Die Heilerin von Steinwald (ePub)
Sie hat ein goldenes Herz - und eine dunkle Vergangenheit!
Als Findelkind wächst Flora im Kloster auf. Sie ist nicht nur eine begabte Gärtnerin, sie kennt auch alle Kräuter in Wald und Wiese und weiß vortrefflich mit ihren Heilkräften umzugehen. Doch...
Als Findelkind wächst Flora im Kloster auf. Sie ist nicht nur eine begabte Gärtnerin, sie kennt auch alle Kräuter in Wald und Wiese und weiß vortrefflich mit ihren Heilkräften umzugehen. Doch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Heilerin von Steinwald (ePub)“
Sie hat ein goldenes Herz - und eine dunkle Vergangenheit!
Als Findelkind wächst Flora im Kloster auf. Sie ist nicht nur eine begabte Gärtnerin, sie kennt auch alle Kräuter in Wald und Wiese und weiß vortrefflich mit ihren Heilkräften umzugehen. Doch hinter den Klostermauern brauen sich Neid und Intrigen gegen das junge Mädchen zusammen, und als eines Tages die Klosterapotheke brennt, fällt der Verdacht auf Flora, und sie muss die schützenden Mauern verlassen. Im nahen Schloss findet sie eine Anstellung als Küchenmagd und Flora muss bald feststellen, dass der zweite Sohn des Burgherrn, Hubertus, großes Interesse an ihr zeigt. Flora ist verzweifelt, denn Hubertus ist jähzornig und grausam - und sie hat sich heimlich längst in seinen älteren Bruder Roderick verliebt. Doch der Erbe von Steinwald scheint unerreichbar für ein Mädchen ohne guten Namen...
Als Findelkind wächst Flora im Kloster auf. Sie ist nicht nur eine begabte Gärtnerin, sie kennt auch alle Kräuter in Wald und Wiese und weiß vortrefflich mit ihren Heilkräften umzugehen. Doch hinter den Klostermauern brauen sich Neid und Intrigen gegen das junge Mädchen zusammen, und als eines Tages die Klosterapotheke brennt, fällt der Verdacht auf Flora, und sie muss die schützenden Mauern verlassen. Im nahen Schloss findet sie eine Anstellung als Küchenmagd und Flora muss bald feststellen, dass der zweite Sohn des Burgherrn, Hubertus, großes Interesse an ihr zeigt. Flora ist verzweifelt, denn Hubertus ist jähzornig und grausam - und sie hat sich heimlich längst in seinen älteren Bruder Roderick verliebt. Doch der Erbe von Steinwald scheint unerreichbar für ein Mädchen ohne guten Namen...
Lese-Probe zu „Die Heilerin von Steinwald (ePub)“
Die Heilerin von Steinwald von Ines Thorn Prolog
Herbst, Anno Domini 1480
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Heulend verbiss sich der Wind im Geäst der mächtigen Eichen. Das Licht der Fackel reichte nur wenige Schritte weit. In ihrem flackernden Schein sah es aus, als rückten die Stämme einer Schlachtenreihe gleich über unebenes Gelände vor. Eine Bö hüllte den Mann, der dem Fackelträger folgte, in beißenden Rauch. Er fluchte unterdrückt und klopfte einen Funken aus, der sich in seinem Umhang verfangen hatte.
Ganz in der Nähe krachte es, als risse ein Baum seine eigenen Wurzeln aus dem Waldboden. Ängstlich wandte sich der Knecht zu seinem Herrn um. Aber der hochgewachsene Mann winkte ihm nur stumm zu. Weiter, immer weiter, noch tiefer in den Wald hinein. Längst war der schmale Weg zu einem Trampelpfad geworden, der zwischen dem mächtigen Wurzelwerk fast zu verschwinden drohte.
Was war das? Dieses lang gezogene Heulen, so klang doch kein Wind! Gewiss nicht. Hatte der Bannwart nicht gestern erst gemeldet, dass er Wolfslosung gefunden hatte? Da müssen wir wohl los, hatte der gemurmelt und dann doch den Kopf geschüttelt. »Hat sich was«, hatte er erwidert. »Morgen ist Sonntag. Da wird es nichts mit der Jagd. Am Tag des Herrn, da will ich gar nicht hören, was der Kaplan sagen würde«
Und nun war er doch unterwegs, am heiligen Sonntag mitten im Wald, und das ohne den Bannwart, dessen Pflicht es war, im Forst nach dem Rechten zu sehen. Ohne Jagdknechte und Treiber hatte er sich aufgemacht, ohne Hunde, ohne Spieße, Schnäpper, Armbrust, Hirschfänger, Lappenbänder oder Netze. Nur er, der Knabe und eine Fackel. Und das Geheimnis. Aber sonst ? Gewiss, sein Schwert hatte er gegürtet, aber er war doch von Stand, und ohne ein Zeichen seines Adelsprivilegs ging er nur selten aus dem Haus. Ach was, Stand, dachte er. Da ist nichts Edles daran, zu was ich in den Wald gegangen bin. Aber was soll ich denn sonst tun? Ich bin ein Mann. Auch am Sonntag. Auch in der Nacht. Nun gut, heute Morgen war ich zur Messe in der Burgkapelle. Aber da schien auch noch die Sonne. Jetzt ist es dunkel. Im Wald und in meinem Herzen. Es ist kein guter Gang, auf dem ich hier bin.
Wieder krachte es, diesmal direkt vor ihnen. Prasselnd schlugen Kastanien auf dem Weg auf, hüpften ein paarmal und rollten noch ein Stück weiter. Der Knabe schrie auf und rieb sich den Kopf. Eine der stachligen Kugeln hatte ihn an der Stirn getroffen.
»Der Herbst ist ein mutwilliger Gesell«, beschied ihn sein Herr. »Er verschenkt die Fülle, aber was er gibt, das gibt er mit Macht«
Der Junge verzog das Gesicht. »Es tut aber weh«, jammerte er.
»Nun komm schon, Hannes.« Der Mann in dem dunklen Umhang versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter. »Die paar Kastanien werden dich schon nicht umbringen.« Im Schein der Fackel sah der Junge seinen Herrn lächeln. »Weißt du was, mein Bester«, sagte der, »ab jetzt wird gezählt. Für jede Kastanie, die du auf diesem Gang abbekommst, schenke ich dir einen halben Pfennig. Ach ja, die eben, die zählt mit. Aber nun weiter, hörst du?«
Schon lächelte der Junge wieder. Ein ganzer halber Pfennig ? Wenn das so war, dann sollte der Wind nur weiter heulen und ordentlich Kastanien schicken. Entschlossen reckte er die Fackel empor und stapfte auf seinen klobigen Holzpantinen weiter durch den Wald. Endlich hatten sie die Lichtung erreicht.
