Mehr als Worte sagen (ePub)
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Mehr als Worte sagen von Nan RossiterAus dem Amerikanischen von Ulrich Hoffmann
Prolog
Callie stand am Fenster und sah zu, wie die Nachmittagssonne mit den Wolken »Verstecken« spielte. Die Busse fuhren davon, und als der letzte an ihr vorbeikam bemerkte sie einen kleinen blonden Kopf, der an einem der Fenster lehnte und herausschaute. Der kleine Junge sah müde aus, während er durch das Glas blickte, aber als er sie bemerkte, setzte er sich auf, strahlte und öffnete und schloss seine kleine Faust. Callie lächelte und winkte zurück.
Sie sah ihm nach, bis die Busse verschwanden, und dann begann sie, ihr Klassenzimmer zu richten. Sie sammelte Bleistifte und Wachsmalkreiden ein und stellte die Stühle auf die Tische, damit Jim saugen konnte. Als sie den Tisch des kleinen Jungen aus dem Bus erreichte, hielt sie inne. Der schüchterne Sam, wie sie ihn nannte, dachte immer daran, seinen Stuhl hochzustellen, er kümmerte sich sogar um die seiner Nachbarn, wenn sie es vergaßen. Sie sah sein süßes Lächeln vor sich und dachte an Henry, als der in diesem Alter gewesen war. Sam war still, ungeheuer ordentlich, und malte liebend gern und Callie hatte das Gefühl, dass er Henry äußerst ähnlich war.
... mehr
Sie nahm Sams Stuhl vom Tisch herunter, setzte sich darauf, wobei ihre Knie die Unterseite seines Tisches berührten, und öffnete seine Stifteschachtel. Sam sortierte seine Wachsmalkreiden nach Farben, genau wie Henry es immer getan hatte, und Callie wusste, dass alle Farben vorhanden waren, selbst diejenigen, die zu kurz waren, um sie noch zu benutzen. Sie schloss die Schachtel, schob sie zurück unter seinen Tisch, und betrachtete das Bild, an dem er heute gearbeitet hatte. Es war ein Bild von Winston, seinem geliebten Golden Retriever. Sie lächelte und dachte an all die Bilder, die Henry von Springer gemalt hatte. Der liebe alte Springer !
Callie schaute zum Fenster hinaus in den mittlerweile grauen Himmel. Sie konnte kaum glauben, dass Henry im Winter sechzehn würde. Wo ist die Zeit nur hin ? Sie konnte ihn immer noch mit dem Arm um Springers Hals vor sich sehen. Und sie konnte sich immer noch mit größter Klarheit an jene schicksalhafte Woche vor dreizehn Jahren erinnern, die ihr Leben für immer veränderte.
Teil 1
Da ist etwas, das will keine Mauern,
das schickt die Kraft des Frostes,
wirft Steine aus der Sonne ...
Robert Frost
Kapitel 1
Callie kniete neben Henrys Bett. Er sah so friedlich aus, ganz anders als der frustrierte kleine Junge, mit dem sie ihre Tage verbrachte. Sie streckte den Arm aus und strich ihm sanft die blonden Haarsträhnen aus der Stirn. Sie sah zu, wie er atmete, die Lippen leicht geöffnet ; sie bewunderte die Winzigkeit seiner perfekten Händchen und streichelte seine weichen Wangen. Henry murmelte und zog seinen geliebten Teddy dichter heran, bis das abgegriffene Stofftier fest unter seiner Brust klemmte. Sie flüsterte ihr Gebet für ihn, wie immer, beugte sich vor, küsste ihn zart, und atmete den süßen Duft des kleinen Jungen ein. Schließlich begannen die Tränen, gegen die sie den ganzen Tag angekämpft hatte, brennend heiß über ihre Wangen zu rinnen. Sie ließ sich gegen sein Bett sinken, vergrub das Gesicht zwischen ihren Armen, und weinte in die weiche Baumwollbettwäsche. Sie hörte das Gewitter durchs Tal ziehen und bettelte zum vielleicht hundertsten Mal an diesem Tag stumm : Bitte lass es nicht wahr sein. Bitte sorg dafür, dass es Henry besser geht. Lass es einfach verschwinden. Bestraf Henry nicht für etwas, das ich getan habe.
Callie saß lange neben Henrys Bett, bevor sie sich schließlich aufraffte und in ihr Bett im Zimmer nebenan sackte. Sie war erschöpft, konnte aber nicht schlafen. Sie starrte in die Dunkelheit und dachte an jene entsetzliche Begegnung, die ihr Leben verändert hatte. Damals war ihr alles so unschuldig erschienen. Hinterher jedoch hatte sie gewusst, dass die Ereignisse, die zu jener Nacht geführt hatten, keinerlei Unschuld besessen hatten.
Es war ein sonniger Dienstag gewesen, als sie sich das erste Mal zum Kaffee getroffen hatten, um über ihre Hausarbeit zu sprechen. Am Freitag darauf war es ein Bier auf der Terrasse eines Pubs in der Church Street gewesen, um den Frühlingsanfang zu feiern. Und am Samstag war er schmuck und lächelnd erschienen, um sie zum Abendessen in ein stilles Inn am Lake Champlain auszuführen. Sie hatten auf der Veranda gesessen und zugesehen, wie die Lichter um den See herum zu flackern und zu glitzern begannen, während die Sonne ihre leuchtenden Farben über den Himmel strahlte. Sie teilten eine Flasche Merlot und sprachen über ihr Aufbaustudium, über seine Hoffnung auf eine Verbeamtung. Dann hatte er eine zweite Flasche bestellt und Callie hatte sich erstmals gefragt, was er vorhatte. Sie hatte beobachtet, wie er mit dem goldenen Ring an seinem Finger spielte, und an Linden gedacht. Was würde er davon halten, wenn er mich jetzt hier sähe ? Sie hatte den Gedanken beiseitegeschoben.
Er bezahlte das Essen, hatte sorgfältig den Korken zurück in die zweite Flasche geschoben und sie diskret unter seinem Tweedjackett herausgeschmuggelt, und dann hatte er ihr jovial den Arm um die Schultern gelegt, als sie zurück zu seinem Wagen gingen. Sie fuhren nur ein kurzes Stück, dann bog er auf den Parkplatz eines abgelegenen Strandes. Als er die Rückklappe seines Volvo-Kombi öffnete und eine Wolldecke ausbreitete, war ihr plötzlich alles viel zu zufällig vorgekommen. Callie hatte eine beunruhigende Vorahnung verspürt. Es ist schon viel zu weit gegangen. Aber sie hatte trotzdem nicht versucht, der Sache ein Ende zu bereiten.
Sie hatten auf der Decke gesessen und er hatte gelacht, während er sich mit der Flasche zwischen seinen Beinen abmühte, und sie hatte ebenfalls gelacht, als sie versuchte, ihm zu helfen, indem sie die Flasche festhielt, während er den Korken herauszog. Schließlich war es ihm gelungen, wobei ein Spritzer Rotwein auf seiner Khaki-Hose landete.
Er war mit dem Finger über den Rand des Flaschenhalses gefahren, um alle Tröpfchen wegzuwischen, und hatte ihr dann lächelnd die Flasche hingehalten. Sie hatte gezögert, gelächelt, aber schließlich einen Schluck genommen, wobei ihr Herz heftig schlug.
Während sie zusahen, wie die Lichter auf dem Wasser tanzten, hatte er sein Jackett ausgezogen und ihr über die Schultern gelegt. Die Flasche hin und her wandern zu lassen, erinnerte Callie an die Highschool. Und dann war er mit seiner Hand über ihren Schenkel gefahren und hatte sie geneckt, weil sie bloß ein Grübchen hatte, nicht zwei, und mit einem eigenartigen Gefühl des Schwindels hatte sie frech gegrinst und langsam ihre Zungenspitze über den Flaschenhals kreisen lassen.
Er hatte mit hochgezogenen Augenbrauen zugesehen. »Wo haben Sie denn das gelernt, Miss Wyeth?«
»Was gelernt?«, hatte Callie in gespielter Unschuld gefragt.
