Das Brauthaus (ePub)
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Das Brauthaus von Sandra DallasAus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen
Erster Teil
Nealie
1
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Es war unklar, woran es lag, doch etwas veranlasste die Männer, Nealie Bent anzustarren. Sie war dürr, ohne auffällige Rundungen, und auch ihr Gesicht war zu hager und kantig, um als hübsch gelten zu können. Zudem war sie ungewöhnlich groß, und ihre Schritte erinnerten eher an einen Mann als an ein junges Mädchen. Ihr verblichenes, gelbes Baumwollkleid war an den Ärmeln und am Kragen fadenscheinig, die Farbe passte nicht zu ihrer hellen Haut. Sie besaß nur zwei Kleider. Das andere war nicht besser. Und doch drehten sich die Männer nach Nealie Bent um, denn es stand außer Frage, dass das große, dünne Mädchen faszinierend war, zumindest aber das gewisse Etwas hatte. Ihre sehr blassblauen Augen ließen an eine blühende Akelei im Frühling denken, und sie hatte rotes Haar und jede Menge Sommersprossen. Vielleicht lag es an ihrer Jugend, dass sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog. Georgetown selbst war eine junge Stadt, und Jugendlichkeit stand hier hoch im Kurs. Arbeit und Geburten hatten die meisten der hier lebenden Frauen vorzeitig altern lassen. Auf dem Alvarado-Friedhof lagen viele Babys, gelegentlich neben ihren Müttern, welche die Geburt nicht überlebt hatten. Das Leben in Georgetown war hart. Die Leute sagten: »Jeder, der nicht vom Leben gezeichnet ist, kommt von außerhalb.« Eine junge Frau wie Nealie war immer ein Neuankömmling in dieser Stadt. Doch auch sie würde hier schnell genug altern. Aber für den Moment - und vielleicht noch für ein paar Jahre - passte ihre Jugendlichkeit zum Geist der Stadt, die große Anziehungskraft ausübte auf jene, die schnell ihr Glück machen wollten. Wenn es nicht Nealies Jugend war, welche die Blicke auf sich zog, dann hätte es vielleicht die Aura der Unschuld sein können, die sie umgab, denn Unschuld war in Georgetown noch seltener als Jugendlichkeit. Doch hier trog der Schein, denn Nealie hatte mit ihren wenigen Jahren schon ein hartes Leben hinter sich. Obwohl sie mehr über die dunklen Seiten des Daseins wusste als die meisten Mädchen ihres Alters, sah man es ihr nicht an, und sie wirkte so unschuldig wie ein Kleinkind. Folglich konnte niemand genau sagen, woran es lag, dass sich die Männer nach Nealie umdrehten, aber es dachte auch niemand genauer darüber nach. Und doch wusste jeder, dass da etwas war, wenn sie auf dem breiten hölzernen Bürgersteig vorbeikam oder beim Einkaufen in Schaufenstern nach Dingen Ausschau hielt, welche sie sich nie würde leisten können. Will Spaulding unterschied sich in seiner Bewunderung für Nealie nicht von den anderen Männern. Die junge Frau war ihm aufgefallen, als sie Äpfel, Zwiebeln und Kartoffeln in ihren Korb packte. Nun stand sie an der Theke von Mr Kaisers Laden, um ihre Einkäufe zu bezahlen. Will blickte sie an. Sie war fast einen Meter achtzig groß, nur etwa zwei Zentimeter kleiner als er. Sein Blick wanderte über den mageren Körper unter dem schäbigen Kleid, doch dann bemerkte er, dass Mr Kaiser ihn beobachtete und sich räusperte. »Ich habe gesagt: ›Was kann ich für Sie tun, junger Mann?‹«, wiederholte der Ladenbesitzer. Nealie nahm ihren Korb und wandte sich zur Tür, ohne dem neben ihr stehenden Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen. Auch Will räusperte sich, sagte jedoch nichts. Stattdessen blickte er der jungen Frau nach, die den Laden verließ und vor dem großen Schaufenster vorbeiging. Die Türglocke bimmelte, und in der Luft hing noch der Duft ihrer Seife. »Wer war das?«, fragte er, als hätte er ein Recht darauf, es zu erfahren. »Oh, das war Nealie Bent«, antwortete der ältere Ladenbesitzer mit leicht amüsierter Miene. »Diese Frage höre ich nicht zum ersten Mal. Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier, oder wollen Sie nur junge Damen anstarren?« Will wandte sich um und blickte schweigend den Ladeninhaber an. Dann zog er einen Einkaufszettel aus der Tasche. Er legte ihn auf die Theke und strich ihn glatt. »Ich arbeite in der Mine Rose of Sharon und brauche ein paar Dinge.« Er drehte den Zettel um, sodass Mr Kaiser ihn lesen konnte. »Hier wird bar bezahlt«, sagte Mr Kaiser, doch das stimmte nicht ganz. Diejenigen, die kein Geld hatten, durften bei ihm anschreiben lassen, und er räumte auch guten Kunden wie Nealies Arbeitgeberin Kredit ein, aber Fremden gegenüber war er erst einmal misstrauisch. »Kein Problem.« Wills Stimme klang so, als wäre er nicht daran gewöhnt, dass seine Zahlungsfähigkeit in Zweifel gezogen wurde. Der Finger des Ladenbesitzers glitt die Liste hinunter, und er las laut vor: »Drei Arbeitshosen, drei Hemden, eine Kappe, Stiefel, eine Jacke, Handschuhe, Kerzenhalter, Kerzen.« Er las weiter, und als er fertig war, fragte er: »Okay, Sie arbeiten in einer Mine. Als was?« »Ich bin Bergbauingenieur und bleibe den Sommer über hier.« Der bestimmte Tonfall des jungen Mannes räumte ein mögliches Missverständnis aus, und Mr Kaiser musterte seine Kleidung, deren Schnitt zu modisch für die eines normalen Minenarbeiters war. »Sohnemann von einem hohen Tier hier?«, fragte er. Das klang ziemlich unverschämt, aber Will antwortete trotzdem höflich. »Enkel. Ich heiße William Spaulding. Theodore Spaulding ist mein Großvater. Ihm gehört die Hälfte der Mine Rose of Sharon.« »Er ist auch der Eigentümer von Minen in Leadville und im Summit County«, sagte der Ladenbesitzer. Wie alle in diesen Bergarbeiterstädten war auch Mr Kaiser hinsichtlich der Ausbeutung der Bodenschätze auf dem Laufenden, und er kannte die Namen prominenter Investoren so gut wie die seiner eigenen Kunden. Von außen kommendes Kapital war das Lebenselixier der Minen. Ohne dieses Geld konnten die Gold- und Silbervorkommen nicht erschlossen werden. Theodore Spaulding war nicht nur ein wohlhabender Mann; er kannte sich mit Erzadern und Fördermethoden aus und wurde dafür in Fachkreisen respektiert. Trotzdem konnte sein Enkel nur ein Müßiggänger sein. »Dann wollen Sie sich mal ansehen, wie's unter Tage so zugeht?« »Davon habe ich bereits eine Vorstellung. Ich habe einen Abschluss als Bergbauingenieur und weiß zumindest theoretisch, was da unten läuft. Mein Großvater fand, ich sollte den Sommer über ein paar praktische Erfahrungen sammeln. Ich bin gerade erst eingetroffen.« Nun wusste Mr Kaiser, wer sein Kunde war, und er wandte sich wieder dem Einkaufszettel zu. »Ich denke, wir haben alles da, was Sie brauchen.« Er zog Kisten aus den Regalen hinter der Theke und nahm die Größe von Hemden und Hosen in Augenschein. Dann bat er Bill, eine Lederkappe aufzusetzen, und er nickte befriedigt, weil er die Größe richtig eingeschätzt hatte. Danach reichte er dem jungen Mann zwei Paar Stiefel, um sie anzuprobieren. Will setzte sich auf einen Schemel neben dem Ofen und zog seine eleganten Schuhe aus. Ein Paar der Stiefel passte, und er legte seine Schuhe auf die Theke und meinte, bei diesen verschlammten Straßen könne er auch gleich die Stiefel anbehalten. »Socken. Davon werden Sie jede Menge benötigen, denn Sie werden in der Mine keine nassen Füße bekommen wollen. Im schlimmsten Fall kriegen Sie eine Lungenentzündung.« Mr Kaiser legte vier Paar Socken auf den Stapel der Kleidungsstücke, blickte erneut auf die Liste und zog dann ein dunkelblaues Halstuch aus einer Schublade. »Kleines Geschenk«, sagte er. »Danke! Wird mir gut stehen.« »Hier geht's nicht um Eitelkeit, Mr Spaulding. Sie werden das Halstuch benötigen, um sich den Dreck aus dem Gesicht zu wischen und um sich nach einer Dynamitexplosion den Mund und die Nase zuzuhalten.« »Trotzdem besten Dank, Sir.« Mr Kaiser benetzte mit der Zunge den Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, addierte die Kosten und drehte den Zettel zu Will herum, der bereits das Geld aus der Tasche zog. »Da gibt es noch etwas, das ich brauche«, sagte der junge Mann, während Mr Kramer die Einkäufe in braunes Packpapier wickelte und mit Bindfaden verschnürte. »Eine Pension. Bis mein Cottage bezugsfertig ist, wohne ich im Hotel de Paris. Wenn ich in das Haus einziehe, möchte ich irgendwo auswärts essen, denn ich habe keine Lust, selber zu kochen. Und noch weniger Lust, mich jeden Abend in Schale zu schmeißen, um im Hotel zu essen.« »In Georgetown gibt's jede Menge Garküchen.« »Ich suche etwas, wo es richtig sauber ist und auch noch gut schmeckt.« »Das grenzt die Auswahl etwas ein.« Mr Kaiser dachte einen Moment nach. »Vielleicht versuchen Sie es mit dem Grubstake, oben auf dem Hügel. Die Bosse bevorzugen den Schuppen, weil er deutlich stilvoller ist als die anderen. Ma Judson's Pension liegt an der Main Street. Bei ihr gibt es einen guten Mittags- und Abendtisch. Und dann wäre da noch Lydia Travers' Pension in der Rose Street. An Ihrer Stelle würde ich mich für Mrs Travers entscheiden.« »Weil sie die beste Köchin ist?« »Das habe ich nicht gesagt.« Will schwieg. »Wenn's ums Kochen geht, ist Ma Judson besser als Mrs Travers, und deren Essen ist auch nicht viel besser als das im Grubstake.« »Ist es bei ihr sauberer?« »Nicht so sehr, dass es Ihnen auffallen würde.« »Aber warum sollte ich dann bei ihr essen?« Mr Kaiser musterte den jungen Mann für einen Augenblick und lächelte dann. »Weil Nealie Bent dort arbeitet.« Will errötete. »Sie wären nicht der Erste, der wegen Nealie bei Mrs Travers essen geht. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Charlie Dumas scharf auf sie ist. Er würde sie auf der Stelle heiraten, wenn sie einverstanden wäre.« Will klemmte sich die Pakete unter den Arm, ohne auf Mr Kaisers letzte Worte einzugehen. »Am besten ist es, wenn Sie ihr keine Beachtung schenken«, rief Mr Kaiser ihm nach. »Ich bin mir sicher, dass sie keine Notiz von Ihnen genommen hat.« Der junge Mann lächelte und drehte sich noch einmal zur Theke um, wo Mr Kaiser sich an seinen Konservendosen zu schaffen machte. Doch Nealie hatte sehr wohl Notiz genommen von dem jungen Will Spaulding. Sie hatte ihn erblickt, als sie in den Kisten nach Kartoffeln ohne schlechte Stellen suchte. Verstohlen hatte sie den jungen Mann betrachtet. Seine Gesichtshaut war straff und glatt und erinnerte sie ein bisschen an eine gute Kartoffel. Er war glatt rasiert, und das gefiel ihr, denn für Schnurrbärte hatte sie nichts übrig. Seine Augen waren dunkelbraun mit goldenen Pünktchen, die an herbstlich gefärbte Espenblätter denken ließen. Das wellige braune Haar fiel ihm ins Gesicht. Womöglich war er der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war - und mit Sicherheit der am besten gekleidete in einer Stadt, wo kaum jemand etwas anderes trug als verwaschene Arbeitshemden und schmierige Overalls. Sie bewunderte Wills dicke braune Kordjacke, die wie angegossen saß und von einem Schneider stammte, nicht aus einem Laden wie dem von Mr Kaiser. Er trug eng anliegende Hosen, wie man sie in einer Großstadt trug, nicht aber in Georgetown, und seine Schuhe - Nealie musste ein Lächeln unterdrücken - waren aus so feinem Leder, dass er sie in den schlammigen Straßen der Bergarbeiterstadt innerhalb kürzester Zeit ruinieren würde. Der Mann war ein wohlhabender Fremder. Nichts für ein Mädchen wie dich, sagte sich Nealie, deren Finger sich durch die Schale in eine angefaulte Stelle einer Kartoffel bohrte. Sie legte die Kartoffel hastig in die Kiste zurück und hoffte, dass Mr Kaiser sie nicht beobachtete. Sie wäre auf der Stelle vor Scham gestorben, wenn er eine Bemerkung darüber fallen lassen würde, wie sie den Neuankömmling angestarrt hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass dich so ein Mann auch nur zur Kenntnis nimmt, dachte sie. Nealie war sich ihrer Wirkung auf Männer nicht bewusst, und wenn es anders gewesen wäre, hätte es sie irritiert. Jetzt trat der junge Mann neben ihr an die Ladentheke, wo Mr Kaiser auf braunem Packpapier die Preise ihrer Einkäufe zusammenaddierte. Sie fragte sich, wie es wohl sein würde, wenn so ein Mann einem den Hof machte. