Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2
Ein rasanter Mix aus Grimms Märchen und SciFi, mit einer romantischen Liebesgeschichte on top!
Vom Prinzen und einer bösen Königin, von Heldinnen und dem schönen Wolf.
Zwei Wochen ist Scarlets Großmutter nun schon verschwunden. Die Leute im Dorf sagen, sie sei sicher abgehauen. Sie sei ja sowieso...
Zwei Wochen ist Scarlets Großmutter nun schon verschwunden. Die Leute im Dorf sagen, sie sei sicher abgehauen. Sie sei ja sowieso...
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Produktinformationen zu „Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2 “
Vom Prinzen und einer bösen Königin, von Heldinnen und dem schönen Wolf.
Zwei Wochen ist Scarlets Großmutter nun schon verschwunden. Die Leute im Dorf sagen, sie sei sicher abgehauen. Sie sei ja sowieso verrückt. Aber für Scarlet ist Grandmère alles - von ihr hat sie gelernt, wie man ein Raumschiff fliegt, Bio-Tomaten anbaut und seinen Willen durchsetzt. Dann trifft Scarlet einen mysteriösen Straßenkämpfer - Wolf. Kann sie ihm trauen?
Zwei Wochen ist Scarlets Großmutter nun schon verschwunden. Die Leute im Dorf sagen, sie sei sicher abgehauen. Sie sei ja sowieso verrückt. Aber für Scarlet ist Grandmère alles - von ihr hat sie gelernt, wie man ein Raumschiff fliegt, Bio-Tomaten anbaut und seinen Willen durchsetzt. Dann trifft Scarlet einen mysteriösen Straßenkämpfer - Wolf. Kann sie ihm trauen?
Klappentext zu „Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2 “
Rotkäppchen mal ganz anders!Zwei ganze Wochen ist Scarlets Großmutter nun schon verschwunden. Entführt? Tot? Die Leute im Dorf sagen, sie sei sicher abgehauen. Sie sei ja sowieso verrückt. Aber für Scarlet ist Grandmère alles - von ihr hat sie gelernt, wie man ein Raumschiff fliegt, Bio-Tomaten anbaut und seinen Willen durchsetzt. Dann trifft Scarlet einen mysteriösen Straßenkämpfer - Wolf. Er fasziniert sie; doch kann sie ihm trauen? Immerhin: Die reißerischen Berichte über Cinder und das Attentat auf Prinz Kai hält Wolf ebenso wie sie für Quatsch. Aber irgendein Geheimnis verbirgt der Fremde ...
»Umwerfend!« Los Angeles Times
Marissa Meyers Serie über Märchen, die in eine fantastische Sci-Fi Welt in der Zukunft verlegt sind, haben bereits jede Menge gühende Fans! So modern wurde die Geschichten von Cinerella, Rotkäppchen, Rapunzel und Schneewittchen noch nie erzählt ...
Alle vier Bände der packenden Luna-Chroniken - jeder Band einzeln lesbar:
Wie Monde so silbern (Band 1)
Wie Blut so rot (Band 2)
Wie Sterne so golden (Band 3)
Wie Schnee so weiß (Band 4)
Lese-Probe zu „Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2 “
Wie Blut so rot von Marissa MeyerSie aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm.
Kapitel zwei
Scarlet erblickte Gilles, der gerade Béchamelsoße auf ein Schinkenbaguette strich. Sie rief laut seinen Namen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Ärgerlich sah er von der Arbeit hoch.
»Ich bin fertig«, sagte sie und hielt seinem finsteren Blick stand. »Quittierst du mir die Lieferung?«
Gilles schaufelte einen Haufen Pommes frites neben das Baguette und stieß den Teller über den Edelstahltresen zu ihr hinüber. »Bring das zu Tisch eins, dann ist der Lieferschein fertig, wenn du zurückkommst.«
Scarlet fauchte: »Ich arbeite nicht für dich, Gilles.«
»Sei froh, dass ich dich nicht hochkant rausschmeiße!« Er drehte ihr den Rücken zu; sein weißes Hemd war über die Jahre vom Schweiß gelb geworden.
Scarlet juckte es in den Fingern. Wie gerne hätte sie ihm das Baguette an den Hinterkopf geworfen. Aber dann kam ihr das ernste Gesicht ihrer Großmutter in den Sinn. Sie wäre so enttäuscht, wenn sie nach Hause zurückkäme und herausfände, dass Scarlet mit einem ihrer gefürchteten Wutanfälle einen der besten Kunden vergrault hatte.
... mehr
Also schnappte sie sich den Teller und stürmte aus der Küche. Um Haaresbreite verfehlte sie einen Kellner, der ihr durch die Schwingtür entgegenkam. Das Gasthaus Rieux war kein gutes Restaurant - die Böden starrten vor Dreck, man saß auf harten Stühlen an billigen Tischen und in der Luft hing der Geruch von ranzigem Fett. Aber weil man in der Stadt nichts lieber tat, als zu trinken und zu tratschen, war der Laden immer voll, vor allem an Sonntagen, an denen die Tagelöhner von den umliegenden Bauernhöfen nicht auf den Feldern arbeiteten.
Als Scarlet sich einen Weg durch die Menge bahnte, fiel ihr Blick auf die Netscreens über der Bar. Auf allen dreien flackerten seit der vergangenen Nacht dieselben Nachrichten vom jährlichen Ball im Asiatischen Staatenbund, auf dem die Königin von Luna Ehrengast gewesen war. Ein Cyborg- Mädchen hatte sich unter die Gäste geschmuggelt und einen Kronleuchter in die Luft gesprengt. Ein Attentat auf die Königin der Lunarier - und vielleicht auch auf den kurz zuvor gekrönten Kaiser - war jedoch vereitelt worden. Und nun schien jeder eine andere Theorie zu vertreten. Auf den Nahaufnahmen sah man ein Mädchen mit dreckigem Gesicht und wirren nassen Haarsträhnen, die aus einem aufgelösten Pferdeschwanz fielen. Es war rätselhaft, wie sie sich in diesem Aufzug überhaupt Zutritt zum königlichen Ball verschafft hatte.
»Man hätte sie gleich von ihrem Elend erlösen sollen, als sie die Treppe runtergefallen ist«, rief Roland, einer der Stammgäste, der allem Anschein nach schon stundenlang auf seinem Hocker am Bartresen herumhing. Er zielte mit der ausgestreckten Rechten auf den Bildschirm und tat, als würde er schießen. »Ich hätte sie mit einem sauberen Kopfschuss erledigt. Und tschüs!«
Die umstehenden Männer murmelten zustimmend. Scarlet verdrehte angewidert die Augen und schob sich in den hinteren Teil des Raums durch.
Sie erkannte Emilies gut aussehenden Straßenkämpfer auf den ersten Blick. Mit seinen Narben und blauen Flecken auf der olivfarbenen Haut stach er aus der Menge heraus und außerdem war er der einzige Fremde in der Schänke. Er war weniger gepflegt, als sie nach Emilies verzückter Beschreibung erwartet hätte. Die Haare standen ihm verfilzt vom Kopf ab und er hatte ein prächtiges Veilchen. Unter dem Tisch spielte er nervös mit einem Jo-Jo.
Vor ihm standen drei Teller mit Resten eines fettigen Eiersalats, aber die Tomaten und den Salat hatte er nicht angerührt.
Ihr war nicht bewusst, dass sie ihn anstarrte, bis er ihren Blick erwiderte. Seine Augen waren von dem unnatürlichen Grün saurer Weintrauben. Scarlet hielt den Teller fester. Plötzlich verstand sie Emilie. Seine Augen sind so ...
Sie stellte das Baguette vor ihn auf den Tisch. »Der Croque Monsieur - war der für Sie?«
»Danke.« Seine Stimme war überraschend tief und stockend, nicht laut und barsch, wie sie vermutet hatte.
Vielleicht hatte Emilie Recht und er war wirklich schüchtern.
»Sind Sie sicher, dass wir Ihnen nicht gleich das ganze Schwein auftischen sollen?«, fragte sie und stapelte die drei leeren Teller aufeinander. »Es würde uns die Arbeit abnehmen, immer wieder in die Küche zu rennen.«
Er sah sie aus großen Augen an. Scarlet dachte gerade, er würde sie beim Wort nehmen, aber dann sagte er: »Das Essen hier ist gut«, und wandte sich dem Baguette mit Schinken zu.