»Hmmm, was können Sie denn noch so?« Seine Augen hatten gefunkelt, als er zart mit dem Finger um ihr Grübchen herumfuhr, dann über ihre Lippen, und Callie hatte die Augen geschlossen und ihn gelassen.
Callie hasste diese Erinnerung, aber manchmal schlich sie sich in ihr Gehirn, und sie schien sie nicht stoppen zu können. Zwei Monate später hatte sie bemerkt, dass sie schwanger war, aber als sie versuchte, ihn am College zu erreichen, hatten sie ihr gesagt, dass er einen Job in Kalifornien angetreten hätte. Was ist bloß aus deiner Verbeamtung geworden?, hatte sie sich bitter gefragt. Callie schlief schließlich ein, aber es schien nur wenige Augenblicke gedauert zu haben, bis sie von einem Weinen erwachte. Im frühen Morgenlicht fand sie Henry auf dem Boden vor, er wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Sie hob ihn auf, konnte ihn in ihren Armen zittern spüren, und zog das Laken um ihn. Er wimmerte weiter und sie flüsterte ihm leise in sein zerzaustes Haar: »Alles in Ordnung, Hen-Ben, alles ist in Ordnung. « Ihre beruhigenden Worte galten genauso sehr ihr wie ihm.
Sie warf einen Blick auf den Stapel Kisten im Zimmer und seufzte. Sie wusste, dass die unbekannte Umgebung Henry nicht half, aber sie konnte es nicht ändern. Ohne Kinderbetreuung konnte sie nicht arbeiten gehen, und sie hatte kein Geld mehr. Im Dämmerlicht starrte sie eine Kiste mit der Aufschrift »Henry / LEGO« an und dachte an die letzten paar Monate.
Die ganze Zeit, die sie die Veränderung bei Henry bemerkt hatte, hatte sie versucht, sich einzureden, dass sie sich keine Sorgen deswegen machen müsste. Er ist bloß ruhig, das ist alles. Manche Jungs entwickeln sich eben langsamer als andere, und außerdem kann Henry sehr wohl sprechen ... Er hat schon damit angefangen. Callie versuchte sich zu erinnern, wann Henry das letzte Mal tatsächlich etwas gesagt hatte. Das ist schon in Ordnung, hatte sie sich eingeredet. Er wird es lernen, wenn er soweit ist. Aber all die beruhigenden Worte hatten sich erledigt, als Mrs Cooper ebenfalls ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen hatte.
Mrs Cooper war die Leiterin der Kinderbetreuung neben dem College - der Kinderbetreuung, in der Callie Henry untergebracht hatte, seit er sechs Monate alt war. Nach seiner Geburt hatte sie ihr Studium nicht weiterführen können und stattdessen einen Job in der Abteilung für Stipendienbewilligung angenommen. Sie war immer dankbar gewesen dafür, ein so wundervolles Heim außerhalb ihres Heims für Henry gefunden zu haben, es war ein Segen, und sie konnte immer noch den verblassten grünen Teppich und den Schatten der Sprossen des Fensters vor sich sehen, der jeden Nachmittag, wenn sie ihn abholte, kreuzweise über den Fußboden des großen Spielzimmers kroch. An jenem letzten Nachmittag hatte Callie an der Tür auf ihn gewartet, als Mrs Cooper sie beiseite genommen hatte. Sie erinnerte sich an die Besorgnis in ihrer Stimme, als sie ihr leise erklärte, dass sie Henry bereits seit mehreren Wochen beobachtete und um ein positives Zeichen gebetet hätte.
»Henry ist so still«, hatte sie gesagt, »und wirkt oft ganz verloren. In letzter Zeit zeigt er kein Interesse daran, mit anderen Kindern zu spielen. Stattdessen steht er bloß am Reistisch und füllt Reis aus einer Tasse in die andere, oder er lässt den Reis durch seine Finger rieseln. Wenn ein anderes Kind ihn unterbricht oder sich eine seiner Tassen leiht, nimmt ihn das sehr mit. Heute hat ein anderer Junge ihm die Tasse weggenommen, die er benutzte, und ihm dafür eine andere gegeben. Henry hat sich sehr aufgeregt und einen richtigen Wutanfall bekommen. Er hat alle Spielzeuge, die sich auf dem Reistisch befanden, durch den Raum geworfen, und eine Handvoll Legosteine dazu. Als er sich schließlich beruhigt hatte«, fuhr Mrs Cooper fort, »bat ich ihn, zu unserer Lesegruppe zu gehen, aber er weigerte sich und saß einfach nur in der Ecke, wo er vor und zurück wippte. Es tut mir leid, Callie, aber ich wollte mir sicher sein, bevor ich etwas sage.«
Callie hatte das Muster auf dem Teppich angestarrt, als eine Wolke vor die Sonne zog. Sie nickte langsam, Tränen brannten in ihren Augen. »Ich denke, Sie müssen Henry testen lassen, meine Liebe«, erklärte Mrs Cooper freundlich und umarmte sie. »Bitte lassen Sie uns wissen, wie es ausgeht. Wir werden für Sie beide beten.« Erst da begriff Callie, dass Mrs Cooper ihr mitteilte, dass sie Henry nicht mehr länger beaufsichtigen können würde.
Callie drückte ihre Wange in Henrys dünnes Haar und bemerkte, dass er wieder eingeschlafen war. Sie legte ihn hin und deckte ihn gut zu. So müde sie auch war, es brachte nichts, wieder zurück ins Bett zu gehen. Außerdem könnte sie so viel erledigen, wenn er weiterschliefe, also schlich sie leise aus dem Zimmer, das einst ihres gewesen war, ließ die Tür einen Spalt geöffnet, und ging barfuß in die Küche um herauszufinden, ob ihr Vater etwas Kaffee hatte. Sie öffnete den Schrank neben der Spüle, wo ihre Eltern ihn stets stehen gehabt hatten, und da war, wo sie immer gestanden hatte, eine dunkelblaue Dose Maxwell House. Der Anblick der altbekannten Dose an ihrem angestammten Platz gab Callie ein eigenartiges Gefühl der Ruhe. Als sie danach griff, wurde sie sich jedoch schmerzhaft der Leere im Haus ihrer Eltern bewusst. Die Menschen, die sie auf der Welt am meisten geliebt hatte, waren nicht mehr länger hier und würden nie wieder herkommen, um Kaffee zu kochen, die warmen Tassen in den Händen zu halten, beim Frühstück zu plaudern, über den bevorstehenden Tag zu sprechen und dann zur Tür hinaus zur Schule oder zur Arbeit zu eilen, mit einem Kuss und einem Versprechen ... Ich liebe dich ! Gott sei mit dir! Wir sehen uns heute Abend! Ihre wunderbaren Stimmen hallten durch ihren Geist. Callie schaute zum Küchenfenster des Hauses hinaus, in dem sie aufgewachsen war, und Tränen füllten ihre Augen. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Kapitel 2
Linden Finch kurbelte die Fenster seines alten Ford-Pickup- Trucks hoch und stieg aus. Er kam spät nach Hause, aber das Sommergewitter, das der Wettermann vorhergesagt hatte, war pünktlich. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Bäume unheilverkündend rascheln und Linden schneller gehen. Zwei gelbe Labradore, die den ganzen Tag Eichhörnchen gejagt und ansonsten faul auf der Veranda gelegen hatten, sahen ihn kommen, erhoben sich aus ihrem Halbschlaf, reckten sich und trotteten fröhlich über den Hof, um ihn zu begrüßen. Linden kniete sich hin und sagte Hallo. »Wie war euer Tag?«, fragte er leise. Sie antworteten, indem sie sich um ihn herum schlängelten, sein Gesicht leckten, und mit den Schwänzen gegen seinen Kopf klopften. Es rumpelte in der Ferne und Linden richtete sich auf, er betrachtete die Wand bedrohlicher Wolken, die sich über dem Feld formte. Genau in diesen Augenblick zerriss ein grellweißer Blitz den Himmel. Aus alter Gewohnheit begann er stumm die Sekunden vom Aufscheinen des Blitzes bis zum Donnerhall zu zählen, schaffte aber nur »einundzwanzig «, als er den Donner schon hörte. Er lief in die Scheune und öffnete den Zugang für die beiden Randall-Kühe, die schon ungeduldig warteten. Sie drückten ihre warmen Nasen gegen seine Brust, während er sie in die Sicherheit ihrer Ställe führte, dann fuhren sie mit ihrem erwartungsvollen Muhen fort. Ein kleiner Esel kam hinter ihnen her und marschierte in seinen eigenen Stall. Linden betätigte einen Schalter neben der Tür und ein warmes, freundliches Licht erfüllte die Scheune. Die Hunde schoben ihre Schnauzen durch das Heu auf dem Boden, während Linden die Kühe und den kleinen Esel fütterte und ihnen Wasser gab, wobei er die ganze Zeit leise vor sich hin murmelte. Der jüngere Hund hob die Nase zu einem Heuballen und schnaufte Maude an, die orange-getigerte Katze, die dort friedlich schlummerte. Sie öffnete ein Auge und betrachtete ihn unbeeindruckt, während Harold, ihr seidig-dunkelgraues Gegenstück, sich auf dem Ballen über ihr streckte und dabei gähnte. Linden eilte nach draußen, um im Hühnerhaus nach dem Rechten zu sehen. Wie immer waren die Damen schon bereit, zu Bett zu gehen, also schloss er leise die Tür und legte den Riegel vor.
