Leichenschrei (ePub)
Tally-Whyte-Reihe Band 2
''Emma, du musst kommen! Die wollen sein Grab aufbuddeln!''Vor Jahren hat Tally Whyte ihre Heimatstadt Winsworth verlassen und ihren Namen geändert. Wer dort kennt ihre neue Identität? Und welches dunkle Geheimnis hat ihr Vater mit ins Grab genommen? In...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Leichenschrei (ePub)“
''Emma, du musst kommen! Die wollen sein Grab aufbuddeln!''Vor Jahren hat Tally Whyte ihre Heimatstadt Winsworth verlassen und ihren Namen geändert. Wer dort kennt ihre neue Identität? Und welches dunkle Geheimnis hat ihr Vater mit ins Grab genommen? In Winsworth angekommen, erfährt sie, dass ihre Jugendfreundin Laura brutal ermordet und verstümmelt wurde. Ein Ritualmord? Laura erwartete ein Kind und als Vater kommen gleich mehrere Männer infrage. Die Einwohner reagieren feindselig auf Tallys Nachforschungen und bald gerät sie selber in Visier des Mörders...Gänsehaut garantiert – ein Psychothriller vom Feinsten
Lese-Probe zu „Leichenschrei (ePub)“
sitzung mit Angehörigen von Mordopfern und — als Leiterin des MGAP — wie immer jede Menge Papierkram.»Hoy, Tal«, rief Gert laut aus dem MGAP-Hauptbüro herüber. Auch nach all den Jahren, die ich mit Gert zusammenarbeitete, war der Brooklyner Akzent meiner Vertreterin keinen Deut weicher geworden, und auch ihre deftige Wortwahl kein bisschen neutraler. Das freute mich.
»War schon jemand wegen der Klimaanlage da?«, fragte ich.
»Machst du Witze?« Sie reichte mir einen Stapel Anrufnotizen. »Alle von gestern Nachmittag.«
»Am besten gleich verbrennen. Ist Kranak schon da?«
Sie nickte, und ihr platinblonder Pony wippte. »Mr Sergeant Miesepeter war früh dran. Seine Leute arbeiten an einem Fall, der ihm ganz schön aufstößt. Ich würde ihm aus dem Weg gehen.«
»Mach ich. Ich besänftige ihn später mit was zu essen.« Ich sah auf die Uhr. »Ich muss dann mal zum Neun-UhrMeeting. Um zehn sind keine Neuen dabei, oder?«
»Heute nicht.«
Ich verkrümelte mich wieder in mein Büro, wo ich den Stapel rosa Telefonnotizen durchging. Ich nippte an meinem Eiskaffee, während ich jede einzelne las.
Interview über den Schnitter. Weg damit. Talkshow, Schnitter. Weg. Buch über den Schnitter. Auch noch mit gruseligen Fotos. Weg.
Dieser verdammte Schnitter verfolgte mich noch immer auf mehr Arten, als mir lieb sein konnte. Vor einigen Monaten hatte ein Mörder in Boston sein Unwesen getrieben, hatte Körperteile außergewöhnlicher Frauen an sich gebracht und zerstörte Familien und gebrochene Herzen hinterlassen. Ich hatte dabei geholfen, diesen Schnitter zu stoppen, und jetzt waren die Medien hartnäckig an mir dran.
Sie wollten Interviews. Bettelten um meine Teilnahme an
Talkshows. Hielten mir ihre Blitzlichter ins Gesicht, wenn sie Fotos von mir und den Menschen
... mehr
machten, die mir nahestanden. Sie wollten mich in dem Versuch, die »wahre« Geschichte ans Licht zu zerren, nicht in Ruhe lassen. Meinem Lover war das zu viel geworden, und jetzt waren wir wieder nur gute Freunde. Ich konnte ihm das nicht mal vorwerfen. Alles nur wegen des Schnitters.
