Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1
Thriller. Originalausgabe
Seit Jahren der erste Mordfall für Hauptkommissar Claudius Zorn und seinen kauzigen Assistenten Schröder: Eine Frau wurde zu Tode gequält, ihr Mörder hatte ihr aber offenbar zuvor Schmerzmittel verabreicht. Kurz darauf ein zweiter...
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Produktinformationen zu „Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1 “
Seit Jahren der erste Mordfall für Hauptkommissar Claudius Zorn und seinen kauzigen Assistenten Schröder: Eine Frau wurde zu Tode gequält, ihr Mörder hatte ihr aber offenbar zuvor Schmerzmittel verabreicht. Kurz darauf ein zweiter Mord.
Knallhart wie ein Thriller, kurzweilig wie ein brillanter "Tatort"!
Klappentext zu „Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1 “
»Es dauerte drei Stunden, bis sie den Verstand verlor, und weitere zwei, bis sie endlich sterben durfte.«Hauptkommissar Claudius Zorn und sein Kollege, der dicke Schröder, haben seit Jahren in keinem Mordfall mehr ermittelt. Aber nun überstürzen sich die Ereignisse: zwei Morde in kürzester Zeit - blutig, brutal, unerklärlich. Warum gibt ein Killer seinem Opfer Schmerzmittel, bevor er es quält? Zorn ist ratlos, Schröder schon mitten drin in den Ermittlungen. Und der Mörder hat noch nicht genug ...
Der erste Fall für Zorn und Schröder
»Claudius Zorn und sein Kompagnon haben das Zeug dazu, Kultstatus zu erreichen.« krimi-couch.de
»Dieses Gespann hat Potenzial, oh ja.« Nordkurier
»Das Duo Zorn-Schröder hat das Zeug zu weiteren Folgen. Und bestimmt werden die beiden Ermittler irgendwann auch im Fernsehen auf Mörderjagd gehen.« hr4
Lese-Probe zu „Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1 “
Zorn - Tod und Regen von Stephan LudwigEins
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»Glauben Sie mir«, sagte der Mann und betrachtete nachdenklich das Messer, »je schneller wir das alles hinter uns bringen, umso besser für uns beide.«
Langsam kämpfte sie sich durch den Nebel, und jetzt, da sie zu sich kam, versuchte sie zuerst, die Augen zu öffnen. Was ihr mit einiger Mühe gelang.
Er saß ihr gegenüber, zwischen ihnen ein schmieriger Holztisch, eingetrocknete Weinflecken, sein Gesicht höchstens einen halben Meter von ihrem entfernt. Ein feuchter, grob verputzter Raum. Fensterlos. Kahl, wie eine Gefängniszelle. Sie roch sein Aftershave. Und etwas anderes, Metallisches.
»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass Sie früher wieder bei Bewusstsein sind.« Das klang fast vorwurfsvoll. Er lehnte sich ein wenig zurück, der Stuhl antwortete mit einem leisen Ächzen. »Schließlich habe ich Sie bereits vor knapp drei Stunden niedergeschlagen.«
Sie hörte deutlich, was er sagte. Was genau er allerdings damit meinte, verstand sie nicht. Das Denken fiel ihr schwer, es war wie am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelt und man für ein paar Sekunden glaubt, bereits seit Ewigkeiten wach zu liegen, und noch keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie hatte das Gefühl, zwischen Traum und Wirklichkeit zu treiben, knapp unter der Oberfläche eines lauwarmen, übelriechenden Sees, der sich irgendwo zwischen den Dimensionen befinden musste.
Ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern an einen Stuhl gebunden, dessen Lehne ungewöhnlich hoch zu sein schien. Um Hals und Stirn hatte er ihr dünne Lederriemen geschnallt, die an den Querstreben hinter ihr befestigt waren.
Vorsichtig versuchte sie, den Kopf zu bewegen.
Nichts.
Etwas musste er ihr in den Mund gestopft haben. Keuchend rang sie nach Atem, wartete auf die Panik, stattdessen spürte sie eine seltsame Euphorie. Wie damals, als sie ihren ersten (und einzigen) Joint geraucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Dreißig Jahre?
»Wenn Sie sich übergeben, ersticken Sie. Hören Sie mich? Ich kann den Knebel nicht lösen. Und die Fesseln auch nicht.«
Er sprach leise, als würden sie an einem warmen Frühlingsabend in einem Straßencafé sitzen. Gleich kommt der Kellner, dachte sie, nein, es ist ein französisches Restaurant, verbesserte sie sich, wie heißen da die Kellner? Garçon? Ja, und er empfiehlt uns Eistörtchen zum Nachtisch. Nein, nicht Eistörtchen, was essen Franzosen zum Nachtisch? Himmelherrgott, warum war ich noch nie in Frankreich?
Wieder dieses seltsame Hochgefühl.
Was hast du mir gegeben? Und was willst du von einer fünfzigjährigen, übergewichtigen Deutschlehrerin, die seit dreizehn Jahren und vier Monaten keinen Mann hatte? Was?
Es war absolut still im Raum, abgesehen von ihrem angestrengten Atmen. Zwischen ihren Schläfen dröhnte ein hektisches Pochen, sie hatte Durst und spürte, wie etwas Klebriges, Feuchtes an ihren Beinen hinunterlief.
»Sie wissen natürlich nicht, warum Sie hier sind. Aber Sie können mir eines glauben«, er legte die Fingerspitzen aneinander, »das alles hier ist kein Zufall. Kein Zufall.«
Er hat ein bisschen was von diesem amerikanischen Schauspieler, dachte sie. Der, der wahrscheinlich als Rentner noch aussehen wird wie ein Teenager. Sie kam nicht auf den Namen, doch irgendwie musste sie sich erinnern, wie er hieß, es gab im Moment nichts Wichtigeres. Sie kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und wunderte sich selbst über ihre Erleichterung, als es ihr endlich einfiel: Johnny Depp. Nein, dachte sie dann, nicht Johnny Depp, was für ein Schwachsinn. Seine Augen sind ganz anders und haben nicht dieses tiefe Kastanienbraun, das ich so mag. Und er scheint größer zu sein, und irgendwie unbeholfener.
Aber die Ausstrahlung ist ähnlich. Dieses Traurige, Schwermütige.
Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf, ich bin von einem melancholischen Psychopathen entführt worden. Das Kichern ging in ein würgendes Husten über, die Luft wurde knapp, gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen, wurden zu einem flammenden, kreischenden Rot, sie zerrte an ihren Fesseln, die sich immer fester in ihr Fleisch gruben. So ist es also, wenn man sich totlacht, dachte sie und spürte erleichtert, wie sie langsam wieder wegtauchte.
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der flachen Seite des Messers leicht, fast spielerisch auf den rechten Unterarm.
»Atmen Sie durch die Nase. Und bleiben Sie ruhig.«
Schnaufend holte sie Luft.
»Besser?«
Ich fühle mich, als hätte ich einen feuchten Hamster verschluckt, bin am Ersticken, habe Durst und keine Ahnung, wer du bist, aber ansonsten geht's mir gut, danke der Nachfrage, du ... sie suchte nach dem geeigneten Schimpfwort, doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein, was passend erschien. Sie hatte Bukowski gelesen, Henry Miller kannte sie, gezwungenermaßen, auch, schließlich war das Unterrichtsstoff, doch am liebsten waren ihr die Klassiker. Einfache, klare Stoffe, ohne irgendeine Ferkelei, die den Kindern vermitteln, was wichtig ist. Hemingway zum Beispiel mochte sie, der war zwar einfach, bäuerlich, aber niemals vulgär. Das war etwas, was sie schon immer abgestoßen hatte, doch jetzt, unfähig zu sprechen, geschweige denn, sich zu bewegen, verspürte sie den unbändigen Drang, sich zu wehren. Und sei es nur in Gedanken.
Was sagte man in solchen Fällen? Arschloch? Wichser?
Sie spürte wieder, wie etwas Warmes an ihren Beinen hinunterfloss. Oh Gott, ich habe mich bepinkelt. Kann es noch schlimmer werden, du mieses, melancholisches Stück Scheiße?
Das waren für ihre Verhältnisse verbale Fäkalien der untersten Schublade, doch es half. Noch immer war da keine Angst, sondern eher etwas wie...
... Wut?
Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass er sie töten würde. Dann bring es einfach hinter dich, dachte sie. Du kannst es nicht wissen, aber ich habe längst mit dem Leben abgeschlossen. Wer weiß - vielleicht tust du mir ja einen Gefallen?
»Sie sollten wissen, dass ich nicht krank bin.« Das schien ihm wichtig zu sein, er hatte sich vorgebeugt und sah sie ernst an. »Ich bin nicht krank, also nicht verrückt - jedenfalls nicht verrückter als jeder andere. Ich bin als Kind nicht missbraucht worden, und ... und ich hatte auch niemals Spaß daran, irgendwelche Tiere zu quälen. Ich meine, ich habe meiner Katze nicht den Schwanz angezündet oder den Hund meiner Nachbarn vergiftet.«
Du musst mich vor dem Supermarkt erwischt haben, fiel ihr plötzlich ein. Ich wollte Dünger kaufen, für die Blumen und...
»Sie und ich, wir beide sind jetzt hier. Und Sie müssen wissen, dass Sie in meinen Augen überhaupt keine Schuld tragen an dieser Situation, Sie können wirklich nichts dafür ... «, er zögerte und schien nach der geeigneten Formulierung zu suchen, blickte zur rissigen Wand, als würde dort im nächsten Moment das richtige Wort erscheinen.