Fette Regentropfen begannen auf den trockenen Boden zu klatschen, als er in die Scheune zurückhuschte. Er schaute hoch ins Gebälk zu dem alten Streifenkauz, und der beäugte ihn seinerseits ebenfalls. Linden schaltete das Licht aus und rief die Hunde zu sich. Gemeinsam schauten sie hinaus über den Hof. Wie auf Befehl öffnete der Himmel seine Schleusen. Linden schätzte eilig die Entfernung zwischen der Scheune und der Veranda - und wie nass sie werden würden. »Los geht's!«, rief er und rannte über den Hof. Die Hunde folgten ihm begeistert und platschten durch jede Pfütze, die sie unterwegs finden konnten.
In der Küche zog Linden sein weißes Shirt aus, hängte es über die Rückenlehne eines Stuhls, griff nach einem Geschirrhandtuch, trocknete damit sein Haar, und dann rubbelte er die beiden Hunde ab, die sich immer noch an ihn drückten. Er warf das Handtuch auf die Waschmaschine, öffnete den Kühlschrank, nahm sich ein Bier, und ging dann zur Vorratskammer am hinteren Ende der Küche. Die Hunde folgten ihm und ließen sich gehorsam fallen, als er ihnen jeweils eine Portion Trockenfutter in die Schüsseln schüttete. Linden wartete einen Augenblick. Springer starrte sehnsüchtig sein Futter an, während Kat Linden im Auge behielt. Schließlich nickte Linden ihr zu und sagte dann Springer zuliebe: »Okay !« Springer stürzte sich auf seine Schüssel, als hätte er seit einer Woche nichts zu fressen bekommen, Kat bemühte sich vergebens, etwas gesitteter vorzugehen. Linden schüttelte den Kopf. Er öffnete die Bierflasche mit Hilfe des metallenen Öffners, der am Türrahmen befestigt war, fing den Kronkorken auf, und trat hinaus auf die Veranda, um sich das Gewitter anzusehen. Er ließ sich in einen der alten Rattanstühle fallen, fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare, und atmete die regenfeuchte Luft ein. Während das Gewitter vorüberzog, dachte er daran, dass er gesehen hatte, dass in dem Haus der Wyeths Licht brannte, und fragte sich, ob etwas vorgefallen war. Mr Wyeth war seit sechs Monaten in einem Pflegeheim, aber Linden hatte vor Kurzem gehört, dass es seiner Gesundheit nicht besser ging.
Das Gewitter zog schnell vorbei und Linden bemerkte, dass die Hunde zur Fliegengittertür herausschauten. Er stemmte sich aus dem Sessel, und als er die Tür öffnete, begrüßten sie ihn, als hätten sie ihn schon ewig nicht gesehen, und folgten ihm zufrieden in die Küche, um herauszufinden, was er zum Abendessen haben würde. Linden stellte eine kleine Bratpfanne auf den Herd, um seine übrig gebliebenen Spaghetti warm zu machen, und wusch und schnitt eine frühreife Tomate. Er steckte sich ein saftiges Stück in den Mund, sah seine Post durch, und fand einen Scheck für einen Auftrag, den er vor zwei Monaten beendet hatte. Nach dem Essen wusch er das Geschirr, ließ die Hunde raus, gab ihnen beiden ein Leckerli, schaltete das Licht aus und ging zu Bett.
Im Dämmerlicht warf er seine Jeans über die Lehne eines Stuhls und sein T-Shirt auf den wachsenden Haufen in der Wäschetruhe. Er schob sein Schlafzimmerfenster hoch und erhaschte den bekannten Ruf des Streifenkauzes. Er erkannte die Stimme seines treuen Scheunenbewohners, und dann hörte er aus der Ferne eine sehnsüchtige Erwiderung. Ein kühler Windhauch ließ die Vorhänge rascheln, während Linden sich aufs Bett legte und es zum ersten Mal seit langer Zeit einem Gedanken an Callie erlaubte, sich in seinem Kopf breitzumachen. Es war dasselbe Bild, das er immer vor sich sah, wenn er es zuließ, wie ein Lieblingsfoto, das er im Geiste unter Glas hatte.
Sie lächelte und hatte die Hand gehoben, um ein paar Strähnen ihres wild gelockten Haars, das der Wind ihr über die Wangen geblasen hatte, zurückzuschieben. Sie trug ein schneeweißes Tanktop über ihrem roten Rettungsschwimmer-Badeanzug, und ihre Schultern waren zum Ende des Sommers hin goldbraun gebrannt. Linden hatte keine Ahnung, warum er Callie immer so vor sich sah. Es war vier Jahre her, aber nachdem er das Licht im Haus ihrer Eltern bemerkt hatte, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob sie vielleicht endlich wieder zurück war. Mit diesem Gedanken im Kopf schlief er ein.
Noch vor Anbruch der Dämmerung erwachte er von dem Scheppern seines eichhörnchensicheren Vogelfutterspenders, der zu Boden krachte, gefolgt von ärgerlichem Quieken. Plötzlich fi el ihm ein, was er vergessen hatte : Den Vogelfutterspender abends abzunehmen. »Verdammte Waschbären!«, knurrte er, als er sein Laken abstrampelte, dann stapfte er in seiner Boxershorts zur Hintertür und schaltete das Licht an. »Verschwindet!«, rief er und öffnete und knallte die Tür zu, um ihnen zu zeigen, dass er es ernst meinte. »Irgendwann werde ich euch schon noch reinlegen, oder abknallen!«, setzte er hinzu. Die Hunde klopften zustimmend mit den Schwänzen und sahen zu ihm hoch, sie fragten sich, ob es schon Zeit zum Frühstücken war. Er sah sie an und wusste genau, was sie dachten. »Nein, ist es nicht«, knurrte er und ließ sich zurück ins Bett fallen. Aber es brachte nichts, er wusste, er würde nicht wieder einschlafen können.
Er stand auf, zog seine alte Levi's an, schlurfte barfuß in die Küche, griff nach der fast leeren Tüte Green-Mountain-Kaffee und schaltete das Radio gerade rechtzeitig ein, um die Aufnahme des Vogelgesangs zu hören, mit dem der Moderator Robert J. Lurtsema jedes Mal seine Sendung eröffnete. Meistens war das Signal des Radiosenders WGBH nicht stark genug, um bis nach New Hampshire zu kommen, aber an anderen Tagen war es äußerst klar. Linden lächelte und fragte sich, ob seine Eltern, die immer früh aufstanden, in ihrem Haus in Boston denselben Sender hörten. Seine Mutter liebte klassische Musik, und ihretwegen hatte Linden acht lange Jahre Klavierunterricht über sich ergehen lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnte er alles von Beethovens Für Elise bis zu Auszügen aus Bachs komplexem Wohltemperiertem Klavier spielen, aber nur um sie zu ärgern, stürzte er sich in wilde Wiedergaben der Titelmusik von Gilligan's Island oder Elton Johns Version von »Pinball Wizard«. Seine Mutter hatte gekocht: »Ich wusste, wir hätten dich auf eine Privatschule schicken sollen !« Am Ende hatte Linden sich durchgesetzt, seine Mutter hatte nachgegeben, und er durfte den Unterricht endlich abbrechen.
