Wer stirbt, entscheidest du / Detective Sergeant Warren Bd.5
Während die Fahndung nach der Kleinen läuft, kommen FBI-Ermittlerin D.D....
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Während die Fahndung nach der Kleinen läuft, kommen FBI-Ermittlerin D.D. Warren immer mehr Zweifel. Bei ihrer Recherche stößt sie auf einen seltsamen Zufall: Tessa hatte Jahre zuvor den Bruder einer Freundin erschossen. Angeblich in Notwehr.
Ist die junge Frau eine kaltblütige Mörderin? Oder eine Marionette in einem perfiden Spiel?
Ermittlerporträt D.D. Warren
Dass Leben immer auch Veränderung ist, scheint an D.D. Warren, ihres Zeichens Detective der Bostoner Mordkommission, bislang vorübergegangen zu sein. Sie kennt nur eines: ihre Arbeit. D.D. ist ein Workaholic. Die toughe - übrigens sehr attraktive - Ermittlerin gilt als Bluthund am Tatort. Einmal losgelassen, wühlt sie so lange, bis sie den Täter gestellt hat. Sie lebt für ihre Arbeit und ist zielstrebig, unbeirrbar und engagiert - positiv formuliert. Weniger positiv ausgedrückt könnte man sie auch als draufgängerisch, patzig und aggressiv bezeichnen.
D.D. Warren - Privatleben? Kennt sie nicht!
Privatleben? Fehlanzeige! Totale Fehlanzeige! Keine Zimmerpflanzen, nicht mal ein Goldfisch sorgt für „Familiengefühl" - ihre Familie sind die Kollegen. Die letzte Beziehung? Ach, einfach schon zu lange her. Dass D.D. - wenn schon keine Beziehung klappt - ab und an unter ihrem dahindümpelnden Sexleben leidet ... Wen wundert es? Dafür schlägt sie, obwohl gertenschlank, umso wilder bei All-You-Can-Eat-Buffets zu und hat es in der Speisenauswahl zu einer Art Meisterschaft gebracht. Sich an so einem Buffet den Hunger mit Pasta, Kartoffeln oder Käsekuchen zu stillen, würde ihr nie passieren. Nur blutige Anfänger tun das.
Sie isst und isst - und nimmt einfach nicht zu. Welche Frau wünscht sich das nicht?
So bezeichnet Autorin Lisa Gardner D.D. auch als ihr Alter Ego - D.D. Warren sagt all das, tut all das und isst all das, was die meisten anderen Frauen nicht sagen, tun oder essen.
Wird aus der Arbeitsmaschine irgendwann auch mal ein Mensch?
Die kämpferische D.D. war übrigens nicht als Hauptfigur angelegt, aber sie stahl als Nebenfigur, frech wie sie ist, einfach allen die Show. So ermittelt sie aktuell in ihrem neuen Fall „Wer stirbt, entscheidest Du".
Doch D.D.-Fans wissen es: Schon im letzten Buch „Die Frucht des Bösen" brachte jemand das Arbeitstier D.D. aus der Fassung. Alex, der aparte Kriminologe, lehrt als Professor an der Polizeiakademie und hat, man glaubt es kaum, D.D.s Herz erobert. Selbst Autorin Lisa Gardner erzählt, dass es durchaus auch für sie eine Frage war, „ob die Arbeitsmaschine D.D. Warren irgendwann auch mal ein Mensch werden würde".
Nun ist es passiert und - wir ahnen es - D.D. kämpft gewaltig mit den neuen Umständen.
Verwirrung der Gefühle: ein Mann in D.D.s Leben
Dass ihr darüber hinaus auch noch dieser überaus perfide und schreckliche Fall zu schaffen macht, hebt ihre Laune nicht wirklich. Ob sie es schafft, all diesen neuen Gefühlen standzuhalten und nicht zu flüchten?
Apropos Umstände: Es gibt da auch noch eine klitzekleine Sache, die für D.D. alles noch komplizierter macht. Es ist die Frage: Bin ich schwanger? D.D. kämpft jedenfalls mit schrecklicher Übelkeit, bestellt nicht, wie sonst üblich, ein Bauarbeiterfrühstück mit Speck, Bohnen und Bergen von Eiern, sondern bleibt bei Wasser, ein paar Keksen und - an guten Tagen - einem Saft. Bei all dem Neuen, dem D.D. emotional ausgesetzt ist, kann sie einem fast ein wenig leidtun. Und so viel sei hier verraten: Es wird ein wirklich harter Kampf für D.D. - vermutlich der härteste in ihrem Leben ...