Sie verkniff sich eine spöttische Bemerkung. »Gutes Essen « war sicher nicht das Erste, was sie mit dem Gasthaus Rieux in Verbindung brachte. »Kämpfen muss wohl hungrig machen.«
Er spielte stumm mit seinem Strohhalm und Scarlet sah, wie die Tischplatte auf seinen zappelnden Beinen zu tanzen begann.
»Guten Appetit«, sagte sie und nahm die Teller mit. Aber dann zögerte sie. »Sie wollen bestimmt keine Tomaten? Die sind das Beste daran und außerdem stammen sie aus meinem Garten. Der Salat übrigens ebenso, aber als ich ihn gepflückt habe, war er noch nicht welk. Jetzt würde ich ihn auch nicht mehr empfehlen. Na, was ist mit den Tomaten?«
Der Kämpfer sah sie offen an. »Ich habe noch nie welche probiert.« Scarlet hob eine Augenbraue. »Was?« Langsam setzte er das Glas ab, spießte zwei Tomatenscheiben auf und kaute darauf herum.
Er ließ sich Zeit und schien nachzudenken, bevor er sie herunterschluckte. »Sie schmecken anders, als ich erwartet habe«, sagte er und sah wieder zu ihr hoch. »Aber auch nicht schlecht. Ich hätte gerne noch welche, wenn's geht.«
Scarlet balancierte die Tellerstapel und versuchte, ein Messer zu erwischen, bevor es auf den Boden fiel. »Wissen Sie, eigentlich arbeite ich gar nicht für ...«
»Jetzt kommt's!«, rief jemand an der Bar und ein Raunen ging durch das Wirtshaus. Scarlet sah hoch auf die Netscreens. Regentropfen funkelten in einem üppigen Garten voller Bambus und Lilien. Aus einem Saal fiel warmes rotes Licht auf eine große Treppe. Die Überwachungskameras über den Türen fingen dunkle Gestalten ein, die lange Schatten bis auf den Pfad vor den Stufen warfen. Eine friedliche Szenerie.
»Zehn Univs, dass gleich ein Mädchen auf der Treppe ihren Fuß verliert!«, schrie jemand. Lautes Gelächter von der Bar. »Wettet jemand gegen mich? Nun kommt schon, die Chancen stehen doch gar nicht so schlecht!«
Einen Moment später erschien das Cyborg-Mädchen auf dem Schirm. Sie stürzte aus der hohen Tür heraus, sprang panisch mit wehendem silbernem Kleid die Treppe herunter - die ruhige Atmosphäre im Garten war dahin. Scarlet hielt den Atem an. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde, erschrak aber dennoch, als das Mädchen strauchelte, die Stufen herunterflog und am Fuß der Treppe der Länge nach auf dem Kiesweg aufschlug. Der Ton war abgestellt, doch Scarlet hörte das Mädchen fast nach Luft ringen, als sie sich auf den Rücken rollte und wie gelähmt zur Tür hochstarrte. Schattenhafte Gestalten näherten sich und bauten sich über ihr auf.
Da sie die Szene jetzt schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen hatte, hielt Scarlet nach dem verlorenen Fuß Ausschau, auf dem sich das Licht aus dem Ballsaal spiegelte. Nach dem Cyborg-Fuß des Mädchens.
»Angeblich soll das dort auf der rechten Seite die Königin sein«, meinte Emilie. Scarlet erschrak, sie hatte nicht bemerkt, dass die Kellnerin neben ihr stand.
Der Prinz - nein, jetzt war er ja Kaiser - kam langsam die Stufen herunter und bückte sich nach dem Fuß. Das Mädchen bemühte sich, das Ballkleid über die Drähte zu zerren, die sich wie Tentakel aus ihrem Metallstumpf herauswanden, aber es war schon zu spät.
Scarlet waren viele Gerüchte zu Ohren gekommen. Angeblich war das Mädchen nicht nur eine Lunarierin - ein illegaler Flüchtling und eine Gefahr für die Erde -, sie sollte es auch fertiggebracht haben, Kaiser Kai einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Manche vertraten die Meinung, sie sei auf Geld aus, und andere, es gehe ihr um Macht. Oder wollte sie den Krieg anzetteln, der schon so lange drohte? Welche Motive sie auch haben mochte, Scarlet hatte Mitleid mit ihr, wie sie so hilflos da unten an der Treppe lag. Das Mädchen war noch keine zwanzig, sogar jünger als sie selbst.
»Wie war das, wer wollte sie von ihrem Elend erlösen?«, brüllte ein Typ an der Bar. Roland deutete auf den Bildschirm. »Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie so was Ekelerregendes gesehen.«
Von hinten reckte jemand den Kopf aus der Menge, um Roland besser sehen zu können. »Mann, hör doch auf! Sie ist süß und so unschuldig. Die sollten sie besser mal zu mir schicken als auf den Mond.«
Dreckiges Lachen. Roland schlug so fest auf die Theke, dass ein senfverschmierter Teller klirrte. »Klar, so ein Metallbein macht ein Betthäschen erst richtig kuschelig!«
»Du Dreckskerl!«, zischte Scarlet, aber die Beleidigung ging in dem schallenden Gelächter unter.
»Mir würde es auch nichts ausmachen, sie ein bisschen aufzuwärmen!«, schrie ein anderer und die Kneipe dröhnte von Beifall und allgemeiner Heiterkeit.
In Scarlet stieg die kalte Wut hoch. Sie knallte den Tellerstapel auf den Tisch und bahnte sich einen Weg hinter die Bar, ohne auf die überraschten Gesichter der anderen zu achten.
Der Barkeeper sah verdattert zu, wie Scarlet ein paar Flaschen aus dem Weg räumte und geschickt auf den Tresen sprang. Sie reckte sich, öffnete die Wandverkleidung unter dem Regal mit den Cognacgläsern und zerrte am Netlink- Kabel. Der Palastgarten und das Cyborgmädchen verschwanden, die drei Bildschirme wurden schwarz.
Die Gäste protestierten laut.
Scarlet wirbelte herum und fegte eine Weinflasche vom Tresen, die auf dem Boden in Scherben zersplitterte, doch sie hörte es kaum. Sie fuchtelte mit dem Kabel über der aufgebrachten Menge herum. »Etwas mehr Respekt! Sie werden das Mädchen hinrichten!«
»Das Mädchen ist Lunarierin!«, schrie jemand. »Geschieht ihr recht!«
Die Gäste nickten und jemand warf mit einem Brotkanten nach Scarlets Schulter. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sie ist doch erst sechzehn!«
Alle sprangen auf und schrien irgendwas über Lunarier durcheinander. Aus dem allgemeinen Gebrüll hörte Scarlet heraus: Das Mädchen wollte schließlich ein Staatsoberhaupt der Union töten!
»Hey, beruhigt euch doch und lasst Scarlet in Ruhe!«, brüllte Roland. Der Whiskey hatte sein Selbstbewusstsein gestärkt. »Ihr wisst doch, dass Scars Familie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Erst verduftet die alte Ziege spurlos und jetzt verteidigt Scarlet Lunarier!«
Das Gelächter und die höhnischen Rufe verstärkten Scarlets Ohrensausen. Plötzlich hieb sie auf Rolands Kopf ein, ohne überhaupt zu wissen, wie sie vom Tresen gekommen war. Gläser und Flaschen gingen zu Bruch.
Er japste nach Luft. »Hey, was ist denn in dich gefahren?«
»Meine Großmutter ist nicht verrückt!« Sie packte ihn am Hemd. »Hast du das dem Kommissar auch gesagt? Hast du ihm gesagt, dass sie nicht richtig tickt?«
»Natürlich habe ich ihm das gesagt!«, schrie er. Seine Fahne war widerlich, trotzdem krallte sie sich an seinem Hemd fest, bis ihr die Fäuste wehtaten. »Und ich war mit Sicherheit nicht der Einzige. Die hat sich doch immer in ihrer Bruchbude eingeigelt und mit Tieren und Androiden geredet, als wären sie ihre Freunde. Und die Menschen hat sie dann mit dem Gewehr verjagt ...«
»Nur ein einziges Mal und das war ein Hausiererdroide!«
»Mich überrascht es jedenfalls nicht, dass die alte Benoit jetzt total durchgeknallt ist. Dass es mal so kommen wird, hat man sich ja schon 'ne ganze Weile gedacht.«
Scarlet gab Roland einen kräftigen Schubs. Er stolperte rückwärts und fiel gegen Emilie. Diese schrie auf und knallte auf den Tisch hinter sich. Dann hob sie abwehrend die Hände und versuchte Roland irgendwie von sich wegzuhalten.