Pachelbels Kanon tönte leise aus dem Radio, während er dampfenden Kaffee in den beigefarbenen Becher goss, den er gern benutzte. Auf dem Becher befand sich das verblasste Bild eines Leuchtturms, es war einer von mehreren Gegenständen, zu denen auch ein alter Chevy-Pickup gehörte, die der Besitzer des Hofes oder frühere Bewohner zurückgelassen hatte. Linden nahm einen Schluck, schaute zum Fenster hinaus auf den aufsteigenden Nebel über dem nach Norden fließenden Contoocook River, und fühlte sich trotz allem überraschend wohl in seiner Haut.
Kapitel 3
Callie konnte fast die Stimme ihres Vaters hören. Kopf hoch, Mädchen ! Das ist nicht das Ende der Welt! Obwohl ihr gar nicht danach war, lächelte sie, während sie Kaffee in den Lieblingsbecher ihres Vaters goss, und fuhr mit dem Finger über den verblassten Anker der U.S. Navy auf der Seite. Sie saß am Küchentisch und bemerkte, dass seine Bibel unter ein paar Papieren lag. Sie fragte sich, warum er sie nicht mitgenommen hatte. Sie griff danach und stellte fest, dass noch eine Ausgabe von The Upper Room zwischen den Seiten lag. So lange Callie zurückdenken konnte, hatten ihre Eltern getreulich jeden Morgen die Zeit aufgebracht, um den von dem kleinen Magazin vorgeschlagenen Bibelvers und die kurze Andacht zu lesen. Sie hatte die Gewohnheit sogar eine Weile selbst übernommen, als sie in der Highschool war, und war oft überrascht gewesen, dass die Worte tatsächlich von genau den Herausforderungen zu handeln schienen, mit denen sie sich plagte. Später, als sie das College besuchte, hatte ihre Mutter ihr das Magazin geschickt, aber sie hatte nur noch selten Zeit gefunden, darin zu lesen.
Sie zog die Zeitschrift aus der Bibel und warf einen Blick auf das Datum der aufgeschlagenen Seite. 15. Januar, zwei Tage bevor ihr Vater ins Pflegeheim gezogen war. Sie dachte an den Anruf, den sie von seinem Anwalt erhalten hatte - er wollte wissen, ob sie nach Hause kommen und das Wasser aus den Leitungen lassen könnte. Er hatte ihr erklärt, dass sie so Heizkosten sparen würde, aber Callie hatte nie Zeit dafür gefunden. Sie hatte ihren Vater besucht, so oft sie konnte, war aber absichtlich danach nie nach Hause gefahren. Hätte sie das getan, das wurde ihr jetzt klar, hätte sie seine Bibel früher gefunden. Sie legte sie vor die Tür. Sie würde bei der Kirche vorbei fahren, um eine aktuelle Ausgabe von The Upper Room zu holen, und sie mitnehmen, wenn sie ihn später besuchte.
Callie langte über die Spüle und drückte auf den grauen Metallbügel, mit dessen Hilfe die Unterseite des Küchenfensters ausgestellt wurde, aber er klemmte, also kletterte sie auf den Tresen, wie sie es als kleines Kind getan hatte, und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Es quietschte und öffnete sich schließlich widerspenstig. Eine Welle frischer Morgenluft drang in die etwas muffige Küche. Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete auch dort die Fenster, dann öffnete sie noch die schwere hölzerne Haustür und stellte fest, dass sie die Gittereinsätze für die Sturmtür finden musste.
Sie zog sich eilig an, band ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zurück, schaute nach Henry, und nahm dann ihre Kaffeetasse mit nach draußen. In der Tür zur Garage blieb sie stehen, sie betrachtete den Kistenberg, der noch auf der Ladefläche des Pickup-Trucks ihres Vaters wartete, und seufzte. Für jemand, der so wenig Geld hatte, hatte sie wirklich ganz schön viel Zeug. Sie ließ den Wagen an, setzte ihn hinaus in die Sonne, und begann auszuladen.
Henry öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zu. Jedes Mal, wenn er sie öffnete, tat er das in der Hoffnung, ein hölzernes Buchregal vor einer blauen Wand zu sehen. Auf einem Bord des Regals, das einen langen Kratzer an der Seite hatte, müssten sechs Bücher der Größe nach geordnet stehen, und neben den Büchern ein kleiner Spielzeug-Truck, den er aus Lego gebaut hatte, und daneben ein kleiner John-Deere-Traktor Model M. Aber jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, kniff er sie augenblicklich wieder zu, denn was er zu sehen erwartete, war nicht da. Er musste außerdem unbedingt pinkeln. Schließlich konnte er nicht länger anhalten, also lag er einfach da und ließ es laufen. Erst war es warm, aber nach einer Weile wurde ihm kalt und er begann zu weinen.
Callie trug die letzte Kiste nach drinnen. Als sie sie auf den Küchentresen stellte, hörte sie einen gedämpften Laut, eilte durch den Flur und fand Henry auf dem Boden sitzend vor. Seine Unterhose war nass, er hatte die Arme um die Knie geschlungen. »Oh, Schätzchen, das tut mir leid.« Sie half ihm in den Stand und führte ihn durch den Flur. »Warum hast du nicht nach dem Badezimmer gesucht?« Henry rieb sich die Augen und sah sich, wie sie es vorgeschlagen hatte, suchend um.
Sie redete weiter auf ihn ein, während sie warmes Wasser in die Wanne ließ. Sie badete ihn zügig und, da das Wasser ihn zu beruhigen schien, ließ ihn noch ein paar Minuten spielen, während sie die nassen Laken von seinem Bett abziehen ging. Als sie jedoch zurückkehrte, um ihn herauszuheben, trat er nach ihr und kreischte. Callie setzte ihn zurück in die Wanne, verschwand, und kehrte mit einem Spielzeuglaster zurück in der Hoffnung, dass er sich ablenken ließe. Während Henry den Laster inspizierte, nahm sie ihn wieder aus der Wanne und trocknete ihn liebevoll mit einem weichen Handtuch ab. Dann spülte sie die Wanne aus und ging zurück in den Flur, um nach einer Kiste mit Kleidung zu suchen. Mit dem Handtuch über den Schultern, seinen kleinen Laster in den Händen, tapste Henry hinter ihr her in den Flur.
»Wusstest du, dass das hier einmal Mamas Zimmer war?«, fragte sie, während sie in einer der Kisten wühlte. Henry runzelte nachdenklich die Stirn, während er sich in dem kleinen, einfach eingerichteten Zimmer umsah. Er deutete auf den Schreibtisch aus Pinienholz und sie wandte sich um, um herauszufinden, was er gesehen hatte. Vor dem Spiegel standen etliche alte Pokale. Callie zog saubere Unterwäsche, Shorts und ein T-Shirt aus einer prallvollen Kiste mit Kleidung, klemmte sie unter ihren Arm, nahm einen der Pokale, und kniete sich vor ihn hin. Henry fuhr mit dem Finger leicht über die Figur eines Mädchens, das einen Basketball warf, und hinterließ eine dünne goldglänzende Spur im Staub vieler Jahre. Callie reichte ihm den Pokal, damit er ihn hielt, während sie ihm seine Shorts anzog, und Henry legte seine freie Hand auf ihre Schulter, während er nacheinander die Beine hob. Als sie sein T-Shirt über den Kopf zog, stellte er den Pokal hin und steckte die Arme durch die Ärmel. Danach nahm er den Pokal wieder auf und fuhr mit dem Finger über das gravierte Namensschild. »Mal sehen, was du da hast«, sagte sie und las die Aufschrift. »›Voll engagiert‹. Fühlt sich an, als wäre es ewig her.« Henry deutete auf den Pokal eines Mädchens, das einen Fußball schoss, dann auf den eines Mädchens, das einen Baseballschläger schwang. Callie reichte ihm geduldig alle ihre High-School-Auszeichnungen und sah zu, wie er sie sorgfältig der Größe nach anordnete. »Du bist schon ein lustiger Kerl«, sagte sie mit einem liebevollen Lächeln. Henry sah hoch und zeigte auf eine Medaille, die von der Ecke des Spiegels hing. Als Callie danach griff, bemerkte sie ein verblasstes Foto, das in die Ecke des Spiegels geklemmt war. Sie reichte Henry die Medaille, zog das Foto heraus, und setzte sich neben ihn. Während Henry seinen neuen Schatz untersuchte, betrachtete Callie den groß gewachsenen, schlanken Jungen auf dem Foto und dachte an einen Sommertag vor langer Zeit zurück.