Während die Fahndung nach der Kleinen läuft, kommen FBI-Ermittlerin D.D. Warren immer mehr Zweifel. Bei ihrer Recherche stößt sie auf einen seltsamen Zufall: Tessa hatte Jahre zuvor den Bruder einer Freundin erschossen. Angeblich in Notwehr.
Ist die junge Frau eine kaltblütige Mörderin? Oder eine Marionette in einem perfiden Spiel?
1. Kapitel
Sergeant Detective D. D. Warren war stolz auf ihre Fähigkeiten als Ermittlerin. Seit über zwölf Jahren im Dienst der Bostoner Polizei wusste sie, dass an einem Tatort mehr zu tun war, als genau hinzusehen und ein paar Gespräche zu führen. Die Arbeit verlangte ein Eintauchen mit allen Sinnen. Sie fühlte förmlich das Loch in der Rigipsplatte, das von einem heißen Projektil Kaliber .22 stammte. Sie lauschte an den dünnen Wänden, um festzustellen, ob Geräusche dahinter auszumachen waren, denn wenn ja, würden die Nachbarn gehört haben, was sich hier auf dieser Seite abgespielt hatte.
D. D. registrierte immer, wie ein Körper gefallen war, ob nach vorn, nach hinten oder zur Seite. Sie schmeckte die Luft, um den Geruch von Schießpulver aufzuspüren, der auch noch zwanzig bis dreißig Minuten nach dem letzten Schuss wahrnehmbar war. Mehr als einmal hatte sie den Todeszeitpunkt am Geruch des Blutes ermitteln können, das anfangs wie frisches Fleisch roch und dann, von Stunde zu Stunde, eine schwere, erdigere Note annahm.
An diesem Sonntagmorgen aber hatte sie mit so was nichts am Hut. Sie lümmelte sich in einer grauen Trainingshose und dem übergroßen roten Flanellhemd von Alex an seinem Küchentisch, hielt einen getöpferten Kaffeebecher in beiden Händen und zählte die Sekunden.
Sie war bei dreizehn, als Alex es endlich bis zur Haustür geschafft hatte. Dort blieb er stehen und wickelte sich einen dunkelblauen Schal um den Hals.
Sie zählte weiter.
Er war jetzt fertig mit dem Schal, zog eine schwarze Mütze auf und streifte gefütterte Lederhandschuhe über. Draußen herrschten immer noch Minusgrade. Zwanzig Zentimeter Neuschnee waren gefallen und fünfzehn weitere bis zum Wochenende vorausgesagt. In Neuengland bedeutete März nicht gleich Frühling.
Alex unterrichtete an der Polizeiakademie unter anderem Tatortanalyse. Heute hatte er einen vollen Stundenplan, morgen einen freien Tag. Wie sie. Weil das nicht allzu häufig vorkam, wollten sie gemeinsam etwas unternehmen; was, hatten sie noch nicht entschieden. Vielleicht Eislaufen in den Boston Commons. Oder ein Besuch im Isabelle Stewart Gardner Museum. Oder auch nur Faulenzen vor der Glotze, mit alten Filmen und einer großen Schale Popcorn in Reichweite.
D. D. klammerte sich an ihren Becher. Okay, vielleicht lieber kein Popcorn.
Sie zählte achtzehn, neunzehn, zwanzig -
Alex hatte die Handschuhe übergezogen, griff nach seiner abgewetzten schwarzen Ledertasche und kam zu ihr.
«Verzehr dich nicht zu sehr nach mir», sagte er.
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. D. D. schloss die Augen und zählte im Stillen von zwanzig rückwärts.
«Ich werde dir jeden Tag Liebesbriefe schreiben, mit kleinen Herzchen auf den i», erwiderte sie.
«In dein Highschool-Heft?»
«Genau.»
Alex machte sich auf den Weg zur Tür. D. D. war bei vierzehn. Der Becher zitterte, was Alex aber nicht zu bemerken schien. Sie holte tief Luft und fasste sich. Dreizehn, zwölf, elf ...