Doch er blieb auf den Beinen und sah unschlüssig aus, ob er grinsen oder seinerseits zum Angriff übergehen sollte. »Sei lieber vorsichtig, Scar, sonst endest du noch wie deine alte ...«
Tischbeine quietschten über die Fliesen. Der Kämpfer nahm Roland in den Schwitzkasten und hob ihn vom Boden hoch.
In der Kneipe wurde es still. Der Kämpfer hielt Roland in die Höhe wie eine Puppe, ohne sich um dessen Keuchen zu kümmern.
Scarlet holte tief Luft, die Kante des Tresens bohrte sich ihr in den Magen.
»Ich finde, jetzt ist hier mal eine Entschuldigung fällig«, sagte der Kämpfer gelassen.
»He, sofort loslassen!«, schrie ein Mann, dessen Stuhl mit lautem Gepolter hintenüberkippte. »Sie bringen ihn um!« Er packte den Kämpfer am Handgelenk, aber er hätte genauso gut an einem einzementierten Eisengitter zerren können. Der Arm bewegte sich keinen Millimeter. Der Mann wurde rot, ließ den Arm los und setzte zu einem Schlag gegen den Kämpfer an, aber der wehrte ihn mit der freien Hand blitzartig ab.
Scarlet schob sich auf die beiden zu. Auf dem Unterarm des Kämpfers registrierte sie eine Tätowierung aus Buchstaben und Ziffern. LSOP962.
Der Kämpfer war zwar immer noch wütend, sah jetzt allerdings auch belustigt aus, als hätte er sich gerade an die Regeln eines Spiels erinnert. Er ließ Roland wieder auf die Füße herunter und gab die Hand des anderen Mannes frei.
Roland sank schlotternd auf einen Hocker. »Was ist denn mit dir los?«, keuchte er und rieb sich den Hals. »Bist du irgend so ein durchgeknallter Großstädter oder was?«
»Du hast dich respektlos verhalten.«
»Respektlos?«, brüllte Roland. »Du hast mich fast umgebracht! «
Durch die Küchenschwingtüren stürmte Gilles herein.
»Was ist hier los?« »Der Bursche da zettelt eine Schlägerei an«, sagte einer aus der Menge. »Und Scarlet hat die Screens kaputt gemacht.« »Stimmt doch gar nicht, Idiot!«, schrie Scarlet, auch wenn sie nicht sicher war, wer das gesagt hatte.
Gilles warf einen Blick auf die Bildschirme, auf die Splitter der zerbrochenen Flaschen und Gläser und funkelte den Straßenkämpfer wütend an. »Du«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf den Kämpfer, »verschwindest auf der Stelle aus meinem Wirtshaus.«
Scarlet protestierte. »Er hat doch überhaupt nichts ...«
»Versuch's gar nicht erst, Scarlet. Was willst du heute denn noch alles demolieren? Oder legst du es darauf an, einen guten Kunden loszuwerden?«
Scarlet baute sich hitzig vor ihm auf. »Ich kann die Lieferung auch wieder mitnehmen. Wir werden ja sehen, wie deinen Gästen das vergammelte Gemüse schmeckt, das du ihnen dann vorsetzt.«
Gilles kam um den Bartresen herum und riss Scarlet das Kabel aus der Hand. »Glaubst du wirklich, ihr habt den einzigen guten Bauernhof in Frankreich? Ganz ehrlich, Scar, ich bestelle nur bei euch, weil deine Großmutter mir sonst die Hölle heißmacht.«
Scarlet biss die Zähne zusammen. Sie wollte ihn nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter nicht mehr da war und er vielleicht sowieso bald woanders bestellen musste.
Gilles wandte sich wieder dem Kämpfer zu. »Raus!, hab ich gesagt.«
Ohne ihn weiter zu beachten, half der Kämpfer Emilie auf die Füße, die immer noch rücklings auf dem Tisch lag. Ihr Gesicht war gerötet und ihr Rock mit Bier getränkt, aber sie blickte ihn verzückt an.
»Danke«, sagte sie in die unheilvolle Stille hinein.
Schließlich sah der Kämpfer Gilles an. »Ich gehe ja schon, aber nicht, ohne zu zahlen.« Er zögerte. »Und ich komme auch für die kaputten Gläser auf.«
Scarlet traute ihren Ohren nicht. »Was?«
»Ich will dein Geld nicht!«, schrie Gilles. Das war ein weiterer Schock für Scarlet, die immer nur Gilles' Klagen über seine Lieferanten gehört hatte, die angeblich alles daransetzten, ihn in den Ruin zu treiben. »Sie verschwinden auf der Stelle!«
Der Kämpfer warf Scarlet einen Blick aus seinen hellen Augen zu und für einen Moment spürte sie eine Verbundenheit mit ihm.
Sie waren beide Ausgestoßene. Unerwünscht. Verrückt.
Mit klopfendem Herzen verbannte sie diese Gedanken. Der Mann roch nach Ärger. Seinen Lebensunterhalt verdiente er durchs Kämpfen - oder vielleicht machte er es auch nur zum Zeitvertreib. Sie war sich nicht sicher, was sie schlimmer fand.
Im Hinausgehen deutete der Kämpfer eine Verbeugung an, die man als Entschuldigung werten konnte. Als er an ihr vorbeistrich, fand Scarlet, dass er trotz seiner offenkundigen Brutalität nicht bedrohlicher wirkte als ein verprügelter Hund.
Kapitel drei
Scarlet zerrte die Kiste mit den Kartoffeln aus dem unteren Regal und ließ sie mit einem dumpfen Krachen auf den Boden fallen, bevor sie die Tomaten daraufstellte. Dann waren die Zwiebeln und Pastinaken an der Reihe. Sie würde zweimal zum Schiff gehen müssen und das nervte sie mehr als alles andere. So viel zum Thema gelungener Abgang.
Sie wuchtete zwei Kisten hoch. »Was machst du denn hier?«, fragte Gilles von der Tür her, ein Geschirrtuch über der Schulter. »Ich nehme das Zeug wieder mit.« Seufzend lehnte sich Gilles an die Wand. »Scar, das von vorhin, das war doch nicht so gemeint.« »Ach nee! Und wie hast du es dann gemeint?« »Hör mal, ich mag deine Großmutter - und dich auch.
Ja, ihr habt happige Preise und könnt einen ganz schön quälen mit eurem verrückten ...« Er hob abwehrend die Hände, als Scarlet wieder wütend wurde. »Hey, du bist gerade auf meinen Tresen geklettert und hast die Leute aufgewiegelt, also sag nicht, dass nichts dran ist.«
Sie verzog das Gesicht. »Aber es stimmt schon, deine Grand-mère führt ihren Hof gut und eure Tomaten sind in jeder Saison die besten, die man in Frankreich kriegen kann. Deswegen will ich ja auch, dass ihr mich weiter beliefert.«
Die glänzenden roten Tomaten rollten in Scarlets Kiste von einer Seite zur anderen.
»Nun stell sie doch zurück, Scar. Ich hab den Lieferschein schon abgezeichnet.«
Er ging wieder, bevor Scarlet noch einen Wutanfall bekommen konnte.
Sie blies sich eine rote Locke aus dem Gesicht, setzte das Gemüse ab und gab der Kartoffelkiste einen Tritt, sodass sie wieder im Regal verschwand. In der Küche lachten sich die Köche über das Drama im Gastraum halb tot. Was gerade geschehen war, hörte sich jetzt schon ganz anders an. Angeblich hatte der Kämpfer auf Rolands Kopf eine Flasche zerbrochen, ihn bewusstlos geschlagen und einen Stuhl zertrümmert. Dasselbe hätte er auch mit Gilles gemacht, wenn Emilie ihn nicht mit ihrem süßen Lächeln beschwichtigt hätte.
Da sie kein Interesse daran hatte, die Geschichte richtigzustellen, wischte sich Scarlet die Hände an ihrer Jeans ab und marschierte durch die Küche zum Scanner neben der Hintertür. Eisiges Schweigen. Gilles ließ sich nicht blicken, aus dem Gastraum hörte sie nur Emilies Lachen. Scarlet hoffte, dass sie sich die gehässigen Blicke der Köche nur einbildete. Wie schnell würden sich die Gerüchte wohl in der Stadt herumsprechen?
Scarlet Benoit hat das Cyborg-Mädchen, diese Lunarierin, verteidigt! Jetzt hat sie endgültig den Verstand verloren, genau wie ihre ...