... Basilikum?
»... für Ihren schmerzvollen vorzeitigen Tod.«
Schmerz?, dachte sie. Wieso spüre ich dann nichts?
»Ich denke, das sollten Sie wissen.«
Genau, Basilikum, überlegte sie, ich wollte Salat machen und dann zeitig ins Bett gehen. Die Augenlider wurden ihr schwer, und wieder spürte sie, wie sie langsam wegdriftete. Bilder schossen durch ihren Kopf, Dinge, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
Sie schreckte hoch, als er krachend den Stuhl nach hinten schob, aufstand und in die Hände klatschte wie jemand, der nun endlich, wohl oder übel, zur Sache kommen muss. »Ich merke schon«, sagte er und lächelte ein wenig, »ich rede zu viel, Sie sind müde.«
Er hat schöne Zähne, dachte sie verwirrt.
»Sie sind nicht der erste Mensch, den ich töte, und so, wie es momentan aussieht«, mit einem Ruck löste er die Fesseln an ihrem Kopf, die mit einem leisen Klatschen zu Boden fielen, »werden Sie auch nicht der letzte sein.«
Er stand nun direkt vor ihr, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte leise, ganz leise: »Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Jetzt registrierte sie, dass er Gummistiefel trug, die fest mit einer olivgrünen, wasserdichten Anglerhose verschweißt waren. Das, mein Lieber, wollte sie sagen, sieht reichlich albern aus, doch das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein ebenso albernes, gurgelndes Schnaufen.
Als sie endlich nach unten blickte, wurden ihre Sinne klar, und sie verstand. Es war, als hätte sie einen Eimer Wasser ins Gesicht bekommen, urplötzlich war sie hellwach, ein ätzendes, schwefliges Licht ging an, und obwohl sie sich wehrte, wurde das Bild scharf, grobkörnig, und sie wusste jetzt, warum es so nach Eisen roch, sah, dass das, was da an ihren Beinen herunterlief, etwas anderes war, etwas, das, wie man so schön sagte, dicker war als Wasser und dicker als Urin.
Sie schluchzte leise, als sie die immer größer werdende Pfütze bemerkte, die sich zwischen ihren Beinen gebildet hatte, und nun leuchtete ihr ein, warum er die Stiefel trug. Obwohl er jetzt zwei Meter von ihr entfernt war, stand er mitten in dieser dunkelroten, öligen Lache, in der sich das trübe Deckenlicht spiegelte.
Dann war er bei ihr, sie hörte das schmatzende Geräusch seiner Schritte, und als er ihr sagte, dass er nicht mehr warten könne, lächelte er verlegen.
Kurz darauf barsten die Wände, der Wahnsinn stand brüllend im Raum, öffnete dem Horror die Tür, und es war nicht Johnny Depp, sondern Edward mit den Scherenhänden, der über sie kam. Und er hatte nicht nur das Messer, sondern andere, ebenso spitze, chromglänzende Werkzeuge.
Und er benutzte sie alle.
Es dauerte drei Stunden, bis sie den Verstand verlor, und weitere zwei, bis sie endlich sterben durfte.
*
Dann stand er vor ihr, legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete das, was von ihr übrig war. Alles war so, wie es sein sollte.
Er musste noch die Musik anstellen. Doch vorher gab es noch etwas anderes zu tun, etwas wirklich Unangenehmes.
Zwei
Claudius Zorn war seit einundzwanzig Jahren Polizist. Er hatte so ziemlich jeden einzelnen dieser über siebentausendsechshundert Tage gehasst, und wenn er daran dachte, dass fast noch neuntausend jener trostlosen, immer wiederkehrenden Abläufe vor ihm lagen, wurde er je nach Wetterlage wütend, traurig oder mürrisch. Er blickte auf, sah, dass der Regen noch immer in schmutzigen Schlieren vor dem Fenster hing, und entschied sich für Letzteres.
Er war jetzt zweiundvierzig, also noch längst kein alter, frustrierter Mann. Er war einfach nur gelangweilt. Und er war sich bewusst, dass diese Langeweile über kurz oder lang in Verbitterung umschlagen würde, wenn er nichts unternahm. Aber was?, überlegte er und beobachtete, wie sich auf dem Fensterbrett seines Büros eine Regenlache bildete. Ich könnte aufstehen und das Fenster schließen, dachte er, das wär immerhin ein Anfang. Eigentlich hätte es gereicht, wenn er sich über den Tisch gebeugt hätte, das Fenster war schließlich nur einen guten Meter entfernt, doch nach kurzem Überlegen sank er resigniert zurück und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die siebente für heute. Und es war noch nicht mal elf.
Als Kind hatte er Schwimmer werden wollen, seine Mutter aber hatte gemeint, er sei ein musischer Mensch und solle gefälligst Flötist werden. Beides - Schwimmen und Flöten - hatte er schnell gelernt (obwohl er klassische Musik hasste und schnell herausfand, dass er Chlorwasser ebenfalls nicht leiden konnte). Immerhin hatte das Schwimmen zur Folge, dass er auch jetzt noch gut in Form war - jedenfalls auf den ersten Blick, die fünfzig Meter kraulte er immer noch in gut fünfunddreißig Sekunden, jeder weitere Meter in vollem Tempo hätte aufgrund seines Zigarettenkonsums allerdings den sicheren Ertrinkungstod bedeutet.
Das Leben, dachte Claudius Zorn und beobachtete gelangweilt die immer größer werdende Wasserpfütze auf seinem Fensterbrett, ist eine willkürliche Aneinanderreihung von Zufällen. Wie sonst ließ es sich erklären, dass ausgerechnet er bei der Polizei gelandet war?
Vielleicht hatte er gehofft, er würde ein berühmter Kriminalist werden, als er sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschied, aber genauso gut hatte es eine Zeit gegeben, in der er Kampfschwimmer, Hirnchirurg oder vielleicht Finanzberater hätte werden können. Und in letzter Zeit fragte er sich immer häufiger, ob ein Job als Flötist (Onkologe? Pizzabote?) nicht erfüllender wäre als das, was er tatsächlich tat.
Ich bin ein mittlerer Beamter und bearbeite mittelmäßige Fälle in einer mitteldeutschen Großstadt, dachte er und sah aus dem Fenster. In der Ferne ragten die riesigen Abraumhalden des Mansfelder Landes in den Himmel, und die graue, verdreckte Stadt zu seinen Füßen wurde durch den Regen nicht eben einladender.
Den letzten Mordfall hatte er vor mittlerweile drei Jahren bearbeitet. Ein sturzbetrunkener Rentner hatte seine Frau nach über vierzig Ehejahren vom Balkon einer Sozialwohnung in der Neustadt gestoßen, mit der Begründung, sie sei ihm »auf die Nerven gegangen«. Die Verteidigung hatte pflichtschuldigst auf »Totschlag im Affekt« plädiert, doch nachdem bekannt wurde, dass Auslöser des Streits ein paar verlegte Herrensocken gewesen waren, machte man kurzen Prozess und brachte den Rentner für die nächsten zwölf Jahre und somit - das hoffte Zorn jedenfalls - den Rest seines Lebens hinter Gitter.
Ansonsten bestand sein Alltag aus stupidem Papiergeraschel, Bleistiftgekritzel und ab und an einem vorlauten »Pling« - dann nämlich, wenn er eine dienstliche Mail erhielt, die einzig und allein den Zweck hatte, weiteres Papiergeraschel zu erzeugen.
Spätestens in zehn Jahren, überlegte er und bedachte den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch mit einem scheelen Seitenblick, werde ich mich ebenfalls in Papier verwandelt haben und beende mein irdisches Dasein als ein vergilbter Haufen Krümel. Und irgendwann, Monate später, kommt jemand in mein Büro und ich werde durch den Luftzug einfach aus dem Fenster geweht.
Da Claudius Zorn ein kluger Mensch war, wurde er noch mürrischer, denn wie allen klugen Menschen war ihm bewusst, wenn er Blödsinn dachte, und als bröselnder Papierfetzen aus dem Fenster geweht zu werden war nun wirklich das Absurdeste, was er sich im Moment vorstellen konnte. Mit Ausnahme der nächsten Dienstberatung, überlegte er weiter, griff sich wahllos ein Gesprächsprotokoll, unterschrieb, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, und als er dann gelangweilt zur nächsten Akte griff, hörte er Schritte, die sich hastig seinem Büro näherten.
O Herr, dachte Zorn, lass diesen Kelch - und vor allem diesen Menschen, egal wer es ist - an mir vorübergehen.
Der liebe Gott allerdings scherte sich wenig um die Gebete eines überzeugten Atheisten, und so öffnete sich die Tür und Zorn erblickte den biblischen Kelch in Gestalt des dicken Schröder, der verschwitzt und gutgelaunt - für Zorns Begriffe eindeutig zu gutgelaunt - ins Büro stürmte. Der unvermeidliche Luftzug wehte zwar nicht Zorn aus dem Fenster, dafür allerdings einen Notizzettel von seinem Schreibtisch. Während Zorn sich zurücklehnte und beobachtete, wie das Schriftstück langsam zu Boden segelte, stand Schröder schwer atmend in der Tür.
