Wir fliegen
Erzählungen
Heidi zeichnet das junge Mädchen, das sie nie gewesen ist. Vor Jahren wollte sie Künstlerin werden, in Wien studieren an der Akademie, aber die Reise ging nur bis Innsbruck. Jetzt hat sie Mann und Kind, die sie nie gewollt hat. Erst durch Carmen, die...
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Produktinformationen zu „Wir fliegen “
Klappentext zu „Wir fliegen “
Heidi zeichnet das junge Mädchen, das sie nie gewesen ist. Vor Jahren wollte sie Künstlerin werden, in Wien studieren an der Akademie, aber die Reise ging nur bis Innsbruck. Jetzt hat sie Mann und Kind, die sie nie gewollt hat. Erst durch Carmen, die hübsche Lehrtochter aus der Bäckerei, fängt sie wieder an zu träumen. - Bruno arbeitet seit dreißig gleichmäßigen Jahren als Portier in einem Hotel. Er war beim Arzt, ein schlimmes Ergebnis könnte ihn erwarten. Noch weiß er nichts endgültiges, es ist seine letzte Nacht vor dem Resultat. Aber es wird nichts sein, bestimmt nicht. Für einen Moment ist er ganz glücklich.Es sind diese Momente, in denen sich etwas verändert im Leben, in denen etwas geschieht, man merkt es kaum. Momente, die der Zeit enthoben scheinen. Eine neue Welt tut sich auf, man erkennt die Sackgasse, in die man vor langer Zeit geraten ist. Und plötzlich herrscht ein anderes Licht.
In seinen neuen, wunderbaren Geschichten zeigt sich Peter Stamm als Meister im Erzählen unerwarteter Wendepunkte, des flüchtigen Glücks, mit dem man nicht mehr gerechnet hat. Denn kann man wünschen, was man nicht einmal sich selbst gegenüber zugibt? Und widerspricht der Wunsch, auserwählt zu sein, dem Wunsch nach Liebe?
Lese-Probe zu „Wir fliegen “
Wir fliegen von Peter StammMänner und Knaben
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Die Badeanstalt unten am Fluss war geschlossen, der Eingang verriegelt. Es regnete und es war kühl. Der Bademeister war nirgends zu sehen, vielleicht war er nach Hause gegangen oder ins Dorf. Als Lukas über den Maschendrahtzaun kletterte, dachte er an den Betrunkenen, der vor ein paar Jahren nachts hier eingestiegen und ins Becken gefallen war. Man hatte ihn erst am nächsten Morgen gefunden.
Er ging zu den Umkleidekabinen, die sich in einem flachen weißgestrichenen Backsteingebäude befanden. Neben dem Eingang war ein Schild, Männer und Knaben. Licht fiel nur durch einen breiten Spalt zwischen den Mauern und dem Dach, in den Kabinen war es immer etwas schummrig und feucht, selbst bei der größten Hitze. Lukas schaute in den Schließfächern nach, ob jemand das Pfand vergessen hatte, aber er fand nichts. Nach der Hälfte der Fächer gab er die Suche auf. Er lief zum Fluss hinunter. Das Wasser war hellbraun und stand hoch. Es floss so schnell, dass seine Oberfläche sich unruhig kräuselte. Äste trieben vorüber, es sah aus, als seien sie schneller als die Strömung. Das Wehr flussabwärts musste nach dem Gewitter geöffnet worden sein, Lukas hörte das entfernte Tosen des stürzenden Wassers. Es regnete nur noch ganz leicht, schließlich hörte es auf. Er ging zurück zu den Kabinen und zog sich um.
Er dachte an die schulfreien Nachmittage, wenn es heiß war und alle in die Badeanstalt gingen. Auf der Liegewiese bildeten sich kleine und größere Gruppen. Lukas' Mitschüler spielten am Rand des Beckens, stießen oder warfen sich ins Wasser oder sprangen selbst hinein, bis der Bademeister sie ermahnte. Lukas schwamm hin und her. Er zählte die Bahnen. Nach einem Kilometer stieg er aus dem Wasser, sein Körper war kühl und er taumelte, als habe er das Gehen verlernt. Seine Freunde lagen auf der großen Wiese auf ihren bunten Badetüchern. Sie redeten über die Sommerferien und darüber, wo sie sie verbringen würden. Er legte sich neben sie ins Gras.