Sie und Alex waren ein bisschen über sechs Monate zusammen. Inzwischen nannte sie auf seiner winzigen Ranch eine ganze Schublade ihr eigen, während er in ihrer Eigentumswohnung in North End nur einen kleinen Winkel im Wandschrank beanspruchte. Wenn er unterrichtete, wohnte sie hier bei ihm. Wenn sie arbeitete, war es bequemer für beide in Boston. Einen geregelten Zeitablauf gab es nicht, denn das hätte weitere Planungen nach sich gezogen und eine Beziehung weiter gefestigt, die sie zunächst einmal möglichst offen halten wollten.
Sie waren gern zusammen. Alex respektierte ihren verrückten Dienstplan als Detective der Mordkommission. Sie respektierte seine Kochkünste als Italoamerikaner in dritter Generation. Sie freuten sich auf gemeinsame Nächte, konnten aber auch solche gut aushalten, in denen jeder für sich war. Beide legten Wert auf Unabhängigkeit. D. D. war gerade vierzig geworden, er hatte diese Marke schon vor ein paar Jahren überschritten. Den Zeiten, in denen Verliebte ausschließlich den anderen im Kopf hatten, waren sie jedenfalls entwachsen. Alex war schon einmal verheiratet gewesen. D. D. wusste es einfach besser.
Sie lebte, um zu arbeiten, was andere ungesund fanden. Aber das war ihr egal. Sie fuhr nicht schlecht damit.
Neun, acht, sieben ...
Alex öffnete die Haustür und straffte die Schultern, um sich dem bitterkalten Morgen zu stellen. Ein eisiger Luftzug fuhr durch den kleinen Flur und streifte ihre Wan- gen. Fröstelnd hielt sie den Becher noch fester umklammert.
«Ich liebe dich», sagte Alex und trat über die Schwelle.
«Ich dich auch.»
Er zog die Tür hinter sich zu. D. D. schaffte es in letzter Sekunde ins Bad, um sich zu übergeben.
Zehn Minuten später war sie immer noch im Badezimmer, lang ausgestreckt auf dem Boden. Die Kacheln stammten aus den Siebzigern, kleine beige-braune und herbstgoldene Quadrate, deren Anblick sie wieder würgen ließ. Trotzdem begann sie die Dinger zu zählen wie bei einer Meditationsübung. Und tatsächlich, es wirkte. Irgendwann begannen sich ihre erhitzten Wangen abzukühlen, und der verkrampfte Magen beruhigte sich wieder.
Ihr Handy klingelte. Sie warf einen Blick darauf, nicht sonderlich interessiert unter den gegebenen Umständen. Als sie aber den Anrufer im Display erkannte, hatte sie Erbarmen.
«Was ist?», fragte sie. So grüßte sie immer ihren Ex- Lover und seit kurzem verheirateten Kollegen bei der State Police von Massachusetts Bobby Dodge.
«Ich habe nicht viel Zeit. Hör zu.»
«Ich bin nicht an Deck», erwiderte sie automatisch. «Neue Fälle gehen an Jim Dunwell. Belästige den.» Sie krauste die Stirn. Bobby würde sie nicht wegen eines neuen Falls anrufen. Als Stadtpolizistin nahm sie ihre Befehle von der Bostoner Zentrale entgegen, nicht von einem Detective der State Police.
Bobby redete weiter, als hätte sie nichts gesagt: «Bei uns ist gerade die Kacke am Dampfen, und ich fürchte, es ist unsere eigene Scheiße. Also hör mir gefälligst zu. Nebenan flattern Stars and Stripes, und vor der Tür lauert die Presse. Schleich dich von hinten ran. Und halt die Augen auf. Ich habe den Überblick verloren. Glaub mir, D. D., in dieser Sache dürfen wir uns nicht den kleinsten Fehler erlauben.»
D. D.'s Stirnrunzeln vertieften sich. «Wie bitte? Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wovon du sprichst, und abgesehen davon, habe ich heute frei.»
«Jetzt nicht mehr. Deine Abteilung will in dem Fall eine Frau an vorderster Front sehen, und der Staat verlangt einen seiner eigenen Leute, möglichst einen ehemaligen Trooper. Der Befehl kommt von ganz oben.»
Sie hörte ein neues Geräusch; es kam aus dem Schlafzimmer. Ihr Pager piepte. Mist. Das schien Bobbys Gefasel zu bestätigen. Sie mühte sich vom Boden auf. Ihre Beine zitterten, und sie fürchtete, sich wieder übergeben zu müssen. Der erste Schritt verlangte ihre ganze Willenskraft, der Rest ging einfacher. Sie tappte ins Schlafzimmer. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf einen freien Tag verzichten musste.