Sie hielt das Handgelenk vor den uralten Scanner und kontrollierte gewohnheitsmäßig den Lieferschein, der auf dem Screen erschien, nur um sicherzugehen, dass Gilles nicht wie so oft einen Posten ausgelassen hatte. Aber er hatte nur drei Univs für die zermanschten Tomaten abgezogen. 687 U AUF KONTO HOF UND GARTEN BENOIT ANGEWIESEN.
Sie ging durch die Hintertür hinaus, ohne sich zu verabschieden.
Auch wenn die Wärme des sonnigen Nachmittags noch in der Luft lag, war die schattige Gasse kühl im Vergleich zur stickigen Küche. Scarlet sortierte die Kisten im Heck des Schiffs. Sie war spät dran und würde noch lange brauchen, bis sie zu Hause ankam. Dabei musste sie am nächsten Morgen sehr früh aufstehen, um zur Polizeistation nach Toulouse zu fahren, sonst würde ein weiterer Tag vorübergehen, ohne dass etwas unternommen wurde, um ihre Großmutter wiederzufinden.
Zwei Wochen. Zwei geschlagene Wochen war ihre Großmutter jetzt schon allein auf sich gestellt. Hilflos. Vergessen. Oder vielleicht sogar ... tot, erschlagen in irgendeinem matschigen Graben. Aber warum? Warum bloß?
Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie schlug die Luke zu, ging um das Schiff herum - und blieb wie angewurzelt stehen.
Dort stand der Kämpfer lässig an die Hauswand gelehnt und beobachtete sie.
Sie wischte die Tränen weg und starrte ihn an. War das eine Drohgebärde oder nicht? Er stand etwa fünf Meter vom Bug des Schiffs entfernt. Seine Haltung erschien ihr eher abwartend als aggressiv, aber er hatte auch nicht gefährlich ausgesehen, als er Roland in den Schwitzkasten genommen hatte.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht«, sagte er so leise, dass sie seine Worte kaum verstehen konnte.
Sie ärgerte sich über ihre Nervosität, aber sie wusste einfach nicht, ob sie Angst vor ihm haben oder sich geschmeichelt fühlen sollte.
»Mir geht es jedenfalls besser als Roland«, sagte sie. »Sein Hals lief schon rot und blau an, als ich gegangen bin.«
Er warf einen Blick auf die Küchentür. »Damit ist er noch gut bedient.«
Normalerweise hätte sie das zum Lachen gebracht, aber nach all der Wut und Frustration dieses Nachmittags hatte sie keine Energie mehr. Noch nicht einmal zum Lachen. »Es wäre besser gewesen, wenn du dich rausgehalten hättest; ich hatte alles im Griff.«
»Ganz offensichtlich.« Er warf ihr einen Seitenblick zu, als versuchte er, ein Rätsel zu lösen. »Ich hab nur Angst gehabt, dass du die Pistole ziehen würdest. Und das wäre nicht besonders hilfreich gewesen. Was das Nichtverrücktsein angeht, meine ich.«
In ihrem Nacken stellten sich die Haare auf. Scarlet tastete instinktiv im Kreuz nach der Pistole, die warm auf ihrer Haut lag. Ihre Großmutter hatte sie ihr am elften Geburtstag mit der paranoiden Warnung geschenkt: Man kann nie wissen, wann ein Fremder kommt und einen gegen seinen Willen mitnimmt. Sie hatte Scarlet beigebracht, wie man mit der Pistole umging, und seitdem verließ Scarlet das Haus nie mehr ohne die Waffe, so albern ihr das auch vorkam.
Das war jetzt sieben Jahre her und sie war ziemlich sicher, dass die Pistole, die sie unter ihrem üblichen roten Kapuzenpulli verbarg, nie irgendwem aufgefallen war. Bis heute. »Woher weißt du das?« Er zuckte die Achseln - jedenfalls hätte man die Geste so
deuten können, wenn sie nicht so verkrampft und ruckartig gewesen wäre. »Ich hab den Griff gesehen, als du auf den Tresen geklettert bist.«
Scarlet schob die Hand unter den Pulli, um die Pistole tiefer in den Hosenbund zu stecken. Sie versuchte, ruhig zu atmen, aber der Gestank nach scharf angebratenen Zwiebeln und vergammelnden Küchenabfällen war zu stechend.
»Vielen Dank, das ist echt nett, aber mir geht's gut. Und jetzt muss ich los - ich bin spät dran mit meinen Lieferungen.« Sie ging auf die Pilotentür zu.
»Gibt es noch Tomaten?« Der Kämpfer sah sie geduckt aus dem Schatten an. »Ich hab nämlich immer noch Hunger«, murmelte er.
Scarlet glaubte fast, die zermatschten Tomaten an der Wand hinter ihm riechen zu können. »Ich kann sie auch bezahlen«, fügte er schnell hinzu. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht schon in Ordnung. Wir haben mehr als genug.« Sie ging wieder nach hinten, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und öffnete die Heckluke. Dann nahm sie eine Fleischtomate und einen Bund Karotten heraus. »Hier, die schmecken roh auch gut«, sagte sie und warf sie ihm zu.
Er fing sie mühelos auf und ließ die Tomate in einer Pranke verschwinden, während er die Möhren in der anderen Hand hielt. Er betrachtete die Karotten prüfend von allen Seiten und fragte schließlich: »Was ist das?«
Sie lachte überrascht. »Wie bitte? Das sind Möhren!«
Wieder schien es ihm peinlich zu sein, dass er etwas Ungewöhnliches gesagt hatte. Er zog die Schultern ein, als wollte er sich kleiner machen. »Danke.«
»Deine Mutter hat wohl keinen Wert darauf gelegt, dass du Gemüse isst?«
Sie sahen sich an und waren plötzlich beide verlegen. In der Kneipe ging irgendwas zu Bruch, dann hörte man Gelächter.
»Macht ja nichts. Sie sind wirklich lecker.« Sie schloss die Luke, ging wieder zur Pilotentür und zog ihre ID über den Scanner des Schiffs, worauf sich die Tür öffnete. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Im hellen Licht schien sein Veilchen noch dunkler als vorhin. Er fuhr zusammen wie ein Krimineller im Kegel eines Suchscheinwerfers.
»Ich frag mich, ob du vielleicht einen Landarbeiter gebrauchen kannst«, sprudelte es so schnell aus ihm heraus, dass die Worte kaum zu verstehen waren.
Nun begriff Scarlet endlich, warum er auf sie gewartet und dann so lange herumgedruckst hatte. Sie taxierte seine breiten Schultern und kräftigen Oberarme - er war für körperliche Arbeit wie geschaffen. »Du suchst Arbeit?«
Er lächelte schelmisch und dabei sah er gefährlich aus. »Kämpfen wird zwar ordentlich bezahlt, macht sich aber nicht so gut im Lebenslauf. Ich hab mir gedacht, du könntest mich vielleicht in Naturalien bezahlen.«
Sie lachte. »Ich hab doch die Beweisstücke deines Riesenappetits weggeräumt. Da müsste ich wohl mein letztes Hemd an dich verfüttern.« Auf der Stelle wurde sie rot - vielleicht war das zu forsch gewesen. Zu ihrem Schrecken blieb sein Gesicht vollkommen unbewegt und sie beeilte sich, etwas zu sagen, bevor er reagieren konnte. »Wie heißt du eigentlich?«
Wieder dieses ungelenke Achselzucken. »Mein Kampfname ist Wolf.« »Wolf? Das hört sich ja ziemlich wild an!« Er nickte ernst. Scarlet unterdrückte ein Grinsen. »Das mit den Straßen kämpfen solltest du wirklich nicht im Lebenslauf erwähnen.«
Er kratzte sich am Ellenbogen; die merkwürdige Tätowierung konnte sie im Dunklen nur erahnen. Vielleicht hatte sie ihn mit der Bemerkung über seinen Namen in Verlegenheit gebracht.
»Mich nennen jedenfalls alle Scarlet. Ja, genau, wegen meiner Haarfarbe.« Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Wegen was für einer Haarfarbe?« Scarlett lehnte sich an die Tür. »Sehr komisch.« Einen Moment schien er sehr zufrieden mit sich und Scarlet fand diesen Fremden, diesen Außenseiter, langsam sympathisch. Den Straßenkämpfer mit der sanften Stimme.
Dann kribbelte es ihr am Hinterkopf, wie eine Warnung. Sie vergeudete ihre Zeit. Großmutter war verschwunden, allein, verängstigt oder tot in irgendeinem Graben.