Wenn er mit anderen zusammen war, hatte Lukas immer das Gefühl, als schlössen sich seine Poren, er fühlte sich klein und war sich seines Körpers fast schmerzhaft bewusst. Er war eingeschlossen in diesen Körper, ein Mensch nur dann. War er allein, vergaß er sich, die einzigen Grenzen waren dann jene seiner Wahrnehmung, die nasse Wiese, über die er ging, die vorüberziehenden Wolken, der blaue Streifen am Horizont, der Waldrand am anderen Ufer des Flusses. Dann hätte Lukas irgendjemand sein können oder niemand.
Er legte sich am Rand des Schwimmbeckens auf die rauen Zementplatten. Auf dem Wasser trieben Blätter, die das Gewitter von den Bäumen geschlagen hatte, dazwischen zappelte eine Wespe. Lukas streckte die Hand aus, er wollte das Insekt retten, aber er hatte Angst, gestochen zu werden. Seine Hand verharrte über dem Tier, als wolle er es beschützen. Langsam trieb es ab und entfernte sich immer weiter vom Beckenrand.
Lukas dachte an Franziska, die mit ihm in einer Klasse war. Sie hatten denselben Heimweg und gingen zusammen bis zur Bahnschranke, wo ihre Wege sich trennten. Oft standen sie noch lange da an der Kreuzung und redeten. Franziska hatte so viel zu erzählen, sie schien nie fertig zu werden. Aber beim Klassenfest wollte sie nicht mit ihm tanzen, sie machte eine komische Bemerkung und holte sich etwas zu trinken. Mit Leo hatte sie später getanzt.
Lukas nahm drei Steine aus dem Rosenbeet, das das Schwimmbecken einfasste, wusch die lehmige Erde ab und warf einen nach dem anderen ins Wasser. Als sich die Wellen geglättet hatten, konnte er die Steine auf dem Grund liegen sehen. Er stieg ins Becken, langsam, die Kälte nahm ihm den Atem. Lange stand er auf der untersten Sprosse der Leiter, bis zum Bauch im Wasser, dann ließ er sich fallen. Sobald er sich bewegte, ließ das Gefühl der Kälte nach. Er tauchte nach den Steinen. Beim ersten Mal schaffte er nur zwei, den dritten sah er erst, als er wieder oben war. Er ließ die Steine aus der Hand gleiten. Als sie eintauchten, machte das Wasser ein kleines, schluckendes Geräusch, und sie sanken zitternd auf den Grund. Beim zweiten Versuch schaffte Lukas alle drei. Er war kein besonders guter Schwimmer, aber ein guter Taucher. Er atmete ein paar Mal tief durch, stieß sich vom Beckenrand ab und tauchte schräg nach unten. Verschwommen sah er die weißen Linien und den Boden des Bassins schnell vorüberziehen. Er schwamm jetzt dicht über dem Grund. Nach der dritten Linie spürte er ein Saugen im Hals und im Brustkorb. Er musste an die Oberfläche, er schaffte es nicht bis zur anderen Seite. Aber dann schwamm er einfach weiter, und das Saugen ließ nach. Er hatte jetzt das Gefühl, er könne ewig tauchen. Auf den letzten Metern stieß er die Luft aus, die er noch in den Lungen hatte, dann schoss sein Kopf dicht am Beckenrand aus dem Wasser. Er atmete tief ein, wendete und schwamm mit langsamen Zügen zurück. Jetzt hätte er sich gewünscht, Franziska wäre da und sähe ihn. Einmal, als sie aus dem Wasser gestiegen war, verrutschte ihr Bikinioberteil, und bevor sie es zurechtrücken konnte, sah Lukas für eine Sekunde ihre nackte kleine Brust, die dunkle, von der Kälte des Wassers steife Brustwarze.
Als er aus dem Becken kam, fror er und rannte zum Sprungturm und zurück. Die Wasseroberfläche war wieder ganz glatt. Lukas tauchte die Länge des Beckens, fünfzig Meter, und schoss am entfernten Ende mit einem Schrei aus dem Wasser. Franziska stand da und lächelte ihm zu. Sie kauerte sich nieder, streckte die Hand aus und half ihm hinaus. Er wollte sie umarmen, aber er wusste nicht wie. Sie schauten sich nur an und gingen nebeneinander zur Liegewiese. Franziska lief im Badeanzug ganz anders als sonst, selbstbewusster, ihr ganzer Körper bewegte sich, die Hüften, die Schultern, die schmalen Arme. Sie setzte sich, es sah aus, als lasse sie sich fallen. Dann saß sie da auf der Wiese, die Beine verschränkt, den Oberkörper vorgebeugt. Sie hörte nicht auf zu reden.