«Was muss ich wissen?», fragte sie, mit festerer Stimme jetzt und das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt.
«Dass Schnee liegt», antwortete Bobby. «Auf Boden, Bäumen, Fensterbrettern ... und unsere Cops trampeln alles platt.»
«Schaff sie weg. Der Tatort gehört mir. Sie sollen alle verschwinden. »
Sie fand ihren Pager auf dem Nachttischchen. Jawohl, der Ruf kam von der Einsatzzentrale. Sie machte sich daran, die Trainingshose abzustreifen.
«Sie sind draußen vorm Haus. Keine Sorge, selbst unsere Bosse wissen, dass sie an einem Mordschauplatz aufpassen müssen. Aber bis vorhin wusste niemand, dass das Mädchen verschwunden ist. Zur Straße hin ist das Haus abgeriegelt, aber nach hinten raus ist alles offen. Und da wird alles plattgetrampelt. Wie gesagt, ich habe den Überblick verloren. Beeil dich.»
D. D. hatte die Trainingshose ausgezogen und knöpfte Alex' Flanellhemd auf.
«Das Opfer?»
«Zweiundvierzigjährige Person, weiß, männlich, tot.»
«Und wer wird vermisst?»
«Sechsjährige Person, weiß, weiblich.»
«Verdächtige?»
Bobby ließ mit der Antwort lange auf sich warten, sehr lange.
«Mach dich endlich auf den Weg», sagte er. «Wir arbeiten zusammen. Unser Fall. Unsere Kopfschmerzen. Und wir brauchen Ergebnisse - lieber jetzt als gleich.»
Er unterbrach die Verbindung. D. D. warf das Handy aufs Bett und zog ihr weißes Diensthemd an.
Okay. Mord und eine vermisste Person. Die State Police war am Tatort, der im Zuständigkeitsbereich der Bostoner Zentrale lag. Was hatte die State Police dort zu suchen -
Plötzlich ging ihr ein Licht auf.
«Scheiße.»
Der Brechreiz war verschwunden. Trotzdem kam ihr die Galle hoch.
Sie schnappte sich den Pager, ihre Ausweise und die Winterjacke. Und dann, mit Bobbys Worten im Ohr, nahm sie Kurs auf ihren Tatort.
2. Kapitel
Wen liebst du?
Ich lernte Brian am 4. Juli bei einem Picknick kennen. In Shanes Garten. Es war eine jener Partys, die mich normalerweise wenig interessierten, aber es gab diesmal einen Grund, weshalb ich die Einladung annahm. Ich selbst hatte zwar nichts davon, aber vielleicht Sophie.
Die Party war nicht übermäßig groß, vielleicht dreißig Gäste, Kollegen und Familien aus Shanes Nachbarschaft. Sogar der Lieutenant Colonel ließ sich blicken, worauf Shane durchaus stolz sein konnte. Die meisten waren jedoch von niederem Rang. Ich sah vier Jungs von der Polizeikaserne beim Grill stehen; sie tranken ein Bier nach dem anderen und gingen Shane auf den Wecker, der eine weitere Ladung Bratwürstchen auf dem Rost verteilte. An den beiden Klapptischen davor waren lachende Ehefrauen damit beschäftigt, Margaritas zu mixen und auf diverse Kinder aufzupassen.
Andere Gäste hielten sich im Haus auf, um Nudelsalate vorzubereiten und die letzten Minuten des Spiels nicht zu verpassen. Alles plapperte durcheinander, und jeder nahm einen Happen hiervon und einen Schluck davon. Ein typisches Samstagnachmittagsgelage im Sonnenschein.
Ich stand im Schatten einer alten Eiche. Wie Sophie es sich gewünscht hatte, trug ich ein orangefarbenes Kleid und meine schicken Flipflops mit Goldglitzer. Ich hatte wieder einmal die Füße ein Stück auseinandergestellt und lehnte, die Ellbogen an die Seite gedrückt, mit dem Rücken am Baumstamm. Man kann eine Frau vom Dienst freistellen, aber nicht den Dienst von der Frau.