»Hallo Chef!«, keuchte Schröder und wedelte den Zigarettenrauch beiseite, »wir haben -«
»Was haben wir?«
»Wir haben -«
»Moment!«, unterbrach Zorn und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das am Boden liegende Papier. Aus jahrelanger Erfahrung wusste Schröder, was von ihm erwartet wurde, bückte sich dienstbeflissen und meinte: »Ja ja, von der Wiege bis zur Bahre ...« Sag es nicht, dachte Zorn.
»... Formulare, Formulare!« Schröder strahlte und legte den Zettel zurück in die Ablage.
Es gab Momente, in denen Claudius Zorn diesen gutmütigen, übergewichtigen Beamten ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hätte. Auf der anderen Seite mochte er den ständig schwitzenden Schröder sehr, denn hinter seiner trotteligen Fassade verbarg sich ein intelligenter, warmherziger Mensch, der zudem über ein unglaubliches Gedächtnis verfügte. Hatte Schröder einmal eine Akte gelesen, kannte er sämtliche Fakten auswendig, was sich in vielen Fällen als unschätzbar erwiesen hatte.
Schröder war Zorn absolut ergeben. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer, man nannte ihn bei seinem Spitznamen. Zorn kannte ihn seit zehn Jahren, und vom ersten Augenblick war er für ihn der dicke Schröder.
Weil er dick war. Und weil er Schröder hieß. Und weil Zorn sich den Vornamen aus der Personalakte gar nicht erst gemerkt hatte.
Wie immer trug Schröder eine ausgebeulte Cordhose, ein verblichenes, kariertes Hemd bedeckte den stattlichen Bauch. Um seine Glatze zu kaschieren, hatte er die spärlichen, rötlichen Haare über dem linken Ohr bis auf zwanzig Zentimeter wachsen lassen und von dort ausgehend quer über den Kopf gekämmt, weswegen er Zorn immer an ein frisch gebügeltes Frettchen erinnerte.
»Also. Was haben wir?«, wiederholte Zorn und versuchte, gleichzeitig desinteressiert und überlegen zu klingen.
»Wir haben«, Schröder reckte sich zu voller Größe, die ungefähr bei 1,65 lag, »einen ...«
»Ja?«
»Wir haben einen Fall!«
»Einen was?«
»Einen Fall!«
Klasse, dachte Zorn. Wir haben einen Fall.
»Einen mutmaßlichen Mordfall«, ergänzte Schröder stolz.
»Ach«, murmelte Zorn und tat, als würde er seine Akten sortieren.
*
Zorn wusste nicht recht, wie er sich fühlen sollte. Er war unterwegs zu Philipp Sauer, dem zuständigen Staatsanwalt, Schröder im Schlepptau, der wie immer einen halben Meter hinter ihm her-hechelte. Ein Mordfall konnte zwar so etwas wie Abwechslung bringen, klar war allerdings auch, dass Arbeit vor ihm lag. Unangenehme Arbeit, und als er das dachte, wurde Zorn wieder bewusst, dass er nicht nur ein gelangweilter, sondern ein äußerst fauler Mensch war.
Zorns Büro lag am Ende eines langen, düsteren Flures, der zum verglasten Neubau führte, einem unsagbar hässlichen Betonding mit braunen, verspiegelten Scheiben, das in den siebziger Jahren von einem offensichtlich durchgeknallten Architekten im rechten Winkel an das alte Polizeigebäude regelrecht angepappt worden war. In der oberen Etage waren die Büros der Staatsanwaltschaft, und dort musste er hin.
Er hatte die Akte überflogen, viel wusste er bisher nicht: Am Montag, dem 16. April (also gestern), war mit einem anonymen Anruf eine Lärmbelästigung in der Kantstraße angezeigt worden. (Wieso eigentlich anonym?, dachte Zorn, haben die Leute jetzt schon Angst, wenn sie mit der Polizei telefonieren?) Ein Streifenwagen wurde geschickt, und tatsächlich dröhnte aus einem unbewohnten Haus laute Musik. Die Beamten folgten dem Lärm zu einem Keller, der auf den ersten Blick komplett leer zu sein schien - bis auf einen tragbaren CD-Player, der auf volle Lautstärke gestellt war und laut Bericht »eine klassische Musik« spielte.
Dann hatten die Kollegen die ungewöhnlich große, anscheinend frische Blutlache bemerkt und die Spurensicherung gerufen. Das Labor fand schnell heraus, dass es sich um menschliches Blut handelte, das zudem von einer einzigen Person stammte, und aus der Menge geschlossen, dass hier jemand regelrecht ausgeblutet sein musste.
*
Sie hatten das Foyer des neuen Verwaltungstraktes erreicht, eine große, über drei Etagen reichende Halle, von der die Flure zu den einzelnen Dezernaten abgingen. Zorn wandte sich nach links, folgte einem weiteren Gang, an dessen rechter Seite die berüchtigten Großraumbüros des Inneren Dienstes lagen. Bei dem Gedanken, hier arbeiten zu müssen, ständig von anderen Menschen umgeben zu sein, schauderte ihm. Unwillkürlich beschleunigte er den Schritt.
»Keine Leiche?«, fragte er über die Schulter, betrat den Fahrstuhl und drückte, ohne auf Schröder zu warten, den Knopf für die oberste Etage. Schröder zwängte sich im letzten Moment hinein.
»Nichts, Chef.«
Zorn schwieg. Leise surrend fuhr der Fahrstuhl nach oben, und da Schröder die Stille in dem engen Raum zunehmend unangenehm wurde, meinte er nach kurzem Überlegen: »Keine Spur. Nix.«
Zorn schwieg noch immer.
»Niente!«, sagte Schröder. Ab und zu verspürte er das unerklärliche Bedürfnis, mit seinen Fremdsprachenkenntnissen zu protzen, und fügte deshalb hinzu: »Nothing, Chef!«
Zorn hob die Augenbraue.
»Nada!«, ergänzte Schröder.
»Pling!«, erwiderte der Fahrstuhl.
»Nitschewo!«, sagte Schröder.
Die Türen öffneten sich.
»Ein einfaches Nein hätte genügt«, brummte Zorn und wappnete sich innerlich gegen seinen ersten Gegner.
*
Staatsanwalt Sauer war ein kompromissloser Mensch, der sich einen Dreck um andere scherte. Somit verfügte er über die besten Voraussetzungen, schnell und zügig Karriere zu machen.
Sie saßen jetzt seit zehn Minuten im Vorzimmer, und es war klar, dass noch weitere fünf vergehen würden. Der Staatsanwalt ließ seine Untergebenen aus Prinzip eine Viertelstunde warten - mindestens.
»Er müsste jeden Moment hier sein«, flötete die brünette Sekretärin routiniert, ohne von ihrer Tastatur aufzusehen, auf der sie mit atemberaubender Geschwindigkeit herumhämmerte. »Kaffee oder Espresso?«
»Ja, ich hätte gern -«
»Nein danke, wir brauchen nichts«, unterbrach Zorn den dicken Schröder.
»Pff!«, machte Schröder beleidigt.
Zorn vertrieb sich die Zeit, indem er abwechselnd den beeindruckenden Ausschnitt der Sekretärin und ein an der Wand hängendes, riesiges Organigramm der örtlichen Polizei musterte. Sein Platz in der Hierarchie war ziemlich weit unten, während Sauer, das wusste Zorn, irgendwann ganz oben stehen würde. Eine Position, die ihn ebenso wenig reizte wie Sauers Dienstwagen, das riesige Büro oder die Sekretärin - abgesehen von deren Dekolleté, wie Zorn sich widerstrebend eingestehen musste.
Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass ihn die Brünette verstohlen musterte. Er sah sie an, sie lächelte kurz und wandte sich dann verlegen ihrem Computer zu, um ihn nun mit verdoppelter Geschwindigkeit zu bearbeiten.
Die Tür wurde aufgerissen, der Staatsanwalt erschien, wie immer sorgfältig frisiert, und als er Zorn auf die Schulter klopfte, blitzten die Zähne ein wenig zu weiß aus dem etwas zu tief gebräunten Gesicht.
Frisch gestriegelt, geschniegelt und gebügelt, dachte Zorn und war sicher, dass die dünne Edelstahlbrille, die Sauer trug, den einzigen Zweck hatte, Kompetenz und Integrität zu vermitteln. Sauer achtete stets darauf, sein perfektes Erscheinungsbild durch scheinbar ungewollte Nebensächlichkeiten zu brechen: beispielsweise eine etwas zu lockere Krawatte, einen Dreitagebart oder einen geöffneten Hemdknopf. Heute trug er Turnschuhe zum Brioni-Anzug. Ein seriöser und gleichzeitig unkonventioneller, lässiger Siegertyp.
Ich könnte kotzen, dachte Zorn und lächelte höflich.
Er selbst achtete wenig auf seine Kleidung, meist griff er sich einfach das, was zuoberst im Schrank lag. Claudius Zorn war fast nur in Jeans und T-Shirt anzutreffen. Auch seine Haare hingen ihm für einen Beamten viel zu tief in die Stirn, was allerdings daran lag, dass er eine herzliche Abneigung gegen Friseure hegte. Diese Nachlässigkeit bedeutete jedoch nicht, dass er uneitel war, im Gegenteil: Jede Bemerkung in Bezug auf sein jugendliches Aussehen wurde genau registriert, auch wenn er so tat, als sei es ihm egal. Einen Anzug allerdings hätte Zorn ums Verrecken nicht angezogen. Dabei war es nicht so, dass er Anzüge hasste. Er verabscheute eher die, die sie trugen. Jedenfalls die meisten.