Lukas streunte umher, ging über die große Wiese und am Zaun entlang unter den Bäumen, wo die Erde an manchen Stellen nackt glänzte wie poliert. Es roch nach Gras und Erde und süßlich nach Blüten oder Abfällen. Die Sonne war unter den Wolken hervorgekommen und schien flach über die Wiese. An den Blättern der Bäume und im Gras glitzerten Wassertropfen, und es war plötzlich sehr hell.
Lukas ging über die Wiese, er hoffte etwas zu finden, einen Geldbeutel, eine Uhr, ein Taschenmesser, irgendetwas. Unten am Fluss legte er sich ins kurzgeschnittene Gras und schaute zu, wie das braune Wasser vorüberzog. Das Gras war nass und kalt. Alles war sehr klar und oberflächlich. Es war eine Mischung aus Glück und Unglück. Es war Glück, das sich wie Unglück anfühlte.
Franziska ging mit ihren Freundinnen in die Badeanstalt. Sie saßen im Kreis, sie hatten Süßigkeiten gekauft und redeten und lachten. Lukas konnte sich nicht vorstellen, worüber sie sprachen, er konnte sich nicht erinnern, worüber Franziska die ganze Zeit mit ihm gesprochen hatte. Irgendwann würde sie nichts mehr zu erzählen wissen. Vielleicht war das der Moment, in dem man sich küsste. Bevor man sich küsste, musste man still sein.
Lukas lag im Gras. Er legte die Hände auf die Brust und wölbte sie zu zwei flachen Hügeln. Von irgendwoher fielen ein paar Wassertropfen auf seinen Bauch. Ein leichter Wind war aufgekommen. Lukas schauerte vor Kälte.
Er stand vor den Umkleidekabinen: Frauen und Mädchen. Er ging hinein. Hier gab es mehr Einzelkabinen, dafür keinen Umkleideraum wie bei den Männern, die sich voreinander auszogen. Lukas fragte sich, ob die Frauen sich schämten, ob sie Geheimnisse hatten und welche.
Franziska kam herein, unter dem Arm eine Plastiktüte mit ihren Sachen. Sie schloss sich in einer der Kabinen ein, streifte Hose und T-Shirt ab. Bevor sie sich ganz auszog, nahm sie den Badeanzug aus der Tüte und schüttelte ihn aus und hängte ihn über den Kleiderhaken. Sie beeilte sich. Sie dachte an die anderen, die schon da waren, die in einem Kreis auf der Wiese lagen und auf sie warteten.
Lukas hatte seine Badehose ausgezogen und aufgehängt. Er klemmte sich das Glied zwischen die Beine und schaute an sich herunter, fuhr sich mit den Händen über die Hüften. Er konnte irgendjemand sein oder niemand. Er hatte ein Gefühl von Wärme, seine Haut schien zu glühen, aber im Inneren war sein Körper immer noch kalt.
Er öffnete die Tür der Kabine und fühlte sich sofort viel nackter. Als er ins Freie trat, hatte er Angst, jemand könne ihn sehen, nackt, wie er war. Er wagte nicht, weiterzugehen, blieb vor dem Eingang stehen. Die Frauen gingen an ihm vorbei, die Mädchen in leichten Sommerkleidern und junge Frauen mit Kindern und ältere Frauen. Sie verschwanden in der Umkleidekabine und kamen gleich darauf wieder heraus in bunten Badeanzügen.
Lukas lief zu den Männerkabinen. Er hatte die Kleider nicht eingeschlossen, sie lagen da auf einer der langen Holzbänke, ein kleines Häufchen. Er zog die klammen Sachen an. Dann schaute er noch einmal bei den Schließfächern nach, ob jemand das Pfand vergessen hatte, fing wieder bei den ersten Fächern an und hörte wieder nach der Hälfte auf und verließ das Gebäude.
Die Toiletten waren abgeschlossen. Lukas versuchte beide Türen zu öffnen, jene der Frauen-und jene der Männertoilette. An der Rückseite des Häuschens war eine Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Ein tiefes monotones Summen war zu hören. Lukas schaute in den dunklen Raum. Das Geräusch kam von einer großen Umwälzpumpe. Am Boden standen weiße und blaue Plastikkanister mit Chemikalien. Es roch nach Chlor.