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an Kutschen und Rosen und Diamantringe, gebot sich aber schnell wieder Einhalt. Ein Mann wie dieser Fremde würde sie nie attraktiv finden. Eher würde sie auf eine Goldmine stoßen. Sie wandte sich Mr Kaiser zu. Sie war eine gute Kopfrechnerin und überprüfte, ob seine Rechnung stimmte. Kurz dachte sie darüber nach, ob sie die Summe nicht anzweifeln sollte, damit sich der junge Mann ihr zuwandte und sie ansah. Vielleicht würde er ihr einen guten Morgen wünschen. Der Gedanke ließ sie erröten, und sie bestätigte mit ihrer Unterschrift die Summe auf jenem Blatt, auf dem Mrs Travers' Einkäufe angeschrieben wurden. Sie wünschte sich, statt ihres trostlosen Baumwollkleides einen Petticoat aus Satin zu besitzen, der bei jedem ihrer Schritte leise rascheln würde. Sie wandte sich zur Tür, nahm den Korb in die andere Hand, drückte die Klinke nieder und verließ den Laden, wobei sie sich zwingen musste, sich nicht noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. Sie ging an dem großen Schaufenster vorbei. Später würde sie erneut an ihn denken. Was war schon dabei, wenn ein Mädchen wie sie von Zuchtpferden und großen Diamanten träumte? An der Ecke war die Straße durch die Schneeschmelze völlig verschlammt. Eigentlich war es Mai, doch hier oben war der Frühling noch nicht angekommen. Durch den rauen Wind war die Farbe an den Häusern teilweise abgeblättert, und in den Hinterhöfen lag noch schmutziger Schnee. Aber der Schnee auf den Gipfeln schmolz, und das Wasser rann durch die Gossen der Straßen. Nealie trug keine Damenschuhe, sondern Stiefel, wollte sie aber trotzdem nicht dreckig werden lassen. Es war eine undankbare Aufgabe, den Dreck abzukratzen, der wie Leim daran haftete, oder das Leder einzuölen. Sie hielt Ausschau, ob ein Bretterweg über die Straße ausgelegt war, sah aber keinen. Als sie gerade seufzend durch den Schlamm waten wollte, packte ein Mann ihren Arm. »Ich trage Sie hinüber, Miss Nealie.« Angesichts der Erinnerung an den Mann in dem Laden war Nealie enttäuscht, als sie die Stimme hörte. Doch Charlie Dumas konnte sie mühelos über die Straße tragen. Er war ein bärenstarker Riese von einem Mann, und er hätte sie, Mr Kaiser und den Fremden zusammen zum anderen Bürgersteig schleppen können. Aber sie wollte seine Hilfe nicht. Sein Hemd war oben nicht zugeknöpft, die weit geschnittene Hose mit Zündschnur an den Stiefeln befestigt. Er zog seinen breitkrempigen, mit Leinöl imprägnierten Hut, und lächelte sie an. Aus irgendeinem ihr selbst unverständlichen Grund wollte sie nicht, dass der Fremde aus dem Laden trat und sie in Charlies Armen sah. Doch wenn sie sich nicht tragen ließ, würden ihre Stiefel und vielleicht auch das Kleid schmutzig werden. Und überhaupt, wenn der Fremde nicht einmal in dem Laden Notiz von ihr genommen hatte, würde er ihr auf der Straße mit Sicherheit erst recht keine Aufmerksamkeit schenken. Also ließ sie sich von Charlie hochheben und über die schlammige Straße tragen.
Er ging langsam, mit gerunzelter Stirn, ganz so, als würde er darüber nachdenken, wie er die Aktion in die Länge ziehen konnte. Dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen, und er blieb mitten auf der Straße stehen. »Habe ich schon erzählt, dass ich unten an der Taos Street einen Mann gesehen habe, der bis zum Hals im Matsch steckte?« Er grinste Nealie an. »Der Mann sagte zu mir: ›Wäre halb so schlimm, wenn ich nicht auf einem Pferd sitzen würde.‹« Charlie lachte laut und hoffte, dass Nealie den Witz genauso komisch finden würde. Die hatte ihn schon zwei- oder dreimal gehört, lächelte aber höflich. Auf der anderen Straßenseite befreite sie sich aus Charlies Armen und trat zurück, um Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. »Vielen Dank, Mr Dumas«, sagte sie förmlich. »Warum nicht Charlie, wie letzte Woche? Schon vergessen? « Sie erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie außer sich vor Freude gewesen war, als sie mit Charlie im Opernhaus die Darbietung einer durchreisenden Schauspieltruppe gesehen hatte. Eigentlich hatte Charlie sie nicht dazu einladen wollen, doch sie hatte ihm ihren Wunsch so deutlich zu verstehen gegeben, dass er es schließlich begriffen und die Eintrittskarten gekauft hatte. Er hatte ruhelos auf einem für ihn zu kleinen Stuhl gesessen, doch sie war hingerissen von der Aufführung und besonders von der Hauptdarstellerin, einer Schauspielerin aus Denver, die ein Satinkleid und künstliche Diamanten trug, die im Gaslicht funkelten. Sie packte den Arm ihres Begleiters. »Oh, Charlie, ich habe noch nie eine so schöne Frau gesehen.« Sie lächelte ihn an, als wäre er ein Schauspieler und nicht nur ein Minenarbeiter mit schmutzigen Fingernägeln, der einen säuerlichen Geruch verströmte und einen schlecht sitzenden Anzug trug. »Ich kann mich nicht erinnern.« Nealie stand an der Straßenecke und strich ihr Kleid glatt. »Ich mich schon. Außerdem ...« Sie wollte es nicht hören. Sie wusste genau, was er sagen wollte: »Außerdem wissen Sie, was ich für Sie empfinde.« »Kein Außerdem«, sagte sie schroff. »Besten Dank für Ihre Hilfe, Mr Dumas. Wir sehen uns beim Abendessen.« Sie ging los. »Ich könnte den Korb tragen.« »Er ist nicht schwer«, antwortete sie, ohne sich zu bedanken. »Ist aber kein Problem. Ich muss sowieso da lang.« »Nein«, sagte sie entschieden. Sie ging los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihr war klar, dass er ihr nicht folgen würde. Charlie Dumas war ein netter Kerl, wahrscheinlich der netteste, den sie in Georgetown kennengelernt hatte, wenn nicht in ihrem ganzen Laben. Es konnte schlimmer kommen, als sich mit einem Mann wie ihm vor dem Traualtar wiederzufinden. Charlie arbeitete als Sprengmeister in der Bobcat Mine, und er gehörte nicht zu denen, die ihren Lohn vertranken oder verspielten. Statt seine Zeit in den Billardhallen zu vertrödeln, betätigte er sich nebenbei als Prospektor, und es hieß, er habe Geld auf der Seite, weil er in Leadville Silber gefunden habe. Tatsächlich erzählte man sich sogar, er habe die Black Mountain Mine entdeckt und diese an den Silberkönig h.a.w. Tabor verkauft, doch Nealie schenkte dem Gerede keine Beachtung. Ähnliches erzählte man in Georgetown über alle Welt. Und wer arbeitete schon unter Tage, wenn er es nicht nötig hatte? Sie musste zugeben, dass es großzügig gewesen war von Charlie, sie ins Opernhaus einzuladen, obwohl er keine Lust hatte, und es hatte ihr auch geschmeichelt, als er begann, ihr den Hof zu machen. Wenn man davon absah, dass er sich bei einem Unfall unter Tage einmal die Nase gebrochen hatte, sah er nicht einmal übel aus mit dem dichten blonden Haar und den tief liegenden blauen Augen. Er war ein gelassener Mann, der kaum je zornig wurde, und bei den anderen Pensionsgästen beliebt. Aber Nealie hatte es mittlerweile satt, dass er hinter ihr her lief und immer so tat, als würden sie sich zufällig begegnen. Wenn in der Stadt ein Boxkampf oder ein Konzert stattfand, verkündete er am Mittagstisch in der Pension, er werde mit Nealie hingehen. Kein anderer Mann sollte auf dieselbe Idee kommen. Doch es gab niemanden unter den Pensionsgästen, für den Nealie sich interessiert hätte. Charlies Tischmanieren ließen zu wünschen übrig, und Nealie hätte sich nicht vorstellen können, mit ihm in einem guten Restaurant zu essen, etwa in dem des Hotel de Paris. Er schlürfte laut seinen Kaffee und aß möglichst nicht mir Messer und Gabel, sondern mit einem Löffel. Auf seine Art war er großzügig. Er brachte ihr Erzproben von seinen Erkundungsgängen in den Bergen mit oder schenkte ihr ein spezielles Öl, mit dem sie ihre Stiefel gegen Wasser imprägnieren konnte. Doch wusste er nichts von Dingen, die das Herz einer jungen Frau erfreuten, von exotischen Blumen, Gedichtbänden, Seidenhandschuhen. Nicht, dass ihr ein anderer jemals solche Geschenke gemacht hätte. Sie musste lächeln. Was sollte jemand wie sie schon mit einem Gedichtband anfangen? Sie fragte sich, ob Charlie lesen konnte. Sie selbst hatte sich solche Mühe gegeben, sich etwas Bildung anzueignen, dass sie es nicht ertragen hätte, mit einem Mann zusammen zu sein, der nicht lesen konnte. Aber er konnte es bestimmt. In Georgetown hielt man Charlie Dumas für alles andere als dumm. Tatsächlich wendeten sich häufig Männer an ihn, um seine Meinung über Fragen des Bergbaus einzuholen. Auf dem Rückweg zu Mrs Travers' Pension musste sie weiter über Charlie nachdenken. Eigentlich hatte sie das schon ausgiebig genug getan, doch nun beschäftigte sie die Frage, ob sie ihn ermuntern sollte, weiter um sie zu werben. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Sie liebte ihn nicht, verabscheute ihn manchmal fast. Obwohl sie kein Recht hatte, auf einen besseren Mann zu hoffen, träumte sie trotzdem davon und glaubte auf eine seltsame Weise, es verdient zu haben. Den Grund hätte sie nicht benennen können, denn es war ihr nicht einmal wirklich bewusst, dass sie so dachte. Wenn kein besserer Mann als Charlie zu finden war, hätte sie genauso gut in Hannibal, Missouri, einen der Kumpels ihres Vaters heiraten können. Sie war nicht von zu Hause weggelaufen, um mit einem Minenarbeiter in einer Blockhütte ohne Fußboden zu leben. Sie hatte nicht vor, mit dreißig eine alte Frau zu sein, verbraucht von der Arbeit und der Geburt etlicher Kinder. Obwohl sie keine klare Vorstellung davon hatte, glaubte sie, dass es für sie ein anderes Leben geben musste. Das Leben musste ihr mehr zu bieten haben als die Existenz eines Dienstmädchens in einer Pension. Es war kein wirklich konkreter Gedanke, und wenn es so gewesen wäre, hätte es sie überrascht, denn sie stammte aus ärmsten Verhältnissen und hatte keinen Grund, sich für etwas Besseres zu halten. Wäre sie sich ihrer Wirkung auf Männer stärker bewusst gewesen, hätte sie sich ihre Jugendlichkeit und ihr ungewöhnliches Aussehen zunutze machen können. Aber sie bemerkte nicht, dass die Männer sich nach ihr umdrehten, und hätte es nicht geglaubt, wenn es ihr jemand erzählt hätte. Ihr Vater hatte gesagt, sie sei abstoßend hässlich. Ihr rotes Haar zeige, dass sie vom Teufel besessen sei, und er hatte sie deswegen ausgepeitscht. Sie ausgepeitscht und ihr noch Schlimmeres angetan. Nealie Bent hielt sich für ganz und gar unattraktiv. Und ihr war überhaupt nicht bewusst, dass sie aus ihrer Jugend und Unschuld Kapital schlagen konnte. Sie blieb am Gartentor vor Mrs Travers' Pension stehen und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Charlie ihr folgte, doch er war verschwunden. Von dem Fremden war natürlich auch nichts zu sehen. Sie bezweifelte, dass sie ihm noch einmal begegnen würde, und verdrängte ihn aus ihren Gedanken. »Du trödelst wieder«, rief Mrs Travers von der hinteren Veranda aus, vor der Holz gestapelt war, und Nealie eilte durch die Hintertür ins Haus. »Die Straßen waren völlig verschlammt«, erklärte sie, als sie ihren Korb auf dem Tisch in der ordentlich aufgeräumten Küche absetzte. An einer Wand stand ein schwarzer Herd, daneben ein Eimer mit Brennholz. Gegenüber befanden sich eine orangefarben gestrichene Spüle sowie ein mit Herzen und den Initialen E.T. bemalter Küchenschrank aus Nussbaumholz. Neben der Tür stand eine hölzerne Kiste für Stangeneis, und daneben war der Eingang einer kleinen Vorratskammer, wo neben dem Geschirr Säcke mit getrockneten Bohnen, Teig, Zucker und Kaffee aufbewahrt wurden. »Zuerst lief alles gut, doch auf dem Rückweg taute es, und man wäre fast versunken in dem Matsch«, sagte Nealie. »Charlie erzählte von einem Mann, der bis zum Hals im Schlamm steckte.