich.
»Sie mag Sie.« Er schlägt die Tür zu, grüßt nochmals und
fährt um die Ecke.
Ingrid ist in der Küche. Sie mustert meinen zusammengesackten
Backversuch. »Was ist das denn?«, fragt sie.
»Oh, nichts«, sage ich. »Ich versuche nur, mir was für den
Polly-Pinch-Wettbewerb auszudenken.«
»Sind da Erdnüsse drin?«, fragt sie und hat schon den Finger
ausgestreckt. »Oder Erdnussbutter?«
»Nein. Aber da sind Milky Ways drin.«
»Aha. Ich riskier's besser nicht.« Sie tritt einen Schritt zurück.
»Also, das sieht wirklich komisch aus, aber ich wette, es
schmeckt gar nicht so übel.«
Ich bedanke mich mit einem Nicken. Ingrid klettert auf
einen Hocker und stapelt ihre Schulbücher auf die Arbeitsplatte.
»Machst du Hausaufgaben?«, frage ich.
»Ja.«
Sie kaut auf ihrer Lippe und löst einige Matheaufgaben. Ich
kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal auf Kinder
aufgepasst habe. In der Middle School wahrscheinlich, als die
Zwillinge von den Pierces sechs oder sieben Jahre alt waren.
Während Ingrid es sich in meiner Küche bequem macht, hab
ich ein komisches Gefühl, so als wäre ich hier nicht zu Hause.
Nach einer Minute schaut sie hoch. »Du musst mir nicht
dabei zugucken, ja?«
»Soll ich dir das Haus zeigen?«
»Nö. Es sieht genauso aus wie unseres.« Sie wendet sich
wieder ihren Aufgaben zu.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ich will sie eigentlich
gar nicht hierhaben. Aber da kann ich jetzt nichts machen.
»Ist das in Ordnung, wenn ich nach oben gehe und ein
bisschen arbeite?«, frage ich.
Ingrid kichert. »Ich bin doch kein Baby, ich bin neun.«
»Gut. Ich bin oben, wenn du was brauchst. Ruf mich einfach.«
Sie schaut von ihrem Heft hoch und grinst mich an. »Okeydokey.«
Als ich eine halbe Stunde später wieder nach unten komme,
läuft der Fernseher. Polly Pinch säubert silbrige Krabben im
feinen Wasserstrahl der Spüle. Sie zwinkert in die Kamera.
»Das wird ... total ... mjamm!«
»Mach's dir gemütlich«, sage ich ironisch. Irgendwie ärgert
es mich, dass Ingrid mit angezogenen Beinen meine Couch in
Beschlag genommen hat.
»Danke«, sagt sie, ohne den Sarkasmus zu bemerken. Sie
grinst mich breit an. »Guckst du mit?«
Ich lasse mich neben Ingrid aufs Sofa fallen.
Sie hebt ihre mit Filzstift verschmierte Hand. »Psst!«
Die Kamera verweilt auf Polly Pinch, zeigt eine Nahaufnahme
ihrer leichtgeöffneten, geschwungenen Lippen. Sie
träufelt ihre Sauce, »Geheimnis der Liebe Nr. 2«, auf Zuckererbsenschoten
in einem Wok.
Nahaufnahme von ihren grünen Augen, groß wie Walnüsse.
Polly gesteht, von einer beliebten Marke Kartoffelchips »total
abhängig« zu sein.
Nahaufnahme von ihren schmalen Fingern, die eine Möhre
auf einem feuchten Holzbrett schneiden.
Nahaufnahme ihrer Hüfte. Polly rollt einen Supereasy-Fluffy-
Pastetenteig aus.
»So, und was dieses Schätzchen jetzt braucht ... ist eine
Prise Liebe!«, erklärt Polly. Sie fasst in ein bauchiges Keramikgefäß
mit der Aufschrift LIEBE und streut den Inhalt in den
inzwischen zischenden Wok.
Nach einer Werbepause schiebt Polly eine Gabel in die von
ihr zubereitete Variante eines orientalischen Pfannengerichts.
Neben ihr wartet schon ein Stück Brombeertorte, supereasy zu
machen natürlich. »Bis zum nächsten Mal, und vergessen Sie
nicht die Prise Liebe!«, sagt sie. Ihre glänzenden Lippen schließen
sich um eine Gabel voll Krabben. »Hmm! Mjamm!«
Das nächste Mal, stellt sich heraus, kommt direkt anschließend;
schon läuft der Vorspann zur nächsten Folge von Eine
Prise Liebe. Große, geschwungene Buchstaben schweben über
den Bildschirm, dann erscheint Polly in ihrer Fünfziger-Jahre-
Küche und tanzt und singt zum Doo-whop-Titellied.
»Doppelfolge?«, frage ich.
»Ja.« Ingrid verschränkt die Finger hinter dem Kopf. »Na klar.«
Ahab kommt hereingetrottet und steigt auf die Couch zwischen
Ingrid und mich. Er legt den Kopf in Ingrids Schoß. Sie
fährt mit den Fingerspitzen über seine Schnauze. Es fühlt sich
so seltsam an, hier mit diesem kleinen Persönchen zu sitzen,
das ich kaum kenne, und eine Kochshow anzuschauen.
»Bist du fertig mit deinen Hausaufgaben?«, frage ich.
Ingrids Augen sind auf den Bildschirm geheftet. »Ja, ich bin
fertig. Alles gemacht. Jede einzelne Aufgabe.«
Unverkäufliche Leseprobe des Krüger Verlages
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig
und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
... weniger
Autoren-Porträt von Alicia Bessette
Alicia Bessette, geb. 1975, mag Kung-Fu-Filme, lehrt Yoga, ist Pianistin und Komponistin und hat mehrere CDs veröffentlicht. Sie arbeitet als Reporterin und Journalistin. Ihr Debütroman Weiß der Himmel von dir erscheint in vielen Sprachen und Ländern auf der ganzen Welt. Zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Matthew Quick, und ihrer Greyhound-Hündin Stella B. Quick lebt Alicia Bessette in der Nähe von Philadelphia.Andrea Fischer, geb. 1969, lebt seit 1989 in Düsseldorf und übersetzt aus dem britischen und amerikanischen Englisch u.a. Stephen King, Dennis Lehane, Peter Robinson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alicia Bessette
- 2010, 2, 364 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Fischer, Andrea
- Übersetzer: Andrea Fischer
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810502650
- ISBN-13: 9783810502650
Kommentare zu "Weiß der Himmel von dir"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Weiß der Himmel von dir".
Kommentar verfassen