»Hier, Herr?«, fragte Hannes. Im Flackerschein der Fackel sah er ein Nicken.
Das war leichter, als ich erwartet hatte, dachte der Mann. Aber was mache ich nur nachher mit ihm? Was ist, wenn er nicht den Mund hält? Mit ein paar Pfennigen ist auf Dauer kein Mund zu stopfen. Wenn er reden will, wird er es tun. Und was mache ich dann?
Nachdenklich rieb der Mann seinen Schwertknauf. Er ist noch ein Knabe. Wenn ihm ein Bart auf der Lippe sitzt, hat er wahrscheinlich wieder beim Melken von der Milch genascht. Er ist ein Kind, hat noch nicht einmal angefangen zu ahnen, wie es in der Welt zugeht. Aber es hilft wohl nichts. Am besten, ich komme allein zurück. Mich wird niemand fragen, wo der Junge abgeblieben ist. Niemand hat gesehen, dass ich ihn mitgenommen habe. Keiner weiß, wohin ich gegangen bin, oder ahnt überhaupt, warum ich die Dunkelheit gewählt habe. Ich will es ja nicht tun. Aber es muss nun einmal sein. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss es tun. Und je länger ich warte, desto schwerer wird es mir fallen.
Der Mann seufzte. Dann holte er unter seinem Umhang ein Körbchen hervor und legte es zwischen die Baumwurzeln. Mit einem leisen Klirren zog er sein Schwert.
»Komm her, Hannes.«
Raschelnd trieb der Wind das Herbstlaub umher. Aber da war noch ein anderes Geräusch. Der Mann hielt die Nase in den Wind und schnupperte. Ein strenger Geruch lag in der Luft. Hastig griff er nach dem Jungen und zog ihn hinter einen der mächtigen Stämme am Rand der Lichtung.
»Was ist denn, Herr?«, fragte der Knecht kläglich, aber ein leise gezischtes »Still jetzt, Junge !« ließ ihn verstummen. Durch die dahineilenden Wolkenfetzen warf der Mond sein kaltes Licht. Der Mann spähte auf die Lichtung. Dort stand ein mächtiger Hirsch.
»Verdammt«, murmelte der Herr. »Natürlich. Am Sonntag, da lässt er sich blicken. Der weiß auch ganz genau, wann ich ihn nicht jagen kann. Aber warte nur, mein Lieber. Warte nur.«
Hannes hielt den Atem an. Die Schwertklinge glitzerte im Licht der Fackel. Endlich ließ der Herr ihn los. Der Knabe sah ihn lächeln.
»Schau ihn dir nur gut an, mein Junge. Er strotzt vor Kraft, ist ein einziger, starker Muskel. Vor ihm und seinem Geweih fürchtet sich sogar der Wolf. Aber bald ist Herbstjagd. Wenn er dann noch in der Gegend ist, dann gnade ihm Gott. Dann geht es ihm ans Leben.«
Hannes biss sich auf die Unterlippe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu dem mächtigen Hirschen, der ihn nun ebenfalls erspäht zu haben schien. Sah der nicht genau zu dem Baum herüber, hinter dem sie sich verbargen? Hannes drückte sich dichter an den Stamm. Der Wind hatte für einen Moment nachgelassen. Das Zischen und Knacken, mit der die Fackel brannte, schien überlaut in der plötzlichen Stille. Der Hirsch hob den Kopf und witterte. Dann öffnete er sein Maul. Tief und laut klang der Ruf durch den Wald. Wie Nebel breitete die Atemluft sich um den mächtigen Kopf des Tieres aus. Hannes lauschte. War da nicht wieder dieses lang gezogene Heulen? Weit drinnen im Wald, aber doch gut zu hören? Der Hirsch röhrte ein zweites Mal.
Aus dem Augenwinkel sah Hannes, wie sein Herr den Kopf am Baumstamm vorbeireckte. Wieder hörte er ihn lachen.
»Tatsächlich, es ist der Alte. Der Vierundzwanzigender, der, dem wir schon seit Jahren hinterherjagen. Nun steht er hier vor mir, und ich kann gar nichts machen. Aber vielleicht ist es auch besser so. Genieße diese Nacht, mein Alter. Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Du weißt schon, bei der Herbstjagd.« Noch einmal lachte der Mann leise. Ich habe Mord im Herzen und erkläre einem Hirschen, dass er in Gefahr ist. Ob der Knabe mich für wunderlich hält? Aber was kümmert mich das. Es ist eine Nacht wie keine andere. Wie gemacht wäre sie für die Jagd. Nur leider ist Sonntag, und der ist reserviert für Bekenntnisse und Geständnisse. Wenigstens an diesem Tag darf sich ein Christenmensch nicht versündigen. Zumindest sollte er versuchen, anständig zu bleiben. Auch wenn der Teufel niemals schläft. Schon gar nicht am Sonntag. Und wenn er zuschlägt, wenn es eben doch passiert ? Es kann niemand sagen, dass ich das alles gewollt habe. Niemand kann das. Wozu gibt es denn den Ablasshändler? Der wird mehr verlangen als ein paar Pfennige, das ist gewiss. Ach was. Wenn ich das tue, wofür ich heute Abend die Burg verlassen habe, dann kann mir kein Ablass helfen, und sei er vom Papst höchstpersönlich nicht nur mit eigener Hand unterschrieben, sondern gänzlich von ihm verfasst. Da besteht keine Hoffnung auf Rettung. Ist nicht schon allein die Absicht so gut wie die Tat? Nein. Ist sie nicht. Nicht ganz. Selbst für Judas gab es einen Moment, da er hätte sagen können, ach nein, ich habe mich geirrt, verzeiht, ich meinte einen anderen, und der, den ich euch ausliefern wollte, der ist heute nicht hier. Selbst Judas hätte sich anders entscheiden können, im letzten Augenblick. Oder Petrus, noch während der Hahn krähte.
Auf der Lichtung schnaubte der Hirsch und ließ ein drittes Mal seinen lang gezogenen Ruf durch den Wald schallen. Dann war Getrappel zu hören.