Scarlet stützte sich im Türrahmen ab. »Es tut mir wirklich leid, aber wir sind gut versorgt. Ich brauche keine Landarbeiter mehr.«
Der Funke in seinen Augen erstarb und er schien sich wieder unbehaglich zu fühlen. »Ich verstehe. Vielen Dank für das Essen«, sagte er nervös. Er kickte den Stab einer erloschenen Rakete vom Bürgersteig - ein Überrest der gestrigen Friedensfeier.
»Du solltest nach Toulouse oder Paris gehen. In den Städten gibt's mehr Jobs - außerdem sind die Leute hier Fremden gegenüber misstrauisch, wie du vielleicht schon gemerkt hast.«
Er neigte den Kopf, so dass seine smaragdfarbenen Augen im Scheinwerferlicht des Schiffs noch heller leuchteten, und sah sie fast amüsiert an. »Danke für den Tipp.«
Scarlet kehrte ihm den Rücken zu und ließ sich auf den Pilotensitz sinken.
Wolf drückte sich an die Wand, als sie den Motor anließ. »Falls du es dir anders überlegst: Du findest mich nachts meistens beim verlassenen Haus der Morels. Ich bin vielleicht nicht so geschickt im Umgang mit Menschen, aber ich glaube, auf einem Bauernhof würde ich mich gut machen.« Seine Mundwinkel hoben sich kaum merklich. »Tiere mögen mich.«
»Da bin ich sicher«, sagte Scarlet und schenkte ihm ein geheucheltes, aufmunterndes Lächeln. Sie schloss die Tür, bevor sie murmelte: »Gibt es Tiere, die keine Wölfe mögen?«
Copyright © Carlsen Verlag
Also schnappte sie sich den Teller und stürmte aus der Küche. Um Haaresbreite verfehlte sie einen Kellner, der ihr durch die Schwingtür entgegenkam. Das Gasthaus Rieux war kein gutes Restaurant - die Böden starrten vor Dreck, man saß auf harten Stühlen an billigen Tischen und in der Luft hing der Geruch von ranzigem Fett. Aber weil man in der Stadt nichts lieber tat, als zu trinken und zu tratschen, war der Laden immer voll, vor allem an Sonntagen, an denen die Tagelöhner von den umliegenden Bauernhöfen nicht auf den Feldern arbeiteten.
Als Scarlet sich einen Weg durch die Menge bahnte, fiel ihr Blick auf die Netscreens über der Bar. Auf allen dreien flackerten seit der vergangenen Nacht dieselben Nachrichten vom jährlichen Ball im Asiatischen Staatenbund, auf dem die Königin von Luna Ehrengast gewesen war. Ein Cyborg- Mädchen hatte sich unter die Gäste geschmuggelt und einen Kronleuchter in die Luft gesprengt. Ein Attentat auf die Königin der Lunarier - und vielleicht auch auf den kurz zuvor gekrönten Kaiser - war jedoch vereitelt worden. Und nun schien jeder eine andere Theorie zu vertreten. Auf den Nahaufnahmen sah man ein Mädchen mit dreckigem Gesicht und wirren nassen Haarsträhnen, die aus einem aufgelösten Pferdeschwanz fielen. Es war rätselhaft, wie sie sich in diesem Aufzug überhaupt Zutritt zum königlichen Ball verschafft hatte.
»Man hätte sie gleich von ihrem Elend erlösen sollen, als sie die Treppe runtergefallen ist«, rief Roland, einer der Stammgäste, der allem Anschein nach schon stundenlang auf seinem Hocker am Bartresen herumhing. Er zielte mit der ausgestreckten Rechten auf den Bildschirm und tat, als würde er schießen. »Ich hätte sie mit einem sauberen Kopfschuss erledigt. Und tschüs!«
Die umstehenden Männer murmelten zustimmend. Scarlet verdrehte angewidert die Augen und schob sich in den hinteren Teil des Raums durch.
Sie erkannte Emilies gut aussehenden Straßenkämpfer auf den ersten Blick. Mit seinen Narben und blauen Flecken auf der olivfarbenen Haut stach er aus der Menge heraus und außerdem war er der einzige Fremde in der Schänke. Er war weniger gepflegt, als sie nach Emilies verzückter Beschreibung erwartet hätte. Die Haare standen ihm verfilzt vom Kopf ab und er hatte ein prächtiges Veilchen. Unter dem Tisch spielte er nervös mit einem Jo-Jo.
Vor ihm standen drei Teller mit Resten eines fettigen Eiersalats, aber die Tomaten und den Salat hatte er nicht angerührt.
Ihr war nicht bewusst, dass sie ihn anstarrte, bis er ihren Blick erwiderte. Seine Augen waren von dem unnatürlichen Grün saurer Weintrauben. Scarlet hielt den Teller fester. Plötzlich verstand sie Emilie. Seine Augen sind so ...
Sie stellte das Baguette vor ihn auf den Tisch. »Der Croque Monsieur - war der für Sie?«
»Danke.« Seine Stimme war überraschend tief und stockend, nicht laut und barsch, wie sie vermutet hatte.
Vielleicht hatte Emilie Recht und er war wirklich schüchtern.
»Sind Sie sicher, dass wir Ihnen nicht gleich das ganze Schwein auftischen sollen?«, fragte sie und stapelte die drei leeren Teller aufeinander. »Es würde uns die Arbeit abnehmen, immer wieder in die Küche zu rennen.«
Er sah sie aus großen Augen an. Scarlet dachte gerade, er würde sie beim Wort nehmen, aber dann sagte er: »Das Essen hier ist gut«, und wandte sich dem Baguette mit Schinken zu.
Sie verkniff sich eine spöttische Bemerkung. »Gutes Essen « war sicher nicht das Erste, was sie mit dem Gasthaus Rieux in Verbindung brachte. »Kämpfen muss wohl hungrig machen.«
Er spielte stumm mit seinem Strohhalm und Scarlet sah, wie die Tischplatte auf seinen zappelnden Beinen zu tanzen begann.
»Guten Appetit«, sagte sie und nahm die Teller mit. Aber dann zögerte sie. »Sie wollen bestimmt keine Tomaten? Die sind das Beste daran und außerdem stammen sie aus meinem Garten. Der Salat übrigens ebenso, aber als ich ihn gepflückt habe, war er noch nicht welk. Jetzt würde ich ihn auch nicht mehr empfehlen. Na, was ist mit den Tomaten?«
Der Kämpfer sah sie offen an. »Ich habe noch nie welche probiert.« Scarlet hob eine Augenbraue. »Was?« Langsam setzte er das Glas ab, spießte zwei Tomatenscheiben auf und kaute darauf herum.
Er ließ sich Zeit und schien nachzudenken, bevor er sie herunterschluckte. »Sie schmecken anders, als ich erwartet habe«, sagte er und sah wieder zu ihr hoch. »Aber auch nicht schlecht. Ich hätte gerne noch welche, wenn's geht.«
Scarlet balancierte die Tellerstapel und versuchte, ein Messer zu erwischen, bevor es auf den Boden fiel. »Wissen Sie, eigentlich arbeite ich gar nicht für ...«
»Jetzt kommt's!«, rief jemand an der Bar und ein Raunen ging durch das Wirtshaus. Scarlet sah hoch auf die Netscreens. Regentropfen funkelten in einem üppigen Garten voller Bambus und Lilien. Aus einem Saal fiel warmes rotes Licht auf eine große Treppe. Die Überwachungskameras über den Türen fingen dunkle Gestalten ein, die lange Schatten bis auf den Pfad vor den Stufen warfen. Eine friedliche Szenerie.
»Zehn Univs, dass gleich ein Mädchen auf der Treppe ihren Fuß verliert!«, schrie jemand. Lautes Gelächter von der Bar. »Wettet jemand gegen mich? Nun kommt schon, die Chancen stehen doch gar nicht so schlecht!«
Einen Moment später erschien das Cyborg-Mädchen auf dem Schirm. Sie stürzte aus der hohen Tür heraus, sprang panisch mit wehendem silbernem Kleid die Treppe herunter - die ruhige Atmosphäre im Garten war dahin. Scarlet hielt den Atem an. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde, erschrak aber dennoch, als das Mädchen strauchelte, die Stufen herunterflog und am Fuß der Treppe der Länge nach auf dem Kiesweg aufschlug. Der Ton war abgestellt, doch Scarlet hörte das Mädchen fast nach Luft ringen, als sie sich auf den Rücken rollte und wie gelähmt zur Tür hochstarrte. Schattenhafte Gestalten näherten sich und bauten sich über ihr auf.