Es war der letzte Tag gewesen, bevor sie zu verschiedenen Colleges aufbrachen, eine Entscheidung, auf die seine Eltern gedrängt hatten. An jenem Morgen hatte sie endlich begonnen, ihre Sachen zu packen, als er überraschend aufgetaucht war und sie gefragt hatte, ob sie einen Ausflug unternehmen wollte. Er hatte sogar ein Picknick gepackt. Sie hatte die Klamottenhaufen auf ihrem Bett gemustert, dann hatte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, und zögernd nachgegeben.
Die Luft New Hampshires schmeckte bereits nach Herbst und Callie wusste noch, dass sie gedacht hatte, dass sie noch nie einen so blauen Himmel gesehen hätte. Sie waren auf den Gipfel des Monadnock geklettert, und nach dem Mittagessen war er aufgestanden, um die Höhenmessmarke des Berges zu suchen. Callie hatte ihre Kamera aus ihrem Rucksack gezogen und nach ihm gerufen, und er hatte über seine Schulter zu ihr geschaut. Als er die Kamera bemerkte, hatte er sich ein Lächeln abgerungen. Auf dem Foto wurde sein kastanienbraunes Haar von der Sonne aufgehellt, es war vom Aufstieg zerzaust, und sein Gesicht war gebräunt, aber die Kamera hatte auch die Trauer in seinem Blick festgehalten.
Henry streckte die Arme hoch und hängte Callie die Medaille um den Hals, dann deutete er auf den Jungen auf dem Foto. Callie lächelte wehmütig und flüsterte: »Linden.«
Nachdem sie das Foto gemacht hatte, hatte Linden sie in seine Arme genommen, und sie hatte versucht, ihm in die Augen zu sehen, aber er hatte weggeschaut.
»Was ist?«, hatte sie gefragt.
»Gar nichts«, hatte er gemurmelt, und seine Augen glänzten im Sonnenlicht.
»Das scheint mir nicht so.«
Er hatte zum endlos blauen Himmel hochgeschaut und gestammelt : »Ich hoffe nur, du weißt, wie sehr ich dich vermissen werde.« Schließlich hatte er ihr doch noch in die Augen gesehen. »Callie, bitte vergiss uns nicht.«
»Linden, weißt du das denn nicht?«, hatte sie geflüstert. »Ich könnte uns niemals vergessen.«
Callie schüttelte traurig den Kopf, steckte das Bild zurück in den Rahmen des Spiegels und ging in den Flur, um im Schrank nach sauberen Laken zu suchen. Unten in einem ordentlichen Stapel fand sie ein altes Set, das einmal ihr gehört hatte, und eine saubere Matratzenauflage. Sie zog sie heraus, ging zurück in ihr Zimmer, legte die Matratzenauflage auf, schüttelte das Spannbettlaken aus, zog es über die Ecken der Matratze, und dachte daran zurück, wie sie ihre Mutter immer angefleht hatte, diese Bettwäsche zu waschen und wieder aufzuziehen, statt eine andere zu nehmen. Henry deutete auf die Figuren auf dem verblassten Kopfkissen und Callie nickte. »Ja, Mickey und Minnie, und auf der anderen Seite«, sagte sie und drehte das Kissen um, »sind Donald und Daisy.« Henry betrachtete Donald und Daisy und drehte das Kissen dann wieder um, sodass Mickey und Minnie oben lagen. Als das Bett gemacht war, trug Callie den Wäschekorb in den Keller und steckte eine Ladung in die alte Kenmore ihrer Eltern, wofür sie den letzten Rest Tide verbrauchte, der in einer feuchten Schachtel auf dem Boden stand. Sie stapfte die Treppe hoch und fragte sich, ob in den Schränken irgendetwas wäre, was sie frühstücken könnte. Als sie hochkam, war Henry damit beschäftigt, die Küchenstühle in eine ordentliche Reihe zu stellen, und sie hob ihn hoch. »Was um Himmels willen treibst du da, Hen-Ben?«, fragte sie lächelnd. Aber Henry wand sich und quengelte, also setzte sie ihn wieder ab. Sie öffnete die Tür zum Frühstücksschrank und fand eine Schachtel alte »Shredded Wheat«-Frückstücksflocken und eine weitere alte Schachtel »Chocolate Carnation Instant Breakfast«-Milchshake-Fertigmix, die beide ohne Milch nicht viel brachten. Sie schaltete die Kaffeemaschine aus, nahm die Bibel ihres Vaters und wandte sich an Henry. »Komm, wir gehen Opa besuchen«, erklärte sie. Zu ihrer Überraschung ließ Henry die Stühle ohne Aufstand einfach stehen.
Nachdem sie in der Kirche ein Upper Room geholt hatte, fuhr Callie zu McDonald's, wo sie feststellte, dass bereits Mittagessen serviert wurde. Sie griff in die Tasche, zog drei Eindollarscheine heraus und bestellte ein Happy Meal. Sie selbst war nicht sonderlich hungrig, und außerdem wusste sie, dass sie mindestens ein McNugget und ein paar Pommes abkriegen würde. Sie musste ihren Vater unbedingt fragen, ob sie sich etwas Geld leihen könnte.
Im Fahren dachte Callie über das Pflegeheim nach und fragte sich, ob ihr Vater vielleicht zurück nach Hause ziehen konnte, jetzt, wo sie dort wohnte. Es wäre nicht einfach, sich um ihn zu kümmern, aber es würde ihn so viel glücklicher machen. Die Idee besserte ihre Laune und gab ihr etwas Hoffnung.
Die Luft in der Lobby des Pflegeheimes roch alt und abgestanden. Sie trat vor den Fahrstuhl und erinnerte sich an die Szene, die Henry das letzte Mal veranstaltet hatte, als sie damit gefahren waren. Die Enge oder die unbekannten Bewegungen hatten ihn gestört, und da sie nicht schon wieder so einen Aufstand wollte, hob sie ihn auf ihren Arm und ging stattdessen drei Stockwerke die Treppe hoch. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und musste im zweiten Stock Pause machen, um die Bibel unter ihrem Arm wieder zurechtzurücken. Im dritten Stock drückte sie die Tür auf, trat hinaus in den Flur, und ging eilig an den schrecklich stillen Zimmern vorbei. Sie versuchte im Gehen die ganzen vergessenen Seelen dahinter zu ignorieren. Es brach ihr das Herz, so viele einsame alte Leute zu sehen, und sie fragte sich, wie jemand hier Tag für Tag arbeiten konnte. Manche Patienten saßen in Rollstühlen und ihre Köpfe waren so tief heruntergesunken, dass ihr Kinn auf der Brust ruhte, es schien beinahe, als wären ihre Köpfe nach so vielen Jahren zu schwer geworden, um sie noch aufrecht zu halten. Andere Patienten schoben ohne erkennbares Ziel ihre Gehhilfen langsam vor sich her, und ein alter Mann ohne Zähne rief: »Hey, Süße, fährst du mich nach Hause?« Callie lächelte traurig, schüttelte den Kopf und ging weiter. Als sie sich dem Zimmer ihres Vaters näherte, kam eine Schwester mit Laken in den Armen heraus, aber als sie Callie bemerkte, blieb sie abrupt stehen.
»Miss Wyeth, wir haben versucht, Sie zu erreichen.« Callie bemerkte den besorgten Blick auf ihrem Gesicht und ihr Herz begann zu rasen.
»Geht es ihm gut?«, platzte sie heraus.