Ich arbeitete mich durch zwei Dutzend solcher Anfragen bis zu den drei wirklich wichtigen Nachrichten durch. Eine stammte von einer jungen Frau, die ich vor zwei Jahren betreut hatte; ihr Mann war Opfer eines Mordes geworden. Die zweite war von einer Spendenorganisation, die darauf hoffte, dass das M GAP, das Massachusetts Grief Assistance Program, das ich gegründet hatte, um den Angehörigen von Mordopfern beizustehen, sie mit Rat und Tat unterstützen werde. In den letzten Monaten aber hatte ich wenig Zeit und Energie für etwas anderes als das Betreuen trauernder Angehöriger gehabt.
Es gibt weniger als vierzig solcher Trauerberater in den Vereinigten Staaten. Die Trauerbegleitung muss es erst noch auf die Hitliste der Berufe schaffen. Mir aber gefällt diese Arbeit; sie gibt meinem Leben einen Sinn. Und ich bin stolz darauf, Mitglied dieser kleinen Gemeinschaft zu sein.
Penny klapperte mit ihrem Napf. Ich füllte ihn mit frischem Wasser auf— sie ist ganz schön eigen — und holte mir selbst ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Mann, war das heiß. Zum tausendsten Mal wünschte ich mir, ich könnte die Fenster aufmachen. Kein Lüftchen ging an diesem verdammten Ort.
Ich stand kurz davor, bei einer Obduktion vorbeizuschauen, nur, um mir Abkühlung zu verschaffen.
Ich griff nach der dritten Notiz, las sie und musste mich erst einmal setzen. Die Notiz war für eine Emma Blake. Huch. Gert hatte ein großes lila Fragezeichen daneben gemalt. Kein Wunder. Das war ein Name, den ich seit Jahren
nicht gehört hatte. In einem anderen Leben und bevor ich bei meinem Spitznamen Tally geblieben war, war ich diese Emma gewesen. Und vor einer umstrittenen Heirat und einer noch umstritteneren Scheidung hatte mein Nachname Blake gelautet.
»Gert, hast du den Anruf entgegengenommen?« Ich wedelte mit dem Zettel, als ich ins Hauptbüro kam.
»Ja. Ein Typ. Tiefe Stimme. Rau. Atemlos. Meinte, ich soll die Nachricht Tally geben. >Die wird Bescheid wissen<, hat er gesagt. Und, tust du das?«
»Tu ich was?«
»Na, Bescheid wissen.«
»Über das >wer< schon, aber das >worüber< erschließt sich mir nicht. Hat er nicht mal angedeutet, was er wollte?«
Sie blies eine violette Kaugummiblase und sog sie wieder ein. »Nein. Klang aber eindeutig nicht ganz dicht. Ich hab mir gedacht, dass es was mit dem Schnitter zu tun hat.«
Mein Herz raste, aber ich nickte nur bemüht gleichmütig. Gert wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wir hatten zusammen schon eine Menge durchgemacht. Sie blies eine weitere Blase und widmete sich wieder ihrer Büroarbeit.
Emma Blake. Diesen Namen hatte ich seit fast zwanzig Jahren nicht gehört. Wer sollte sie sprechen wollen? Und
wa-
rum?
Eine Woche später. Ich begleitete eine Frau zu einem Gerichtstermin, deren Eltern im Vorbeifahren erschossen worden waren. Ich fuhr zum Abendessen zu meinen Pflegemüttern, von denen eine zufällig auch die Leiterin der örtlichen Gerichtsmedizin ist. Ich machte Beratungen, erledigte Papierkram und tollte mit Penny im Park.
Aber ich bekam keinen Anruf von einem gewissen Mr Atemlos, in dem es um Emma Blake ging.
Aber als er dann kam, war ich völlig unvorbereitet. Zum wiederholten Mal sah ich auf die Uhr. Sergeant Rob Kranak von den Crime Scene Services, einer Einheit der Spurensicherung, hätte mich bereits vor einer Stunde anrufen sollen, um mir die Ergebnisse der forensischen Untersuchung einer kopflosen Leiche aus dem Charles River mitzuteilen. Als dann das Telefon klingelte, war ich ein klitzekleines bisschen genervt.