« »Und auf einem Pferd saß.« Mrs Travers machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Geschichte erzählt man sich hier immer während der Schneeschmelze. Wir schreiben das Jahr 1881, und Georgetown ist zwanzig Jahre alt. Eigentlich sollte man glauben, dass es mittlerweile anständige Straßen geben müsste.« Sie schwieg kurz. »Also hast du an der Straßenecke gewartet, bis Charlie Dumas vorbeikam? Sehe ich das richtig?« »Ja.« Nealie blickte nicht auf, doch ihr war bewusst, dass Mrs Travers sie musterte. Die Witwe interessierte sich für Charlies Werben um sie und hatte ihr geraten, sie solle sich entscheiden, bevor Charlie sich ein anderes, weniger außergewöhnliches Mädchen suche. »Ich fände es sehr schade, dich zu verlieren, aber ich muss zugeben, dass er ein anständiger Mann ist. Er behandelt dich wie eine Königin.« »Dann heiraten Sie ihn doch«, erwiderte Nealie. »Würde ich ja, aber er hat bestimmt nichts übrig für eine Frau, die alt genug ist, um seine Mutter sein zu können. Außerdem würde er die Sterne vom Himmel herunterholen, um dich heiraten zu können.« Nealie lachte, denn sie war gutmütig und schätzte diese Frau, die fast wie eine Mutter für sie war. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihr Zuhause zu verlassen, wenn ihre wirkliche Mutter noch gelebt hätte. Sie hatten sich gegenseitig beschützt. Aber ihre Mutter war gestorben, und ein Jahr später hatte sie die Farm in Missouri fluchtartig verlassen. Sie hätte sich flussaufwärts nach Fort Madison in Iowa wenden können, oder nach Galena in Illinois, doch dort hätte sie ihr Vater gefunden und sie gewaltsam nach Hause geschleift, weil sie freiwillig nicht mitgekommen wäre. Statt in eine der Nachbarstädte zu flüchten, hatte sie gespart, was sie als Putzfrau bei den Nachbarn und als Erntehelferin verdiente, und außerdem hatte sie ihrem Vater das Geld gestohlen, das dieser für das Saatgut zurückgelegt hatte. Und eines Tages, als er sie zum Einkaufen nach Hannibal schickte, hatte sie eine Zugfahrkarte nach Denver gelöst, jene Stadt, von der alle redeten. Doch dort bekam sie Angst, dass ihr Vater sie finden würde, und sie war mit der Eisenbahn ins vierzig Meilen entfernte Georgetown gefahren. Von dieser Stadt hatte sie nie zuvor gehört, doch sie hatte den Namen George schon immer gemocht und hielt das für ein gutes Omen. Die Ankunft in Georgetown war verstörend. Im Bahnhof drängten sich lärmende, unrasierte Männer mit schmutzigen Stiefeln, und hier und da sah sie verängstigte Frauen mit fleckigen Baumwollkopftüchern, die weinende Kinder an sich drückten und in Sprachen vor sich hin brabbelten, die sie nicht verstand. Aber es gab auch Männer, die Schneideranzüge, gestärkte Hemden und weiche Filzhüte trugen. Sie wandte den Blick ab, denn sie kannte solche Männer aus den Spielhallen in Hannibal. Und sie hielt sich auch fern von den Frauen mit den extravaganten Frisuren, die bunte, tief ausgeschnittene Kleider trugen. Eine mit grell angemalten roten Lippen lächelte Nealie an, doch die reagierte nicht. Sie erkannte Prostituierte. Ihr Vater hatte prophezeit, sie selbst würde irgendwann zu einer werden, wenn er ihr nicht durch Schläge den Teufel austreibe. Und dann lernte sie Lidie Travers kennen. Nealie hatte sie nicht bemerkt, doch die ältere Frau hatte gesehen, wie sie in Denver in den Zug stieg. Wahrscheinlich war ihr Nealies ungewöhnliches Aussehen aufgefallen. Als sie in Georgetown den Zug verließ, blickte sie sich verloren um. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht darüber nachgedacht, was sie eigentlich tun sollte, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte einfach nur das Weite suchen wollen und fragte sich, ob sie genug Geld hatte, um sich ein Zimmer für die Nacht mieten zu können. Sie zog einen kleinen Beutel hervor, den sie als Portemonnaie benutzte, und begann ihre Barschaft zu zählen. In diesem Moment kam ein Mann auf sie zu, der sie beobachtetet hatte. Er hielt sich hinter einer sehr korpulenten Frau, die sich ihren Weg durch die Menge bahnte. Als er Nealie erreicht hatte, riss er ihr den Beutel aus der Hand und verschwand damit zwischen den aussteigenden Fahrgästen. Nealie war zu konsterniert, um erschrocken aufzuschreien, und der Gauner war schon fast verschwunden, als eine starke Hand seinen Arm packte und ihn ihm hinter dem Rücken verdrehte. »Ein Dieb!«, rief Mrs Travers laut. »Er hat der Frau da die Geldbörse gestohlen.« Sie hielt den Mann weiter fest, denn sie war eine starke Frau, die Tag und Nacht schwere Pfannen und Tabletts stemmte. Sie hatte fast so starke Muskeln wie ein Minenarbeiter, der mit Hammer und Bohrer unter Tage schuftete. Innerhalb weniger Sekunden war der Ganove von etlichen Männern umringt. Das Leben in dieser Stadt war hart, doch auch hier wurde ein Dieb verachtet, besonders dann, wenn er Frauen ausraubte. Zwei Männer stießen den Dieb Richtung Gefängnis, und Mrs Travers gab Nealie den Beutel zurück. »Es ist besser, den nicht in aller Öffentlichkeit hervorzuziehen«, warnte sie. »Ein Ort wie dieser Bahnhof lockt die übelsten Elemente an.« Nealie wirkte beunruhigt, und Mrs Travers fügte hinzu. »Auch hilfsbereite Männer, aber manchmal ist es schwer, beide voneinander zu unterscheiden.« Nealie bedankte sich. »Georgetown klang so vielversprechend. « »Sie sind hier, weil Ihnen der Name gefällt?« »›George‹ habe ich schon immer gemocht.« Mrs Travers lachte. »Einige andere hatten auch keine besseren Gründe, nach Georgetown zu kommen. Verwandte oder Freunde haben Sie hier nicht?« Nealie zuckte die Achseln und musterte die Frau, die noch nie hübsch gewesen war, aber ein ausdrucksstarkes Gesicht hatte. »Sind Sie von zu Hause weggelaufen?« »Ich bin siebzehn und kann tun, was mir gefällt.« Nealie wurde erst in einem halben Jahr siebzehn. »Oh, keine Sorge. Ich schicke Sie ja nicht gegen Ihren Willen zurück. War nur eine Frage. Wissen Sie, wo Sie bleiben können?« Bevor Nealie antworten konnte, fügte Mrs Travers hinzu. »Hab ich's mir doch gedacht. Nun, ich habe ein Zimmer neben der Küche. Da können Sie eine oder zwei Nächte schlafen. Vielleicht ist Ihnen bis dahin etwas eingefallen.« »Ich werde für die Übernachtung bezahlen. Ich habe noch etwas Geld.« »Sparen Sie es. Aber wenn Sie Lust haben, könnten Sie mir helfen, das Abendessen zuzubereiten.« »Für Ihre Familie?« »Ich führe eine Pension.« Mrs Travers musterte Nealie eingehend. »Ich nehme nicht an, dass Sie hergekommen sind, um eine Horde von Minenarbeitern zu bekochen, aber wenn Sie wollen, können Sie bei mir arbeiten. Sie bekommen Kost und Logis und noch etwas nebenher. Sie könnten mir helfen, bis Sie wissen, was Sie hier in der Stadt wollen.« Es war eher unwahrscheinlich, dass Mrs Travers bis zu diesem Augenblick je darüber nachgedacht hatte, ein Dienstmädchen einzustellen, doch Nealie wirkte nicht nur kräftig, sondern auch gutmütig und freundlich. Mrs Travers konnte den Charakter ihrer Mitmenschen gut beurteilen. Auch war sie praktisch veranlagt und zweifelte nicht daran, dass es gut für ihr Geschäft sein würde, wenn ein junges Mädchen das Essen servierte. Vielleicht glaubte sie auch, dass ihr Nealies Gesellschaft guttun würde. Sie war eine kinderlose Witwe, und die meisten Frauen in Georgetown waren so überarbeitet, dass ihnen keine Zeit blieb, Mrs Travers zu besuchen und mit ihr zu plaudern. Lydia Travers war vor fünf Jahren in die Stadt gekommen, nach dem Tod ihres zu Gewalttätigkeit neigenden Ehemanns. In Kansas City hatte sie eine »richtige« Pension geführt, wo nicht nur Mahlzeiten serviert, sondern auch Zimmer vermietet wurden. Sie schuftete Tag und Nacht, während Lute Travers das Geld vertrank und sie zudem schlug. Sie war noch keine vierzig, sah aber schon zehn bis fünfzehn Jahre älter aus. Schließlich war ihr Mann auf einer verschlammten Straße zusammengebrochen und gestorben. Mrs Travers hatte die Pension verkauft und war nach Georgetown gezogen. Sie hatte sich geschworen, nie wieder zu heiraten. Nealie dachte so lange über den Vorschlag nach, dass Mrs Travers ungeduldig wurde. »Nun, kommen Sie doch einfach mit. Sie werden sich nicht in der Gesellschaft von käuflichen Frauen wie der da aufhalten wollen. Ein armes Ding, wenn Sie mich fragen.« Mrs Travers wies mit einer Kopfbewegung auf die Frau in dem grellen Kleid, die Nealie zugelächelt hatte. »Ich kenne diese Sorte Frauen«, sagte Nealie. »Von zu Hause. Ich nehme Ihr Angebot an.« »Ich heiße Travers, Mrs Lidie Travers.« Unterdessen hatte sich die Menge im Bahnhof gelichtet. Mrs Travers griff nach ihren Taschen und hielt nach Nealies Gepäck Ausschau. »Oh, ich besitze nichts außer einem zweiten Kleid, das ich unter diesem trage«, erklärte das Mädchen. »Wenn mein Vater mich mit einem Koffer gesehen hätte, hätte er mich in der Scheune gefesselt und verprügelt.« »Wie konnten Sie auf die Idee kommen, sich ohne ein zusätzliches Taschentuch auf den Weg zu machen?« Nealie musste lachen. »Vermutlich kann ich gut darauf verzichten, weil ich nie auch nur eines besessen habe. Ich habe nie viel besessen. Mir ging es nur darum, das Weite zu suchen. Es musste sein.« Die Stimme des Mädchens klang so grimmig, dass Mrs Travers glaubte, sie sei vielleicht geschlagen worden. Wenn nicht etwas noch Schlimmeres passiert war. Aber sie nickte nur und verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Sie hatte noch nie andere ausgefragt nach Dingen, die sie nichts angingen. Vielleicht würde ihr Nealie irgendwann von sich aus erzählen, woher sie stammte und was genau vorgefallen war, doch bis dahin hatte sie das Recht, ihre Vergangenheit für sich zu behalten. Nealie griff wortlos nach einer von Mrs Travers' Taschen, und die beiden Frauen traten aus der Bahnhofshalle in das grelle Sonnenlicht, das Nealies Augen blendete. Die Sonne wärmte ihren Rücken, und die Luft war so dünn und trocken, dass sie sich ganz leicht fühlte. Aus den Minen hörte man Gehämmer und laute Explosionen, die das Mädchen zusammenzucken ließen. Über den Schmelzhütten hingen Rauchwolken, doch das störte sie nicht weiter. Ihr gefiel die Geschäftigkeit der Stadt. Und nun, nur zwei Monate nach ihrer Ankunft, fühlte sich Nealie in Georgetown sehr viel wohler als auf der Farm ihres Vaters, die ihr nie ein Zuhause gewesen war.