»Der weiß ganz gewiss, dass ihm nichts geschehen kann heute Nacht. Aber fühle dich ja nicht zu sicher, mein Freund.«
Der Mann griff nach der Fackel und trat auf die Lichtung. Dort stand der Hirsch, umgeben von seinem Rudel. Hannes biss sich wieder auf die Lippe. Wie gerne hätte er weggeschaut, aber er konnte die Augen nicht abwenden. Heilige Muttergottes, dachte er, heiliger Johannes, heiliger Eustachius, heiliger Huber tus. Steht ihm bei. Ihm und mir. Alle vierzehn Nothelfer, besonders du, heiliger Judas Thaddäus. Du bist der Fürsprech in den Fällen, die ganz ohne Hoffnung sind. Bitte für uns. Ich fl ehe dich an. Dich und alle Heiligen. Und die Jungfrau Maria.
Keine zwanzig Meter mehr trennten Mann und Rudel voneinander. Wieder röhrte der Hirsch. Mit dem Vorderlauf hieb er tief in die Grasnarbe. Das mächtige Geweih senkte sich, ein tiefes Schnauben ertönte. Der Herr blieb stehen.
»Geh weg«, hörte Hannes ihn sagen. »Weit weg. Ich weiß, du bist hier zu Hause. Aber wenn wir dir bei der Herbstjagd begegnen, dann ist es aus mit dir. Dann hilft dir nicht dein Geweih, nicht dein Mut und auch nicht dein Schnauben. Wer beschützt dann die Deinen? Geh, solange noch Zeit ist.«
Dann wurde es wieder still. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Einzig das Prasseln der Fackel war noch zu hören. Hannes tastete nach der geweihten Bildnismedaille, die er an einer Lederschnur unter dem Wams trug. Seine Patin hatte sie ihm geschenkt, ein Mitbringsel von einer Wallfahrt nach Maria Gnaden. »Die soll dich beschützen«, hatte die Patin gesagt. »Vor der Sünde. Und dem Gottseibeiuns.« Im letzten Winter war sie gestorben, die Patin. Aber immer, wenn er das Bildnis in die Hand nahm, war es Hannes, als sei sie noch bei ihm und sorgte sich um sein Seelenheil.
»Herr, schenke ihr die ewige Ruhe«, murmelte er, so leise er nur konnte. »Und steh uns bei«, setzte er nach. Dann spähte er wieder auf die Lichtung.
Dort standen sich Hirsch und Herr immer noch gegenüber. Von weit her war wieder das lang gezogene Heulen zu hören. Der Hirsch hob den Kopf mit dem prächtigen Geweih. Dann warf er sich herum und sprengte davon. Mit weiten Sprüngen folgte ihm das Rudel. Einzig der Herr stand noch auf der Lichtung. Dann wandte auch der sich um und kehrte zu dem Baum zurück, hinter dem Hannes wartete. Mit einem Seufzen lehnte sich der Herr gegen den Stamm. Lange betrachtete er das Körbchen, das zwischen den Wurzeln verborgen stand.
»Ich kann es nicht«, sagte er endlich. Er reichte Hannes die Fackel und stand mit hängenden Schultern da. Nichts war mehr zu sehen von dem ritterlichen Mut, mit dem er auf die Lichtung getreten war. Jetzt stand da nicht mehr der Herr, sondern ein blasser junger Mann, der in seinem dunklen Umhang zu frösteln schien. »Ich bringe es nicht fertig«, sagte er mit einem Seufzen. »Ich kann dieses Kind nicht umbringen. Nicht in dieser Nacht. Und auch sonst nicht.«
Heilige Muttergottes, dachte Hannes, danke. Er fasste sich ein Herz. Zögernd sagte er : »Es wäre auch nicht recht. Kein Mann sollte die Frucht seiner eigenen Lenden umbringen müssen.« Er verstummte. Bin ich zu weit gegangen?, fragte er sich. Er ist schließlich der Herr. Wieder griff er nach dem Medaillon. Doch der Herr nickte nur und starrte weiter auf das Körbchen.
»Ja. Es ist die Frucht meiner Lenden. Niemals will ich mir sagen müssen, dass ein Hirsch für die Seinen besser Sorge trägt, als ich es getan habe.«
Ein gedämpftes Quäken war zu hören. Mit der Fußspitze tippte der Herr an den Henkel und wiegte das Körbchen hin und her, bis das leise Geräusch verstummte. Er lächelte versonnen und schüttelte den Kopf. Endlich schob er sein Schwert in die Scheide.
»Und nun? Heimbringen kann ich das Kind nicht. Wenn es nur nach mir ginge, sofort würde ich es tun. Aber so?«
Hannes umklammerte das Medaillon und schwieg. Endlos lange standen sie da, schien es ihm. Nichts regte sich im Wald. Es ist, als ob alles den Atem anhält, dachte der Mann. Doch dann war es vorbei mit der Ruhe. Von Neuem kam Wind auf. Schon krachte es wieder in den Bäumen, und dann rauschte der Regen. Wie eine Wand fi el das Wasser. Die Fackel zischte, ihre Flamme wurde kleiner und kleiner. Dann erlosch sie ganz. Mit einem Schlag war es stockfinster. Kein Mondlicht drang durch die Wolken. Hannes und sein Herr pressten sich an den Baumstamm, aber gegen die schweren Tropfen bot das Geäst nur wenig Schutz.
Schnell barg der Herr das Körbchen unter seinem Umhang. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte er und lachte. »Was machen wir jetzt?«
Hannes wusste keine Antwort.
»Solch heftige Regengüsse dauern ja meistens nicht allzu lange «, sagte der Herr. »Mit etwas Glück wird uns bald der Mond den Weg erhellen.«
»Aber welchen?«, fragte Hannes mit klappernden Zähnen. »Wisst Ihr, wo wir sind?«
»Im Wald.« Der Herr lachte erneut. »Spaß beiseite. So ungefähr weiß ich es schon. Wir sind ja immer schön auf dem Weg geblieben. Diese Lichtung ist so groß, das muss die sein, auf der wir bei der Herbstjagd immer das Lager aufschlagen. Also sind wir mittendrin im Wald.«
»Und was machen wir jetzt, Herr?«
»Wenn ich das wüsste.« Hannes vernahm ein Seufzen.
»Wir könnten den Morgen abwarten. Aber da sollten wir wieder daheim sein, wenn wir nicht allzu viel erklären wollen. Nicht dass man noch nach uns sucht.«
Wieder schwieg der Herr, und Hannes lauschte dem Rauschen des Regens, das allmählich leiser wurde. Endlich ging der Guss in ein leichtes Nieseln über.