Da sie die Szene jetzt schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen hatte, hielt Scarlet nach dem verlorenen Fuß Ausschau, auf dem sich das Licht aus dem Ballsaal spiegelte. Nach dem Cyborg-Fuß des Mädchens.
»Angeblich soll das dort auf der rechten Seite die Königin sein«, meinte Emilie. Scarlet erschrak, sie hatte nicht bemerkt, dass die Kellnerin neben ihr stand.
Der Prinz - nein, jetzt war er ja Kaiser - kam langsam die Stufen herunter und bückte sich nach dem Fuß. Das Mädchen bemühte sich, das Ballkleid über die Drähte zu zerren, die sich wie Tentakel aus ihrem Metallstumpf herauswanden, aber es war schon zu spät.
Scarlet waren viele Gerüchte zu Ohren gekommen. Angeblich war das Mädchen nicht nur eine Lunarierin - ein illegaler Flüchtling und eine Gefahr für die Erde -, sie sollte es auch fertiggebracht haben, Kaiser Kai einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Manche vertraten die Meinung, sie sei auf Geld aus, und andere, es gehe ihr um Macht. Oder wollte sie den Krieg anzetteln, der schon so lange drohte? Welche Motive sie auch haben mochte, Scarlet hatte Mitleid mit ihr, wie sie so hilflos da unten an der Treppe lag. Das Mädchen war noch keine zwanzig, sogar jünger als sie selbst.
»Wie war das, wer wollte sie von ihrem Elend erlösen?«, brüllte ein Typ an der Bar. Roland deutete auf den Bildschirm. »Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie so was Ekelerregendes gesehen.«
Von hinten reckte jemand den Kopf aus der Menge, um Roland besser sehen zu können. »Mann, hör doch auf! Sie ist süß und so unschuldig. Die sollten sie besser mal zu mir schicken als auf den Mond.«
Dreckiges Lachen. Roland schlug so fest auf die Theke, dass ein senfverschmierter Teller klirrte. »Klar, so ein Metallbein macht ein Betthäschen erst richtig kuschelig!«
»Du Dreckskerl!«, zischte Scarlet, aber die Beleidigung ging in dem schallenden Gelächter unter.
»Mir würde es auch nichts ausmachen, sie ein bisschen aufzuwärmen!«, schrie ein anderer und die Kneipe dröhnte von Beifall und allgemeiner Heiterkeit.
In Scarlet stieg die kalte Wut hoch. Sie knallte den Tellerstapel auf den Tisch und bahnte sich einen Weg hinter die Bar, ohne auf die überraschten Gesichter der anderen zu achten.
Der Barkeeper sah verdattert zu, wie Scarlet ein paar Flaschen aus dem Weg räumte und geschickt auf den Tresen sprang. Sie reckte sich, öffnete die Wandverkleidung unter dem Regal mit den Cognacgläsern und zerrte am Netlink- Kabel. Der Palastgarten und das Cyborgmädchen verschwanden, die drei Bildschirme wurden schwarz.
Die Gäste protestierten laut.
Scarlet wirbelte herum und fegte eine Weinflasche vom Tresen, die auf dem Boden in Scherben zersplitterte, doch sie hörte es kaum. Sie fuchtelte mit dem Kabel über der aufgebrachten Menge herum. »Etwas mehr Respekt! Sie werden das Mädchen hinrichten!«
»Das Mädchen ist Lunarierin!«, schrie jemand. »Geschieht ihr recht!«
Die Gäste nickten und jemand warf mit einem Brotkanten nach Scarlets Schulter. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sie ist doch erst sechzehn!«
Alle sprangen auf und schrien irgendwas über Lunarier durcheinander. Aus dem allgemeinen Gebrüll hörte Scarlet heraus: Das Mädchen wollte schließlich ein Staatsoberhaupt der Union töten!
»Hey, beruhigt euch doch und lasst Scarlet in Ruhe!«, brüllte Roland. Der Whiskey hatte sein Selbstbewusstsein gestärkt. »Ihr wisst doch, dass Scars Familie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Erst verduftet die alte Ziege spurlos und jetzt verteidigt Scarlet Lunarier!«
Das Gelächter und die höhnischen Rufe verstärkten Scarlets Ohrensausen. Plötzlich hieb sie auf Rolands Kopf ein, ohne überhaupt zu wissen, wie sie vom Tresen gekommen war. Gläser und Flaschen gingen zu Bruch.
Er japste nach Luft. »Hey, was ist denn in dich gefahren?«
»Meine Großmutter ist nicht verrückt!« Sie packte ihn am Hemd. »Hast du das dem Kommissar auch gesagt? Hast du ihm gesagt, dass sie nicht richtig tickt?«
»Natürlich habe ich ihm das gesagt!«, schrie er. Seine Fahne war widerlich, trotzdem krallte sie sich an seinem Hemd fest, bis ihr die Fäuste wehtaten. »Und ich war mit Sicherheit nicht der Einzige. Die hat sich doch immer in ihrer Bruchbude eingeigelt und mit Tieren und Androiden geredet, als wären sie ihre Freunde. Und die Menschen hat sie dann mit dem Gewehr verjagt ...«
»Nur ein einziges Mal und das war ein Hausiererdroide!«
»Mich überrascht es jedenfalls nicht, dass die alte Benoit jetzt total durchgeknallt ist. Dass es mal so kommen wird, hat man sich ja schon 'ne ganze Weile gedacht.«
Scarlet gab Roland einen kräftigen Schubs. Er stolperte rückwärts und fiel gegen Emilie. Diese schrie auf und knallte auf den Tisch hinter sich. Dann hob sie abwehrend die Hände und versuchte Roland irgendwie von sich wegzuhalten.
Doch er blieb auf den Beinen und sah unschlüssig aus, ob er grinsen oder seinerseits zum Angriff übergehen sollte. »Sei lieber vorsichtig, Scar, sonst endest du noch wie deine alte ...«
Tischbeine quietschten über die Fliesen. Der Kämpfer nahm Roland in den Schwitzkasten und hob ihn vom Boden hoch.
In der Kneipe wurde es still. Der Kämpfer hielt Roland in die Höhe wie eine Puppe, ohne sich um dessen Keuchen zu kümmern.
Scarlet holte tief Luft, die Kante des Tresens bohrte sich ihr in den Magen.
»Ich finde, jetzt ist hier mal eine Entschuldigung fällig«, sagte der Kämpfer gelassen.
»He, sofort loslassen!«, schrie ein Mann, dessen Stuhl mit lautem Gepolter hintenüberkippte. »Sie bringen ihn um!« Er packte den Kämpfer am Handgelenk, aber er hätte genauso gut an einem einzementierten Eisengitter zerren können. Der Arm bewegte sich keinen Millimeter. Der Mann wurde rot, ließ den Arm los und setzte zu einem Schlag gegen den Kämpfer an, aber der wehrte ihn mit der freien Hand blitzartig ab.
Scarlet schob sich auf die beiden zu. Auf dem Unterarm des Kämpfers registrierte sie eine Tätowierung aus Buchstaben und Ziffern. LSOP962.
Der Kämpfer war zwar immer noch wütend, sah jetzt allerdings auch belustigt aus, als hätte er sich gerade an die Regeln eines Spiels erinnert. Er ließ Roland wieder auf die Füße herunter und gab die Hand des anderen Mannes frei.
Roland sank schlotternd auf einen Hocker. »Was ist denn mit dir los?«, keuchte er und rieb sich den Hals. »Bist du irgend so ein durchgeknallter Großstädter oder was?«
»Du hast dich respektlos verhalten.«
»Respektlos?«, brüllte Roland. »Du hast mich fast umgebracht! «
Durch die Küchenschwingtüren stürmte Gilles herein.
»Was ist hier los?« »Der Bursche da zettelt eine Schlägerei an«, sagte einer aus der Menge. »Und Scarlet hat die Screens kaputt gemacht.« »Stimmt doch gar nicht, Idiot!«, schrie Scarlet, auch wenn sie nicht sicher war, wer das gesagt hatte.