Ich hätte mich unter die Partygesellschaft mischen sollen, wusste aber nicht, wo anfangen. Mich zu den Damen setzen, von denen ich keine kannte, oder mich zu den Jungs stellen, wo ich mich wohler fühlen würde? Zu den Hausfrauen und Müttern passte ich nicht. Ich durfte aber auch nicht den Eindruck erwecken, im Kreis der Ehemänner Spaß zu haben, denn dann hätten die Frauen zu lachen aufgehört und mir böse Blicke zugeworfen.
Also blieb ich auf Abstand, hielt meine Bierflasche in der Hand, ohne daraus zu trinken, und wartete auf den Moment, an dem ich mich höflich würde zurückziehen können.
Meist hatte ich meine Tochter im Auge.
Sie tollte in rund hundert Metern Entfernung mit anderen Kindern auf der Wiese herum und kicherte ausgelassen. Ihr pinkfarbenes Sommerkleidchen war schon voller grüner Grasflecken und ihr Mund verschmiert vom Schokoladenkuchen. Sie purzelte den kleinen Abhang hinunter, nahm, unten angekommen, ein kleines Mädchen an die Hand und rannte mit ihm so schnell, wie es dreijährige Beine zuließen, wieder nach oben.
Sophie schloss Freundschaften von jetzt auf gleich. Sie war mir äußerlich sehr ähnlich, ansonsten aber eine ganz eigenständige Person. Kontaktfreudig, mutig, abenteuerlustig. Wenn es nach ihr ginge, wäre sie ständig mit anderen zusammen. Charme war möglicherweise ein dominantes Gen, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Von mir konnte sie ihn jedenfalls nicht haben.
Zusammen mit den anderen Kindern erreichte sie wieder die kleine Anhöhe unter strahlend blauem Himmel. Sophie warf sich als Erste ins Gras. Ihre kurzen dunklen Haare bildeten einen hübschen Kontrast zum gelben Löwenzahn. Mit fliegenden Armen und Beinen kullerte sie wieder den Abhang hinunter und kreischte vor Vergnügen. Schwindelnd stand sie auf und sah, dass ich sie beobachtete.
«Ich liebe dich, Mommy!», rief sie und rannte wieder den Hügel hinauf.
Ich blickte ihr nach und wünschte wieder einmal, nicht all das zu wissen, was eine Frau wie ich wissen musste.
«Hallo.»
Ein Mann hatte sich aus der Menge gelöst und kam auf mich zu. Ende dreißig, knapp eins achtzig, kurz geschnittene blonde Haare, muskulöse Schultern. Allem Anschein nach auch ein Cop, den ich aber nicht kannte.
Er streckte mir die Hand entgegen. Etwas verspätet bot ich ihm meine.
«Brian», sagte er. «Brian Darby.» Er deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. «Ich wohne ein Stück weiter die Straße runter. Und Sie?»
«Tessa. Tessa Leoni. Ich kenne Shane aus der Kaserne.»
Ich wartete auf den unvermeidlichen Kommentar eines Mannes, der auf eine Polizistin trifft. Ein Cop? Dann muss ich mich ja gut benehmen. Oder: Oooh, wo haben Sie Ihre Waffe?
Brian aber nickte nur. Er hielt eine Flasche Bud Light in der Linken und hatte die andere Hand in die Tasche seiner hellbraunen Shorts gesteckt. Dazu trug er ein blaues Oberhemd mit einem goldenen Emblem auf der Brusttasche, das ich aber aus meinem Blickwinkel nicht identifizieren konnte.
«Ich muss was beichten», sagte er.
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.
«Shane hat mir schon verraten, wer Sie sind. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nach Ihnen erkundigt. Hübsche Frau, so im Abseits. Hat mich neugierig gemacht.»
«Und was haben Sie von Shane erfahren?»
«Dass Sie nicht meine Kragenweite sind. Auf den Köder musste ich anspringen.»
«Shane ist ein Idiot», entgegnete ich.
«Meistens, ja. Sie trinken ja gar nicht.»
Ich blickte auf die Flasche, scheinbar überrascht, sie zu sehen.
«Ich kombiniere», fuhr Brian locker fort. «Sie haben ein Bier in der Hand, trinken aber nicht. Vielleicht hätten Sie lieber eine Margarita? Ich könnte Ihnen ein Glas holen. Allerdings - » Er warf einen Blick auf die Frauen, die schon beim dritten Glas waren und entsprechend lachten. «Ich traue mich nicht so recht.»
«Schon gut.» Ich rührte mich und schüttelte die Arme aus. «Ich trinke eigentlich nicht.»