Er betrat den Raum, in dem es viel wärmer war als draußen, und zog die Tür hinter sich zu. Eine Zeitlang stand er in der Dunkelheit. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Plötzlich hatte er Angst, der Bademeister könne zurückkommen und ihn hier erwischen.
Als er wieder über den Zaun kletterte, fiel ihm ein, dass er die Badehose in der Frauenkabine vergessen hatte. Er stellte sich vor, wie Franziska sie vom Haken nahm, mit spitzen Fingern, und sie dem Bademeister brachte, der sie in den Karton warf, in dem er die vergessenen und die verlorenen Dinge sammelte, bis sie abgeholt wurden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Die Badeanstalt unten am Fluss war geschlossen, der Eingang verriegelt. Es regnete und es war kühl. Der Bademeister war nirgends zu sehen, vielleicht war er nach Hause gegangen oder ins Dorf. Als Lukas über den Maschendrahtzaun kletterte, dachte er an den Betrunkenen, der vor ein paar Jahren nachts hier eingestiegen und ins Becken gefallen war. Man hatte ihn erst am nächsten Morgen gefunden.
Er ging zu den Umkleidekabinen, die sich in einem flachen weißgestrichenen Backsteingebäude befanden. Neben dem Eingang war ein Schild, Männer und Knaben. Licht fiel nur durch einen breiten Spalt zwischen den Mauern und dem Dach, in den Kabinen war es immer etwas schummrig und feucht, selbst bei der größten Hitze. Lukas schaute in den Schließfächern nach, ob jemand das Pfand vergessen hatte, aber er fand nichts. Nach der Hälfte der Fächer gab er die Suche auf. Er lief zum Fluss hinunter. Das Wasser war hellbraun und stand hoch. Es floss so schnell, dass seine Oberfläche sich unruhig kräuselte. Äste trieben vorüber, es sah aus, als seien sie schneller als die Strömung. Das Wehr flussabwärts musste nach dem Gewitter geöffnet worden sein, Lukas hörte das entfernte Tosen des stürzenden Wassers. Es regnete nur noch ganz leicht, schließlich hörte es auf. Er ging zurück zu den Kabinen und zog sich um.
Er dachte an die schulfreien Nachmittage, wenn es heiß war und alle in die Badeanstalt gingen. Auf der Liegewiese bildeten sich kleine und größere Gruppen. Lukas' Mitschüler spielten am Rand des Beckens, stießen oder warfen sich ins Wasser oder sprangen selbst hinein, bis der Bademeister sie ermahnte. Lukas schwamm hin und her. Er zählte die Bahnen. Nach einem Kilometer stieg er aus dem Wasser, sein Körper war kühl und er taumelte, als habe er das Gehen verlernt. Seine Freunde lagen auf der großen Wiese auf ihren bunten Badetüchern. Sie redeten über die Sommerferien und darüber, wo sie sie verbringen würden. Er legte sich neben sie ins Gras.
Wenn er mit anderen zusammen war, hatte Lukas immer das Gefühl, als schlössen sich seine Poren, er fühlte sich klein und war sich seines Körpers fast schmerzhaft bewusst. Er war eingeschlossen in diesen Körper, ein Mensch nur dann. War er allein, vergaß er sich, die einzigen Grenzen waren dann jene seiner Wahrnehmung, die nasse Wiese, über die er ging, die vorüberziehenden Wolken, der blaue Streifen am Horizont, der Waldrand am anderen Ufer des Flusses. Dann hätte Lukas irgendjemand sein können oder niemand.
Er legte sich am Rand des Schwimmbeckens auf die rauen Zementplatten. Auf dem Wasser trieben Blätter, die das Gewitter von den Bäumen geschlagen hatte, dazwischen zappelte eine Wespe. Lukas streckte die Hand aus, er wollte das Insekt retten, aber er hatte Angst, gestochen zu werden. Seine Hand verharrte über dem Tier, als wolle er es beschützen. Langsam trieb es ab und entfernte sich immer weiter vom Beckenrand.
Lukas dachte an Franziska, die mit ihm in einer Klasse war. Sie hatten denselben Heimweg und gingen zusammen bis zur Bahnschranke, wo ihre Wege sich trennten. Oft standen sie noch lange da an der Kreuzung und redeten. Franziska hatte so viel zu erzählen, sie schien nie fertig zu werden. Aber beim Klassenfest wollte sie nicht mit ihm tanzen, sie machte eine komische Bemerkung und holte sich etwas zu trinken. Mit Leo hatte sie später getanzt.