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Was hältst du von ihm?«, fragte Mrs Travers, als die Gäste gegangen waren und die beiden Frauen in der Küche spülten. Nealie antwortete nicht. Sie nahm den gusseisernen Kessel vom Herd und füllte die Spüle mit heißem Wasser. Dann griff sie nach einem Stück Seife, tauchte es in das Wasser, bis es zu schäumen begann, und begann schwere weiße Tassen und Untertassen zu spülen, die sie anschließend abtrocknete. »Also?«, fragte Mrs Travers, die sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, dass Nealie nur antwortete, wenn sie Lust dazu hatte. »Wen meinen Sie?«, fragte Nealie. »Unseren neuen Gast, Mr Spaulding.« »Ach, den. Ich habe ihn kaum bemerkt.« Tatsächlich hätte sie fast den Topf fallen gelassen, als sie in dem Esszimmer Will Spaulding gesehen hatte. Seit ihrer ersten Begegnung in Mr Kaisers Laden vor ein paar Tagen hatte sie in der Stadt nach ihm Ausschau gehalten, aber es schließlich aufgegeben. Sie glaubte, er sei nur auf der Durchreise gewesen. Als sie ihn dann an der Abendtafel gesehen hatte, schlug ihr Herz so schnell, dass sie glaubte, die anderen könnten es hören. »Mir ist aufgefallen, dass du ihn aus den Augenwinkeln angesehen hast, wie du es immer tust, wenn du dich unbeobachtet fühlst«, sagte Mrs Travers. »Er sieht verdammt gut aus, daran kann kein Zweifel bestehen.« »Stimmt«, räumte Nealie ein. »Und er scheint einiges für dich übrig zu haben.« Mrs Travers erhob sich von ihrem Küchenstuhl, als sie die dreckigen Teller abgekratzt hatte, und reckte sich, um etwas gegen ihren schmerzenden steifen Rücken zu tun. »Er hat mich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen«, sagte Nealie. »Ach ja? Nicht nur mir ist aufgefallen, wie Charlie Dumas sofort aus dem Speisesaal stampfte, als er mit dem Nachtisch fertig war. Ich glaube, er ist eifersüchtig.« »Dazu hat er kein Recht.« Nealie knallte eine Tasse so hart auf die Spüle, dass sie zerbrach, und blickte Mrs Travers an. Die zuckte nur die Achseln. Das Geschirr war zum großen Teil gesprungen. »Ich bin so wenig seine Freundin wie Sie, und es nervt, dass er mir ständig auflauert, als wäre das völlig normal. Ich hab's allmählich satt.« »Schreib ihn nicht zu schnell ab, Nealie. Er bezahlt immer pünktlich und beklagt sich nie über das Essen. Und er ist eine treue Seele, so anhänglich, wie es ein Mann nur sein kann.« Mrs Travers begann mit einem Geschirrtuch die Tassen abzutrocknen. »Ich warne dich. Denk nicht zu viel über Mr Spaulding nach. Er ist viel zu vornehm für Leute wie uns. Ich bin sowieso überrascht, dass er hier isst, statt sich mit den anderen feinen Pinkeln im Grubstake zu treffen. Glaubst du wirklich, dass er zu uns kommt, weil er dich irgendwo in der Stadt gesehen hat?« Als Nealie nicht antwortete, fügte Mrs Travers hinzu. »Nein, ich glaube nicht daran.« »Der Einzige, der mir nachstellt, ist Mr Dumas. Er scheint immer in der Nähe zu sein.« Nealie ging zur Hintertür, kippte das Spülwasser in ein Blumenbeet und füllte das Becken erneut mit heißem Wasser aus dem Kessel, um mit einer Bürste das Besteck zu spülen. Die beiden Frauen arbeiteten schweigend, bis das Geschirr und das Besteck, die schweren Töpfe und gusseisernen Pfannen abgetrocknet und weggeräumt waren. Nealie ging mit dem Abfalleimer nach draußen und kippte den Inhalt in den Schweinetrog. Der Schweinezwinger befand sich am hinteren Ende des Gartens, und Mrs Travers hatte schmale Planken ausgelegt, damit man dorthin gelangte, ohne sich die Stiefel schmutzig zu machen. Nealie beobachtete, wie das einzige Schwein zum Trog watschelte und die Abfälle fraß. Das erinnerte sie daran, wie einige der Pensionsgäste aßen, zum Beispiel Charlie Dumas. In diesem Moment erblickte sie Will Spaulding am Gartenzaun. Er sah sie erstaunt an, und sie spürte, wie sie errötete. Ihr stieg sehr schnell das Blut ins Gesicht. »Hallo, Miss Bent. So heißen Sie doch, oder?« Er lüftete seinen Hut. »Ich war mir nicht ganz sicher, weil Mrs Travers Sie nur unter Ihrem Vornamen vorgestellt hat.« »Ja, so heiße ich.« Nealie war glücklich, dass er ihren Namen kannte und sie statt Miss Nealie Miss Bent nannte. Das klang vornehmer. »Sie haben mich beim Abendessen kaum eines Blickes gewürdigt, und ich war besorgt, Sie wären wütend, weil ich Ihnen zu viel Arbeit gemacht hatte. Falls das so gewesen sein sollte, hoffe ich, es wiedergutmachen zu können, denn ich mag es nicht, andere zu verärgern. Deshalb habe ich hier gewartet, weil ich mir gedacht habe, dass Sie herauskommen würden. Ich bin erst seit Kurzem in der Stadt und habe hier nicht viele Freunde. Ich wäre froh, Sie als eine Freundin ansehen zu dürfen.« Solche Worte hatte Nealie noch nie gehört, und sie war so irritiert, dass ihr keine Antwort einfiel. Also stand sie nur schweigend da, mit dem Abfalleimer in der Hand. Als wäre ihr Schweigen die richtige Antwort, fuhr Will Spaulding fort: »Ich habe gehört, dass die Jungs hier am Sonntag um die Wette bohren, und ich würde Sie gern einladen, mich zu begleiten.« Nealie starrte ihn nur an. »Ich bin schrecklich direkt, aber die Konventionen scheinen in Georgetown nicht so wichtig zu sein. An der Ostküste lernt man ein Mädchen in der Kirche kennen, und dann muss man sich um ihre Eltern kümmern. Nach ein oder zwei Monaten darf man sie dann bitten, sie nach Hause zu begleiten. Das ist so ermüdend. In Georgetown geht es nicht so förmlich zu. Das gefällt mir.« Als Nealie nicht antwortete, sagte er: »Ich entschuldige mich, wenn das zu direkt war. Vielleicht haben Sie einen Verehrer.« »Nein. Es gibt niemanden, der mir am Herzen liegt.« Wäre sie etwas weltgewandter gewesen, hätte sie vielleicht ein bisschen geflirtet und durchblicken lassen, sie habe viele Verehrer. Sie hätte seine Einladung abgelehnt und vorgeschlagen, er solle später noch einmal fragen. Das hätte ihn nervös gemacht. Doch sie war unfähig zu solchen Tricks. Sie umklammerte krampfhaft den Griff des Eimers und sagte: »Sie können darauf wetten, dass ich mitkomme. Ich meine, ich nehme Ihre Einladung gern an, Mr Spaulding.« Sie wünschte, sich so gewählt ausdrücken zu können wie er. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, antwortete er. »Dann wünsche ich Ihnen jetzt noch einen schönen Abend. Wir sehen uns morgen beim Frühstück.« Er setzte den Hut auf, drehte sich um und verschwand in der Nacht. »Ja, Ihnen auch einen schönen Abend«, rief sie ihm nach, doch sie wusste nicht, ob er es gehört hatte. Sie stand noch lange da und starrte in die Finsternis. Als sie sich dann umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, stand Mrs Travers in der Hintertür. »Mr Spaulding redet wie ein echter Gentleman«, sagte sie mit einem Unterton, der daran zweifeln ließ, ob es ein Kompliment war. »Er hat mich eingeladen, ihn am Sonntag zu dem Wettkampf zu begleiten.« »Ich hab's gehört.« Mrs Travers trat zur Seite, damit Nealie in die Küche zurückkehren konnte. »Und was ist mit Charlie Dumas?« »Was soll mit ihm sein?« »Wollte er dich nicht einladen?« »Ich bin ihm nicht verpflichtet. Außerdem hat er mich nicht gefragt.« »Wahrscheinlich hielt er das für überflüssig. Er wird sehr verletzt sein.« »Dafür gibt es keinen Grund. Ich habe ihm nie Hoffnungen gemacht.« Nealie füllte den Eimer mit heißem Wasser und begann ihn zu säubern. Mrs Travers musterte sie. »Ich frage mich, ob Mr Spaulding wirklich ganz ohne Fehl und Tadel ist«, sagte sie so leise, dass Nealie sie bat, ihre Worte zu wiederholen. Aber die Pensionswirtin hielt ihre Zunge im Zaum, denn sie konnte Nealie keine Vorschriften machen. Wenn das Mädchen etwas Spaß haben wollte, würde sie ihm bestimmt nicht im Wege stehen, denn es war klar, dass Nealie ein trauriges Leben hinter sich hatte. An einem späteren Tag der Woche sprachen die Männer beim Abendessen darüber, wer die besten Chancen habe, den Wettkampf zu gewinnen. Es gab drei Disziplinen. Zunächst musste ein einzelner Minenarbeiter mit einem zwei Kilogramm schweren Hammer auf einen Bohrer einschlagen und ein Loch in eine Granitwand treiben. Er drehte den Bohrer, wenn der Hammer ihn traf, etwas fünfzig Mal pro Minute, bis das Loch groß genug für eine Dynamitladung war. Danach bildeten zwei Männer ein Team, wobei einer den Bohrer drehte und der andere mit einem vier Kilo schweren Hammer darauf einschlug. Beim Dreierwettbewerb drehten zwei Männer abwechselnd den Bohrer. Der Gewinner war der Mann oder das Team, das in einer bestimmten Zeit das größte Loch in den Fels trieb. Diese Männer waren sehr geachtet, denn in den Minen brauchte man Könner ihres Fachs, welche die Löcher für die Sprengladungen bohrten. »Bist du auch dabei?«, fragte einer der Männer Charlie Dumas. »Nein, das ist ja keine große Sache. Vielleicht am Unabhängigkeitstag. « Charlie blickte zu Nealie hinüber, die eine Platte mit Schinken hereinbrachte. »Du hast Schiss, dass du verlierst«, spottete der Mann. »Ich würde nicht verlieren«, antwortete Charlie. »Ich gehe als Zuschauer hin, wenn mich jemand begleitet.« Wieder schaute er zu Nealie hinüber, doch die wich seinem Blick aus. »Charlie hat seine besten Tage hinter sich«, bemerkte ein anderer Mann. »Ich bin gut wie eh und je. Ich würde nur lieber gemeinsam mit Miss Nealie zusehen, wie die anderen in Schweiß ausbrechen. « Charlie grinste. »Ich werde mein Geld auf Jonce Kelly setzen, und wenn ich gewinne, lade ich Nealie zum Abendessen ins Hotel de Paris ein.« Er sprach den Namen der französischen Hauptstadt falsch aus. »Wäre das nicht großartig, Miss Nealie? Ich wette, Sie waren noch nie in dem Restaurant.« Nealie errötete und floh mit der leeren Platte in die Küche. Dann kehrte sie mit einer Schüssel mit Kartoffelpüree und einer mit brauner Soße zurück. »Sie werden mich doch begleiten, Miss Nealie?«, fragte Charlie ein bisschen verunsichert. Das Mädchen knallte die Schüsseln so heftig auf den Tisch, dass Soße aufs Tischtuch spritzte. »Nein, ich denke nicht, Mr Dumas.« »Ach, Sie mögen doch diese Wettkämpfe. Wollen Sie mich nicht begleiten?« Die anderen Gäste ließen ihr Essen kalt werden und starrten die beiden an. »Ich habe andere Pläne«, antwortete Nealie. Charlie blickte sie an. »Sie wollen wirklich nicht mitkommen? «, fragte er mit vollem Mund. Die anderen schauten ihn an, und er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Sie hätten eher fragen sollen. Wie gesagt, jetzt habe ich andere Pläne.« Das Esszimmer, das einst der winzige »Salon« des Hauses gewesen war, war gerade groß genug für einen Tisch und neun Stühle, und es herrschte immer dicke Luft. Doch nun wirkte die Atmosphäre noch drückender, weil die Fenster wegen der Kälte geschlossen waren. Nealie wollte in die Küche flüchten,