«Im Dienst?»
«Heute nicht.»
«Ich bin kein Cop und maße mir auch kein Urteil an. Aber ich kenne Shane jetzt seit gut fünf Jahren und weiß ein bisschen was. Ein Trooper ist mehr als jemand, der Patrouille fährt und Knöllchen verteilt. Habe ich recht, Shane? », brüllte er quer durch den Garten. Shane, der noch am Grill stand, hob die rechte Hand und zeigte seinem Nachbarn den ausgestreckten Mittelfinger.
«Shane ist eine Memme», sagte ich ebenso laut.
Auch ich bekam den Mittelfinger zu sehen. Einige Typen lachten.
«Seit wann arbeiten Sie mit ihm zusammen?», fragte Brian.
«Seit einem Jahr. Ich bin noch Neuling.»
«Wirklich? Was hat Sie bewogen, Cop zu werden?»
Ich zuckte gelangweilt mit den Achseln. Es war eine dieser Fragen, die alle stellten und auf die ich keine Antwort wusste. «Mir fiel nichts Besseres ein.»
«Ich bin bei der Handelsmarine», erklärte Brian ungefragt. «Öltanker. Wir sind ein paar Monate unterwegs, ein paar zu Hause und wieder weg. Mit Privatleben ist nicht viel, aber mir gefällt der Job. Ist nie langweilig.»
«Handelsmarine? Was machen Sie genau? Die Kähne vor Piraten schützen oder so was?»
«Nein. Wir fahren von Puget Sound hoch nach Alaska und zurück. Auf der Strecke trifft man relativ selten auf somalische Piraten. Außerdem bin ich Bordingenieur. Ich sorge dafür, dass es weitergeht, und beschäftige mich mit Kabelbäumen, Getrieben und Turbinen. Waffen machen mir Angst.»
«Lege auch keinen gesteigerten Wert drauf.»
«Komisch, so was von einer Polizistin zu hören.»
«Nicht wirklich.»
Ich schaute wieder unwillkürlich nach Sophie, um zu sehen, ob alles klar war. Er folgte meinem Blick. «Shane sagt, Sie hätten eine dreijährige Tochter. Sie ist Ihnen ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Dass Sie aus Versehen ein falsches Kind mit nach Hause nehmen, ist wohl kaum möglich.»
«Sie wissen von Shane, dass ich ein Kind habe, und sind trotzdem auf den Köder angesprungen?»
Er zuckte mit den Achseln. «Kids sind klasse. Ich selbst habe zwar keine, was aber nicht heißt, dass ich irgendwas gegen Kinder hätte. Macht der Vater sich auch nützlich?», fragte er scheinbar beiläufig.
«Nein.»
Eine süffisante Bemerkung blieb aus. Stattdessen machte er einen nachdenklichen Eindruck. «Ist bestimmt nicht leicht, als Vollzeit-Cop ein Kind aufzuziehen.»
«Es geht.»
«Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe schon in jungen Jahren meinen Vater verloren. Meine Mutter war mit fünf Kindern auf sich allein gestellt. Sie hat's geschafft, und das bewundere ich im Nachhinein sehr.»
«Was ist mit Ihrem Vater passiert?»
«Herzinfarkt. Und was ist mit ihrem Vater?», fragte er und schaute rüber zu Sophie, die jetzt mit den anderen Kindern Fangen zu spielen schien.
«Hatte ein besseres Angebot.»
«Männer haben sie nicht alle», murmelte er, wobei er so ernst klang, dass ich lachen musste. Er wurde rot. «Habe ich erwähnt, dass ich vier Schwestern habe? Sie sind wohl die Ursache dafür, dass mir solche Kommentare rausrutschen. Nicht zu vergessen meine Mutter, vor der ich doppelt Respekt habe, erstens, weil sie als allein erziehende Mutter zurechtgekommen ist, und zweitens, weil sie vier Töchter ertragen hat. Ich habe sie nie etwas Stärkeres als Kräutertee trinken sehen.»
«Scheint ja ein regelrechter Fels in der Brandung gewesen zu sein, Ihre Mutter», sagte ich.
«Sind Sie auch von der Kräuterteefraktion? Ich frage, weil Sie Ihr Bier nicht anrühren.»
«Ich bevorzuge eher Kaffee.»