Gilles warf einen Blick auf die Bildschirme, auf die Splitter der zerbrochenen Flaschen und Gläser und funkelte den Straßenkämpfer wütend an. »Du«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf den Kämpfer, »verschwindest auf der Stelle aus meinem Wirtshaus.«
Scarlet protestierte. »Er hat doch überhaupt nichts ...«
»Versuch's gar nicht erst, Scarlet. Was willst du heute denn noch alles demolieren? Oder legst du es darauf an, einen guten Kunden loszuwerden?«
Scarlet baute sich hitzig vor ihm auf. »Ich kann die Lieferung auch wieder mitnehmen. Wir werden ja sehen, wie deinen Gästen das vergammelte Gemüse schmeckt, das du ihnen dann vorsetzt.«
Gilles kam um den Bartresen herum und riss Scarlet das Kabel aus der Hand. »Glaubst du wirklich, ihr habt den einzigen guten Bauernhof in Frankreich? Ganz ehrlich, Scar, ich bestelle nur bei euch, weil deine Großmutter mir sonst die Hölle heißmacht.«
Scarlet biss die Zähne zusammen. Sie wollte ihn nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter nicht mehr da war und er vielleicht sowieso bald woanders bestellen musste.
Gilles wandte sich wieder dem Kämpfer zu. »Raus!, hab ich gesagt.«
Ohne ihn weiter zu beachten, half der Kämpfer Emilie auf die Füße, die immer noch rücklings auf dem Tisch lag. Ihr Gesicht war gerötet und ihr Rock mit Bier getränkt, aber sie blickte ihn verzückt an.
»Danke«, sagte sie in die unheilvolle Stille hinein.
Schließlich sah der Kämpfer Gilles an. »Ich gehe ja schon, aber nicht, ohne zu zahlen.« Er zögerte. »Und ich komme auch für die kaputten Gläser auf.«
Scarlet traute ihren Ohren nicht. »Was?«
»Ich will dein Geld nicht!«, schrie Gilles. Das war ein weiterer Schock für Scarlet, die immer nur Gilles' Klagen über seine Lieferanten gehört hatte, die angeblich alles daransetzten, ihn in den Ruin zu treiben. »Sie verschwinden auf der Stelle!«
Der Kämpfer warf Scarlet einen Blick aus seinen hellen Augen zu und für einen Moment spürte sie eine Verbundenheit mit ihm.
Sie waren beide Ausgestoßene. Unerwünscht. Verrückt.
Mit klopfendem Herzen verbannte sie diese Gedanken. Der Mann roch nach Ärger. Seinen Lebensunterhalt verdiente er durchs Kämpfen - oder vielleicht machte er es auch nur zum Zeitvertreib. Sie war sich nicht sicher, was sie schlimmer fand.
Im Hinausgehen deutete der Kämpfer eine Verbeugung an, die man als Entschuldigung werten konnte. Als er an ihr vorbeistrich, fand Scarlet, dass er trotz seiner offenkundigen Brutalität nicht bedrohlicher wirkte als ein verprügelter Hund.
Kapitel drei
Scarlet zerrte die Kiste mit den Kartoffeln aus dem unteren Regal und ließ sie mit einem dumpfen Krachen auf den Boden fallen, bevor sie die Tomaten daraufstellte. Dann waren die Zwiebeln und Pastinaken an der Reihe. Sie würde zweimal zum Schiff gehen müssen und das nervte sie mehr als alles andere. So viel zum Thema gelungener Abgang.
Sie wuchtete zwei Kisten hoch. »Was machst du denn hier?«, fragte Gilles von der Tür her, ein Geschirrtuch über der Schulter. »Ich nehme das Zeug wieder mit.« Seufzend lehnte sich Gilles an die Wand. »Scar, das von vorhin, das war doch nicht so gemeint.« »Ach nee! Und wie hast du es dann gemeint?« »Hör mal, ich mag deine Großmutter - und dich auch.
Ja, ihr habt happige Preise und könnt einen ganz schön quälen mit eurem verrückten ...« Er hob abwehrend die Hände, als Scarlet wieder wütend wurde. »Hey, du bist gerade auf meinen Tresen geklettert und hast die Leute aufgewiegelt, also sag nicht, dass nichts dran ist.«
Sie verzog das Gesicht. »Aber es stimmt schon, deine Grand-mère führt ihren Hof gut und eure Tomaten sind in jeder Saison die besten, die man in Frankreich kriegen kann. Deswegen will ich ja auch, dass ihr mich weiter beliefert.«
Die glänzenden roten Tomaten rollten in Scarlets Kiste von einer Seite zur anderen.
»Nun stell sie doch zurück, Scar. Ich hab den Lieferschein schon abgezeichnet.«
Er ging wieder, bevor Scarlet noch einen Wutanfall bekommen konnte.
Sie blies sich eine rote Locke aus dem Gesicht, setzte das Gemüse ab und gab der Kartoffelkiste einen Tritt, sodass sie wieder im Regal verschwand. In der Küche lachten sich die Köche über das Drama im Gastraum halb tot. Was gerade geschehen war, hörte sich jetzt schon ganz anders an. Angeblich hatte der Kämpfer auf Rolands Kopf eine Flasche zerbrochen, ihn bewusstlos geschlagen und einen Stuhl zertrümmert. Dasselbe hätte er auch mit Gilles gemacht, wenn Emilie ihn nicht mit ihrem süßen Lächeln beschwichtigt hätte.
Da sie kein Interesse daran hatte, die Geschichte richtigzustellen, wischte sich Scarlet die Hände an ihrer Jeans ab und marschierte durch die Küche zum Scanner neben der Hintertür. Eisiges Schweigen. Gilles ließ sich nicht blicken, aus dem Gastraum hörte sie nur Emilies Lachen. Scarlet hoffte, dass sie sich die gehässigen Blicke der Köche nur einbildete. Wie schnell würden sich die Gerüchte wohl in der Stadt herumsprechen?
Scarlet Benoit hat das Cyborg-Mädchen, diese Lunarierin, verteidigt! Jetzt hat sie endgültig den Verstand verloren, genau wie ihre ...
Sie hielt das Handgelenk vor den uralten Scanner und kontrollierte gewohnheitsmäßig den Lieferschein, der auf dem Screen erschien, nur um sicherzugehen, dass Gilles nicht wie so oft einen Posten ausgelassen hatte. Aber er hatte nur drei Univs für die zermanschten Tomaten abgezogen. 687 U AUF KONTO HOF UND GARTEN BENOIT ANGEWIESEN.
Sie ging durch die Hintertür hinaus, ohne sich zu verabschieden.
Auch wenn die Wärme des sonnigen Nachmittags noch in der Luft lag, war die schattige Gasse kühl im Vergleich zur stickigen Küche. Scarlet sortierte die Kisten im Heck des Schiffs. Sie war spät dran und würde noch lange brauchen, bis sie zu Hause ankam. Dabei musste sie am nächsten Morgen sehr früh aufstehen, um zur Polizeistation nach Toulouse zu fahren, sonst würde ein weiterer Tag vorübergehen, ohne dass etwas unternommen wurde, um ihre Großmutter wiederzufinden.
Zwei Wochen. Zwei geschlagene Wochen war ihre Großmutter jetzt schon allein auf sich gestellt. Hilflos. Vergessen. Oder vielleicht sogar ... tot, erschlagen in irgendeinem matschigen Graben. Aber warum? Warum bloß?
Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie schlug die Luke zu, ging um das Schiff herum - und blieb wie angewurzelt stehen.
Dort stand der Kämpfer lässig an die Hauswand gelehnt und beobachtete sie.
Sie wischte die Tränen weg und starrte ihn an. War das eine Drohgebärde oder nicht? Er stand etwa fünf Meter vom Bug des Schiffs entfernt. Seine Haltung erschien ihr eher abwartend als aggressiv, aber er hatte auch nicht gefährlich ausgesehen, als er Roland in den Schwitzkasten genommen hatte.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht«, sagte er so leise, dass sie seine Worte kaum verstehen konnte.
Sie ärgerte sich über ihre Nervosität, aber sie wusste einfach nicht, ob sie Angst vor ihm haben oder sich geschmeichelt fühlen sollte.
»Mir geht es jedenfalls besser als Roland«, sagte sie. »Sein Hals lief schon rot und blau an, als ich gegangen bin.«
Er warf einen Blick auf die Küchentür. »Damit ist er noch gut bedient.«
Normalerweise hätte sie das zum Lachen gebracht, aber nach all der Wut und Frustration dieses Nachmittags hatte sie keine Energie mehr. Noch nicht einmal zum Lachen. »Es wäre besser gewesen, wenn du dich rausgehalten hättest; ich hatte alles im Griff.«
»Ganz offensichtlich.« Er warf ihr einen Seitenblick zu, als versuchte er, ein Rätsel zu lösen. »Ich hab nur Angst gehabt, dass du die Pistole ziehen würdest. Und das wäre nicht besonders hilfreich gewesen. Was das Nichtverrücktsein angeht, meine ich.«
In ihrem Nacken stellten sich die Haare auf. Scarlet tastete instinktiv im Kreuz nach der Pistole, die warm auf ihrer Haut lag. Ihre Großmutter hatte sie ihr am elften Geburtstag mit der paranoiden Warnung geschenkt: Man kann nie wissen, wann ein Fremder kommt und einen gegen seinen Willen mitnimmt. Sie hatte Scarlet beigebracht, wie man mit der Pistole umging, und seitdem verließ Scarlet das Haus nie mehr ohne die Waffe, so albern ihr das auch vorkam.