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Es war unklar, woran es lag, doch etwas veranlasste die Männer, Nealie Bent anzustarren. Sie war dürr, ohne auffällige Rundungen, und auch ihr Gesicht war zu hager und kantig, um als hübsch gelten zu können. Zudem war sie ungewöhnlich groß, und ihre Schritte erinnerten eher an einen Mann als an ein junges Mädchen. Ihr verblichenes, gelbes Baumwollkleid war an den Ärmeln und am Kragen fadenscheinig, die Farbe passte nicht zu ihrer hellen Haut. Sie besaß nur zwei Kleider. Das andere war nicht besser. Und doch drehten sich die Männer nach Nealie Bent um, denn es stand außer Frage, dass das große, dünne Mädchen faszinierend war, zumindest aber das gewisse Etwas hatte. Ihre sehr blassblauen Augen ließen an eine blühende Akelei im Frühling denken, und sie hatte rotes Haar und jede Menge Sommersprossen. Vielleicht lag es an ihrer Jugend, dass sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog. Georgetown selbst war eine junge Stadt, und Jugendlichkeit stand hier hoch im Kurs. Arbeit und Geburten hatten die meisten der hier lebenden Frauen vorzeitig altern lassen. Auf dem Alvarado-Friedhof lagen viele Babys, gelegentlich neben ihren Müttern, welche die Geburt nicht überlebt hatten. Das Leben in Georgetown war hart. Die Leute sagten: »Jeder, der nicht vom Leben gezeichnet ist, kommt von außerhalb.« Eine junge Frau wie Nealie war immer ein Neuankömmling in dieser Stadt. Doch auch sie würde hier schnell genug altern. Aber für den Moment - und vielleicht noch für ein paar Jahre - passte ihre Jugendlichkeit zum Geist der Stadt, die große Anziehungskraft ausübte auf jene, die schnell ihr Glück machen wollten. Wenn es nicht Nealies Jugend war, welche die Blicke auf sich zog, dann hätte es vielleicht die Aura der Unschuld sein können, die sie umgab, denn Unschuld war in Georgetown noch seltener als Jugendlichkeit. Doch hier trog der Schein, denn Nealie hatte mit ihren wenigen Jahren schon ein hartes Leben hinter sich. Obwohl sie mehr über die dunklen Seiten des Daseins wusste als die meisten Mädchen ihres Alters, sah man es ihr nicht an, und sie wirkte so unschuldig wie ein Kleinkind. Folglich konnte niemand genau sagen, woran es lag, dass sich die Männer nach Nealie umdrehten, aber es dachte auch niemand genauer darüber nach. Und doch wusste jeder, dass da etwas war, wenn sie auf dem breiten hölzernen Bürgersteig vorbeikam oder beim Einkaufen in Schaufenstern nach Dingen Ausschau hielt, welche sie sich nie würde leisten können. Will Spaulding unterschied sich in seiner Bewunderung für Nealie nicht von den anderen Männern. Die junge Frau war ihm aufgefallen, als sie Äpfel, Zwiebeln und Kartoffeln in ihren Korb packte. Nun stand sie an der Theke von Mr Kaisers Laden, um ihre Einkäufe zu bezahlen. Will blickte sie an. Sie war fast einen Meter achtzig groß, nur etwa zwei Zentimeter kleiner als er. Sein Blick wanderte über den mageren Körper unter dem schäbigen Kleid, doch dann bemerkte er, dass Mr Kaiser ihn beobachtete und sich räusperte. »Ich habe gesagt: ›Was kann ich für Sie tun, junger Mann?‹«, wiederholte der Ladenbesitzer. Nealie nahm ihren Korb und wandte sich zur Tür, ohne dem neben ihr stehenden Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen. Auch Will räusperte sich, sagte jedoch nichts. Stattdessen blickte er der jungen Frau nach, die den Laden verließ und vor dem großen Schaufenster vorbeiging. Die Türglocke bimmelte, und in der Luft hing noch der Duft ihrer Seife. »Wer war das?«, fragte er, als hätte er ein Recht darauf, es zu erfahren. »Oh, das war Nealie Bent«, antwortete der ältere Ladenbesitzer mit leicht amüsierter Miene. »Diese Frage höre ich nicht zum ersten Mal. Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier, oder wollen Sie nur junge Damen anstarren?« Will wandte sich um und blickte schweigend den Ladeninhaber an. Dann zog er einen Einkaufszettel aus der Tasche. Er legte ihn auf die Theke und strich ihn glatt. »Ich arbeite in der Mine Rose of Sharon und brauche ein paar Dinge.« Er drehte den Zettel um, sodass Mr Kaiser ihn lesen konnte. »Hier wird bar bezahlt«, sagte Mr Kaiser, doch das stimmte nicht ganz. Diejenigen, die kein Geld hatten, durften bei ihm anschreiben lassen, und er räumte auch guten Kunden wie Nealies Arbeitgeberin Kredit ein, aber Fremden gegenüber war er erst einmal misstrauisch. »Kein Problem.« Wills Stimme klang so, als wäre er nicht daran gewöhnt, dass seine Zahlungsfähigkeit in Zweifel gezogen wurde. Der Finger des Ladenbesitzers glitt die Liste hinunter, und er las laut vor: »Drei Arbeitshosen, drei Hemden, eine Kappe, Stiefel, eine Jacke, Handschuhe, Kerzenhalter, Kerzen.« Er las weiter, und als er fertig war, fragte er: »Okay, Sie arbeiten in einer Mine. Als was?« »Ich bin Bergbauingenieur und bleibe den Sommer über hier.« Der bestimmte Tonfall des jungen Mannes räumte ein mögliches Missverständnis aus, und Mr Kaiser musterte seine Kleidung, deren Schnitt zu modisch für die eines normalen Minenarbeiters war. »Sohnemann von einem hohen Tier hier?«, fragte er. Das klang ziemlich unverschämt, aber Will antwortete trotzdem höflich. »Enkel. Ich heiße William Spaulding. Theodore Spaulding ist mein Großvater. Ihm gehört die Hälfte der Mine Rose of Sharon.« »Er ist auch der Eigentümer von Minen in Leadville und im Summit County«, sagte der Ladenbesitzer. Wie alle in diesen Bergarbeiterstädten war auch Mr Kaiser hinsichtlich der Ausbeutung der Bodenschätze auf dem Laufenden, und er kannte die Namen prominenter Investoren so gut wie die seiner eigenen Kunden. Von außen kommendes Kapital war das Lebenselixier der Minen. Ohne dieses Geld konnten die Gold- und Silbervorkommen nicht erschlossen werden. Theodore Spaulding war nicht nur ein wohlhabender Mann; er kannte sich mit Erzadern und Fördermethoden aus und wurde dafür in Fachkreisen respektiert. Trotzdem konnte sein Enkel nur ein Müßiggänger sein. »Dann wollen Sie sich mal ansehen, wie's unter Tage so zugeht?« »Davon habe ich bereits eine Vorstellung. Ich habe einen Abschluss als Bergbauingenieur und weiß zumindest theoretisch, was da unten läuft. Mein Großvater fand, ich sollte den Sommer über ein paar praktische Erfahrungen sammeln. Ich bin gerade erst eingetroffen.« Nun wusste Mr Kaiser, wer sein Kunde war, und er wandte sich wieder dem Einkaufszettel zu. »Ich denke, wir haben alles da, was Sie brauchen.« Er zog Kisten aus den Regalen hinter der Theke und nahm die Größe von Hemden und Hosen in Augenschein. Dann bat er Bill, eine Lederkappe aufzusetzen, und er nickte befriedigt, weil er die Größe richtig eingeschätzt hatte. Danach reichte er dem jungen Mann zwei Paar Stiefel, um sie anzuprobieren. Will setzte sich auf einen Schemel neben dem Ofen und zog seine eleganten Schuhe aus. Ein Paar der Stiefel passte, und er legte seine Schuhe auf die Theke und meinte, bei diesen verschlammten Straßen könne er auch gleich die Stiefel anbehalten. »Socken. Davon werden Sie jede Menge benötigen, denn Sie werden in der Mine keine nassen Füße bekommen wollen. Im schlimmsten Fall kriegen Sie eine Lungenentzündung.« Mr Kaiser legte vier Paar Socken auf den Stapel der Kleidungsstücke, blickte erneut auf die Liste und zog dann ein dunkelblaues Halstuch aus einer Schublade. »Kleines Geschenk«, sagte er. »Danke! Wird mir gut stehen.« »Hier geht's nicht um Eitelkeit, Mr Spaulding. Sie werden das Halstuch benötigen, um sich den Dreck aus dem Gesicht zu wischen und um sich nach einer Dynamitexplosion den Mund und die Nase zuzuhalten.« »Trotzdem besten Dank, Sir.« Mr Kaiser benetzte mit der Zunge den Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, addierte die Kosten und drehte den Zettel zu Will herum, der bereits das Geld aus der Tasche zog. »Da gibt es noch etwas, das ich brauche«, sagte der junge Mann, während Mr Kramer die Einkäufe in braunes Packpapier wickelte und mit Bindfaden verschnürte. »Eine Pension. Bis mein Cottage bezugsfertig ist, wohne ich im Hotel de Paris. Wenn ich in das Haus einziehe, möchte ich irgendwo auswärts essen, denn ich habe keine Lust, selber zu kochen. Und noch weniger Lust, mich jeden Abend in Schale zu schmeißen, um im Hotel zu essen.« »In Georgetown gibt's jede Menge Garküchen.« »Ich suche etwas, wo es richtig sauber ist und auch noch gut schmeckt.« »Das grenzt die Auswahl etwas ein.« Mr Kaiser dachte einen Moment nach. »Vielleicht versuchen Sie es mit dem Grubstake, oben auf dem Hügel. Die Bosse bevorzugen den Schuppen, weil er deutlich stilvoller ist als die anderen. Ma Judson's Pension liegt an der Main Street. Bei ihr gibt es einen guten Mittags- und Abendtisch. Und dann wäre da noch Lydia Travers' Pension in der Rose Street. An Ihrer Stelle würde ich mich für Mrs Travers entscheiden.« »Weil sie die beste Köchin ist?« »Das habe ich nicht gesagt.« Will schwieg. »Wenn's ums Kochen geht, ist Ma Judson besser als Mrs Travers, und deren Essen ist auch nicht viel besser als das im Grubstake.« »Ist es bei ihr sauberer?« »Nicht so sehr, dass es Ihnen auffallen würde.« »Aber warum sollte ich dann bei ihr essen?« Mr Kaiser musterte den jungen Mann für einen Augenblick und lächelte dann. »Weil Nealie Bent dort arbeitet.« Will errötete. »Sie wären nicht der Erste, der wegen Nealie bei Mrs Travers essen geht. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Charlie Dumas scharf auf sie ist. Er würde sie auf der Stelle heiraten, wenn sie einverstanden wäre.« Will klemmte sich die Pakete unter den Arm, ohne auf Mr Kaisers letzte Worte einzugehen. »Am besten ist es, wenn Sie ihr keine Beachtung schenken«, rief Mr Kaiser ihm nach. »Ich bin mir sicher, dass sie keine Notiz von Ihnen genommen hat.« Der junge Mann lächelte und drehte sich noch einmal zur Theke um, wo Mr Kaiser sich an seinen Konservendosen zu schaffen machte. Doch Nealie hatte sehr wohl Notiz genommen von dem jungen Will Spaulding. Sie hatte ihn erblickt, als sie in den Kisten nach Kartoffeln ohne schlechte Stellen suchte. Verstohlen hatte sie den jungen Mann betrachtet. Seine Gesichtshaut war straff und glatt und erinnerte sie ein bisschen an eine gute Kartoffel. Er war glatt rasiert, und das gefiel ihr, denn für Schnurrbärte hatte sie nichts übrig. Seine Augen waren dunkelbraun mit goldenen Pünktchen, die an herbstlich gefärbte Espenblätter denken ließen. Das wellige braune Haar fiel ihm ins Gesicht. Womöglich war er der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war - und mit Sicherheit der am besten gekleidete in einer Stadt, wo kaum jemand etwas anderes trug als verwaschene Arbeitshemden und schmierige Overalls. Sie bewunderte Wills dicke braune Kordjacke, die wie angegossen saß und von einem Schneider stammte, nicht aus einem Laden wie dem von Mr Kaiser. Er trug eng anliegende Hosen, wie man sie in einer Großstadt trug, nicht aber in Georgetown, und seine Schuhe - Nealie musste ein Lächeln unterdrücken - waren aus so feinem Leder, dass er sie in den schlammigen Straßen der Bergarbeiterstadt innerhalb kürzester Zeit ruinieren würde. Der Mann war ein wohlhabender Fremder. Nichts für ein Mädchen wie dich, sagte sich Nealie, deren Finger sich durch die Schale in eine angefaulte Stelle einer Kartoffel bohrte. Sie legte die Kartoffel hastig in die Kiste zurück und hoffte, dass Mr Kaiser sie nicht beobachtete. Sie wäre auf der Stelle vor Scham gestorben, wenn er eine Bemerkung darüber fallen lassen würde, wie sie den Neuankömmling angestarrt hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass dich so ein Mann auch nur zur Kenntnis nimmt, dachte sie. Nealie war sich ihrer Wirkung auf Männer nicht bewusst, und wenn es anders gewesen wäre, hätte es sie irritiert. Jetzt trat der junge Mann neben ihr an die Ladentheke, wo Mr Kaiser auf braunem Packpapier die Preise ihrer Einkäufe zusammenaddierte. Sie fragte sich, wie es wohl sein würde, wenn so ein Mann einem den Hof machte. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an Kutschen und Rosen und Diamantringe, gebot sich aber schnell wieder Einhalt. Ein Mann wie dieser Fremde würde sie nie attraktiv finden. Eher würde sie auf eine Goldmine stoßen. Sie wandte sich Mr Kaiser zu. Sie war eine gute Kopfrechnerin und überprüfte, ob seine Rechnung stimmte. Kurz dachte sie darüber nach, ob sie die Summe nicht anzweifeln sollte, damit sich der junge Mann ihr zuwandte und sie ansah. Vielleicht würde er ihr einen guten Morgen wünschen. Der Gedanke ließ sie erröten, und sie bestätigte mit ihrer Unterschrift die Summe auf jenem Blatt, auf dem Mrs Travers' Einkäufe angeschrieben wurden. Sie wünschte sich, statt ihres trostlosen Baumwollkleides einen Petticoat aus Satin zu besitzen, der bei jedem ihrer Schritte leise rascheln würde. Sie wandte sich zur Tür, nahm den Korb in die andere Hand, drückte die Klinke nieder und verließ den Laden, wobei sie sich zwingen musste, sich nicht noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. Sie ging an dem großen Schaufenster vorbei. Später würde sie erneut an ihn denken. Was war schon dabei, wenn ein Mädchen wie sie von Zuchtpferden und großen Diamanten träumte? An der Ecke war die Straße durch die Schneeschmelze völlig verschlammt. Eigentlich war es Mai, doch hier oben war der Frühling noch nicht angekommen. Durch den rauen Wind war die Farbe an den Häusern teilweise abgeblättert, und in den Hinterhöfen lag noch schmutziger Schnee. Aber der Schnee auf den Gipfeln schmolz, und das Wasser rann durch die Gossen der Straßen. Nealie trug keine Damenschuhe, sondern Stiefel, wollte sie aber trotzdem nicht dreckig werden lassen. Es war eine undankbare Aufgabe, den Dreck abzukratzen, der wie Leim daran haftete, oder das Leder einzuölen. Sie hielt Ausschau, ob ein Bretterweg über die Straße ausgelegt war, sah aber keinen. Als sie gerade seufzend durch den Schlamm waten wollte, packte ein Mann ihren Arm. »Ich trage Sie hinüber, Miss Nealie.« Angesichts der Erinnerung an den Mann in dem Laden war Nealie enttäuscht, als sie die Stimme hörte. Doch Charlie Dumas konnte sie mühelos über die Straße tragen. Er war ein bärenstarker Riese von einem Mann, und er hätte sie, Mr Kaiser und den Fremden zusammen zum anderen Bürgersteig schleppen können. Aber sie wollte seine Hilfe nicht. Sein Hemd war oben nicht zugeknöpft, die weit geschnittene Hose mit Zündschnur an den Stiefeln befestigt. Er zog seinen breitkrempigen, mit Leinöl imprägnierten Hut, und lächelte sie an. Aus irgendeinem ihr selbst unverständlichen Grund wollte sie nicht, dass der Fremde aus dem Laden trat und sie in Charlies Armen sah. Doch wenn sie sich nicht tragen ließ, würden ihre Stiefel und vielleicht auch das Kleid schmutzig werden. Und überhaupt, wenn der Fremde nicht einmal in dem Laden Notiz von ihr genommen hatte, würde er ihr auf der Straße mit Sicherheit erst recht keine Aufmerksamkeit schenken. Also ließ sie sich von Charlie hochheben und über die schlammige Straße tragen.
Er ging langsam, mit gerunzelter Stirn, ganz so, als würde er darüber nachdenken, wie er die Aktion in die Länge ziehen konnte. Dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen, und er blieb mitten auf der Straße stehen. »Habe ich schon erzählt, dass ich unten an der Taos Street einen Mann gesehen habe, der bis zum Hals im Matsch steckte?« Er grinste Nealie an. »Der Mann sagte zu mir: ›Wäre halb so schlimm, wenn ich nicht auf einem Pferd sitzen würde.‹« Charlie lachte laut und hoffte, dass Nealie den Witz genauso komisch finden würde. Die hatte ihn schon zwei- oder dreimal gehört, lächelte aber höflich. Auf der anderen Straßenseite befreite sie sich aus Charlies Armen und trat zurück, um Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. »Vielen Dank, Mr Dumas«, sagte sie förmlich. »Warum nicht Charlie, wie letzte Woche? Schon vergessen? « Sie erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie außer sich vor Freude gewesen war, als sie mit Charlie im Opernhaus die Darbietung einer durchreisenden Schauspieltruppe gesehen hatte. Eigentlich hatte Charlie sie nicht dazu einladen wollen, doch sie hatte ihm ihren Wunsch so deutlich zu verstehen gegeben, dass er es schließlich begriffen und die Eintrittskarten gekauft hatte. Er hatte ruhelos auf einem für ihn zu kleinen Stuhl gesessen, doch sie war hingerissen von der Aufführung und besonders von der Hauptdarstellerin, einer Schauspielerin aus Denver, die ein Satinkleid und künstliche Diamanten trug, die im Gaslicht funkelten. Sie packte den Arm ihres Begleiters. »Oh, Charlie, ich habe noch nie eine so schöne Frau gesehen.« Sie lächelte ihn an, als wäre er ein Schauspieler und nicht nur ein Minenarbeiter mit schmutzigen Fingernägeln, der einen säuerlichen Geruch verströmte und einen schlecht sitzenden Anzug trug. »Ich kann mich nicht erinnern.« Nealie stand an der Straßenecke und strich ihr Kleid glatt. »Ich mich schon. Außerdem ...« Sie wollte es nicht hören. Sie wusste genau, was er sagen wollte: »Außerdem wissen Sie, was ich für Sie empfinde.« »Kein Außerdem«, sagte sie schroff. »Besten Dank für Ihre Hilfe, Mr Dumas. Wir sehen uns beim Abendessen.« Sie ging los. »Ich könnte den Korb tragen.« »Er ist nicht schwer«, antwortete sie, ohne sich zu bedanken. »Ist aber kein Problem. Ich muss sowieso da lang.« »Nein«, sagte sie entschieden. Sie ging los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihr war klar, dass er ihr nicht folgen würde. Charlie Dumas war ein netter Kerl, wahrscheinlich der netteste, den sie in Georgetown kennengelernt hatte, wenn nicht in ihrem ganzen Laben. Es konnte schlimmer kommen, als sich mit einem Mann wie ihm vor dem Traualtar wiederzufinden. Charlie arbeitete als Sprengmeister in der Bobcat Mine, und er gehörte nicht zu denen, die ihren Lohn vertranken oder verspielten. Statt seine Zeit in den Billardhallen zu vertrödeln, betätigte er sich nebenbei als Prospektor, und es hieß, er habe Geld auf der Seite, weil er in Leadville Silber gefunden habe. Tatsächlich erzählte man sich sogar, er habe die Black Mountain Mine entdeckt und diese an den Silberkönig h.a.w. Tabor verkauft, doch Nealie schenkte dem Gerede keine Beachtung. Ähnliches erzählte man in Georgetown über alle Welt. Und wer arbeitete schon unter Tage, wenn er es nicht nötig hatte? Sie musste zugeben, dass es großzügig gewesen war von Charlie, sie ins Opernhaus einzuladen, obwohl er keine Lust hatte, und es hatte ihr auch geschmeichelt, als er begann, ihr den Hof zu machen. Wenn man davon absah, dass er sich bei einem Unfall unter Tage einmal die Nase gebrochen hatte, sah er nicht einmal übel aus mit dem dichten blonden Haar und den tief liegenden blauen Augen. Er war ein gelassener Mann, der kaum je zornig wurde, und bei den anderen Pensionsgästen beliebt. Aber Nealie hatte es mittlerweile satt, dass er hinter ihr her lief und immer so tat, als würden sie sich zufällig begegnen. Wenn in der Stadt ein Boxkampf oder ein Konzert stattfand, verkündete er am Mittagstisch in der Pension, er werde mit Nealie hingehen. Kein anderer Mann sollte auf dieselbe Idee kommen. Doch es gab niemanden unter den Pensionsgästen, für den Nealie sich interessiert hätte. Charlies Tischmanieren ließen zu wünschen übrig, und Nealie hätte sich nicht vorstellen können, mit ihm in einem guten Restaurant zu essen, etwa in dem des Hotel de Paris. Er schlürfte laut seinen Kaffee und aß möglichst nicht mir Messer und Gabel, sondern mit einem Löffel. Auf seine Art war er großzügig. Er brachte ihr Erzproben von seinen Erkundungsgängen in den Bergen mit oder schenkte ihr ein spezielles Öl, mit dem sie ihre Stiefel gegen Wasser imprägnieren konnte. Doch wusste er nichts von Dingen, die das Herz einer jungen Frau erfreuten, von exotischen Blumen, Gedichtbänden, Seidenhandschuhen. Nicht, dass ihr ein anderer jemals solche Geschenke gemacht hätte. Sie musste lächeln. Was sollte jemand wie sie schon mit einem Gedichtband anfangen? Sie fragte sich, ob Charlie lesen konnte. Sie selbst hatte sich solche Mühe gegeben, sich etwas Bildung anzueignen, dass sie es nicht ertragen hätte, mit einem Mann zusammen zu sein, der nicht lesen konnte. Aber er konnte es bestimmt. In Georgetown hielt man Charlie Dumas für alles andere als dumm. Tatsächlich wendeten sich häufig Männer an ihn, um seine Meinung über Fragen des Bergbaus einzuholen. Auf dem Rückweg zu Mrs Travers' Pension musste sie weiter über Charlie nachdenken. Eigentlich hatte sie das schon ausgiebig genug getan, doch nun beschäftigte sie die Frage, ob sie ihn ermuntern sollte, weiter um sie zu werben. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Sie liebte ihn nicht, verabscheute ihn manchmal fast. Obwohl sie kein Recht hatte, auf einen besseren Mann zu hoffen, träumte sie trotzdem davon und glaubte auf eine seltsame Weise, es verdient zu haben. Den Grund hätte sie nicht benennen können, denn es war ihr nicht einmal wirklich bewusst, dass sie so dachte. Wenn kein besserer Mann als Charlie zu finden war, hätte sie genauso gut in Hannibal, Missouri, einen der Kumpels ihres Vaters heiraten können. Sie war nicht von zu Hause weggelaufen, um mit einem Minenarbeiter in einer Blockhütte ohne Fußboden zu leben. Sie hatte nicht vor, mit dreißig eine alte Frau zu sein, verbraucht von der Arbeit und der Geburt etlicher Kinder. Obwohl sie keine klare Vorstellung davon hatte, glaubte sie, dass es für sie ein anderes Leben geben musste. Das Leben musste ihr mehr zu bieten haben als die Existenz eines Dienstmädchens in einer Pension. Es war kein wirklich konkreter Gedanke, und wenn es so gewesen wäre, hätte es sie überrascht, denn sie stammte aus ärmsten Verhältnissen und hatte keinen Grund, sich für etwas Besseres zu halten. Wäre sie sich ihrer Wirkung auf Männer stärker bewusst gewesen, hätte sie sich ihre Jugendlichkeit und ihr ungewöhnliches Aussehen zunutze machen können. Aber sie bemerkte nicht, dass die Männer sich nach ihr umdrehten, und hätte es nicht geglaubt, wenn es ihr jemand erzählt hätte. Ihr Vater hatte gesagt, sie sei abstoßend hässlich. Ihr rotes Haar zeige, dass sie vom Teufel besessen sei, und er hatte sie deswegen ausgepeitscht. Sie ausgepeitscht und ihr noch Schlimmeres angetan. Nealie Bent hielt sich für ganz und gar unattraktiv. Und ihr war überhaupt nicht bewusst, dass sie aus ihrer Jugend und Unschuld Kapital schlagen konnte. Sie blieb am Gartentor vor Mrs Travers' Pension stehen und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Charlie ihr folgte, doch er war verschwunden. Von dem Fremden war natürlich auch nichts zu sehen. Sie bezweifelte, dass sie ihm noch einmal begegnen würde, und verdrängte ihn aus ihren Gedanken. »Du trödelst wieder«, rief Mrs Travers von der hinteren Veranda aus, vor der Holz gestapelt war, und Nealie eilte durch die Hintertür ins Haus. »Die Straßen waren völlig verschlammt«, erklärte sie, als sie ihren Korb auf dem Tisch in der ordentlich aufgeräumten Küche absetzte. An einer Wand stand ein schwarzer Herd, daneben ein Eimer mit Brennholz. Gegenüber befanden sich eine orangefarben gestrichene Spüle sowie ein mit Herzen und den Initialen E.T. bemalter Küchenschrank aus Nussbaumholz. Neben der Tür stand eine hölzerne Kiste für Stangeneis, und daneben war der Eingang einer kleinen Vorratskammer, wo neben dem Geschirr Säcke mit getrockneten Bohnen, Teig, Zucker und Kaffee aufbewahrt wurden. »Zuerst lief alles gut, doch auf dem Rückweg taute es, und man wäre fast versunken in dem Matsch«, sagte Nealie. »Charlie erzählte von einem Mann, der bis zum Hals im Schlamm steckte.