»Gut, dass du da bist, Claudius«, meinte Staatsanwalt Sauer und gab ihm einen weiteren, väterlichen Klaps auf die Schulter. Absurd, dachte Zorn und machte einen unauffälligen Ausfallschritt nach links, er ist mindestens zwei Jahre jünger als ich.
Sauer bedachte ihn mit einem Blick, der verschwörerisch und gleichzeitig jovial wirken sollte. Wir beide, du und ich, sollte das heißen, sind die einzig fähigen Leute im Raum, und tatsächlich fügte der Staatsanwalt mit einem Blick auf seine Sekretärin hinzu: »Ich bin hier nur von Idioten umgeben.«
»Kaffee oder Espresso?«, zwitscherte sie.
»Grünen Tee!«, befahl Sauer. »Und in den nächsten zehn Minuten keine Anrufe!«
Mein lieber Staatsanwalt, du siehst zu viele amerikanische Fernsehserien, dachte Zorn, gab Schröder ein Zeichen, und beide folgten Sauer in dessen Büro.
*
»Ich will, dass du rausfindest, was da passiert ist, Claudius. Ich will, dass du es schnell tust. Und ich will spätestens morgen erste Ergebnisse sehen.«
Der Staatsanwalt saß hinter einem beeindruckenden Schreibtisch aus massiver Eiche, mit einer Handbewegung hatte er Zorn bedeutet, auf einem der Besucherstühle Platz zu nehmen. Schröder hatte er keines Blickes gewürdigt, der hielt sich im Hintergrund an der Wand, über ihm ein mindestens vier Quadratmeter großes, abstraktes Gemälde, das mit seinen kreischenden Gelb- und Brauntönen an eine schlechte Jackson-Pollock-Kopie erinnerte.
»Ich habe dich beobachtet«, fuhr Sauer fort, »in letzter Zeit erscheinst du mir ein wenig ...«, er machte eine winzige, perfekt getimte Pause, »... untermotiviert. Und ich muss dich nicht daran erinnern, wie wichtig dieser Fall für deine Karriere werden kann.«
Meine?, dachte Zorn. Du meinst deine.
Er hatte bisher kein Wort gesagt und saß mit verschränkten Armen und unbewegter Miene vor seinem Vorgesetzten. Eine Taktik, mit der er bisher noch jeden aus der Ruhe gebracht hatte, und auch diesmal funktionierte es tadellos. Es war allgemein bekannt, dass es sich bei Staatsanwalt Sauer um einen ausgesprochenen Choleriker handelte.
Sauer wartete ein paar Sekunden, und als Zorn auch nicht die geringsten Anstalten machte, in irgendeiner Weise zu reagieren, riss der ohnehin extrem dünne Geduldsfaden Sauers, dessen gepflegte Züge sich zunehmend verhärtet hatten. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, beugte sich vor, und als er fortfuhr, war ein schriller Unterton in den Ausführungen des Staatsanwaltes zu vernehmen: »Verdammt nochmal, das Einzige, was ich erwarte, ist ein wenig Professionalität!«
Eine zarte Röte erblühte auf Sauers Wangenknochen. Fasziniert beobachtete Zorn, wie auch Stirn und Hals des Staatsanwaltes in leuchtendem Purpur zu glühen begannen. »Professionalität bedeutet eines: schnelle und unkomplizierte Umsetzung meiner Anweisungen!«
Sauer bekam allmählich Probleme mit den Zischlauten. Ein feiner Sprühregen pfefferminzgetränkten Staatsanwaltsspeichels wehte dem eh schon gereizten Zorn entgegen. »Professionalität, Schnelligkeit und Mitdenken! Ist das denn so schwer? Und überhaupt«, Sauers Stimme überschlug sich, »wieso schreibt hier eigentlich niemand mit?«
»Er hat ein gutes Gedächtnis«, erwiderte Zorn und wies mit dem Daumen über die Schulter, wo er irgendwo den dicken Schröder vermutete.
»Ihr Tee, Herr Staatsanwalt!«
»Raus!«, brüllte Sauer, und die Brünette schloss die Tür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte.
Dieser Ausbruch schien irgendwie geholfen zu haben. Mit einem resignierten Seufzen sank Sauer zurück, strich sich mit einer sorgfältig einstudierten Bewegung über die linke Augenbraue, holte tief Luft und fuhr wesentlich ruhiger fort: »Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, und wenn das bekannt wird, geht in den Medien die Hölle los. Du, Claudius«, er deutete mit sorgfältig manikürtem Zeigefinger auf sein Gegenüber, »wirst ihn finden. Der Typ ist krank.«
»Wer sagt das?«, fragte Zorn unschuldig.
»Meine Intuition«, erwiderte der Staatsanwalt bescheiden.
Zorn biss sich von innen auf die Wange, um nicht lauthals loszuprusten.
Sauer verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Oder wie erklärst du mir, wie sieben Liter menschliches Blut in ein Abrisshaus in der Kleiststraße gelangen?«
»Kantstraße, Herr Staatsanwalt«, korrigierte Schröder höflich aus dem Hintergrund.
Sauers Blick blieb starr auf Zorn gerichtet.
»Und genaugenommen«, fuhr Schröder unbeirrt fort, »handelt es sich nicht um sieben, sondern um zirka fünf Komma vier Liter Blut.«
Der Staatsanwalt versteifte sich ein wenig, er war es nicht gewohnt, berichtigt zu werden. Scheinbar ruhig fragte er Zorn: »Was haben wir noch?«
»Null Rhesus negativ.«
»Was?«, fragte Sauer.
»Die Blutgruppe«, erklärte Schröder gutgelaunt. »Null Rhesus negativ.«
Sauer bedachte ihn mit einem kurzen Seitenblick, überlegte, ob dieser kleine, beleibte Mensch in der Ecke einer Antwort würdig sei, entschied sich dagegen und wandte sich wieder an Zorn: »Zuerst wirst du das Opfer finden.«
»Die Frau!«
Das war wieder Schröder. Fast unmerklich spannten sich Sauers Wangenmuskeln.
»Das Blutbild weist vier Komma drei Millionen Erythrozyten pro Milliliter auf«, rezitierte Schröder, »wir haben es mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit mit dem Blut einer Frau zu tun.«
»Also ein Sexualdelikt«, meinte Sauer, immer noch an Zorn gewandt.
»Da wär ich nicht so sicher«, ließ Schröder sich liebenswürdig von hinten vernehmen.
Jetzt, dachte Zorn, wird er gelyncht.
Sauer erhob sich, ging mit langsamen Schritten durchs Zimmer, baute sich direkt vor Schröder auf und musterte ihn wie ein seltenes Insekt.
»Die Frau war ungefähr fünfzig, Herr Staatsanwalt, übergewichtig und wahrscheinlich nicht sonderlich attraktiv«, erklärte Schröder und nahm Haltung an. »Nach gängigem Raster nicht unbedingt das klassische Opfer eines Triebtäters.«
Er strahlte den Staatsanwalt mit großen Augen an. Sauer wippte kurz auf den Zehenspitzen und wandte sich dann wieder an Zorn. »Woher wissen wir das?«
»Laktatwerte, Thrombozyten, Eisenwerte, alles so was«, riet Zorn aufs Geratewohl.
»Und natürlich der Hämatokritwert«, flötete Schröder, jede einzelne Silbe betonend. »Aus dem Blutbild lassen sich Rückschlüsse auf den kompletten Phänotypen ziehen.«
»Was haben wir noch?«
»Keinerlei Fingerabdrücke, einen fabrikneuen CD-Player inklusive CD und ein paar Fußspuren.«
»Ansonsten?«
»Ansonsten nichts«, sagte Zorn.
»Nothing«, ergänzte Schröder.
»Was?« fragte Sauer.
»Niente!«, erwiderte Schröder.
Zorn warf ihm einen warnenden Blick zu. Schröder biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Okay.« Sauer hatte offensichtlich genug. »Ich erwarte einen täglichen Bericht. Und ich erwarte vollen Einsatz. Irgendwas stimmt hier nicht.«
Blitzmerker, dachte Zorn.
»Doofkopf«, murmelte Schröder, als sie das Zimmer verließen. »Nanana«, sagte Zorn. Aber sehr vorwurfsvoll klang es nicht.
*
»Wieso eigentlich die laute Musik?«, fragte Schröder.
Sie standen wieder im Fahrstuhl. Zorn betrachtete sein Spiegelbild in den verchromten Wänden und stellte zum wiederholten Male fest, dass er, wenn schon nicht erfolgreich, doch wenigstens attraktiv war.
»Er ist ungeduldig«, erwiderte Zorn.
»Er?«
»Glaubst du, dass wir es mit einer Frau zu tun haben?«
»Nein, Chef.«
»Er wollte auf Nummer sicher gehen. Ich habe keine Ahnung, was genau da passiert ist, aber ich glaube, dass er einen abgeschiedenen, stillen Ort brauchte, um in aller Ruhe das zu tun, was er getan hat. Und jetzt, wo er fertig ist, wartet er auf uns. Mit dem CD-Player hat er eine Möglichkeit gefunden, uns zu sagen, dass er bereit ist.«
»Bereit?«
»Er hat uns gerufen.«
»Uns?«
»Die Bullen.«
»Hm«, machte Schröder, »irgendwie glaube ich, der Typ ist kein durchgeknallter Psychopath, sondern weiß ganz genau, was er tut.« »Und wie kommst du darauf?«
Schröder strich sich in einer perfekten Imitation des Staatsanwaltes über die linke Augenbraue und grinste: »Meine Intuition.«
Ich mag ihn, dachte Zorn. Ich mag ihn wirklich.