»Rob, wie kann es sein ...«
»Emmaaaaaaa«, sagte eine Stimme und zog das Endungs-A in die Länge.
»Wer ist da?«
»Es geht um deinen Vaaaater. Er hat doch gar nicht getan, was da behauptet wird. Du musst kommen.«
Himmel. Dieser Kerl klang ja wie jemand, der in den Geschichten aus der Gruft mitspielte. »Was soll mit meinem Vater sein? Wovon reden Sie?«
»In Winsworth werden alte Geschichten ausgegraben. Böse Geschichten. Und dein Vater hat das alles nicht getan. Komm her. Oder es kommt noch schlimmer. Du musst kommen.«
»Wer ist ...«
Klick.
Im Display war nichts zu sehen. Der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt.
Was zum Teufel ging hier vor sich?
Eine weitere Woche verging. Ich begleitete Gert zu einer Galerieeröffnung. Ich besuchte mit Penny die Hundestaffel in Stoneham, wo sie mit ihren alten Kameraden herumtollte. Ich beendete eine zehnmonatige Gruppentherapie mit sehr gutem Erfolg.
Ich machte noch eine Menge anderer Sachen, aber die meiste Zeit brütete ich über ein und derselben Angelegenheit: diesem Anruf für Emma Blake.
Der Anrufer kannte mich als Tally und als Emma. Ich ging
die Nachricht wieder und wieder durch. Ich sah keinen Grund, nach Winsworth zurückzukehren.
Winsworth war für mich Nostalgie pur: Segeln mit Dad, auf Apfelbäume klettern mit meinen zwei Freundinnen, Ferienlager am Winsworth River, Goldsterne als Belohnung in der Schule, während eines heftigen Schneesturms die Union Street entlanglaufen, sich mit Hummer vollstopfen. Eine Heimat wie keine andere, die ich seither gehabt hatte, aber auch eine, die ich mit zwölf verlassen hatte.
Alles in Winsworth hing mit meinem Vater zusammen, und der war, drei Jahre nachdem wir aus Main weggezogen waren, in Boston ermordet worden.
Ich hatte ihn sogar in Winsworth beerdigen lassen, aber er war ja schon lange tot. Was konnte denn da »noch Schlimmeres« passieren?
Verdammt, ich war ein Stadtmensch und lebte seit beinahe zwei Jahrzehnten in Boston. Ich kannte nichts anderes. Die U-Bahn, die Einkaufsmeile Newbury Street, das Baseball-Stadion Fenway Park. Italienische Feste im North End, der Markt um die Faneuil Hall, die Duck Boat Tours. Und die Familien der Toten. Die kannte ich auch.
Also gut — manchmal ging ich eine Runde fischen. Machte eine Reise. Oder eine Wanderung.
Aber das bedeutete nicht, irgendwo anders zu leben.
»Alles klar, Pens?«, fragte ich und streichelte ihr über den Kopf. Sie lag auf dem Sofa in unserer Wohnung im South End und hatte alle viere von sich gestreckt. »Was soll das bringen, wieder dorthin zu fahren. Der Anrufer war bestimmt nur irgendein Blödmann oder so was. Ich habe schließlich zu tun. Jede Menge sogar.«
Oh Mann, ich war seit mehr als zwanzig Jahren nicht in Winsworth gewesen. Ich vermisste es, sicher doch, aber eher so, wie man eine geliebte alte Puppe vermisst, die man als Kind hatte. Also nichts, womit man als Erwachsener noch spielen möchte. Nur etwas, woran man sich gern erinnert.
Beim zweiten Mal erwischte Mr Atemlos mich zu Hause.
»Die wollen sein Grab aufbuddeln. Zerstören wollen sie ...« »Wer ist da, und wovon reden Sie eigentlich?« »Emmmaaaa. Er leidet. Du musst kommen. Sonst wird
er ...«
Er legte auf.
»Verflixt, Penny!«
Sie wollen sein Grab aufbuddeln. Himmel.