« »Und auf einem Pferd saß.« Mrs Travers machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Geschichte erzählt man sich hier immer während der Schneeschmelze. Wir schreiben das Jahr 1881, und Georgetown ist zwanzig Jahre alt. Eigentlich sollte man glauben, dass es mittlerweile anständige Straßen geben müsste.« Sie schwieg kurz. »Also hast du an der Straßenecke gewartet, bis Charlie Dumas vorbeikam? Sehe ich das richtig?« »Ja.« Nealie blickte nicht auf, doch ihr war bewusst, dass Mrs Travers sie musterte. Die Witwe interessierte sich für Charlies Werben um sie und hatte ihr geraten, sie solle sich entscheiden, bevor Charlie sich ein anderes, weniger außergewöhnliches Mädchen suche. »Ich fände es sehr schade, dich zu verlieren, aber ich muss zugeben, dass er ein anständiger Mann ist. Er behandelt dich wie eine Königin.« »Dann heiraten Sie ihn doch«, erwiderte Nealie. »Würde ich ja, aber er hat bestimmt nichts übrig für eine Frau, die alt genug ist, um seine Mutter sein zu können. Außerdem würde er die Sterne vom Himmel herunterholen, um dich heiraten zu können.« Nealie lachte, denn sie war gutmütig und schätzte diese Frau, die fast wie eine Mutter für sie war. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihr Zuhause zu verlassen, wenn ihre wirkliche Mutter noch gelebt hätte. Sie hatten sich gegenseitig beschützt. Aber ihre Mutter war gestorben, und ein Jahr später hatte sie die Farm in Missouri fluchtartig verlassen. Sie hätte sich flussaufwärts nach Fort Madison in Iowa wenden können, oder nach Galena in Illinois, doch dort hätte sie ihr Vater gefunden und sie gewaltsam nach Hause geschleift, weil sie freiwillig nicht mitgekommen wäre. Statt in eine der Nachbarstädte zu flüchten, hatte sie gespart, was sie als Putzfrau bei den Nachbarn und als Erntehelferin verdiente, und außerdem hatte sie ihrem Vater das Geld gestohlen, das dieser für das Saatgut zurückgelegt hatte. Und eines Tages, als er sie zum Einkaufen nach Hannibal schickte, hatte sie eine Zugfahrkarte nach Denver gelöst, jene Stadt, von der alle redeten. Doch dort bekam sie Angst, dass ihr Vater sie finden würde, und sie war mit der Eisenbahn ins vierzig Meilen entfernte Georgetown gefahren. Von dieser Stadt hatte sie nie zuvor gehört, doch sie hatte den Namen George schon immer gemocht und hielt das für ein gutes Omen. Die Ankunft in Georgetown war verstörend. Im Bahnhof drängten sich lärmende, unrasierte Männer mit schmutzigen Stiefeln, und hier und da sah sie verängstigte Frauen mit fleckigen Baumwollkopftüchern, die weinende Kinder an sich drückten und in Sprachen vor sich hin brabbelten, die sie nicht verstand. Aber es gab auch Männer, die Schneideranzüge, gestärkte Hemden und weiche Filzhüte trugen. Sie wandte den Blick ab, denn sie kannte solche Männer aus den Spielhallen in Hannibal. Und sie hielt sich auch fern von den Frauen mit den extravaganten Frisuren, die bunte, tief ausgeschnittene Kleider trugen. Eine mit grell angemalten roten Lippen lächelte Nealie an, doch die reagierte nicht. Sie erkannte Prostituierte. Ihr Vater hatte prophezeit, sie selbst würde irgendwann zu einer werden, wenn er ihr nicht durch Schläge den Teufel austreibe. Und dann lernte sie Lidie Travers kennen. Nealie hatte sie nicht bemerkt, doch die ältere Frau hatte gesehen, wie sie in Denver in den Zug stieg. Wahrscheinlich war ihr Nealies ungewöhnliches Aussehen aufgefallen. Als sie in Georgetown den Zug verließ, blickte sie sich verloren um. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht darüber nachgedacht, was sie eigentlich tun sollte, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte einfach nur das Weite suchen wollen und fragte sich, ob sie genug Geld hatte, um sich ein Zimmer für die Nacht mieten zu können. Sie zog einen kleinen Beutel hervor, den sie als Portemonnaie benutzte, und begann ihre Barschaft zu zählen. In diesem Moment kam ein Mann auf sie zu, der sie beobachtetet hatte. Er hielt sich hinter einer sehr korpulenten Frau, die sich ihren Weg durch die Menge bahnte. Als er Nealie erreicht hatte, riss er ihr den Beutel aus der Hand und verschwand damit zwischen den aussteigenden Fahrgästen. Nealie war zu konsterniert, um erschrocken aufzuschreien, und der Gauner war schon fast verschwunden, als eine starke Hand seinen Arm packte und ihn ihm hinter dem Rücken verdrehte. »Ein Dieb!«, rief Mrs Travers laut. »Er hat der Frau da die Geldbörse gestohlen.« Sie hielt den Mann weiter fest, denn sie war eine starke Frau, die Tag und Nacht schwere Pfannen und Tabletts stemmte. Sie hatte fast so starke Muskeln wie ein Minenarbeiter, der mit Hammer und Bohrer unter Tage schuftete. Innerhalb weniger Sekunden war der Ganove von etlichen Männern umringt. Das Leben in dieser Stadt war hart, doch auch hier wurde ein Dieb verachtet, besonders dann, wenn er Frauen ausraubte. Zwei Männer stießen den Dieb Richtung Gefängnis, und Mrs Travers gab Nealie den Beutel zurück. »Es ist besser, den nicht in aller Öffentlichkeit hervorzuziehen«, warnte sie. »Ein Ort wie dieser Bahnhof lockt die übelsten Elemente an.« Nealie wirkte beunruhigt, und Mrs Travers fügte hinzu. »Auch hilfsbereite Männer, aber manchmal ist es schwer, beide voneinander zu unterscheiden.« Nealie bedankte sich. »Georgetown klang so vielversprechend. « »Sie sind hier, weil Ihnen der Name gefällt?« »›George‹ habe ich schon immer gemocht.« Mrs Travers lachte. »Einige andere hatten auch keine besseren Gründe, nach Georgetown zu kommen. Verwandte oder Freunde haben Sie hier nicht?« Nealie zuckte die Achseln und musterte die Frau, die noch nie hübsch gewesen war, aber ein ausdrucksstarkes Gesicht hatte. »Sind Sie von zu Hause weggelaufen?« »Ich bin siebzehn und kann tun, was mir gefällt.« Nealie wurde erst in einem halben Jahr siebzehn. »Oh, keine Sorge. Ich schicke Sie ja nicht gegen Ihren Willen zurück. War nur eine Frage. Wissen Sie, wo Sie bleiben können?« Bevor Nealie antworten konnte, fügte Mrs Travers hinzu. »Hab ich's mir doch gedacht. Nun, ich habe ein Zimmer neben der Küche. Da können Sie eine oder zwei Nächte schlafen. Vielleicht ist Ihnen bis dahin etwas eingefallen.« »Ich werde für die Übernachtung bezahlen. Ich habe noch etwas Geld.« »Sparen Sie es. Aber wenn Sie Lust haben, könnten Sie mir helfen, das Abendessen zuzubereiten.« »Für Ihre Familie?« »Ich führe eine Pension.« Mrs Travers musterte Nealie eingehend. »Ich nehme nicht an, dass Sie hergekommen sind, um eine Horde von Minenarbeitern zu bekochen, aber wenn Sie wollen, können Sie bei mir arbeiten. Sie bekommen Kost und Logis und noch etwas nebenher. Sie könnten mir helfen, bis Sie wissen, was Sie hier in der Stadt wollen.« Es war eher unwahrscheinlich, dass Mrs Travers bis zu diesem Augenblick je darüber nachgedacht hatte, ein Dienstmädchen einzustellen, doch Nealie wirkte nicht nur kräftig, sondern auch gutmütig und freundlich. Mrs Travers konnte den Charakter ihrer Mitmenschen gut beurteilen. Auch war sie praktisch veranlagt und zweifelte nicht daran, dass es gut für ihr Geschäft sein würde, wenn ein junges Mädchen das Essen servierte. Vielleicht glaubte sie auch, dass ihr Nealies Gesellschaft guttun würde. Sie war eine kinderlose Witwe, und die meisten Frauen in Georgetown waren so überarbeitet, dass ihnen keine Zeit blieb, Mrs Travers zu besuchen und mit ihr zu plaudern. Lydia Travers war vor fünf Jahren in die Stadt gekommen, nach dem Tod ihres zu Gewalttätigkeit neigenden Ehemanns. In Kansas City hatte sie eine »richtige« Pension geführt, wo nicht nur Mahlzeiten serviert, sondern auch Zimmer vermietet wurden. Sie schuftete Tag und Nacht, während Lute Travers das Geld vertrank und sie zudem schlug. Sie war noch keine vierzig, sah aber schon zehn bis fünfzehn Jahre älter aus. Schließlich war ihr Mann auf einer verschlammten Straße zusammengebrochen und gestorben. Mrs Travers hatte die Pension verkauft und war nach Georgetown gezogen. Sie hatte sich geschworen, nie wieder zu heiraten. Nealie dachte so lange über den Vorschlag nach, dass Mrs Travers ungeduldig wurde. »Nun, kommen Sie doch einfach mit. Sie werden sich nicht in der Gesellschaft von käuflichen Frauen wie der da aufhalten wollen. Ein armes Ding, wenn Sie mich fragen.« Mrs Travers wies mit einer Kopfbewegung auf die Frau in dem grellen Kleid, die Nealie zugelächelt hatte. »Ich kenne diese Sorte Frauen«, sagte Nealie. »Von zu Hause. Ich nehme Ihr Angebot an.« »Ich heiße Travers, Mrs Lidie Travers.« Unterdessen hatte sich die Menge im Bahnhof gelichtet. Mrs Travers griff nach ihren Taschen und hielt nach Nealies Gepäck Ausschau. »Oh, ich besitze nichts außer einem zweiten Kleid, das ich unter diesem trage«, erklärte das Mädchen. »Wenn mein Vater mich mit einem Koffer gesehen hätte, hätte er mich in der Scheune gefesselt und verprügelt.« »Wie konnten Sie auf die Idee kommen, sich ohne ein zusätzliches Taschentuch auf den Weg zu machen?« Nealie musste lachen. »Vermutlich kann ich gut darauf verzichten, weil ich nie auch nur eines besessen habe. Ich habe nie viel besessen. Mir ging es nur darum, das Weite zu suchen. Es musste sein.« Die Stimme des Mädchens klang so grimmig, dass Mrs Travers glaubte, sie sei vielleicht geschlagen worden. Wenn nicht etwas noch Schlimmeres passiert war. Aber sie nickte nur und verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Sie hatte noch nie andere ausgefragt nach Dingen, die sie nichts angingen. Vielleicht würde ihr Nealie irgendwann von sich aus erzählen, woher sie stammte und was genau vorgefallen war, doch bis dahin hatte sie das Recht, ihre Vergangenheit für sich zu behalten. Nealie griff wortlos nach einer von Mrs Travers' Taschen, und die beiden Frauen traten aus der Bahnhofshalle in das grelle Sonnenlicht, das Nealies Augen blendete. Die Sonne wärmte ihren Rücken, und die Luft war so dünn und trocken, dass sie sich ganz leicht fühlte. Aus den Minen hörte man Gehämmer und laute Explosionen, die das Mädchen zusammenzucken ließen. Über den Schmelzhütten hingen Rauchwolken, doch das störte sie nicht weiter. Ihr gefiel die Geschäftigkeit der Stadt. Und nun, nur zwei Monate nach ihrer Ankunft, fühlte sich Nealie in Georgetown sehr viel wohler als auf der Farm ihres Vaters, die ihr nie ein Zuhause gewesen war.