»Er ist ...« Die Schwester hielt inne und legte eine Hand auf Callies Arm. »Letzte Nacht hatte er einen leichten Herzanfall. Wir haben versucht, Sie unter den beiden Nummern zu erreichen, die wir in der Akte haben, aber da liefen nur Ansagen, dass die Nummern nicht mehr gültig seien.«
Callie löste sich von ihr. »Ja, ich weiß. Sie haben unser Telefon freigeschaltet, aber es funktioniert noch nicht. Nächste Woche soll jemand kommen und es in Ordnung bringen.« Sie wollte in das Zimmer ihres Vaters gehen, aber die Schwester stoppte sie.
»Miss Wyeth, Ihr Vater ist nicht hier. Er wurde letzte Nacht ins Krankenhaus gebracht.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg
Sie nahm Sams Stuhl vom Tisch herunter, setzte sich darauf, wobei ihre Knie die Unterseite seines Tisches berührten, und öffnete seine Stifteschachtel. Sam sortierte seine Wachsmalkreiden nach Farben, genau wie Henry es immer getan hatte, und Callie wusste, dass alle Farben vorhanden waren, selbst diejenigen, die zu kurz waren, um sie noch zu benutzen. Sie schloss die Schachtel, schob sie zurück unter seinen Tisch, und betrachtete das Bild, an dem er heute gearbeitet hatte. Es war ein Bild von Winston, seinem geliebten Golden Retriever. Sie lächelte und dachte an all die Bilder, die Henry von Springer gemalt hatte. Der liebe alte Springer !
Callie schaute zum Fenster hinaus in den mittlerweile grauen Himmel. Sie konnte kaum glauben, dass Henry im Winter sechzehn würde. Wo ist die Zeit nur hin ? Sie konnte ihn immer noch mit dem Arm um Springers Hals vor sich sehen. Und sie konnte sich immer noch mit größter Klarheit an jene schicksalhafte Woche vor dreizehn Jahren erinnern, die ihr Leben für immer veränderte.
Teil 1
Da ist etwas, das will keine Mauern,
das schickt die Kraft des Frostes,
wirft Steine aus der Sonne ...
Robert Frost
Kapitel 1
Callie kniete neben Henrys Bett. Er sah so friedlich aus, ganz anders als der frustrierte kleine Junge, mit dem sie ihre Tage verbrachte. Sie streckte den Arm aus und strich ihm sanft die blonden Haarsträhnen aus der Stirn. Sie sah zu, wie er atmete, die Lippen leicht geöffnet ; sie bewunderte die Winzigkeit seiner perfekten Händchen und streichelte seine weichen Wangen. Henry murmelte und zog seinen geliebten Teddy dichter heran, bis das abgegriffene Stofftier fest unter seiner Brust klemmte. Sie flüsterte ihr Gebet für ihn, wie immer, beugte sich vor, küsste ihn zart, und atmete den süßen Duft des kleinen Jungen ein. Schließlich begannen die Tränen, gegen die sie den ganzen Tag angekämpft hatte, brennend heiß über ihre Wangen zu rinnen. Sie ließ sich gegen sein Bett sinken, vergrub das Gesicht zwischen ihren Armen, und weinte in die weiche Baumwollbettwäsche. Sie hörte das Gewitter durchs Tal ziehen und bettelte zum vielleicht hundertsten Mal an diesem Tag stumm : Bitte lass es nicht wahr sein. Bitte sorg dafür, dass es Henry besser geht. Lass es einfach verschwinden. Bestraf Henry nicht für etwas, das ich getan habe.
Callie saß lange neben Henrys Bett, bevor sie sich schließlich aufraffte und in ihr Bett im Zimmer nebenan sackte. Sie war erschöpft, konnte aber nicht schlafen. Sie starrte in die Dunkelheit und dachte an jene entsetzliche Begegnung, die ihr Leben verändert hatte. Damals war ihr alles so unschuldig erschienen. Hinterher jedoch hatte sie gewusst, dass die Ereignisse, die zu jener Nacht geführt hatten, keinerlei Unschuld besessen hatten.
Es war ein sonniger Dienstag gewesen, als sie sich das erste Mal zum Kaffee getroffen hatten, um über ihre Hausarbeit zu sprechen. Am Freitag darauf war es ein Bier auf der Terrasse eines Pubs in der Church Street gewesen, um den Frühlingsanfang zu feiern. Und am Samstag war er schmuck und lächelnd erschienen, um sie zum Abendessen in ein stilles Inn am Lake Champlain auszuführen. Sie hatten auf der Veranda gesessen und zugesehen, wie die Lichter um den See herum zu flackern und zu glitzern begannen, während die Sonne ihre leuchtenden Farben über den Himmel strahlte. Sie teilten eine Flasche Merlot und sprachen über ihr Aufbaustudium, über seine Hoffnung auf eine Verbeamtung. Dann hatte er eine zweite Flasche bestellt und Callie hatte sich erstmals gefragt, was er vorhatte. Sie hatte beobachtet, wie er mit dem goldenen Ring an seinem Finger spielte, und an Linden gedacht. Was würde er davon halten, wenn er mich jetzt hier sähe ? Sie hatte den Gedanken beiseitegeschoben.
Er bezahlte das Essen, hatte sorgfältig den Korken zurück in die zweite Flasche geschoben und sie diskret unter seinem Tweedjackett herausgeschmuggelt, und dann hatte er ihr jovial den Arm um die Schultern gelegt, als sie zurück zu seinem Wagen gingen. Sie fuhren nur ein kurzes Stück, dann bog er auf den Parkplatz eines abgelegenen Strandes. Als er die Rückklappe seines Volvo-Kombi öffnete und eine Wolldecke ausbreitete, war ihr plötzlich alles viel zu zufällig vorgekommen. Callie hatte eine beunruhigende Vorahnung verspürt. Es ist schon viel zu weit gegangen. Aber sie hatte trotzdem nicht versucht, der Sache ein Ende zu bereiten.
Sie hatten auf der Decke gesessen und er hatte gelacht, während er sich mit der Flasche zwischen seinen Beinen abmühte, und sie hatte ebenfalls gelacht, als sie versuchte, ihm zu helfen, indem sie die Flasche festhielt, während er den Korken herauszog. Schließlich war es ihm gelungen, wobei ein Spritzer Rotwein auf seiner Khaki-Hose landete.
Er war mit dem Finger über den Rand des Flaschenhalses gefahren, um alle Tröpfchen wegzuwischen, und hatte ihr dann lächelnd die Flasche hingehalten. Sie hatte gezögert, gelächelt, aber schließlich einen Schluck genommen, wobei ihr Herz heftig schlug.
Während sie zusahen, wie die Lichter auf dem Wasser tanzten, hatte er sein Jackett ausgezogen und ihr über die Schultern gelegt. Die Flasche hin und her wandern zu lassen, erinnerte Callie an die Highschool. Und dann war er mit seiner Hand über ihren Schenkel gefahren und hatte sie geneckt, weil sie bloß ein Grübchen hatte, nicht zwei, und mit einem eigenartigen Gefühl des Schwindels hatte sie frech gegrinst und langsam ihre Zungenspitze über den Flaschenhals kreisen lassen.
Er hatte mit hochgezogenen Augenbrauen zugesehen. »Wo haben Sie denn das gelernt, Miss Wyeth?«
»Was gelernt?«, hatte Callie in gespielter Unschuld gefragt.
»Hmmm, was können Sie denn noch so?« Seine Augen hatten gefunkelt, als er zart mit dem Finger um ihr Grübchen herumfuhr, dann über ihre Lippen, und Callie hatte die Augen geschlossen und ihn gelassen.
Callie hasste diese Erinnerung, aber manchmal schlich sie sich in ihr Gehirn, und sie schien sie nicht stoppen zu können. Zwei Monate später hatte sie bemerkt, dass sie schwanger war, aber als sie versuchte, ihn am College zu erreichen, hatten sie ihr gesagt, dass er einen Job in Kalifornien angetreten hätte. Was ist bloß aus deiner Verbeamtung geworden?, hatte sie sich bitter gefragt. Callie schlief schließlich ein, aber es schien nur wenige Augenblicke gedauert zu haben, bis sie von einem Weinen erwachte. Im frühen Morgenlicht fand sie Henry auf dem Boden vor, er wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Sie hob ihn auf, konnte ihn in ihren Armen zittern spüren, und zog das Laken um ihn. Er wimmerte weiter und sie flüsterte ihm leise in sein zerzaustes Haar: »Alles in Ordnung, Hen-Ben, alles ist in Ordnung. « Ihre beruhigenden Worte galten genauso sehr ihr wie ihm.