*
Später, als Claudius Zorn endlich wieder allein in seinem Büro war und rauchend am Fenster stand, saß der, den jetzt alle suchten, der Mann, der vor nicht einmal 24 Stunden einen Menschen bestialisch zu Tode hatte kommen lassen, auf einem zerschlissenen Sofa und murmelte vor sich hin, dass nun endlich alles gut werden würde.
Damit allerdings hatte er sich gründlich verrechnet. Denn je weitreichender unsere Pläne werden, desto mehr Dinge stellen sich uns in den Weg. Und seien es nur Kleinigkeiten, die wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings zur Woge werden, die alles begräbt, was sich ihr in den Weg stellt.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
»Glauben Sie mir«, sagte der Mann und betrachtete nachdenklich das Messer, »je schneller wir das alles hinter uns bringen, umso besser für uns beide.«
Langsam kämpfte sie sich durch den Nebel, und jetzt, da sie zu sich kam, versuchte sie zuerst, die Augen zu öffnen. Was ihr mit einiger Mühe gelang.
Er saß ihr gegenüber, zwischen ihnen ein schmieriger Holztisch, eingetrocknete Weinflecken, sein Gesicht höchstens einen halben Meter von ihrem entfernt. Ein feuchter, grob verputzter Raum. Fensterlos. Kahl, wie eine Gefängniszelle. Sie roch sein Aftershave. Und etwas anderes, Metallisches.
»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass Sie früher wieder bei Bewusstsein sind.« Das klang fast vorwurfsvoll. Er lehnte sich ein wenig zurück, der Stuhl antwortete mit einem leisen Ächzen. »Schließlich habe ich Sie bereits vor knapp drei Stunden niedergeschlagen.«
Sie hörte deutlich, was er sagte. Was genau er allerdings damit meinte, verstand sie nicht. Das Denken fiel ihr schwer, es war wie am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelt und man für ein paar Sekunden glaubt, bereits seit Ewigkeiten wach zu liegen, und noch keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie hatte das Gefühl, zwischen Traum und Wirklichkeit zu treiben, knapp unter der Oberfläche eines lauwarmen, übelriechenden Sees, der sich irgendwo zwischen den Dimensionen befinden musste.
Ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern an einen Stuhl gebunden, dessen Lehne ungewöhnlich hoch zu sein schien. Um Hals und Stirn hatte er ihr dünne Lederriemen geschnallt, die an den Querstreben hinter ihr befestigt waren.
Vorsichtig versuchte sie, den Kopf zu bewegen.
Nichts.
Etwas musste er ihr in den Mund gestopft haben. Keuchend rang sie nach Atem, wartete auf die Panik, stattdessen spürte sie eine seltsame Euphorie. Wie damals, als sie ihren ersten (und einzigen) Joint geraucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Dreißig Jahre?
»Wenn Sie sich übergeben, ersticken Sie. Hören Sie mich? Ich kann den Knebel nicht lösen. Und die Fesseln auch nicht.«
Er sprach leise, als würden sie an einem warmen Frühlingsabend in einem Straßencafé sitzen. Gleich kommt der Kellner, dachte sie, nein, es ist ein französisches Restaurant, verbesserte sie sich, wie heißen da die Kellner? Garçon? Ja, und er empfiehlt uns Eistörtchen zum Nachtisch. Nein, nicht Eistörtchen, was essen Franzosen zum Nachtisch? Himmelherrgott, warum war ich noch nie in Frankreich?
Wieder dieses seltsame Hochgefühl.
Was hast du mir gegeben? Und was willst du von einer fünfzigjährigen, übergewichtigen Deutschlehrerin, die seit dreizehn Jahren und vier Monaten keinen Mann hatte? Was?
Es war absolut still im Raum, abgesehen von ihrem angestrengten Atmen. Zwischen ihren Schläfen dröhnte ein hektisches Pochen, sie hatte Durst und spürte, wie etwas Klebriges, Feuchtes an ihren Beinen hinunterlief.
»Sie wissen natürlich nicht, warum Sie hier sind. Aber Sie können mir eines glauben«, er legte die Fingerspitzen aneinander, »das alles hier ist kein Zufall. Kein Zufall.«
Er hat ein bisschen was von diesem amerikanischen Schauspieler, dachte sie. Der, der wahrscheinlich als Rentner noch aussehen wird wie ein Teenager. Sie kam nicht auf den Namen, doch irgendwie musste sie sich erinnern, wie er hieß, es gab im Moment nichts Wichtigeres. Sie kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und wunderte sich selbst über ihre Erleichterung, als es ihr endlich einfiel: Johnny Depp. Nein, dachte sie dann, nicht Johnny Depp, was für ein Schwachsinn. Seine Augen sind ganz anders und haben nicht dieses tiefe Kastanienbraun, das ich so mag. Und er scheint größer zu sein, und irgendwie unbeholfener.
Aber die Ausstrahlung ist ähnlich. Dieses Traurige, Schwermütige.
Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf, ich bin von einem melancholischen Psychopathen entführt worden. Das Kichern ging in ein würgendes Husten über, die Luft wurde knapp, gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen, wurden zu einem flammenden, kreischenden Rot, sie zerrte an ihren Fesseln, die sich immer fester in ihr Fleisch gruben. So ist es also, wenn man sich totlacht, dachte sie und spürte erleichtert, wie sie langsam wieder wegtauchte.
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der flachen Seite des Messers leicht, fast spielerisch auf den rechten Unterarm.
»Atmen Sie durch die Nase. Und bleiben Sie ruhig.«
Schnaufend holte sie Luft.
»Besser?«
Ich fühle mich, als hätte ich einen feuchten Hamster verschluckt, bin am Ersticken, habe Durst und keine Ahnung, wer du bist, aber ansonsten geht's mir gut, danke der Nachfrage, du ... sie suchte nach dem geeigneten Schimpfwort, doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein, was passend erschien. Sie hatte Bukowski gelesen, Henry Miller kannte sie, gezwungenermaßen, auch, schließlich war das Unterrichtsstoff, doch am liebsten waren ihr die Klassiker. Einfache, klare Stoffe, ohne irgendeine Ferkelei, die den Kindern vermitteln, was wichtig ist. Hemingway zum Beispiel mochte sie, der war zwar einfach, bäuerlich, aber niemals vulgär. Das war etwas, was sie schon immer abgestoßen hatte, doch jetzt, unfähig zu sprechen, geschweige denn, sich zu bewegen, verspürte sie den unbändigen Drang, sich zu wehren. Und sei es nur in Gedanken.
Was sagte man in solchen Fällen? Arschloch? Wichser?
Sie spürte wieder, wie etwas Warmes an ihren Beinen hinunterfloss. Oh Gott, ich habe mich bepinkelt. Kann es noch schlimmer werden, du mieses, melancholisches Stück Scheiße?
Das waren für ihre Verhältnisse verbale Fäkalien der untersten Schublade, doch es half. Noch immer war da keine Angst, sondern eher etwas wie...
... Wut?
Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass er sie töten würde. Dann bring es einfach hinter dich, dachte sie. Du kannst es nicht wissen, aber ich habe längst mit dem Leben abgeschlossen. Wer weiß - vielleicht tust du mir ja einen Gefallen?
»Sie sollten wissen, dass ich nicht krank bin.« Das schien ihm wichtig zu sein, er hatte sich vorgebeugt und sah sie ernst an. »Ich bin nicht krank, also nicht verrückt - jedenfalls nicht verrückter als jeder andere. Ich bin als Kind nicht missbraucht worden, und ... und ich hatte auch niemals Spaß daran, irgendwelche Tiere zu quälen. Ich meine, ich habe meiner Katze nicht den Schwanz angezündet oder den Hund meiner Nachbarn vergiftet.«
Du musst mich vor dem Supermarkt erwischt haben, fiel ihr plötzlich ein. Ich wollte Dünger kaufen, für die Blumen und...
»Sie und ich, wir beide sind jetzt hier. Und Sie müssen wissen, dass Sie in meinen Augen überhaupt keine Schuld tragen an dieser Situation, Sie können wirklich nichts dafür ... «, er zögerte und schien nach der geeigneten Formulierung zu suchen, blickte zur rissigen Wand, als würde dort im nächsten Moment das richtige Wort erscheinen.
... Basilikum?
»... für Ihren schmerzvollen vorzeitigen Tod.«
Schmerz?, dachte sie. Wieso spüre ich dann nichts?
»Ich denke, das sollten Sie wissen.«
Genau, Basilikum, überlegte sie, ich wollte Salat machen und dann zeitig ins Bett gehen. Die Augenlider wurden ihr schwer, und wieder spürte sie, wie sie langsam wegdriftete. Bilder schossen durch ihren Kopf, Dinge, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
Sie schreckte hoch, als er krachend den Stuhl nach hinten schob, aufstand und in die Hände klatschte wie jemand, der nun endlich, wohl oder übel, zur Sache kommen muss. »Ich merke schon«, sagte er und lächelte ein wenig, »ich rede zu viel, Sie sind müde.«
Er hat schöne Zähne, dachte sie verwirrt.