»Das kann dauern. Damit wird das erst einmal wohl nichts mit dem Mondschein«, sagte der Herr schließlich. »Wir müssen den Weg so finden. Und ich weiß auch, welchen wir nehmen werden. Komm, Hannes.«
»Aber ich sehe doch nichts.«
»Glaub mir, ich auch nicht. Wir sind eben im Wald, da ist es nun einmal finster. Wenn wir langsam gehen, wird es uns hoffentlich gelingen, hinter der Lichtung den Weg wiederzufinden und auch auf ihm zu bleiben.«
Hannes würde noch lange an diese kalte Herbstnacht zurückdenken. Der Herr hatte mit der einen Hand das Körbchen unter seinem Umhang gehalten und mit der anderen den Gürtel des Knechts gepackt. »Nun geh voran«, hatte er gesagt, und Hannes war losgestolpert durch die Dunkelheit. Ein paarmal war er gegen einen Baum geprallt, in einem Matschloch hätte er beinahe eine seiner Holzpantinen verloren, aber der Herr war unerbittlich gewesen. »Weiter«, hatte er befohlen, und Hannes war nichts anderes übrig geblieben, als zu gehorchen.
Natürlich hatte er Angst gehabt und sich mehr und mehr gefürchtet. War da nicht dieses ferne Heulen gewesen, das inzwischen längst nicht mehr so klang, als wäre es wirklich weit entfernt ? Hannes hatte sich erst wieder beruhigen können, als er sein Medaillon an der Schnur hervorgezogen und es in den Mund gesteckt hatte.
»Weiter«, hatte der Herr gesagt, und Hannes war mit weit ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit gestolpert. So hatte er rechtzeitig stehen bleiben können, wenn plötzlich ein Baum dort aufragte, wo gerade noch der Weg gewesen war. Die heilige Mutter Gottes schien ihn wirklich geleitet zu haben in dieser Nacht, denn mit einem Mal war es Hannes gewesen, als sängen die Engel ganz in der Nähe.
»Na also«, sagte der Herr. »Da wären wir doch.«
Es war nicht der Gesang der Engel, den Hannes vernommen hatte, sondern das Frühgebet der Nonnen von St. Annabrunn.
Vor der Klosterpforte hatte der Herr das Körbchen nicht abstellen wollen. »Dazu ist es wahrlich zu kalt und zu nass.«
So waren sie also zur Kirchentür geschlichen. Der Herr hatte die Hand auf die Klinke gelegt und Hannes bedeutet, dass er seine Holzpantinen ausziehen sollte. »Wir wollen leise sein«, hatte er gemurmelt und so vorsichtig, wie es nur ging, die schwere Holzpforte geöffnet. Ohne viel Federlesens hatte er Hannes durch die Tür in den Vorraum der Kirche geschoben und diese dann leise hinter ihnen geschlossen.
Hannes war zunächst geblendet gewesen vom Schein der wenigen Kerzen, die den Altar und den Hochchor in Dämmerlicht tauchten, aber schon bald hatten sich seine Augen an den schwachen Glanz gewöhnt.
Während er noch die Fingerspitzen in das Weihwasserbecken am Eingang tauchte, sah er seinen Herrn zu der Kapelle an der Seite gehen. Vor dem neuen Gnadenbild von Anna selbdritt lagen Kerzen bereit für die Gläubigen, die ein besonderes Anliegen hatten. Der Herr winkte Hannes zu sich.
»Also«, hörte der ihn wispern. »Wir machen das so. Wir lassen das Körbchen bei den frommen Schwestern. Dann sehen wir zu, dass wir verschwinden, bevor man uns entdeckt. Und schau nur.« Hannes sah seinen Herrn nach einer schlichten Laterne greifen, in der eine dicke Stumpenkerze ihr mildes Licht verbreitete.
»Perfekt. Die geht im Regen nicht aus.«
»Aber ... « Er staunte über seinen eigenen Mut. »Die ist doch da, um die anderen Kerzen ... « Der Herr lächelte, und schon wusste Hannes nicht weiter.
»Ich glaube nicht, dass außer uns vor Sonnenaufgang noch jemand ein Licht benötigt. Keine Bange. Ich werde die Kirche nicht bestehlen.«
Der Herr kramte in seinem Beutel, und schon lag eine blanke Münze auf der Kirchenbank vor dem Seitenaltar.
»Wenn ich die in den Opferstock werfe, dann macht das Lärm. Und schon wissen die frommen Schwestern, dass jemand in der Kirche ist. Noch sind sie ja alle beim Gebet im Chorraum.«
Der Herr deutete auf das Gitter, das die Klausur der Nonnen von dem Rest der Kirche abtrennte.
»Aber wir müssen ihnen natürlich einen Grund geben, dass sie hierherkommen. Sonst finden sie das Kind noch eine Weile nicht. Na, hast du eine Idee, Hannes?« Der Herr lächelte.
Der Blick des Knaben irrte von dem Gnadenbild zu der Laterne, weiter zum Chorraum, in dem die Nonnen gerade ein neues Lied angestimmt hatten, und wieder zurück zu dem Kerzenstapel.
»Wenn Ihr noch mehr zahlen wolltet ... «, begann er zögernd. »Ja ? Wem denn ? Und was dann ?«
Hannes zuckte mit den Schultern. »Ihr wollt Euch sicher nicht versündigen hier im Hause Gottes und etwas stehlen. Wenn Ihr also den Ständer hier vor dem Gnadenbild mit Opferkerzen füllt und die anzündet, das Licht müsste man selbst vom Hochaltar aus noch sehen.«
Der Herr hatte anerkennend genickt.
»Guter Junge«, hatte er gewispert. »So machen wir das. Dann aber flugs davon.«
Schon war jeder einzelne Dorn mit einer Kerze bestückt. Die beiden letzten zog der Herr doch wieder ab.
»Damit geht es schneller«, sagte er. »Aber lass mich erst Abschied nehmen.«
Er hatte das Körbchen hochgenommen und das Tuch darüber zurückgeschlagen. Hannes lugte hinein und sah in zwei große Augen, die zurückzustarren schienen. Der Herr hatte mit seinem Zeigefinger leicht über die kleine Nase gestrichen. Dann hatte er einen Ring hervorgezogen und ihn in die kleine Hand gelegt, die sich ihm entgegenreckte. Schon schlossen sich die Finger darum.