Lukas nahm drei Steine aus dem Rosenbeet, das das Schwimmbecken einfasste, wusch die lehmige Erde ab und warf einen nach dem anderen ins Wasser. Als sich die Wellen geglättet hatten, konnte er die Steine auf dem Grund liegen sehen. Er stieg ins Becken, langsam, die Kälte nahm ihm den Atem. Lange stand er auf der untersten Sprosse der Leiter, bis zum Bauch im Wasser, dann ließ er sich fallen. Sobald er sich bewegte, ließ das Gefühl der Kälte nach. Er tauchte nach den Steinen. Beim ersten Mal schaffte er nur zwei, den dritten sah er erst, als er wieder oben war. Er ließ die Steine aus der Hand gleiten. Als sie eintauchten, machte das Wasser ein kleines, schluckendes Geräusch, und sie sanken zitternd auf den Grund. Beim zweiten Versuch schaffte Lukas alle drei. Er war kein besonders guter Schwimmer, aber ein guter Taucher. Er atmete ein paar Mal tief durch, stieß sich vom Beckenrand ab und tauchte schräg nach unten. Verschwommen sah er die weißen Linien und den Boden des Bassins schnell vorüberziehen. Er schwamm jetzt dicht über dem Grund. Nach der dritten Linie spürte er ein Saugen im Hals und im Brustkorb. Er musste an die Oberfläche, er schaffte es nicht bis zur anderen Seite. Aber dann schwamm er einfach weiter, und das Saugen ließ nach. Er hatte jetzt das Gefühl, er könne ewig tauchen. Auf den letzten Metern stieß er die Luft aus, die er noch in den Lungen hatte, dann schoss sein Kopf dicht am Beckenrand aus dem Wasser. Er atmete tief ein, wendete und schwamm mit langsamen Zügen zurück. Jetzt hätte er sich gewünscht, Franziska wäre da und sähe ihn. Einmal, als sie aus dem Wasser gestiegen war, verrutschte ihr Bikinioberteil, und bevor sie es zurechtrücken konnte, sah Lukas für eine Sekunde ihre nackte kleine Brust, die dunkle, von der Kälte des Wassers steife Brustwarze.
Als er aus dem Becken kam, fror er und rannte zum Sprungturm und zurück. Die Wasseroberfläche war wieder ganz glatt. Lukas tauchte die Länge des Beckens, fünfzig Meter, und schoss am entfernten Ende mit einem Schrei aus dem Wasser. Franziska stand da und lächelte ihm zu. Sie kauerte sich nieder, streckte die Hand aus und half ihm hinaus. Er wollte sie umarmen, aber er wusste nicht wie. Sie schauten sich nur an und gingen nebeneinander zur Liegewiese. Franziska lief im Badeanzug ganz anders als sonst, selbstbewusster, ihr ganzer Körper bewegte sich, die Hüften, die Schultern, die schmalen Arme. Sie setzte sich, es sah aus, als lasse sie sich fallen. Dann saß sie da auf der Wiese, die Beine verschränkt, den Oberkörper vorgebeugt. Sie hörte nicht auf zu reden.
Lukas streunte umher, ging über die große Wiese und am Zaun entlang unter den Bäumen, wo die Erde an manchen Stellen nackt glänzte wie poliert. Es roch nach Gras und Erde und süßlich nach Blüten oder Abfällen. Die Sonne war unter den Wolken hervorgekommen und schien flach über die Wiese. An den Blättern der Bäume und im Gras glitzerten Wassertropfen, und es war plötzlich sehr hell.
Lukas ging über die Wiese, er hoffte etwas zu finden, einen Geldbeutel, eine Uhr, ein Taschenmesser, irgendetwas. Unten am Fluss legte er sich ins kurzgeschnittene Gras und schaute zu, wie das braune Wasser vorüberzog. Das Gras war nass und kalt. Alles war sehr klar und oberflächlich. Es war eine Mischung aus Glück und Unglück. Es war Glück, das sich wie Unglück anfühlte.