»Sie sind nicht der erste Mensch, den ich töte, und so, wie es momentan aussieht«, mit einem Ruck löste er die Fesseln an ihrem Kopf, die mit einem leisen Klatschen zu Boden fielen, »werden Sie auch nicht der letzte sein.«
Er stand nun direkt vor ihr, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte leise, ganz leise: »Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Jetzt registrierte sie, dass er Gummistiefel trug, die fest mit einer olivgrünen, wasserdichten Anglerhose verschweißt waren. Das, mein Lieber, wollte sie sagen, sieht reichlich albern aus, doch das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein ebenso albernes, gurgelndes Schnaufen.
Als sie endlich nach unten blickte, wurden ihre Sinne klar, und sie verstand. Es war, als hätte sie einen Eimer Wasser ins Gesicht bekommen, urplötzlich war sie hellwach, ein ätzendes, schwefliges Licht ging an, und obwohl sie sich wehrte, wurde das Bild scharf, grobkörnig, und sie wusste jetzt, warum es so nach Eisen roch, sah, dass das, was da an ihren Beinen herunterlief, etwas anderes war, etwas, das, wie man so schön sagte, dicker war als Wasser und dicker als Urin.
Sie schluchzte leise, als sie die immer größer werdende Pfütze bemerkte, die sich zwischen ihren Beinen gebildet hatte, und nun leuchtete ihr ein, warum er die Stiefel trug. Obwohl er jetzt zwei Meter von ihr entfernt war, stand er mitten in dieser dunkelroten, öligen Lache, in der sich das trübe Deckenlicht spiegelte.
Dann war er bei ihr, sie hörte das schmatzende Geräusch seiner Schritte, und als er ihr sagte, dass er nicht mehr warten könne, lächelte er verlegen.
Kurz darauf barsten die Wände, der Wahnsinn stand brüllend im Raum, öffnete dem Horror die Tür, und es war nicht Johnny Depp, sondern Edward mit den Scherenhänden, der über sie kam. Und er hatte nicht nur das Messer, sondern andere, ebenso spitze, chromglänzende Werkzeuge.
Und er benutzte sie alle.
Es dauerte drei Stunden, bis sie den Verstand verlor, und weitere zwei, bis sie endlich sterben durfte.
*
Dann stand er vor ihr, legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete das, was von ihr übrig war. Alles war so, wie es sein sollte.
Er musste noch die Musik anstellen. Doch vorher gab es noch etwas anderes zu tun, etwas wirklich Unangenehmes.
Zwei
Claudius Zorn war seit einundzwanzig Jahren Polizist. Er hatte so ziemlich jeden einzelnen dieser über siebentausendsechshundert Tage gehasst, und wenn er daran dachte, dass fast noch neuntausend jener trostlosen, immer wiederkehrenden Abläufe vor ihm lagen, wurde er je nach Wetterlage wütend, traurig oder mürrisch. Er blickte auf, sah, dass der Regen noch immer in schmutzigen Schlieren vor dem Fenster hing, und entschied sich für Letzteres.
Er war jetzt zweiundvierzig, also noch längst kein alter, frustrierter Mann. Er war einfach nur gelangweilt. Und er war sich bewusst, dass diese Langeweile über kurz oder lang in Verbitterung umschlagen würde, wenn er nichts unternahm. Aber was?, überlegte er und beobachtete, wie sich auf dem Fensterbrett seines Büros eine Regenlache bildete. Ich könnte aufstehen und das Fenster schließen, dachte er, das wär immerhin ein Anfang. Eigentlich hätte es gereicht, wenn er sich über den Tisch gebeugt hätte, das Fenster war schließlich nur einen guten Meter entfernt, doch nach kurzem Überlegen sank er resigniert zurück und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die siebente für heute. Und es war noch nicht mal elf.
Als Kind hatte er Schwimmer werden wollen, seine Mutter aber hatte gemeint, er sei ein musischer Mensch und solle gefälligst Flötist werden. Beides - Schwimmen und Flöten - hatte er schnell gelernt (obwohl er klassische Musik hasste und schnell herausfand, dass er Chlorwasser ebenfalls nicht leiden konnte). Immerhin hatte das Schwimmen zur Folge, dass er auch jetzt noch gut in Form war - jedenfalls auf den ersten Blick, die fünfzig Meter kraulte er immer noch in gut fünfunddreißig Sekunden, jeder weitere Meter in vollem Tempo hätte aufgrund seines Zigarettenkonsums allerdings den sicheren Ertrinkungstod bedeutet.
Das Leben, dachte Claudius Zorn und beobachtete gelangweilt die immer größer werdende Wasserpfütze auf seinem Fensterbrett, ist eine willkürliche Aneinanderreihung von Zufällen. Wie sonst ließ es sich erklären, dass ausgerechnet er bei der Polizei gelandet war?
Vielleicht hatte er gehofft, er würde ein berühmter Kriminalist werden, als er sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschied, aber genauso gut hatte es eine Zeit gegeben, in der er Kampfschwimmer, Hirnchirurg oder vielleicht Finanzberater hätte werden können. Und in letzter Zeit fragte er sich immer häufiger, ob ein Job als Flötist (Onkologe? Pizzabote?) nicht erfüllender wäre als das, was er tatsächlich tat.
Ich bin ein mittlerer Beamter und bearbeite mittelmäßige Fälle in einer mitteldeutschen Großstadt, dachte er und sah aus dem Fenster. In der Ferne ragten die riesigen Abraumhalden des Mansfelder Landes in den Himmel, und die graue, verdreckte Stadt zu seinen Füßen wurde durch den Regen nicht eben einladender.
Den letzten Mordfall hatte er vor mittlerweile drei Jahren bearbeitet. Ein sturzbetrunkener Rentner hatte seine Frau nach über vierzig Ehejahren vom Balkon einer Sozialwohnung in der Neustadt gestoßen, mit der Begründung, sie sei ihm »auf die Nerven gegangen«. Die Verteidigung hatte pflichtschuldigst auf »Totschlag im Affekt« plädiert, doch nachdem bekannt wurde, dass Auslöser des Streits ein paar verlegte Herrensocken gewesen waren, machte man kurzen Prozess und brachte den Rentner für die nächsten zwölf Jahre und somit - das hoffte Zorn jedenfalls - den Rest seines Lebens hinter Gitter.
Ansonsten bestand sein Alltag aus stupidem Papiergeraschel, Bleistiftgekritzel und ab und an einem vorlauten »Pling« - dann nämlich, wenn er eine dienstliche Mail erhielt, die einzig und allein den Zweck hatte, weiteres Papiergeraschel zu erzeugen.
Spätestens in zehn Jahren, überlegte er und bedachte den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch mit einem scheelen Seitenblick, werde ich mich ebenfalls in Papier verwandelt haben und beende mein irdisches Dasein als ein vergilbter Haufen Krümel. Und irgendwann, Monate später, kommt jemand in mein Büro und ich werde durch den Luftzug einfach aus dem Fenster geweht.
Da Claudius Zorn ein kluger Mensch war, wurde er noch mürrischer, denn wie allen klugen Menschen war ihm bewusst, wenn er Blödsinn dachte, und als bröselnder Papierfetzen aus dem Fenster geweht zu werden war nun wirklich das Absurdeste, was er sich im Moment vorstellen konnte. Mit Ausnahme der nächsten Dienstberatung, überlegte er weiter, griff sich wahllos ein Gesprächsprotokoll, unterschrieb, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, und als er dann gelangweilt zur nächsten Akte griff, hörte er Schritte, die sich hastig seinem Büro näherten.
O Herr, dachte Zorn, lass diesen Kelch - und vor allem diesen Menschen, egal wer es ist - an mir vorübergehen.
Der liebe Gott allerdings scherte sich wenig um die Gebete eines überzeugten Atheisten, und so öffnete sich die Tür und Zorn erblickte den biblischen Kelch in Gestalt des dicken Schröder, der verschwitzt und gutgelaunt - für Zorns Begriffe eindeutig zu gutgelaunt - ins Büro stürmte. Der unvermeidliche Luftzug wehte zwar nicht Zorn aus dem Fenster, dafür allerdings einen Notizzettel von seinem Schreibtisch. Während Zorn sich zurücklehnte und beobachtete, wie das Schriftstück langsam zu Boden segelte, stand Schröder schwer atmend in der Tür.
»Hallo Chef!«, keuchte Schröder und wedelte den Zigarettenrauch beiseite, »wir haben -«
»Was haben wir?«
»Wir haben -«
»Moment!«, unterbrach Zorn und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das am Boden liegende Papier. Aus jahrelanger Erfahrung wusste Schröder, was von ihm erwartet wurde, bückte sich dienstbeflissen und meinte: »Ja ja, von der Wiege bis zur Bahre ...« Sag es nicht, dachte Zorn.
»... Formulare, Formulare!« Schröder strahlte und legte den Zettel zurück in die Ablage.
Es gab Momente, in denen Claudius Zorn diesen gutmütigen, übergewichtigen Beamten ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hätte. Auf der anderen Seite mochte er den ständig schwitzenden Schröder sehr, denn hinter seiner trotteligen Fassade verbarg sich ein intelligenter, warmherziger Mensch, der zudem über ein unglaubliches Gedächtnis verfügte. Hatte Schröder einmal eine Akte gelesen, kannte er sämtliche Fakten auswendig, was sich in vielen Fällen als unschätzbar erwiesen hatte.
Schröder war Zorn absolut ergeben. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer, man nannte ihn bei seinem Spitznamen. Zorn kannte ihn seit zehn Jahren, und vom ersten Augenblick war er für ihn der dicke Schröder.
Weil er dick war. Und weil er Schröder hieß. Und weil Zorn sich den Vornamen aus der Personalakte gar nicht erst gemerkt hatte.