»Jetzt aber los«, hörte Hannes ihn sagen, und er griff nach der Kerze, die der Herr an dem Stumpen in der Laterne entzündet hatte. Schon bald war das Gnadenbild in ein mildes Licht getaucht. Immer heller wurde es in der Seitenkapelle. Bis endlich alle Kerzen brannten. Der Herr griff nach der Münze auf der Kirchenbank, warf sie mit einer zweiten in den Opferstock. Das Klimpern schien Hannes überlaut. Schon stand der Herr vor der Kirchentür und winkte ihm. Aber der Knabe wandte sich noch einmal zu dem Körbchen um. Mit flinken Fingern steckte auch er etwas unter das Tuch. Dann lief er zum Ausgang.
Der Herr ließ diesmal keine Vorsicht walten. Krachend fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Hannes konnte gerade noch in seine Holzpantinen steigen, da eilte der Herr bereits davon. Hastig folgte ihm der Knabe, der das schwankende Licht in der Laterne nicht aus den Augen ließ. Der Gesang der Nonnen drang hinter ihm durch die Nacht. Heilige Muttergottes, dachte er, jetzt und in der Stunde unseres Todes.
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Heulend verbiss sich der Wind im Geäst der mächtigen Eichen. Das Licht der Fackel reichte nur wenige Schritte weit. In ihrem flackernden Schein sah es aus, als rückten die Stämme einer Schlachtenreihe gleich über unebenes Gelände vor. Eine Bö hüllte den Mann, der dem Fackelträger folgte, in beißenden Rauch. Er fluchte unterdrückt und klopfte einen Funken aus, der sich in seinem Umhang verfangen hatte.
Ganz in der Nähe krachte es, als risse ein Baum seine eigenen Wurzeln aus dem Waldboden. Ängstlich wandte sich der Knecht zu seinem Herrn um. Aber der hochgewachsene Mann winkte ihm nur stumm zu. Weiter, immer weiter, noch tiefer in den Wald hinein. Längst war der schmale Weg zu einem Trampelpfad geworden, der zwischen dem mächtigen Wurzelwerk fast zu verschwinden drohte.
Was war das? Dieses lang gezogene Heulen, so klang doch kein Wind! Gewiss nicht. Hatte der Bannwart nicht gestern erst gemeldet, dass er Wolfslosung gefunden hatte? Da müssen wir wohl los, hatte der gemurmelt und dann doch den Kopf geschüttelt. »Hat sich was«, hatte er erwidert. »Morgen ist Sonntag. Da wird es nichts mit der Jagd. Am Tag des Herrn, da will ich gar nicht hören, was der Kaplan sagen würde«
Und nun war er doch unterwegs, am heiligen Sonntag mitten im Wald, und das ohne den Bannwart, dessen Pflicht es war, im Forst nach dem Rechten zu sehen. Ohne Jagdknechte und Treiber hatte er sich aufgemacht, ohne Hunde, ohne Spieße, Schnäpper, Armbrust, Hirschfänger, Lappenbänder oder Netze. Nur er, der Knabe und eine Fackel. Und das Geheimnis. Aber sonst ? Gewiss, sein Schwert hatte er gegürtet, aber er war doch von Stand, und ohne ein Zeichen seines Adelsprivilegs ging er nur selten aus dem Haus. Ach was, Stand, dachte er. Da ist nichts Edles daran, zu was ich in den Wald gegangen bin. Aber was soll ich denn sonst tun? Ich bin ein Mann. Auch am Sonntag. Auch in der Nacht. Nun gut, heute Morgen war ich zur Messe in der Burgkapelle. Aber da schien auch noch die Sonne. Jetzt ist es dunkel. Im Wald und in meinem Herzen. Es ist kein guter Gang, auf dem ich hier bin.
Wieder krachte es, diesmal direkt vor ihnen. Prasselnd schlugen Kastanien auf dem Weg auf, hüpften ein paarmal und rollten noch ein Stück weiter. Der Knabe schrie auf und rieb sich den Kopf. Eine der stachligen Kugeln hatte ihn an der Stirn getroffen.
»Der Herbst ist ein mutwilliger Gesell«, beschied ihn sein Herr. »Er verschenkt die Fülle, aber was er gibt, das gibt er mit Macht«
Der Junge verzog das Gesicht. »Es tut aber weh«, jammerte er.
»Nun komm schon, Hannes.« Der Mann in dem dunklen Umhang versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter. »Die paar Kastanien werden dich schon nicht umbringen.« Im Schein der Fackel sah der Junge seinen Herrn lächeln. »Weißt du was, mein Bester«, sagte der, »ab jetzt wird gezählt. Für jede Kastanie, die du auf diesem Gang abbekommst, schenke ich dir einen halben Pfennig. Ach ja, die eben, die zählt mit. Aber nun weiter, hörst du?«
Schon lächelte der Junge wieder. Ein ganzer halber Pfennig ? Wenn das so war, dann sollte der Wind nur weiter heulen und ordentlich Kastanien schicken. Entschlossen reckte er die Fackel empor und stapfte auf seinen klobigen Holzpantinen weiter durch den Wald. Endlich hatten sie die Lichtung erreicht.
»Hier, Herr?«, fragte Hannes. Im Flackerschein der Fackel sah er ein Nicken.
Das war leichter, als ich erwartet hatte, dachte der Mann. Aber was mache ich nur nachher mit ihm? Was ist, wenn er nicht den Mund hält? Mit ein paar Pfennigen ist auf Dauer kein Mund zu stopfen. Wenn er reden will, wird er es tun. Und was mache ich dann?
Nachdenklich rieb der Mann seinen Schwertknauf. Er ist noch ein Knabe. Wenn ihm ein Bart auf der Lippe sitzt, hat er wahrscheinlich wieder beim Melken von der Milch genascht. Er ist ein Kind, hat noch nicht einmal angefangen zu ahnen, wie es in der Welt zugeht. Aber es hilft wohl nichts. Am besten, ich komme allein zurück. Mich wird niemand fragen, wo der Junge abgeblieben ist. Niemand hat gesehen, dass ich ihn mitgenommen habe. Keiner weiß, wohin ich gegangen bin, oder ahnt überhaupt, warum ich die Dunkelheit gewählt habe. Ich will es ja nicht tun. Aber es muss nun einmal sein. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss es tun. Und je länger ich warte, desto schwerer wird es mir fallen.
Der Mann seufzte. Dann holte er unter seinem Umhang ein Körbchen hervor und legte es zwischen die Baumwurzeln. Mit einem leisen Klirren zog er sein Schwert.