Mr Atemlos wusste nur zu gut, wo er bei mir ansetzen musste. Um was für falsche Anschuldigungen gegen meinen Dad konnte es sich da handeln? Und der Gedanke, dass jemand litt ... Oh ja, der Typ hatte echt den richtigen Hebel in Gang gesetzt.
Ich machte mir einen Bourbon auf Eis und entschied mich, den Anruf zu verdrängen. Durchgeknallte gab es schließlich jede Menge. Mr Atemlos war nur einer von ihnen.
Aber die Wahrheit war: Unser Haus war abgebrannt. Wir hatten die Stadt auffällig überstürzt und mitten in der Nacht verlassen. Nicht, dass ich mich noch an besonders viel erinnerte. Es war das erste Mal gewesen, dass wir »Hals über Kopf« abgehauen waren, um es mal so auszudrücken. Mich schauderte. Aber nicht das letzte Mal. Seit Winsworth — oder vielleicht gerade deswegen — war für meinen Vater vieles zunehmend schiefgelaufen. Das Leben war nie wieder einfach gewesen.
Wie lächerlich, dorthin zurückzukehren. Warum alles noch komplizierter machen?
Aber manchmal hat man keine Wahl.
Ich rief Gert an, um ihr zu sagen, dass ich mir eine kleine Auszeit gönnen wollte. Sie hatte meinen Anruf bereits erwartet und war vorbereitet.
Also reichte ich einen Monat Urlaub ein, womit ich alle bei den Crime Scene Services und das ganze MGAP schockierte, genau wie meine Pflegemütter, sollte ich hinzufügen. Ich gab vor, nach der Geschichte mit dem Schnitter eine Pause zu
Ich arbeitete mich durch zwei Dutzend solcher Anfragen bis zu den drei wirklich wichtigen Nachrichten durch. Eine stammte von einer jungen Frau, die ich vor zwei Jahren betreut hatte; ihr Mann war Opfer eines Mordes geworden. Die zweite war von einer Spendenorganisation, die darauf hoffte, dass das M GAP, das Massachusetts Grief Assistance Program, das ich gegründet hatte, um den Angehörigen von Mordopfern beizustehen, sie mit Rat und Tat unterstützen werde. In den letzten Monaten aber hatte ich wenig Zeit und Energie für etwas anderes als das Betreuen trauernder Angehöriger gehabt.
Es gibt weniger als vierzig solcher Trauerberater in den Vereinigten Staaten. Die Trauerbegleitung muss es erst noch auf die Hitliste der Berufe schaffen. Mir aber gefällt diese Arbeit; sie gibt meinem Leben einen Sinn. Und ich bin stolz darauf, Mitglied dieser kleinen Gemeinschaft zu sein.
Penny klapperte mit ihrem Napf. Ich füllte ihn mit frischem Wasser auf— sie ist ganz schön eigen — und holte mir selbst ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Mann, war das heiß. Zum tausendsten Mal wünschte ich mir, ich könnte die Fenster aufmachen. Kein Lüftchen ging an diesem verdammten Ort.
Ich stand kurz davor, bei einer Obduktion vorbeizuschauen, nur, um mir Abkühlung zu verschaffen.
Ich griff nach der dritten Notiz, las sie und musste mich erst einmal setzen. Die Notiz war für eine Emma Blake. Huch. Gert hatte ein großes lila Fragezeichen daneben gemalt. Kein Wunder. Das war ein Name, den ich seit Jahren
nicht gehört hatte. In einem anderen Leben und bevor ich bei meinem Spitznamen Tally geblieben war, war ich diese Emma gewesen. Und vor einer umstrittenen Heirat und einer noch umstritteneren Scheidung hatte mein Nachname Blake gelautet.
»Gert, hast du den Anruf entgegengenommen?« Ich wedelte mit dem Zettel, als ich ins Hauptbüro kam.