Wie immer trug Schröder eine ausgebeulte Cordhose, ein verblichenes, kariertes Hemd bedeckte den stattlichen Bauch. Um seine Glatze zu kaschieren, hatte er die spärlichen, rötlichen Haare über dem linken Ohr bis auf zwanzig Zentimeter wachsen lassen und von dort ausgehend quer über den Kopf gekämmt, weswegen er Zorn immer an ein frisch gebügeltes Frettchen erinnerte.
»Also. Was haben wir?«, wiederholte Zorn und versuchte, gleichzeitig desinteressiert und überlegen zu klingen.
»Wir haben«, Schröder reckte sich zu voller Größe, die ungefähr bei 1,65 lag, »einen ...«
»Ja?«
»Wir haben einen Fall!«
»Einen was?«
»Einen Fall!«
Klasse, dachte Zorn. Wir haben einen Fall.
»Einen mutmaßlichen Mordfall«, ergänzte Schröder stolz.
»Ach«, murmelte Zorn und tat, als würde er seine Akten sortieren.
*
Zorn wusste nicht recht, wie er sich fühlen sollte. Er war unterwegs zu Philipp Sauer, dem zuständigen Staatsanwalt, Schröder im Schlepptau, der wie immer einen halben Meter hinter ihm her-hechelte. Ein Mordfall konnte zwar so etwas wie Abwechslung bringen, klar war allerdings auch, dass Arbeit vor ihm lag. Unangenehme Arbeit, und als er das dachte, wurde Zorn wieder bewusst, dass er nicht nur ein gelangweilter, sondern ein äußerst fauler Mensch war.
Zorns Büro lag am Ende eines langen, düsteren Flures, der zum verglasten Neubau führte, einem unsagbar hässlichen Betonding mit braunen, verspiegelten Scheiben, das in den siebziger Jahren von einem offensichtlich durchgeknallten Architekten im rechten Winkel an das alte Polizeigebäude regelrecht angepappt worden war. In der oberen Etage waren die Büros der Staatsanwaltschaft, und dort musste er hin.
Er hatte die Akte überflogen, viel wusste er bisher nicht: Am Montag, dem 16. April (also gestern), war mit einem anonymen Anruf eine Lärmbelästigung in der Kantstraße angezeigt worden. (Wieso eigentlich anonym?, dachte Zorn, haben die Leute jetzt schon Angst, wenn sie mit der Polizei telefonieren?) Ein Streifenwagen wurde geschickt, und tatsächlich dröhnte aus einem unbewohnten Haus laute Musik. Die Beamten folgten dem Lärm zu einem Keller, der auf den ersten Blick komplett leer zu sein schien - bis auf einen tragbaren CD-Player, der auf volle Lautstärke gestellt war und laut Bericht »eine klassische Musik« spielte.
Dann hatten die Kollegen die ungewöhnlich große, anscheinend frische Blutlache bemerkt und die Spurensicherung gerufen. Das Labor fand schnell heraus, dass es sich um menschliches Blut handelte, das zudem von einer einzigen Person stammte, und aus der Menge geschlossen, dass hier jemand regelrecht ausgeblutet sein musste.
*
Sie hatten das Foyer des neuen Verwaltungstraktes erreicht, eine große, über drei Etagen reichende Halle, von der die Flure zu den einzelnen Dezernaten abgingen. Zorn wandte sich nach links, folgte einem weiteren Gang, an dessen rechter Seite die berüchtigten Großraumbüros des Inneren Dienstes lagen. Bei dem Gedanken, hier arbeiten zu müssen, ständig von anderen Menschen umgeben zu sein, schauderte ihm. Unwillkürlich beschleunigte er den Schritt.
»Keine Leiche?«, fragte er über die Schulter, betrat den Fahrstuhl und drückte, ohne auf Schröder zu warten, den Knopf für die oberste Etage. Schröder zwängte sich im letzten Moment hinein.
»Nichts, Chef.«
Zorn schwieg. Leise surrend fuhr der Fahrstuhl nach oben, und da Schröder die Stille in dem engen Raum zunehmend unangenehm wurde, meinte er nach kurzem Überlegen: »Keine Spur. Nix.«
Zorn schwieg noch immer.
»Niente!«, sagte Schröder. Ab und zu verspürte er das unerklärliche Bedürfnis, mit seinen Fremdsprachenkenntnissen zu protzen, und fügte deshalb hinzu: »Nothing, Chef!«
Zorn hob die Augenbraue.
»Nada!«, ergänzte Schröder.
»Pling!«, erwiderte der Fahrstuhl.
»Nitschewo!«, sagte Schröder.
Die Türen öffneten sich.
»Ein einfaches Nein hätte genügt«, brummte Zorn und wappnete sich innerlich gegen seinen ersten Gegner.
*
Staatsanwalt Sauer war ein kompromissloser Mensch, der sich einen Dreck um andere scherte. Somit verfügte er über die besten Voraussetzungen, schnell und zügig Karriere zu machen.
Sie saßen jetzt seit zehn Minuten im Vorzimmer, und es war klar, dass noch weitere fünf vergehen würden. Der Staatsanwalt ließ seine Untergebenen aus Prinzip eine Viertelstunde warten - mindestens.
»Er müsste jeden Moment hier sein«, flötete die brünette Sekretärin routiniert, ohne von ihrer Tastatur aufzusehen, auf der sie mit atemberaubender Geschwindigkeit herumhämmerte. »Kaffee oder Espresso?«
»Ja, ich hätte gern -«
»Nein danke, wir brauchen nichts«, unterbrach Zorn den dicken Schröder.
»Pff!«, machte Schröder beleidigt.
Zorn vertrieb sich die Zeit, indem er abwechselnd den beeindruckenden Ausschnitt der Sekretärin und ein an der Wand hängendes, riesiges Organigramm der örtlichen Polizei musterte. Sein Platz in der Hierarchie war ziemlich weit unten, während Sauer, das wusste Zorn, irgendwann ganz oben stehen würde. Eine Position, die ihn ebenso wenig reizte wie Sauers Dienstwagen, das riesige Büro oder die Sekretärin - abgesehen von deren Dekolleté, wie Zorn sich widerstrebend eingestehen musste.
Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass ihn die Brünette verstohlen musterte. Er sah sie an, sie lächelte kurz und wandte sich dann verlegen ihrem Computer zu, um ihn nun mit verdoppelter Geschwindigkeit zu bearbeiten.
Die Tür wurde aufgerissen, der Staatsanwalt erschien, wie immer sorgfältig frisiert, und als er Zorn auf die Schulter klopfte, blitzten die Zähne ein wenig zu weiß aus dem etwas zu tief gebräunten Gesicht.
Frisch gestriegelt, geschniegelt und gebügelt, dachte Zorn und war sicher, dass die dünne Edelstahlbrille, die Sauer trug, den einzigen Zweck hatte, Kompetenz und Integrität zu vermitteln. Sauer achtete stets darauf, sein perfektes Erscheinungsbild durch scheinbar ungewollte Nebensächlichkeiten zu brechen: beispielsweise eine etwas zu lockere Krawatte, einen Dreitagebart oder einen geöffneten Hemdknopf. Heute trug er Turnschuhe zum Brioni-Anzug. Ein seriöser und gleichzeitig unkonventioneller, lässiger Siegertyp.
Ich könnte kotzen, dachte Zorn und lächelte höflich.
Er selbst achtete wenig auf seine Kleidung, meist griff er sich einfach das, was zuoberst im Schrank lag. Claudius Zorn war fast nur in Jeans und T-Shirt anzutreffen. Auch seine Haare hingen ihm für einen Beamten viel zu tief in die Stirn, was allerdings daran lag, dass er eine herzliche Abneigung gegen Friseure hegte. Diese Nachlässigkeit bedeutete jedoch nicht, dass er uneitel war, im Gegenteil: Jede Bemerkung in Bezug auf sein jugendliches Aussehen wurde genau registriert, auch wenn er so tat, als sei es ihm egal. Einen Anzug allerdings hätte Zorn ums Verrecken nicht angezogen. Dabei war es nicht so, dass er Anzüge hasste. Er verabscheute eher die, die sie trugen. Jedenfalls die meisten.
»Gut, dass du da bist, Claudius«, meinte Staatsanwalt Sauer und gab ihm einen weiteren, väterlichen Klaps auf die Schulter. Absurd, dachte Zorn und machte einen unauffälligen Ausfallschritt nach links, er ist mindestens zwei Jahre jünger als ich.
Sauer bedachte ihn mit einem Blick, der verschwörerisch und gleichzeitig jovial wirken sollte. Wir beide, du und ich, sollte das heißen, sind die einzig fähigen Leute im Raum, und tatsächlich fügte der Staatsanwalt mit einem Blick auf seine Sekretärin hinzu: »Ich bin hier nur von Idioten umgeben.«
»Kaffee oder Espresso?«, zwitscherte sie.
»Grünen Tee!«, befahl Sauer. »Und in den nächsten zehn Minuten keine Anrufe!«
Mein lieber Staatsanwalt, du siehst zu viele amerikanische Fernsehserien, dachte Zorn, gab Schröder ein Zeichen, und beide folgten Sauer in dessen Büro.