»Komm her, Hannes.«
Raschelnd trieb der Wind das Herbstlaub umher. Aber da war noch ein anderes Geräusch. Der Mann hielt die Nase in den Wind und schnupperte. Ein strenger Geruch lag in der Luft. Hastig griff er nach dem Jungen und zog ihn hinter einen der mächtigen Stämme am Rand der Lichtung.
»Was ist denn, Herr?«, fragte der Knecht kläglich, aber ein leise gezischtes »Still jetzt, Junge !« ließ ihn verstummen. Durch die dahineilenden Wolkenfetzen warf der Mond sein kaltes Licht. Der Mann spähte auf die Lichtung. Dort stand ein mächtiger Hirsch.
»Verdammt«, murmelte der Herr. »Natürlich. Am Sonntag, da lässt er sich blicken. Der weiß auch ganz genau, wann ich ihn nicht jagen kann. Aber warte nur, mein Lieber. Warte nur.«
Hannes hielt den Atem an. Die Schwertklinge glitzerte im Licht der Fackel. Endlich ließ der Herr ihn los. Der Knabe sah ihn lächeln.
»Schau ihn dir nur gut an, mein Junge. Er strotzt vor Kraft, ist ein einziger, starker Muskel. Vor ihm und seinem Geweih fürchtet sich sogar der Wolf. Aber bald ist Herbstjagd. Wenn er dann noch in der Gegend ist, dann gnade ihm Gott. Dann geht es ihm ans Leben.«
Hannes biss sich auf die Unterlippe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu dem mächtigen Hirschen, der ihn nun ebenfalls erspäht zu haben schien. Sah der nicht genau zu dem Baum herüber, hinter dem sie sich verbargen? Hannes drückte sich dichter an den Stamm. Der Wind hatte für einen Moment nachgelassen. Das Zischen und Knacken, mit der die Fackel brannte, schien überlaut in der plötzlichen Stille. Der Hirsch hob den Kopf und witterte. Dann öffnete er sein Maul. Tief und laut klang der Ruf durch den Wald. Wie Nebel breitete die Atemluft sich um den mächtigen Kopf des Tieres aus. Hannes lauschte. War da nicht wieder dieses lang gezogene Heulen? Weit drinnen im Wald, aber doch gut zu hören? Der Hirsch röhrte ein zweites Mal.
Aus dem Augenwinkel sah Hannes, wie sein Herr den Kopf am Baumstamm vorbeireckte. Wieder hörte er ihn lachen.
»Tatsächlich, es ist der Alte. Der Vierundzwanzigender, der, dem wir schon seit Jahren hinterherjagen. Nun steht er hier vor mir, und ich kann gar nichts machen. Aber vielleicht ist es auch besser so. Genieße diese Nacht, mein Alter. Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Du weißt schon, bei der Herbstjagd.« Noch einmal lachte der Mann leise. Ich habe Mord im Herzen und erkläre einem Hirschen, dass er in Gefahr ist. Ob der Knabe mich für wunderlich hält? Aber was kümmert mich das. Es ist eine Nacht wie keine andere. Wie gemacht wäre sie für die Jagd. Nur leider ist Sonntag, und der ist reserviert für Bekenntnisse und Geständnisse. Wenigstens an diesem Tag darf sich ein Christenmensch nicht versündigen. Zumindest sollte er versuchen, anständig zu bleiben. Auch wenn der Teufel niemals schläft. Schon gar nicht am Sonntag. Und wenn er zuschlägt, wenn es eben doch passiert ? Es kann niemand sagen, dass ich das alles gewollt habe. Niemand kann das. Wozu gibt es denn den Ablasshändler? Der wird mehr verlangen als ein paar Pfennige, das ist gewiss. Ach was. Wenn ich das tue, wofür ich heute Abend die Burg verlassen habe, dann kann mir kein Ablass helfen, und sei er vom Papst höchstpersönlich nicht nur mit eigener Hand unterschrieben, sondern gänzlich von ihm verfasst. Da besteht keine Hoffnung auf Rettung. Ist nicht schon allein die Absicht so gut wie die Tat? Nein. Ist sie nicht. Nicht ganz. Selbst für Judas gab es einen Moment, da er hätte sagen können, ach nein, ich habe mich geirrt, verzeiht, ich meinte einen anderen, und der, den ich euch ausliefern wollte, der ist heute nicht hier. Selbst Judas hätte sich anders entscheiden können, im letzten Augenblick. Oder Petrus, noch während der Hahn krähte.
Auf der Lichtung schnaubte der Hirsch und ließ ein drittes Mal seinen lang gezogenen Ruf durch den Wald schallen. Dann war Getrappel zu hören.
»Der weiß ganz gewiss, dass ihm nichts geschehen kann heute Nacht. Aber fühle dich ja nicht zu sicher, mein Freund.«
Der Mann griff nach der Fackel und trat auf die Lichtung. Dort stand der Hirsch, umgeben von seinem Rudel. Hannes biss sich wieder auf die Lippe. Wie gerne hätte er weggeschaut, aber er konnte die Augen nicht abwenden. Heilige Muttergottes, dachte er, heiliger Johannes, heiliger Eustachius, heiliger Huber tus. Steht ihm bei. Ihm und mir. Alle vierzehn Nothelfer, besonders du, heiliger Judas Thaddäus. Du bist der Fürsprech in den Fällen, die ganz ohne Hoffnung sind. Bitte für uns. Ich fl ehe dich an. Dich und alle Heiligen. Und die Jungfrau Maria.
Keine zwanzig Meter mehr trennten Mann und Rudel voneinander. Wieder röhrte der Hirsch. Mit dem Vorderlauf hieb er tief in die Grasnarbe. Das mächtige Geweih senkte sich, ein tiefes Schnauben ertönte. Der Herr blieb stehen.
»Geh weg«, hörte Hannes ihn sagen. »Weit weg. Ich weiß, du bist hier zu Hause. Aber wenn wir dir bei der Herbstjagd begegnen, dann ist es aus mit dir. Dann hilft dir nicht dein Geweih, nicht dein Mut und auch nicht dein Schnauben. Wer beschützt dann die Deinen? Geh, solange noch Zeit ist.«
Dann wurde es wieder still. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Einzig das Prasseln der Fackel war noch zu hören. Hannes tastete nach der geweihten Bildnismedaille, die er an einer Lederschnur unter dem Wams trug. Seine Patin hatte sie ihm geschenkt, ein Mitbringsel von einer Wallfahrt nach Maria Gnaden. »Die soll dich beschützen«, hatte die Patin gesagt. »Vor der Sünde. Und dem Gottseibeiuns.« Im letzten Winter war sie gestorben, die Patin. Aber immer, wenn er das Bildnis in die Hand nahm, war es Hannes, als sei sie noch bei ihm und sorgte sich um sein Seelenheil.