Das war jetzt sieben Jahre her und sie war ziemlich sicher, dass die Pistole, die sie unter ihrem üblichen roten Kapuzenpulli verbarg, nie irgendwem aufgefallen war. Bis heute. »Woher weißt du das?« Er zuckte die Achseln - jedenfalls hätte man die Geste so
deuten können, wenn sie nicht so verkrampft und ruckartig gewesen wäre. »Ich hab den Griff gesehen, als du auf den Tresen geklettert bist.«
Scarlet schob die Hand unter den Pulli, um die Pistole tiefer in den Hosenbund zu stecken. Sie versuchte, ruhig zu atmen, aber der Gestank nach scharf angebratenen Zwiebeln und vergammelnden Küchenabfällen war zu stechend.
»Vielen Dank, das ist echt nett, aber mir geht's gut. Und jetzt muss ich los - ich bin spät dran mit meinen Lieferungen.« Sie ging auf die Pilotentür zu.
»Gibt es noch Tomaten?« Der Kämpfer sah sie geduckt aus dem Schatten an. »Ich hab nämlich immer noch Hunger«, murmelte er.
Scarlet glaubte fast, die zermatschten Tomaten an der Wand hinter ihm riechen zu können. »Ich kann sie auch bezahlen«, fügte er schnell hinzu. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht schon in Ordnung. Wir haben mehr als genug.« Sie ging wieder nach hinten, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und öffnete die Heckluke. Dann nahm sie eine Fleischtomate und einen Bund Karotten heraus. »Hier, die schmecken roh auch gut«, sagte sie und warf sie ihm zu.
Er fing sie mühelos auf und ließ die Tomate in einer Pranke verschwinden, während er die Möhren in der anderen Hand hielt. Er betrachtete die Karotten prüfend von allen Seiten und fragte schließlich: »Was ist das?«
Sie lachte überrascht. »Wie bitte? Das sind Möhren!«
Wieder schien es ihm peinlich zu sein, dass er etwas Ungewöhnliches gesagt hatte. Er zog die Schultern ein, als wollte er sich kleiner machen. »Danke.«
»Deine Mutter hat wohl keinen Wert darauf gelegt, dass du Gemüse isst?«
Sie sahen sich an und waren plötzlich beide verlegen. In der Kneipe ging irgendwas zu Bruch, dann hörte man Gelächter.
»Macht ja nichts. Sie sind wirklich lecker.« Sie schloss die Luke, ging wieder zur Pilotentür und zog ihre ID über den Scanner des Schiffs, worauf sich die Tür öffnete. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Im hellen Licht schien sein Veilchen noch dunkler als vorhin. Er fuhr zusammen wie ein Krimineller im Kegel eines Suchscheinwerfers.
»Ich frag mich, ob du vielleicht einen Landarbeiter gebrauchen kannst«, sprudelte es so schnell aus ihm heraus, dass die Worte kaum zu verstehen waren.
Nun begriff Scarlet endlich, warum er auf sie gewartet und dann so lange herumgedruckst hatte. Sie taxierte seine breiten Schultern und kräftigen Oberarme - er war für körperliche Arbeit wie geschaffen. »Du suchst Arbeit?«
Er lächelte schelmisch und dabei sah er gefährlich aus. »Kämpfen wird zwar ordentlich bezahlt, macht sich aber nicht so gut im Lebenslauf. Ich hab mir gedacht, du könntest mich vielleicht in Naturalien bezahlen.«
Sie lachte. »Ich hab doch die Beweisstücke deines Riesenappetits weggeräumt. Da müsste ich wohl mein letztes Hemd an dich verfüttern.« Auf der Stelle wurde sie rot - vielleicht war das zu forsch gewesen. Zu ihrem Schrecken blieb sein Gesicht vollkommen unbewegt und sie beeilte sich, etwas zu sagen, bevor er reagieren konnte. »Wie heißt du eigentlich?«
Wieder dieses ungelenke Achselzucken. »Mein Kampfname ist Wolf.« »Wolf? Das hört sich ja ziemlich wild an!« Er nickte ernst. Scarlet unterdrückte ein Grinsen. »Das mit den Straßen kämpfen solltest du wirklich nicht im Lebenslauf erwähnen.«
Er kratzte sich am Ellenbogen; die merkwürdige Tätowierung konnte sie im Dunklen nur erahnen. Vielleicht hatte sie ihn mit der Bemerkung über seinen Namen in Verlegenheit gebracht.
»Mich nennen jedenfalls alle Scarlet. Ja, genau, wegen meiner Haarfarbe.« Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Wegen was für einer Haarfarbe?« Scarlett lehnte sich an die Tür. »Sehr komisch.« Einen Moment schien er sehr zufrieden mit sich und Scarlet fand diesen Fremden, diesen Außenseiter, langsam sympathisch. Den Straßenkämpfer mit der sanften Stimme.
Dann kribbelte es ihr am Hinterkopf, wie eine Warnung. Sie vergeudete ihre Zeit. Großmutter war verschwunden, allein, verängstigt oder tot in irgendeinem Graben.
Scarlet stützte sich im Türrahmen ab. »Es tut mir wirklich leid, aber wir sind gut versorgt. Ich brauche keine Landarbeiter mehr.«
Der Funke in seinen Augen erstarb und er schien sich wieder unbehaglich zu fühlen. »Ich verstehe. Vielen Dank für das Essen«, sagte er nervös. Er kickte den Stab einer erloschenen Rakete vom Bürgersteig - ein Überrest der gestrigen Friedensfeier.
»Du solltest nach Toulouse oder Paris gehen. In den Städten gibt's mehr Jobs - außerdem sind die Leute hier Fremden gegenüber misstrauisch, wie du vielleicht schon gemerkt hast.«
Er neigte den Kopf, so dass seine smaragdfarbenen Augen im Scheinwerferlicht des Schiffs noch heller leuchteten, und sah sie fast amüsiert an. »Danke für den Tipp.«
Scarlet kehrte ihm den Rücken zu und ließ sich auf den Pilotensitz sinken.
Wolf drückte sich an die Wand, als sie den Motor anließ. »Falls du es dir anders überlegst: Du findest mich nachts meistens beim verlassenen Haus der Morels. Ich bin vielleicht nicht so geschickt im Umgang mit Menschen, aber ich glaube, auf einem Bauernhof würde ich mich gut machen.« Seine Mundwinkel hoben sich kaum merklich. »Tiere mögen mich.«
»Da bin ich sicher«, sagte Scarlet und schenkte ihm ein geheucheltes, aufmunterndes Lächeln. Sie schloss die Tür, bevor sie murmelte: »Gibt es Tiere, die keine Wölfe mögen?«
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Autoren-Porträt von Marissa Meyer
Marissa Meyer liebt Fantasy, Grimms Märchen und Jane Austen. Sie hat Kreatives Schreiben mit dem Schwerpunkt Kinderliteratur studiert und arbeitete viele Jahre als Lektorin. Mit ihrem Debüt »Die Luna-Chroniken« legte sie sofort eine NYT-Bestseller-Serie vor. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Seattle. Mehr unter www.marissameyer.com.Astrid Becker studierte Amerikanistik und Komparatistik an der FU Berlin und in den USA. Nach unterschiedlichen Aufgaben in der Verlagsbranche arbeitet sie seit 1998 als Literaturübersetzerin und Freie Lektorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marissa Meyer
- Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
- 2014, 5. Aufl., 432 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Astrid Becker
- Verlag: Carlsen
- ISBN-10: 3551582874
- ISBN-13: 9783551582874
- Erscheinungsdatum: 20.01.2014
Rezension zu „Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2 “
"Erfrischend originell" Madlen Jirmann Magdeburger Volksstimme 20161123
Pressezitat
"Erfrischend originell" Madlen Jirmann Magdeburger Volksstimme 20161123
Kommentar zu "Wie Blut so rot / Luna Chroniken Bd.2"