Franziska ging mit ihren Freundinnen in die Badeanstalt. Sie saßen im Kreis, sie hatten Süßigkeiten gekauft und redeten und lachten. Lukas konnte sich nicht vorstellen, worüber sie sprachen, er konnte sich nicht erinnern, worüber Franziska die ganze Zeit mit ihm gesprochen hatte. Irgendwann würde sie nichts mehr zu erzählen wissen. Vielleicht war das der Moment, in dem man sich küsste. Bevor man sich küsste, musste man still sein.
Lukas lag im Gras. Er legte die Hände auf die Brust und wölbte sie zu zwei flachen Hügeln. Von irgendwoher fielen ein paar Wassertropfen auf seinen Bauch. Ein leichter Wind war aufgekommen. Lukas schauerte vor Kälte.
Er stand vor den Umkleidekabinen: Frauen und Mädchen. Er ging hinein. Hier gab es mehr Einzelkabinen, dafür keinen Umkleideraum wie bei den Männern, die sich voreinander auszogen. Lukas fragte sich, ob die Frauen sich schämten, ob sie Geheimnisse hatten und welche.
Franziska kam herein, unter dem Arm eine Plastiktüte mit ihren Sachen. Sie schloss sich in einer der Kabinen ein, streifte Hose und T-Shirt ab. Bevor sie sich ganz auszog, nahm sie den Badeanzug aus der Tüte und schüttelte ihn aus und hängte ihn über den Kleiderhaken. Sie beeilte sich. Sie dachte an die anderen, die schon da waren, die in einem Kreis auf der Wiese lagen und auf sie warteten.
Lukas hatte seine Badehose ausgezogen und aufgehängt. Er klemmte sich das Glied zwischen die Beine und schaute an sich herunter, fuhr sich mit den Händen über die Hüften. Er konnte irgendjemand sein oder niemand. Er hatte ein Gefühl von Wärme, seine Haut schien zu glühen, aber im Inneren war sein Körper immer noch kalt.
Er öffnete die Tür der Kabine und fühlte sich sofort viel nackter. Als er ins Freie trat, hatte er Angst, jemand könne ihn sehen, nackt, wie er war. Er wagte nicht, weiterzugehen, blieb vor dem Eingang stehen. Die Frauen gingen an ihm vorbei, die Mädchen in leichten Sommerkleidern und junge Frauen mit Kindern und ältere Frauen. Sie verschwanden in der Umkleidekabine und kamen gleich darauf wieder heraus in bunten Badeanzügen.
Lukas lief zu den Männerkabinen. Er hatte die Kleider nicht eingeschlossen, sie lagen da auf einer der langen Holzbänke, ein kleines Häufchen. Er zog die klammen Sachen an. Dann schaute er noch einmal bei den Schließfächern nach, ob jemand das Pfand vergessen hatte, fing wieder bei den ersten Fächern an und hörte wieder nach der Hälfte auf und verließ das Gebäude.
Die Toiletten waren abgeschlossen. Lukas versuchte beide Türen zu öffnen, jene der Frauen-und jene der Männertoilette. An der Rückseite des Häuschens war eine Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Ein tiefes monotones Summen war zu hören. Lukas schaute in den dunklen Raum. Das Geräusch kam von einer großen Umwälzpumpe. Am Boden standen weiße und blaue Plastikkanister mit Chemikalien. Es roch nach Chlor.
Er betrat den Raum, in dem es viel wärmer war als draußen, und zog die Tür hinter sich zu. Eine Zeitlang stand er in der Dunkelheit. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Plötzlich hatte er Angst, der Bademeister könne zurückkommen und ihn hier erwischen.
Als er wieder über den Zaun kletterte, fiel ihm ein, dass er die Badehose in der Frauenkabine vergessen hatte. Er stellte sich vor, wie Franziska sie vom Haken nahm, mit spitzen Fingern, und sie dem Bademeister brachte, der sie in den Karton warf, in dem er die vergessenen und die verlorenen Dinge sammelte, bis sie abgeholt wurden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
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Autoren-Porträt von Peter Stamm
Stamm, PeterPeter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« und »Das Archiv der Gefühle« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Stamm
- 2009, 3. Aufl., 176 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596178037
- ISBN-13: 9783596178032
Rezension zu „Wir fliegen “
"Man sollte ihn lesen. Noch heute." (Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung)"Auffällig gut gelingen ihm die kurzen Formen, einfühlsame Beschreibungen innerer Zustände, überschaubare, emotional angespannte Konstellationen." (Helmut Böttinger, Süddeutsche Zeitung)
Kommentar zu "Wir fliegen"
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