»Herr, schenke ihr die ewige Ruhe«, murmelte er, so leise er nur konnte. »Und steh uns bei«, setzte er nach. Dann spähte er wieder auf die Lichtung.
Dort standen sich Hirsch und Herr immer noch gegenüber. Von weit her war wieder das lang gezogene Heulen zu hören. Der Hirsch hob den Kopf mit dem prächtigen Geweih. Dann warf er sich herum und sprengte davon. Mit weiten Sprüngen folgte ihm das Rudel. Einzig der Herr stand noch auf der Lichtung. Dann wandte auch der sich um und kehrte zu dem Baum zurück, hinter dem Hannes wartete. Mit einem Seufzen lehnte sich der Herr gegen den Stamm. Lange betrachtete er das Körbchen, das zwischen den Wurzeln verborgen stand.
»Ich kann es nicht«, sagte er endlich. Er reichte Hannes die Fackel und stand mit hängenden Schultern da. Nichts war mehr zu sehen von dem ritterlichen Mut, mit dem er auf die Lichtung getreten war. Jetzt stand da nicht mehr der Herr, sondern ein blasser junger Mann, der in seinem dunklen Umhang zu frösteln schien. »Ich bringe es nicht fertig«, sagte er mit einem Seufzen. »Ich kann dieses Kind nicht umbringen. Nicht in dieser Nacht. Und auch sonst nicht.«
Heilige Muttergottes, dachte Hannes, danke. Er fasste sich ein Herz. Zögernd sagte er : »Es wäre auch nicht recht. Kein Mann sollte die Frucht seiner eigenen Lenden umbringen müssen.« Er verstummte. Bin ich zu weit gegangen?, fragte er sich. Er ist schließlich der Herr. Wieder griff er nach dem Medaillon. Doch der Herr nickte nur und starrte weiter auf das Körbchen.
»Ja. Es ist die Frucht meiner Lenden. Niemals will ich mir sagen müssen, dass ein Hirsch für die Seinen besser Sorge trägt, als ich es getan habe.«
Ein gedämpftes Quäken war zu hören. Mit der Fußspitze tippte der Herr an den Henkel und wiegte das Körbchen hin und her, bis das leise Geräusch verstummte. Er lächelte versonnen und schüttelte den Kopf. Endlich schob er sein Schwert in die Scheide.
»Und nun? Heimbringen kann ich das Kind nicht. Wenn es nur nach mir ginge, sofort würde ich es tun. Aber so?«
Hannes umklammerte das Medaillon und schwieg. Endlos lange standen sie da, schien es ihm. Nichts regte sich im Wald. Es ist, als ob alles den Atem anhält, dachte der Mann. Doch dann war es vorbei mit der Ruhe. Von Neuem kam Wind auf. Schon krachte es wieder in den Bäumen, und dann rauschte der Regen. Wie eine Wand fi el das Wasser. Die Fackel zischte, ihre Flamme wurde kleiner und kleiner. Dann erlosch sie ganz. Mit einem Schlag war es stockfinster. Kein Mondlicht drang durch die Wolken. Hannes und sein Herr pressten sich an den Baumstamm, aber gegen die schweren Tropfen bot das Geäst nur wenig Schutz.
Schnell barg der Herr das Körbchen unter seinem Umhang. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte er und lachte. »Was machen wir jetzt?«
Hannes wusste keine Antwort.
»Solch heftige Regengüsse dauern ja meistens nicht allzu lange «, sagte der Herr. »Mit etwas Glück wird uns bald der Mond den Weg erhellen.«
»Aber welchen?«, fragte Hannes mit klappernden Zähnen. »Wisst Ihr, wo wir sind?«
»Im Wald.« Der Herr lachte erneut. »Spaß beiseite. So ungefähr weiß ich es schon. Wir sind ja immer schön auf dem Weg geblieben. Diese Lichtung ist so groß, das muss die sein, auf der wir bei der Herbstjagd immer das Lager aufschlagen. Also sind wir mittendrin im Wald.«
»Und was machen wir jetzt, Herr?«
»Wenn ich das wüsste.« Hannes vernahm ein Seufzen.
»Wir könnten den Morgen abwarten. Aber da sollten wir wieder daheim sein, wenn wir nicht allzu viel erklären wollen. Nicht dass man noch nach uns sucht.«
Wieder schwieg der Herr, und Hannes lauschte dem Rauschen des Regens, das allmählich leiser wurde. Endlich ging der Guss in ein leichtes Nieseln über.
»Das kann dauern. Damit wird das erst einmal wohl nichts mit dem Mondschein«, sagte der Herr schließlich. »Wir müssen den Weg so finden. Und ich weiß auch, welchen wir nehmen werden. Komm, Hannes.«
»Aber ich sehe doch nichts.«
»Glaub mir, ich auch nicht. Wir sind eben im Wald, da ist es nun einmal finster. Wenn wir langsam gehen, wird es uns hoffentlich gelingen, hinter der Lichtung den Weg wiederzufinden und auch auf ihm zu bleiben.«
Hannes würde noch lange an diese kalte Herbstnacht zurückdenken. Der Herr hatte mit der einen Hand das Körbchen unter seinem Umhang gehalten und mit der anderen den Gürtel des Knechts gepackt. »Nun geh voran«, hatte er gesagt, und Hannes war losgestolpert durch die Dunkelheit. Ein paarmal war er gegen einen Baum geprallt, in einem Matschloch hätte er beinahe eine seiner Holzpantinen verloren, aber der Herr war unerbittlich gewesen. »Weiter«, hatte er befohlen, und Hannes war nichts anderes übrig geblieben, als zu gehorchen.
Natürlich hatte er Angst gehabt und sich mehr und mehr gefürchtet. War da nicht dieses ferne Heulen gewesen, das inzwischen längst nicht mehr so klang, als wäre es wirklich weit entfernt ? Hannes hatte sich erst wieder beruhigen können, als er sein Medaillon an der Schnur hervorgezogen und es in den Mund gesteckt hatte.