Sie warf einen Blick auf den Stapel Kisten im Zimmer und seufzte. Sie wusste, dass die unbekannte Umgebung Henry nicht half, aber sie konnte es nicht ändern. Ohne Kinderbetreuung konnte sie nicht arbeiten gehen, und sie hatte kein Geld mehr. Im Dämmerlicht starrte sie eine Kiste mit der Aufschrift »Henry / LEGO« an und dachte an die letzten paar Monate.
Die ganze Zeit, die sie die Veränderung bei Henry bemerkt hatte, hatte sie versucht, sich einzureden, dass sie sich keine Sorgen deswegen machen müsste. Er ist bloß ruhig, das ist alles. Manche Jungs entwickeln sich eben langsamer als andere, und außerdem kann Henry sehr wohl sprechen ... Er hat schon damit angefangen. Callie versuchte sich zu erinnern, wann Henry das letzte Mal tatsächlich etwas gesagt hatte. Das ist schon in Ordnung, hatte sie sich eingeredet. Er wird es lernen, wenn er soweit ist. Aber all die beruhigenden Worte hatten sich erledigt, als Mrs Cooper ebenfalls ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen hatte.
Mrs Cooper war die Leiterin der Kinderbetreuung neben dem College - der Kinderbetreuung, in der Callie Henry untergebracht hatte, seit er sechs Monate alt war. Nach seiner Geburt hatte sie ihr Studium nicht weiterführen können und stattdessen einen Job in der Abteilung für Stipendienbewilligung angenommen. Sie war immer dankbar gewesen dafür, ein so wundervolles Heim außerhalb ihres Heims für Henry gefunden zu haben, es war ein Segen, und sie konnte immer noch den verblassten grünen Teppich und den Schatten der Sprossen des Fensters vor sich sehen, der jeden Nachmittag, wenn sie ihn abholte, kreuzweise über den Fußboden des großen Spielzimmers kroch. An jenem letzten Nachmittag hatte Callie an der Tür auf ihn gewartet, als Mrs Cooper sie beiseite genommen hatte. Sie erinnerte sich an die Besorgnis in ihrer Stimme, als sie ihr leise erklärte, dass sie Henry bereits seit mehreren Wochen beobachtete und um ein positives Zeichen gebetet hätte.
»Henry ist so still«, hatte sie gesagt, »und wirkt oft ganz verloren. In letzter Zeit zeigt er kein Interesse daran, mit anderen Kindern zu spielen. Stattdessen steht er bloß am Reistisch und füllt Reis aus einer Tasse in die andere, oder er lässt den Reis durch seine Finger rieseln. Wenn ein anderes Kind ihn unterbricht oder sich eine seiner Tassen leiht, nimmt ihn das sehr mit. Heute hat ein anderer Junge ihm die Tasse weggenommen, die er benutzte, und ihm dafür eine andere gegeben. Henry hat sich sehr aufgeregt und einen richtigen Wutanfall bekommen. Er hat alle Spielzeuge, die sich auf dem Reistisch befanden, durch den Raum geworfen, und eine Handvoll Legosteine dazu. Als er sich schließlich beruhigt hatte«, fuhr Mrs Cooper fort, »bat ich ihn, zu unserer Lesegruppe zu gehen, aber er weigerte sich und saß einfach nur in der Ecke, wo er vor und zurück wippte. Es tut mir leid, Callie, aber ich wollte mir sicher sein, bevor ich etwas sage.«
Callie hatte das Muster auf dem Teppich angestarrt, als eine Wolke vor die Sonne zog. Sie nickte langsam, Tränen brannten in ihren Augen. »Ich denke, Sie müssen Henry testen lassen, meine Liebe«, erklärte Mrs Cooper freundlich und umarmte sie. »Bitte lassen Sie uns wissen, wie es ausgeht. Wir werden für Sie beide beten.« Erst da begriff Callie, dass Mrs Cooper ihr mitteilte, dass sie Henry nicht mehr länger beaufsichtigen können würde.
Callie drückte ihre Wange in Henrys dünnes Haar und bemerkte, dass er wieder eingeschlafen war. Sie legte ihn hin und deckte ihn gut zu. So müde sie auch war, es brachte nichts, wieder zurück ins Bett zu gehen. Außerdem könnte sie so viel erledigen, wenn er weiterschliefe, also schlich sie leise aus dem Zimmer, das einst ihres gewesen war, ließ die Tür einen Spalt geöffnet, und ging barfuß in die Küche um herauszufinden, ob ihr Vater etwas Kaffee hatte. Sie öffnete den Schrank neben der Spüle, wo ihre Eltern ihn stets stehen gehabt hatten, und da war, wo sie immer gestanden hatte, eine dunkelblaue Dose Maxwell House. Der Anblick der altbekannten Dose an ihrem angestammten Platz gab Callie ein eigenartiges Gefühl der Ruhe. Als sie danach griff, wurde sie sich jedoch schmerzhaft der Leere im Haus ihrer Eltern bewusst. Die Menschen, die sie auf der Welt am meisten geliebt hatte, waren nicht mehr länger hier und würden nie wieder herkommen, um Kaffee zu kochen, die warmen Tassen in den Händen zu halten, beim Frühstück zu plaudern, über den bevorstehenden Tag zu sprechen und dann zur Tür hinaus zur Schule oder zur Arbeit zu eilen, mit einem Kuss und einem Versprechen ... Ich liebe dich ! Gott sei mit dir! Wir sehen uns heute Abend! Ihre wunderbaren Stimmen hallten durch ihren Geist. Callie schaute zum Küchenfenster des Hauses hinaus, in dem sie aufgewachsen war, und Tränen füllten ihre Augen. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Kapitel 2
Linden Finch kurbelte die Fenster seines alten Ford-Pickup- Trucks hoch und stieg aus. Er kam spät nach Hause, aber das Sommergewitter, das der Wettermann vorhergesagt hatte, war pünktlich. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Bäume unheilverkündend rascheln und Linden schneller gehen. Zwei gelbe Labradore, die den ganzen Tag Eichhörnchen gejagt und ansonsten faul auf der Veranda gelegen hatten, sahen ihn kommen, erhoben sich aus ihrem Halbschlaf, reckten sich und trotteten fröhlich über den Hof, um ihn zu begrüßen. Linden kniete sich hin und sagte Hallo. »Wie war euer Tag?«, fragte er leise. Sie antworteten, indem sie sich um ihn herum schlängelten, sein Gesicht leckten, und mit den Schwänzen gegen seinen Kopf klopften. Es rumpelte in der Ferne und Linden richtete sich auf, er betrachtete die Wand bedrohlicher Wolken, die sich über dem Feld formte. Genau in diesen Augenblick zerriss ein grellweißer Blitz den Himmel. Aus alter Gewohnheit begann er stumm die Sekunden vom Aufscheinen des Blitzes bis zum Donnerhall zu zählen, schaffte aber nur »einundzwanzig «, als er den Donner schon hörte. Er lief in die Scheune und öffnete den Zugang für die beiden Randall-Kühe, die schon ungeduldig warteten. Sie drückten ihre warmen Nasen gegen seine Brust, während er sie in die Sicherheit ihrer Ställe führte, dann fuhren sie mit ihrem erwartungsvollen Muhen fort. Ein kleiner Esel kam hinter ihnen her und marschierte in seinen eigenen Stall. Linden betätigte einen Schalter neben der Tür und ein warmes, freundliches Licht erfüllte die Scheune. Die Hunde schoben ihre Schnauzen durch das Heu auf dem Boden, während Linden die Kühe und den kleinen Esel fütterte und ihnen Wasser gab, wobei er die ganze Zeit leise vor sich hin murmelte. Der jüngere Hund hob die Nase zu einem Heuballen und schnaufte Maude an, die orange-getigerte Katze, die dort friedlich schlummerte. Sie öffnete ein Auge und betrachtete ihn unbeeindruckt, während Harold, ihr seidig-dunkelgraues Gegenstück, sich auf dem Ballen über ihr streckte und dabei gähnte. Linden eilte nach draußen, um im Hühnerhaus nach dem Rechten zu sehen. Wie immer waren die Damen schon bereit, zu Bett zu gehen, also schloss er leise die Tür und legte den Riegel vor.