«Ist auch die Droge meiner Wahl.» Er schaute mir in die Augen. «Vielleicht könnte ich Ihnen demnächst einen Becher spendieren. Irgendwo in Ihrer Nachbarschaft oder in meiner. Sie entscheiden.»
Ich musterte Brian Darby ein weiteres Mal. Warme braune Augen, ein freundliches Lächeln und kräftig gebaute Schultern.
«Ja», hörte ich mich sagen. «Fänd ich gut.»
Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick? Ich nicht. Ich bin zu vorsichtig, um für solchen Unsinn empfänglich zu sein. Oder vielleicht weiß ich es auch einfach besser.
Ich verabredete mich mit Brian auf eine Tasse Kaffee. Ich erfuhr, dass er, wenn er nicht beruflich unterwegs war, viel Freizeit hatte, was weitere Verabredungen umso einfacher machte. Nach der Frühschicht und bevor ich um fünf Sophie von der Kindertagesstätte abholen musste, gingen wir häufig spazieren. Wenn es mein Dienstplan erlaubte, schauten wir uns abends manchmal ein Spiel der Red Sox an. Und ehe ich michs versah, begleitete er mich und Sophie zu einem Picknickausflug.
Sophie verliebte sich sofort in ihn. Innerhalb von Sekunden kletterte sie auf seinen Rücken und verlangte Hühott. Brian gehorchte und galoppierte mit der Kleinen, die sich kreischend an seinen Haaren festhielt und «Schneller, schneller!» brüllte, durch den Park. Als er sich schließlich erschöpft auf die Picknickdecke fallen ließ, tippelte sie los, um Löwenzahn zu pflücken. Ich dachte, der Strauß sei für mich, aber sie reichte ihn nicht mir, sondern Brian.
Er nahm ihn entgegen, zögernd zunächst, strahlte aber dann übers ganze Gesicht, als ihm klar wurde, dass sie allein ihn damit beschenkte.
Danach war es kein Problem mehr, die Wochenenden in seinem Haus mit Garten zu verbringen anstatt in meinem kleinen Zweizimmerapartment. Abends kochten wir gemeinsam, während Sophie mit seinem Hund spielte, einem in die Jahre gekommenen Schäferhund namens Duke. Brian kaufte ein Planschbecken für die Veranda und hängte eine Schaukel in die Eiche.
Als ich einmal das Wochenende über arbeiten musste, füllte er meinen Kühlschrank auf, damit Sophie und ich durch die nächste Woche kamen. Nachdem ich einmal eines Nachmittags einen Verkehrsunfall mit drei toten Kindern hatte aufnehmen müssen, las er die Gute-Nacht-Geschichte für Sophie, während ich im Schlafzimmer Löcher in die Luft starrte und versuchte, die Bilder aus dem Kopf zu kriegen.
Später schmiegte ich mich auf dem Sofa an ihn, während er mir von seinen vier Schwestern erzählte, unter anderem die Episode, wie sie ihn im Schlaf geschminkt hatten. Er war daraufhin zwei Stunden lang mit glitzernd blauem Lidschatten und knallroten Lippen auf seinem Fahrrad um den Block geradelt, ehe ihm in einem Fenster sein Spiegelbild auffiel. Ich lachte. Dann weinte ich. Dann drückte er mich an sich, und wir sagten beide kein Wort mehr.
Der Sommer ging vorbei. Es wurde Herbst, und er musste wieder in See stechen. Für acht Wochen. Thanksgiving würde er wieder zurück sein, versprach er. Ein guter Freund kümmerte sich um Duke. Aber wenn wir wollten ...
Er gab mir seinen Schlüssel. Wir könnten es uns jederzeit in seinem Haus gemütlich machen und auch nach eigenen Wünschen gestalten, wenn wir wollten. Das kleine Schlafzimmer für Sophie vielleicht pink streichen. Ein paar Bilder an die Wand hängen. Quietschenten fürs Badezimmer besorgen. Egal was, wir sollten uns bloß wohl fühlen.
Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, er küsste mir die Handfläche.
Er solle sich um uns keine Sorgen machen, wir kämen gut klar miteinander. Bis in acht Wochen.
Sophie weinte und weinte.
Es seien nur zwei Monate, versuchte ich ihr beizubringen. Alles halb so schlimm. Er wäre ja bald wieder zurück.