2
Was hältst du von ihm?«, fragte Mrs Travers, als die Gäste gegangen waren und die beiden Frauen in der Küche spülten. Nealie antwortete nicht. Sie nahm den gusseisernen Kessel vom Herd und füllte die Spüle mit heißem Wasser. Dann griff sie nach einem Stück Seife, tauchte es in das Wasser, bis es zu schäumen begann, und begann schwere weiße Tassen und Untertassen zu spülen, die sie anschließend abtrocknete. »Also?«, fragte Mrs Travers, die sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, dass Nealie nur antwortete, wenn sie Lust dazu hatte. »Wen meinen Sie?«, fragte Nealie. »Unseren neuen Gast, Mr Spaulding.« »Ach, den. Ich habe ihn kaum bemerkt.« Tatsächlich hätte sie fast den Topf fallen gelassen, als sie in dem Esszimmer Will Spaulding gesehen hatte. Seit ihrer ersten Begegnung in Mr Kaisers Laden vor ein paar Tagen hatte sie in der Stadt nach ihm Ausschau gehalten, aber es schließlich aufgegeben. Sie glaubte, er sei nur auf der Durchreise gewesen. Als sie ihn dann an der Abendtafel gesehen hatte, schlug ihr Herz so schnell, dass sie glaubte, die anderen könnten es hören. »Mir ist aufgefallen, dass du ihn aus den Augenwinkeln angesehen hast, wie du es immer tust, wenn du dich unbeobachtet fühlst«, sagte Mrs Travers. »Er sieht verdammt gut aus, daran kann kein Zweifel bestehen.« »Stimmt«, räumte Nealie ein. »Und er scheint einiges für dich übrig zu haben.« Mrs Travers erhob sich von ihrem Küchenstuhl, als sie die dreckigen Teller abgekratzt hatte, und reckte sich, um etwas gegen ihren schmerzenden steifen Rücken zu tun. »Er hat mich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen«, sagte Nealie. »Ach ja? Nicht nur mir ist aufgefallen, wie Charlie Dumas sofort aus dem Speisesaal stampfte, als er mit dem Nachtisch fertig war. Ich glaube, er ist eifersüchtig.« »Dazu hat er kein Recht.« Nealie knallte eine Tasse so hart auf die Spüle, dass sie zerbrach, und blickte Mrs Travers an. Die zuckte nur die Achseln. Das Geschirr war zum großen Teil gesprungen. »Ich bin so wenig seine Freundin wie Sie, und es nervt, dass er mir ständig auflauert, als wäre das völlig normal. Ich hab's allmählich satt.« »Schreib ihn nicht zu schnell ab, Nealie. Er bezahlt immer pünktlich und beklagt sich nie über das Essen. Und er ist eine treue Seele, so anhänglich, wie es ein Mann nur sein kann.« Mrs Travers begann mit einem Geschirrtuch die Tassen abzutrocknen. »Ich warne dich. Denk nicht zu viel über Mr Spaulding nach. Er ist viel zu vornehm für Leute wie uns. Ich bin sowieso überrascht, dass er hier isst, statt sich mit den anderen feinen Pinkeln im Grubstake zu treffen. Glaubst du wirklich, dass er zu uns kommt, weil er dich irgendwo in der Stadt gesehen hat?« Als Nealie nicht antwortete, fügte Mrs Travers hinzu. »Nein, ich glaube nicht daran.« »Der Einzige, der mir nachstellt, ist Mr Dumas. Er scheint immer in der Nähe zu sein.« Nealie ging zur Hintertür, kippte das Spülwasser in ein Blumenbeet und füllte das Becken erneut mit heißem Wasser aus dem Kessel, um mit einer Bürste das Besteck zu spülen. Die beiden Frauen arbeiteten schweigend, bis das Geschirr und das Besteck, die schweren Töpfe und gusseisernen Pfannen abgetrocknet und weggeräumt waren. Nealie ging mit dem Abfalleimer nach draußen und kippte den Inhalt in den Schweinetrog. Der Schweinezwinger befand sich am hinteren Ende des Gartens, und Mrs Travers hatte schmale Planken ausgelegt, damit man dorthin gelangte, ohne sich die Stiefel schmutzig zu machen. Nealie beobachtete, wie das einzige Schwein zum Trog watschelte und die Abfälle fraß. Das erinnerte sie daran, wie einige der Pensionsgäste aßen, zum Beispiel Charlie Dumas. In diesem Moment erblickte sie Will Spaulding am Gartenzaun. Er sah sie erstaunt an, und sie spürte, wie sie errötete. Ihr stieg sehr schnell das Blut ins Gesicht. »Hallo, Miss Bent. So heißen Sie doch, oder?« Er lüftete seinen Hut. »Ich war mir nicht ganz sicher, weil Mrs Travers Sie nur unter Ihrem Vornamen vorgestellt hat.« »Ja, so heiße ich.« Nealie war glücklich, dass er ihren Namen kannte und sie statt Miss Nealie Miss Bent nannte. Das klang vornehmer. »Sie haben mich beim Abendessen kaum eines Blickes gewürdigt, und ich war besorgt, Sie wären wütend, weil ich Ihnen zu viel Arbeit gemacht hatte. Falls das so gewesen sein sollte, hoffe ich, es wiedergutmachen zu können, denn ich mag es nicht, andere zu verärgern. Deshalb habe ich hier gewartet, weil ich mir gedacht habe, dass Sie herauskommen würden. Ich bin erst seit Kurzem in der Stadt und habe hier nicht viele Freunde. Ich wäre froh, Sie als eine Freundin ansehen zu dürfen.« Solche Worte hatte Nealie noch nie gehört, und sie war so irritiert, dass ihr keine Antwort einfiel. Also stand sie nur schweigend da, mit dem Abfalleimer in der Hand. Als wäre ihr Schweigen die richtige Antwort, fuhr Will Spaulding fort: »Ich habe gehört, dass die Jungs hier am Sonntag um die Wette bohren, und ich würde Sie gern einladen, mich zu begleiten.« Nealie starrte ihn nur an. »Ich bin schrecklich direkt, aber die Konventionen scheinen in Georgetown nicht so wichtig zu sein. An der Ostküste lernt man ein Mädchen in der Kirche kennen, und dann muss man sich um ihre Eltern kümmern. Nach ein oder zwei Monaten darf man sie dann bitten, sie nach Hause zu begleiten. Das ist so ermüdend. In Georgetown geht es nicht so förmlich zu. Das gefällt mir.« Als Nealie nicht antwortete, sagte er: »Ich entschuldige mich, wenn das zu direkt war. Vielleicht haben Sie einen Verehrer.« »Nein. Es gibt niemanden, der mir am Herzen liegt.« Wäre sie etwas weltgewandter gewesen, hätte sie vielleicht ein bisschen geflirtet und durchblicken lassen, sie habe viele Verehrer. Sie hätte seine Einladung abgelehnt und vorgeschlagen, er solle später noch einmal fragen. Das hätte ihn nervös gemacht. Doch sie war unfähig zu solchen Tricks. Sie umklammerte krampfhaft den Griff des Eimers und sagte: »Sie können darauf wetten, dass ich mitkomme. Ich meine, ich nehme Ihre Einladung gern an, Mr Spaulding.« Sie wünschte, sich so gewählt ausdrücken zu können wie er. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, antwortete er. »Dann wünsche ich Ihnen jetzt noch einen schönen Abend. Wir sehen uns morgen beim Frühstück.« Er setzte den Hut auf, drehte sich um und verschwand in der Nacht. »Ja, Ihnen auch einen schönen Abend«, rief sie ihm nach, doch sie wusste nicht, ob er es gehört hatte. Sie stand noch lange da und starrte in die Finsternis. Als sie sich dann umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, stand Mrs Travers in der Hintertür. »Mr Spaulding redet wie ein echter Gentleman«, sagte sie mit einem Unterton, der daran zweifeln ließ, ob es ein Kompliment war. »Er hat mich eingeladen, ihn am Sonntag zu dem Wettkampf zu begleiten.« »Ich hab's gehört.« Mrs Travers trat zur Seite, damit Nealie in die Küche zurückkehren konnte. »Und was ist mit Charlie Dumas?« »Was soll mit ihm sein?« »Wollte er dich nicht einladen?« »Ich bin ihm nicht verpflichtet. Außerdem hat er mich nicht gefragt.« »Wahrscheinlich hielt er das für überflüssig. Er wird sehr verletzt sein.« »Dafür gibt es keinen Grund. Ich habe ihm nie Hoffnungen gemacht.« Nealie füllte den Eimer mit heißem Wasser und begann ihn zu säubern. Mrs Travers musterte sie. »Ich frage mich, ob Mr Spaulding wirklich ganz ohne Fehl und Tadel ist«, sagte sie so leise, dass Nealie sie bat, ihre Worte zu wiederholen. Aber die Pensionswirtin hielt ihre Zunge im Zaum, denn sie konnte Nealie keine Vorschriften machen. Wenn das Mädchen etwas Spaß haben wollte, würde sie ihm bestimmt nicht im Wege stehen, denn es war klar, dass Nealie ein trauriges Leben hinter sich hatte. An einem späteren Tag der Woche sprachen die Männer beim Abendessen darüber, wer die besten Chancen habe, den Wettkampf zu gewinnen. Es gab drei Disziplinen. Zunächst musste ein einzelner Minenarbeiter mit einem zwei Kilogramm schweren Hammer auf einen Bohrer einschlagen und ein Loch in eine Granitwand treiben. Er drehte den Bohrer, wenn der Hammer ihn traf, etwas fünfzig Mal pro Minute, bis das Loch groß genug für eine Dynamitladung war. Danach bildeten zwei Männer ein Team, wobei einer den Bohrer drehte und der andere mit einem vier Kilo schweren Hammer darauf einschlug. Beim Dreierwettbewerb drehten zwei Männer abwechselnd den Bohrer. Der Gewinner war der Mann oder das Team, das in einer bestimmten Zeit das größte Loch in den Fels trieb. Diese Männer waren sehr geachtet, denn in den Minen brauchte man Könner ihres Fachs, welche die Löcher für die Sprengladungen bohrten. »Bist du auch dabei?«, fragte einer der Männer Charlie Dumas. »Nein, das ist ja keine große Sache. Vielleicht am Unabhängigkeitstag. « Charlie blickte zu Nealie hinüber, die eine Platte mit Schinken hereinbrachte. »Du hast Schiss, dass du verlierst«, spottete der Mann. »Ich würde nicht verlieren«, antwortete Charlie. »Ich gehe als Zuschauer hin, wenn mich jemand begleitet.« Wieder schaute er zu Nealie hinüber, doch die wich seinem Blick aus. »Charlie hat seine besten Tage hinter sich«, bemerkte ein anderer Mann. »Ich bin gut wie eh und je. Ich würde nur lieber gemeinsam mit Miss Nealie zusehen, wie die anderen in Schweiß ausbrechen. « Charlie grinste. »Ich werde mein Geld auf Jonce Kelly setzen, und wenn ich gewinne, lade ich Nealie zum Abendessen ins Hotel de Paris ein.« Er sprach den Namen der französischen Hauptstadt falsch aus. »Wäre das nicht großartig, Miss Nealie? Ich wette, Sie waren noch nie in dem Restaurant.« Nealie errötete und floh mit der leeren Platte in die Küche. Dann kehrte sie mit einer Schüssel mit Kartoffelpüree und einer mit brauner Soße zurück. »Sie werden mich doch begleiten, Miss Nealie?«, fragte Charlie ein bisschen verunsichert. Das Mädchen knallte die Schüsseln so heftig auf den Tisch, dass Soße aufs Tischtuch spritzte. »Nein, ich denke nicht, Mr Dumas.« »Ach, Sie mögen doch diese Wettkämpfe. Wollen Sie mich nicht begleiten?« Die anderen Gäste ließen ihr Essen kalt werden und starrten die beiden an. »Ich habe andere Pläne«, antwortete Nealie. Charlie blickte sie an. »Sie wollen wirklich nicht mitkommen? «, fragte er mit vollem Mund. Die anderen schauten ihn an, und er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Sie hätten eher fragen sollen. Wie gesagt, jetzt habe ich andere Pläne.« Das Esszimmer, das einst der winzige »Salon« des Hauses gewesen war, war gerade groß genug für einen Tisch und neun Stühle, und es herrschte immer dicke Luft. Doch nun wirkte die Atmosphäre noch drückender, weil die Fenster wegen der Kälte geschlossen waren. Nealie wollte in die Küche flüchten,
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Autoren-Porträt von Sandra Dallas
Sandra Dallas ist gelernte Wirtschaftsjournalistin und hat seit vielen Jahren Erfolg mit ihren Frauenromanen. Sie lebt in Denver, Colorado.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Dallas
- 2013, 287 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 386365806X
- ISBN-13: 9783863658069
- Erscheinungsdatum: 17.06.2013
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