»Weiter«, hatte der Herr gesagt, und Hannes war mit weit ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit gestolpert. So hatte er rechtzeitig stehen bleiben können, wenn plötzlich ein Baum dort aufragte, wo gerade noch der Weg gewesen war. Die heilige Mutter Gottes schien ihn wirklich geleitet zu haben in dieser Nacht, denn mit einem Mal war es Hannes gewesen, als sängen die Engel ganz in der Nähe.
»Na also«, sagte der Herr. »Da wären wir doch.«
Es war nicht der Gesang der Engel, den Hannes vernommen hatte, sondern das Frühgebet der Nonnen von St. Annabrunn.
Vor der Klosterpforte hatte der Herr das Körbchen nicht abstellen wollen. »Dazu ist es wahrlich zu kalt und zu nass.«
So waren sie also zur Kirchentür geschlichen. Der Herr hatte die Hand auf die Klinke gelegt und Hannes bedeutet, dass er seine Holzpantinen ausziehen sollte. »Wir wollen leise sein«, hatte er gemurmelt und so vorsichtig, wie es nur ging, die schwere Holzpforte geöffnet. Ohne viel Federlesens hatte er Hannes durch die Tür in den Vorraum der Kirche geschoben und diese dann leise hinter ihnen geschlossen.
Hannes war zunächst geblendet gewesen vom Schein der wenigen Kerzen, die den Altar und den Hochchor in Dämmerlicht tauchten, aber schon bald hatten sich seine Augen an den schwachen Glanz gewöhnt.
Während er noch die Fingerspitzen in das Weihwasserbecken am Eingang tauchte, sah er seinen Herrn zu der Kapelle an der Seite gehen. Vor dem neuen Gnadenbild von Anna selbdritt lagen Kerzen bereit für die Gläubigen, die ein besonderes Anliegen hatten. Der Herr winkte Hannes zu sich.
»Also«, hörte der ihn wispern. »Wir machen das so. Wir lassen das Körbchen bei den frommen Schwestern. Dann sehen wir zu, dass wir verschwinden, bevor man uns entdeckt. Und schau nur.« Hannes sah seinen Herrn nach einer schlichten Laterne greifen, in der eine dicke Stumpenkerze ihr mildes Licht verbreitete.
»Perfekt. Die geht im Regen nicht aus.«
»Aber ... « Er staunte über seinen eigenen Mut. »Die ist doch da, um die anderen Kerzen ... « Der Herr lächelte, und schon wusste Hannes nicht weiter.
»Ich glaube nicht, dass außer uns vor Sonnenaufgang noch jemand ein Licht benötigt. Keine Bange. Ich werde die Kirche nicht bestehlen.«
Der Herr kramte in seinem Beutel, und schon lag eine blanke Münze auf der Kirchenbank vor dem Seitenaltar.
»Wenn ich die in den Opferstock werfe, dann macht das Lärm. Und schon wissen die frommen Schwestern, dass jemand in der Kirche ist. Noch sind sie ja alle beim Gebet im Chorraum.«
Der Herr deutete auf das Gitter, das die Klausur der Nonnen von dem Rest der Kirche abtrennte.
»Aber wir müssen ihnen natürlich einen Grund geben, dass sie hierherkommen. Sonst finden sie das Kind noch eine Weile nicht. Na, hast du eine Idee, Hannes?« Der Herr lächelte.
Der Blick des Knaben irrte von dem Gnadenbild zu der Laterne, weiter zum Chorraum, in dem die Nonnen gerade ein neues Lied angestimmt hatten, und wieder zurück zu dem Kerzenstapel.
»Wenn Ihr noch mehr zahlen wolltet ... «, begann er zögernd. »Ja ? Wem denn ? Und was dann ?«
Hannes zuckte mit den Schultern. »Ihr wollt Euch sicher nicht versündigen hier im Hause Gottes und etwas stehlen. Wenn Ihr also den Ständer hier vor dem Gnadenbild mit Opferkerzen füllt und die anzündet, das Licht müsste man selbst vom Hochaltar aus noch sehen.«
Der Herr hatte anerkennend genickt.
»Guter Junge«, hatte er gewispert. »So machen wir das. Dann aber flugs davon.«
Schon war jeder einzelne Dorn mit einer Kerze bestückt. Die beiden letzten zog der Herr doch wieder ab.
»Damit geht es schneller«, sagte er. »Aber lass mich erst Abschied nehmen.«
Er hatte das Körbchen hochgenommen und das Tuch darüber zurückgeschlagen. Hannes lugte hinein und sah in zwei große Augen, die zurückzustarren schienen. Der Herr hatte mit seinem Zeigefinger leicht über die kleine Nase gestrichen. Dann hatte er einen Ring hervorgezogen und ihn in die kleine Hand gelegt, die sich ihm entgegenreckte. Schon schlossen sich die Finger darum.
»Jetzt aber los«, hörte Hannes ihn sagen, und er griff nach der Kerze, die der Herr an dem Stumpen in der Laterne entzündet hatte. Schon bald war das Gnadenbild in ein mildes Licht getaucht. Immer heller wurde es in der Seitenkapelle. Bis endlich alle Kerzen brannten. Der Herr griff nach der Münze auf der Kirchenbank, warf sie mit einer zweiten in den Opferstock. Das Klimpern schien Hannes überlaut. Schon stand der Herr vor der Kirchentür und winkte ihm. Aber der Knabe wandte sich noch einmal zu dem Körbchen um. Mit flinken Fingern steckte auch er etwas unter das Tuch. Dann lief er zum Ausgang.
Der Herr ließ diesmal keine Vorsicht walten. Krachend fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Hannes konnte gerade noch in seine Holzpantinen steigen, da eilte der Herr bereits davon. Hastig folgte ihm der Knabe, der das schwankende Licht in der Laterne nicht aus den Augen ließ. Der Gesang der Nonnen drang hinter ihm durch die Nacht. Heilige Muttergottes, dachte er, jetzt und in der Stunde unseres Todes.
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Autoren-Porträt von Ines Thorn
Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie und arbeitet heute als freie Autorin. Die Romane "Die Pelzhändlerin" und "Die Silberschmiedin" entstammen ihrer kreativen Feder. Bei Weltbild erschien bereits die Familiensaga um das Handelshaus Geisenheimer mit den vier Bänden "Die Kaufmannstochter", "Die Tochter des Buchdruckers", "Die Kaufherrin" und "Die Geliebte des Kaufherrn".
Bibliographische Angaben
- Autor: Ines Thorn
- 2012, 247 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863657217
- ISBN-13: 9783863657215
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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