Ohne Brian gestaltete sich unser Alltag um einiges trister und immer gleich: aufstehen um eins, gegen fünf Sophie von der Kindertagesstätte abholen, sie bis zum Schlafengehen um neun beschäftigen und auf Mrs. Ennis warten, die gegen zehn kam, sodass ich meine Schicht von elf bis sieben antreten konnte. Der Alltag einer alleinstehenden berufstätigen Mom, die sich abmüht, um mit dem Geld zurechtzukommen, von Termin zu Termin hetzt, ihre Vorgesetzten bei Laune zu halten und gleichzeitig den Bedürfnissen ihrer Tochter gerecht zu werden versucht.
Du schaffst es, redete ich mir ein. Ich war zäh. Schwangerschaft und Geburt hatte ich allein durchgestanden, fünfundzwanzig lange, einsame Wochen im Internat der Polizeiakademie ausgehalten und dabei Sophie mit jedem Atemzug schmerzlich vermisst, aber trotzdem an meinem Vorsatz festgehalten, Polizistin zu werden, weil mir das als die beste Möglichkeit erschien, für die Zukunft meiner Tochter sorgen zu können. Freitagabends durfte ich zu Sophie nach Hause zurückkehren, musste sie aber montagmorgens immer weinend in der Obhut von Mrs. Ennis zurücklassen. Woche für Woche, bis ich den Druck kaum mehr aushalten konnte. Aber ich schaffte es. Für Sophie gab ich alles.
Trotzdem schaute ich nun häufiger in meinem Posteingang nach, denn immer wenn Brian in irgendeinem Hafen vor Anker lag, schickte er uns eine Nachricht, manchmal mit einem lustigen Foto, zum Beispiel von einem Elch, mitten auf einer Landstraße in Alaska. In der sechsten Woche wurde mir bewusst, dass ich an Tagen, wenn eine Nachricht von ihm kam, glücklich war, aber gereizt und unzufrieden, wenn nicht. Sophie ging es ähnlich. Jeden Abend saßen wir vor dem Computer, zwei Mädchen, die von ihrem Mann zu hören hofften.
Dann endlich rief er an. Sein Schiff lag in Ferndale, Washington. Übermorgen würde er freigestellt werden und den Nachtflug nach Boston nehmen. Ob wir Lust hätten, mit ihm zu Abend zu essen?
Sophie entschied sich für ihr dunkelblaues Lieblingskleid. Ich trug das orangefarbene Sommerkleid von der Party am 4. Juli, darüber eine Strickjacke, um mich gegen die Novemberkälte zu wappnen.
Sophie hielt am Fenster ungeduldig Ausschau und entdeckte ihn als Erste. Sie kreischte vor Freude und rannte so schnell die Treppe hinunter, dass ich Angst hatte, sie könnte stürzen. Vor dem Eingang warf sie sich Brian in die Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Sie lachte und lachte und lachte.
Ich näherte mich leise, ließ mir Zeit, ein letztes Mal die Haare zu richten, und knöpfte die Strickjacke zu. Mit dem Rücken zur Straße schloss ich die Haustür.
Dann drehte ich mich um und schaute ihn an, aus drei Schritt Entfernung. Ich sog seinen Anblick geradezu auf.
Brian blieb stehen. Er hielt mein Kind noch im Arm und betrachtete mich ebenfalls.
Wir berührten uns nicht, sagten auch kein Wort. Das war nicht nötig.
Später, als wir nach dem Restaurantbesuch bei ihm zu Hause waren und Sophie im Bett lag, ging ich in sein Schlafzimmer und ließ mir von ihm die Strickjacke und das Sommerkleid ausziehen. Ich legte meine Hände auf seine nackte Brust und schmeckte Salz auf der Haut am Hals.
«Die acht Wochen waren mir zu lang», murmelte er. «Ich will dich hier bei mir haben, Tessa. Herrje, wenn ich zurückkomme, will ich wissen, dass du hier bist, immer.»
Ich legte seine Hände auf meine Brüste, und ich reckte mich ihm entgegen.
«Heirate mich», flüsterte er. «Es ist mir ernst, Tessa. Ich will dich zur Frau. Und ich will Sophie zur Tochter. Ihr sollt hier bei mir und Duke leben, wir als eine Familie.»
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Lisa Gardner
- 2013, 2. Aufl., 496 Seiten, Maße: 12,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Windgassen, Michael
- Übersetzer: Michael Windgassen
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499258609
- ISBN-13: 9783499258602
- Erscheinungsdatum: 01.02.2013
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