»Ja. Ein Typ. Tiefe Stimme. Rau. Atemlos. Meinte, ich soll die Nachricht Tally geben. >Die wird Bescheid wissen<, hat er gesagt. Und, tust du das?«
»Tu ich was?«
»Na, Bescheid wissen.«
»Über das >wer< schon, aber das >worüber< erschließt sich mir nicht. Hat er nicht mal angedeutet, was er wollte?«
Sie blies eine violette Kaugummiblase und sog sie wieder ein. »Nein. Klang aber eindeutig nicht ganz dicht. Ich hab mir gedacht, dass es was mit dem Schnitter zu tun hat.«
Mein Herz raste, aber ich nickte nur bemüht gleichmütig. Gert wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wir hatten zusammen schon eine Menge durchgemacht. Sie blies eine weitere Blase und widmete sich wieder ihrer Büroarbeit.
Emma Blake. Diesen Namen hatte ich seit fast zwanzig Jahren nicht gehört. Wer sollte sie sprechen wollen? Und
wa-
rum?
Eine Woche später. Ich begleitete eine Frau zu einem Gerichtstermin, deren Eltern im Vorbeifahren erschossen worden waren. Ich fuhr zum Abendessen zu meinen Pflegemüttern, von denen eine zufällig auch die Leiterin der örtlichen Gerichtsmedizin ist. Ich machte Beratungen, erledigte Papierkram und tollte mit Penny im Park.
Aber ich bekam keinen Anruf von einem gewissen Mr Atemlos, in dem es um Emma Blake ging.
Aber als er dann kam, war ich völlig unvorbereitet. Zum wiederholten Mal sah ich auf die Uhr. Sergeant Rob Kranak von den Crime Scene Services, einer Einheit der Spurensicherung, hätte mich bereits vor einer Stunde anrufen sollen, um mir die Ergebnisse der forensischen Untersuchung einer kopflosen Leiche aus dem Charles River mitzuteilen. Als dann das Telefon klingelte, war ich ein klitzekleines bisschen genervt.
»Rob, wie kann es sein ...«
»Emmaaaaaaa«, sagte eine Stimme und zog das Endungs-A in die Länge.
»Wer ist da?«
»Es geht um deinen Vaaaater. Er hat doch gar nicht getan, was da behauptet wird. Du musst kommen.«
Himmel. Dieser Kerl klang ja wie jemand, der in den Geschichten aus der Gruft mitspielte. »Was soll mit meinem Vater sein? Wovon reden Sie?«
»In Winsworth werden alte Geschichten ausgegraben. Böse Geschichten. Und dein Vater hat das alles nicht getan. Komm her. Oder es kommt noch schlimmer. Du musst kommen.«
»Wer ist ...«
Klick.
Im Display war nichts zu sehen. Der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt.
Was zum Teufel ging hier vor sich?
Eine weitere Woche verging. Ich begleitete Gert zu einer Galerieeröffnung. Ich besuchte mit Penny die Hundestaffel in Stoneham, wo sie mit ihren alten Kameraden herumtollte. Ich beendete eine zehnmonatige Gruppentherapie mit sehr gutem Erfolg.
Ich machte noch eine Menge anderer Sachen, aber die meiste Zeit brütete ich über ein und derselben Angelegenheit: diesem Anruf für Emma Blake.
Der Anrufer kannte mich als Tally und als Emma. Ich ging
die Nachricht wieder und wieder durch. Ich sah keinen Grund, nach Winsworth zurückzukehren.
Winsworth war für mich Nostalgie pur: Segeln mit Dad, auf Apfelbäume klettern mit meinen zwei Freundinnen, Ferienlager am Winsworth River, Goldsterne als Belohnung in der Schule, während eines heftigen Schneesturms die Union Street entlanglaufen, sich mit Hummer vollstopfen. Eine Heimat wie keine andere, die ich seither gehabt hatte, aber auch eine, die ich mit zwölf verlassen hatte.
Alles in Winsworth hing mit meinem Vater zusammen, und der war, drei Jahre nachdem wir aus Main weggezogen waren, in Boston ermordet worden.