*
»Ich will, dass du rausfindest, was da passiert ist, Claudius. Ich will, dass du es schnell tust. Und ich will spätestens morgen erste Ergebnisse sehen.«
Der Staatsanwalt saß hinter einem beeindruckenden Schreibtisch aus massiver Eiche, mit einer Handbewegung hatte er Zorn bedeutet, auf einem der Besucherstühle Platz zu nehmen. Schröder hatte er keines Blickes gewürdigt, der hielt sich im Hintergrund an der Wand, über ihm ein mindestens vier Quadratmeter großes, abstraktes Gemälde, das mit seinen kreischenden Gelb- und Brauntönen an eine schlechte Jackson-Pollock-Kopie erinnerte.
»Ich habe dich beobachtet«, fuhr Sauer fort, »in letzter Zeit erscheinst du mir ein wenig ...«, er machte eine winzige, perfekt getimte Pause, »... untermotiviert. Und ich muss dich nicht daran erinnern, wie wichtig dieser Fall für deine Karriere werden kann.«
Meine?, dachte Zorn. Du meinst deine.
Er hatte bisher kein Wort gesagt und saß mit verschränkten Armen und unbewegter Miene vor seinem Vorgesetzten. Eine Taktik, mit der er bisher noch jeden aus der Ruhe gebracht hatte, und auch diesmal funktionierte es tadellos. Es war allgemein bekannt, dass es sich bei Staatsanwalt Sauer um einen ausgesprochenen Choleriker handelte.
Sauer wartete ein paar Sekunden, und als Zorn auch nicht die geringsten Anstalten machte, in irgendeiner Weise zu reagieren, riss der ohnehin extrem dünne Geduldsfaden Sauers, dessen gepflegte Züge sich zunehmend verhärtet hatten. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, beugte sich vor, und als er fortfuhr, war ein schriller Unterton in den Ausführungen des Staatsanwaltes zu vernehmen: »Verdammt nochmal, das Einzige, was ich erwarte, ist ein wenig Professionalität!«
Eine zarte Röte erblühte auf Sauers Wangenknochen. Fasziniert beobachtete Zorn, wie auch Stirn und Hals des Staatsanwaltes in leuchtendem Purpur zu glühen begannen. »Professionalität bedeutet eines: schnelle und unkomplizierte Umsetzung meiner Anweisungen!«
Sauer bekam allmählich Probleme mit den Zischlauten. Ein feiner Sprühregen pfefferminzgetränkten Staatsanwaltsspeichels wehte dem eh schon gereizten Zorn entgegen. »Professionalität, Schnelligkeit und Mitdenken! Ist das denn so schwer? Und überhaupt«, Sauers Stimme überschlug sich, »wieso schreibt hier eigentlich niemand mit?«
»Er hat ein gutes Gedächtnis«, erwiderte Zorn und wies mit dem Daumen über die Schulter, wo er irgendwo den dicken Schröder vermutete.
»Ihr Tee, Herr Staatsanwalt!«
»Raus!«, brüllte Sauer, und die Brünette schloss die Tür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte.
Dieser Ausbruch schien irgendwie geholfen zu haben. Mit einem resignierten Seufzen sank Sauer zurück, strich sich mit einer sorgfältig einstudierten Bewegung über die linke Augenbraue, holte tief Luft und fuhr wesentlich ruhiger fort: »Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, und wenn das bekannt wird, geht in den Medien die Hölle los. Du, Claudius«, er deutete mit sorgfältig manikürtem Zeigefinger auf sein Gegenüber, »wirst ihn finden. Der Typ ist krank.«
»Wer sagt das?«, fragte Zorn unschuldig.
»Meine Intuition«, erwiderte der Staatsanwalt bescheiden.
Zorn biss sich von innen auf die Wange, um nicht lauthals loszuprusten.
Sauer verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Oder wie erklärst du mir, wie sieben Liter menschliches Blut in ein Abrisshaus in der Kleiststraße gelangen?«
»Kantstraße, Herr Staatsanwalt«, korrigierte Schröder höflich aus dem Hintergrund.
Sauers Blick blieb starr auf Zorn gerichtet.
»Und genaugenommen«, fuhr Schröder unbeirrt fort, »handelt es sich nicht um sieben, sondern um zirka fünf Komma vier Liter Blut.«
Der Staatsanwalt versteifte sich ein wenig, er war es nicht gewohnt, berichtigt zu werden. Scheinbar ruhig fragte er Zorn: »Was haben wir noch?«
»Null Rhesus negativ.«
»Was?«, fragte Sauer.
»Die Blutgruppe«, erklärte Schröder gutgelaunt. »Null Rhesus negativ.«
Sauer bedachte ihn mit einem kurzen Seitenblick, überlegte, ob dieser kleine, beleibte Mensch in der Ecke einer Antwort würdig sei, entschied sich dagegen und wandte sich wieder an Zorn: »Zuerst wirst du das Opfer finden.«
»Die Frau!«
Das war wieder Schröder. Fast unmerklich spannten sich Sauers Wangenmuskeln.
»Das Blutbild weist vier Komma drei Millionen Erythrozyten pro Milliliter auf«, rezitierte Schröder, »wir haben es mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit mit dem Blut einer Frau zu tun.«
»Also ein Sexualdelikt«, meinte Sauer, immer noch an Zorn gewandt.
»Da wär ich nicht so sicher«, ließ Schröder sich liebenswürdig von hinten vernehmen.
Jetzt, dachte Zorn, wird er gelyncht.
Sauer erhob sich, ging mit langsamen Schritten durchs Zimmer, baute sich direkt vor Schröder auf und musterte ihn wie ein seltenes Insekt.
»Die Frau war ungefähr fünfzig, Herr Staatsanwalt, übergewichtig und wahrscheinlich nicht sonderlich attraktiv«, erklärte Schröder und nahm Haltung an. »Nach gängigem Raster nicht unbedingt das klassische Opfer eines Triebtäters.«
Er strahlte den Staatsanwalt mit großen Augen an. Sauer wippte kurz auf den Zehenspitzen und wandte sich dann wieder an Zorn. »Woher wissen wir das?«
»Laktatwerte, Thrombozyten, Eisenwerte, alles so was«, riet Zorn aufs Geratewohl.
»Und natürlich der Hämatokritwert«, flötete Schröder, jede einzelne Silbe betonend. »Aus dem Blutbild lassen sich Rückschlüsse auf den kompletten Phänotypen ziehen.«
»Was haben wir noch?«
»Keinerlei Fingerabdrücke, einen fabrikneuen CD-Player inklusive CD und ein paar Fußspuren.«
»Ansonsten?«
»Ansonsten nichts«, sagte Zorn.
»Nothing«, ergänzte Schröder.
»Was?« fragte Sauer.
»Niente!«, erwiderte Schröder.
Zorn warf ihm einen warnenden Blick zu. Schröder biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Okay.« Sauer hatte offensichtlich genug. »Ich erwarte einen täglichen Bericht. Und ich erwarte vollen Einsatz. Irgendwas stimmt hier nicht.«
Blitzmerker, dachte Zorn.
»Doofkopf«, murmelte Schröder, als sie das Zimmer verließen. »Nanana«, sagte Zorn. Aber sehr vorwurfsvoll klang es nicht.
*
»Wieso eigentlich die laute Musik?«, fragte Schröder.
Sie standen wieder im Fahrstuhl. Zorn betrachtete sein Spiegelbild in den verchromten Wänden und stellte zum wiederholten Male fest, dass er, wenn schon nicht erfolgreich, doch wenigstens attraktiv war.
»Er ist ungeduldig«, erwiderte Zorn.
»Er?«
»Glaubst du, dass wir es mit einer Frau zu tun haben?«
»Nein, Chef.«
»Er wollte auf Nummer sicher gehen. Ich habe keine Ahnung, was genau da passiert ist, aber ich glaube, dass er einen abgeschiedenen, stillen Ort brauchte, um in aller Ruhe das zu tun, was er getan hat. Und jetzt, wo er fertig ist, wartet er auf uns. Mit dem CD-Player hat er eine Möglichkeit gefunden, uns zu sagen, dass er bereit ist.«
»Bereit?«
»Er hat uns gerufen.«
»Uns?«
»Die Bullen.«
»Hm«, machte Schröder, »irgendwie glaube ich, der Typ ist kein durchgeknallter Psychopath, sondern weiß ganz genau, was er tut.« »Und wie kommst du darauf?«
Schröder strich sich in einer perfekten Imitation des Staatsanwaltes über die linke Augenbraue und grinste: »Meine Intuition.«
Ich mag ihn, dachte Zorn. Ich mag ihn wirklich.
*
Später, als Claudius Zorn endlich wieder allein in seinem Büro war und rauchend am Fenster stand, saß der, den jetzt alle suchten, der Mann, der vor nicht einmal 24 Stunden einen Menschen bestialisch zu Tode hatte kommen lassen, auf einem zerschlissenen Sofa und murmelte vor sich hin, dass nun endlich alles gut werden würde.
Damit allerdings hatte er sich gründlich verrechnet. Denn je weitreichender unsere Pläne werden, desto mehr Dinge stellen sich uns in den Weg. Und seien es nur Kleinigkeiten, die wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings zur Woge werden, die alles begräbt, was sich ihr in den Weg stellt.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Stephan Ludwig
Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Bekannt wurde er als Autor der Thriller-Bestseller-Serie um die Kommissare Zorn und Schröder. Mit Olaf Schubert ist er schon lange befreundet. Dies ist ihr zweites gemeinsames Buch. Stephan Ludwig lebt und raucht in Halle.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephan Ludwig
- 2012, 10. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596193052
- ISBN-13: 9783596193059
- Erscheinungsdatum: 24.04.2012
Kommentar zu "Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1"