Ich hatte ihn sogar in Winsworth beerdigen lassen, aber er war ja schon lange tot. Was konnte denn da »noch Schlimmeres« passieren?
Verdammt, ich war ein Stadtmensch und lebte seit beinahe zwei Jahrzehnten in Boston. Ich kannte nichts anderes. Die U-Bahn, die Einkaufsmeile Newbury Street, das Baseball-Stadion Fenway Park. Italienische Feste im North End, der Markt um die Faneuil Hall, die Duck Boat Tours. Und die Familien der Toten. Die kannte ich auch.
Also gut — manchmal ging ich eine Runde fischen. Machte eine Reise. Oder eine Wanderung.
Aber das bedeutete nicht, irgendwo anders zu leben.
»Alles klar, Pens?«, fragte ich und streichelte ihr über den Kopf. Sie lag auf dem Sofa in unserer Wohnung im South End und hatte alle viere von sich gestreckt. »Was soll das bringen, wieder dorthin zu fahren. Der Anrufer war bestimmt nur irgendein Blödmann oder so was. Ich habe schließlich zu tun. Jede Menge sogar.«
Oh Mann, ich war seit mehr als zwanzig Jahren nicht in Winsworth gewesen. Ich vermisste es, sicher doch, aber eher so, wie man eine geliebte alte Puppe vermisst, die man als Kind hatte. Also nichts, womit man als Erwachsener noch spielen möchte. Nur etwas, woran man sich gern erinnert.
Beim zweiten Mal erwischte Mr Atemlos mich zu Hause.
»Die wollen sein Grab aufbuddeln. Zerstören wollen sie ...« »Wer ist da, und wovon reden Sie eigentlich?« »Emmmaaaa. Er leidet. Du musst kommen. Sonst wird
er ...«
Er legte auf.
»Verflixt, Penny!«
Sie wollen sein Grab aufbuddeln. Himmel.
Mr Atemlos wusste nur zu gut, wo er bei mir ansetzen musste. Um was für falsche Anschuldigungen gegen meinen Dad konnte es sich da handeln? Und der Gedanke, dass jemand litt ... Oh ja, der Typ hatte echt den richtigen Hebel in Gang gesetzt.
Ich machte mir einen Bourbon auf Eis und entschied mich, den Anruf zu verdrängen. Durchgeknallte gab es schließlich jede Menge. Mr Atemlos war nur einer von ihnen.
Aber die Wahrheit war: Unser Haus war abgebrannt. Wir hatten die Stadt auffällig überstürzt und mitten in der Nacht verlassen. Nicht, dass ich mich noch an besonders viel erinnerte. Es war das erste Mal gewesen, dass wir »Hals über Kopf« abgehauen waren, um es mal so auszudrücken. Mich schauderte. Aber nicht das letzte Mal. Seit Winsworth — oder vielleicht gerade deswegen — war für meinen Vater vieles zunehmend schiefgelaufen. Das Leben war nie wieder einfach gewesen.
Wie lächerlich, dorthin zurückzukehren. Warum alles noch komplizierter machen?
Aber manchmal hat man keine Wahl.
Ich rief Gert an, um ihr zu sagen, dass ich mir eine kleine Auszeit gönnen wollte. Sie hatte meinen Anruf bereits erwartet und war vorbereitet.
Also reichte ich einen Monat Urlaub ein, womit ich alle bei den Crime Scene Services und das ganze MGAP schockierte, genau wie meine Pflegemütter, sollte ich hinzufügen. Ich gab vor, nach der Geschichte mit dem Schnitter eine Pause zu
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Autoren-Porträt von Vicki Stiefel
Vicki Stiefel wuchs in Connecticut auf, wo ihr Vater das Ivoryton Theater betrieb. Sie arbeitete als Fotografin, Englischlehrerin, Hamburgerköchin und Betreiberin eines Tauchgeschäfts. Ihre erste Kurzgeschichte erschien im Ellery Queen's Mystery Magazine. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in New Hampshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: Vicki Stiefel
- 2012, 330 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863650042
- ISBN-13: 9783863650049
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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