Fette Regentropfen begannen auf den trockenen Boden zu klatschen, als er in die Scheune zurückhuschte. Er schaute hoch ins Gebälk zu dem alten Streifenkauz, und der beäugte ihn seinerseits ebenfalls. Linden schaltete das Licht aus und rief die Hunde zu sich. Gemeinsam schauten sie hinaus über den Hof. Wie auf Befehl öffnete der Himmel seine Schleusen. Linden schätzte eilig die Entfernung zwischen der Scheune und der Veranda - und wie nass sie werden würden. »Los geht's!«, rief er und rannte über den Hof. Die Hunde folgten ihm begeistert und platschten durch jede Pfütze, die sie unterwegs finden konnten.
In der Küche zog Linden sein weißes Shirt aus, hängte es über die Rückenlehne eines Stuhls, griff nach einem Geschirrhandtuch, trocknete damit sein Haar, und dann rubbelte er die beiden Hunde ab, die sich immer noch an ihn drückten. Er warf das Handtuch auf die Waschmaschine, öffnete den Kühlschrank, nahm sich ein Bier, und ging dann zur Vorratskammer am hinteren Ende der Küche. Die Hunde folgten ihm und ließen sich gehorsam fallen, als er ihnen jeweils eine Portion Trockenfutter in die Schüsseln schüttete. Linden wartete einen Augenblick. Springer starrte sehnsüchtig sein Futter an, während Kat Linden im Auge behielt. Schließlich nickte Linden ihr zu und sagte dann Springer zuliebe: »Okay !« Springer stürzte sich auf seine Schüssel, als hätte er seit einer Woche nichts zu fressen bekommen, Kat bemühte sich vergebens, etwas gesitteter vorzugehen. Linden schüttelte den Kopf. Er öffnete die Bierflasche mit Hilfe des metallenen Öffners, der am Türrahmen befestigt war, fing den Kronkorken auf, und trat hinaus auf die Veranda, um sich das Gewitter anzusehen. Er ließ sich in einen der alten Rattanstühle fallen, fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare, und atmete die regenfeuchte Luft ein. Während das Gewitter vorüberzog, dachte er daran, dass er gesehen hatte, dass in dem Haus der Wyeths Licht brannte, und fragte sich, ob etwas vorgefallen war. Mr Wyeth war seit sechs Monaten in einem Pflegeheim, aber Linden hatte vor Kurzem gehört, dass es seiner Gesundheit nicht besser ging.
Das Gewitter zog schnell vorbei und Linden bemerkte, dass die Hunde zur Fliegengittertür herausschauten. Er stemmte sich aus dem Sessel, und als er die Tür öffnete, begrüßten sie ihn, als hätten sie ihn schon ewig nicht gesehen, und folgten ihm zufrieden in die Küche, um herauszufinden, was er zum Abendessen haben würde. Linden stellte eine kleine Bratpfanne auf den Herd, um seine übrig gebliebenen Spaghetti warm zu machen, und wusch und schnitt eine frühreife Tomate. Er steckte sich ein saftiges Stück in den Mund, sah seine Post durch, und fand einen Scheck für einen Auftrag, den er vor zwei Monaten beendet hatte. Nach dem Essen wusch er das Geschirr, ließ die Hunde raus, gab ihnen beiden ein Leckerli, schaltete das Licht aus und ging zu Bett.
Im Dämmerlicht warf er seine Jeans über die Lehne eines Stuhls und sein T-Shirt auf den wachsenden Haufen in der Wäschetruhe. Er schob sein Schlafzimmerfenster hoch und erhaschte den bekannten Ruf des Streifenkauzes. Er erkannte die Stimme seines treuen Scheunenbewohners, und dann hörte er aus der Ferne eine sehnsüchtige Erwiderung. Ein kühler Windhauch ließ die Vorhänge rascheln, während Linden sich aufs Bett legte und es zum ersten Mal seit langer Zeit einem Gedanken an Callie erlaubte, sich in seinem Kopf breitzumachen. Es war dasselbe Bild, das er immer vor sich sah, wenn er es zuließ, wie ein Lieblingsfoto, das er im Geiste unter Glas hatte.
Sie lächelte und hatte die Hand gehoben, um ein paar Strähnen ihres wild gelockten Haars, das der Wind ihr über die Wangen geblasen hatte, zurückzuschieben. Sie trug ein schneeweißes Tanktop über ihrem roten Rettungsschwimmer-Badeanzug, und ihre Schultern waren zum Ende des Sommers hin goldbraun gebrannt. Linden hatte keine Ahnung, warum er Callie immer so vor sich sah. Es war vier Jahre her, aber nachdem er das Licht im Haus ihrer Eltern bemerkt hatte, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob sie vielleicht endlich wieder zurück war. Mit diesem Gedanken im Kopf schlief er ein.
Noch vor Anbruch der Dämmerung erwachte er von dem Scheppern seines eichhörnchensicheren Vogelfutterspenders, der zu Boden krachte, gefolgt von ärgerlichem Quieken. Plötzlich fi el ihm ein, was er vergessen hatte : Den Vogelfutterspender abends abzunehmen. »Verdammte Waschbären!«, knurrte er, als er sein Laken abstrampelte, dann stapfte er in seiner Boxershorts zur Hintertür und schaltete das Licht an. »Verschwindet!«, rief er und öffnete und knallte die Tür zu, um ihnen zu zeigen, dass er es ernst meinte. »Irgendwann werde ich euch schon noch reinlegen, oder abknallen!«, setzte er hinzu. Die Hunde klopften zustimmend mit den Schwänzen und sahen zu ihm hoch, sie fragten sich, ob es schon Zeit zum Frühstücken war. Er sah sie an und wusste genau, was sie dachten. »Nein, ist es nicht«, knurrte er und ließ sich zurück ins Bett fallen. Aber es brachte nichts, er wusste, er würde nicht wieder einschlafen können.
Er stand auf, zog seine alte Levi's an, schlurfte barfuß in die Küche, griff nach der fast leeren Tüte Green-Mountain-Kaffee und schaltete das Radio gerade rechtzeitig ein, um die Aufnahme des Vogelgesangs zu hören, mit dem der Moderator Robert J. Lurtsema jedes Mal seine Sendung eröffnete. Meistens war das Signal des Radiosenders WGBH nicht stark genug, um bis nach New Hampshire zu kommen, aber an anderen Tagen war es äußerst klar. Linden lächelte und fragte sich, ob seine Eltern, die immer früh aufstanden, in ihrem Haus in Boston denselben Sender hörten. Seine Mutter liebte klassische Musik, und ihretwegen hatte Linden acht lange Jahre Klavierunterricht über sich ergehen lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnte er alles von Beethovens Für Elise bis zu Auszügen aus Bachs komplexem Wohltemperiertem Klavier spielen, aber nur um sie zu ärgern, stürzte er sich in wilde Wiedergaben der Titelmusik von Gilligan's Island oder Elton Johns Version von »Pinball Wizard«. Seine Mutter hatte gekocht: »Ich wusste, wir hätten dich auf eine Privatschule schicken sollen !« Am Ende hatte Linden sich durchgesetzt, seine Mutter hatte nachgegeben, und er durfte den Unterricht endlich abbrechen.
Pachelbels Kanon tönte leise aus dem Radio, während er dampfenden Kaffee in den beigefarbenen Becher goss, den er gern benutzte. Auf dem Becher befand sich das verblasste Bild eines Leuchtturms, es war einer von mehreren Gegenständen, zu denen auch ein alter Chevy-Pickup gehörte, die der Besitzer des Hofes oder frühere Bewohner zurückgelassen hatte. Linden nahm einen Schluck, schaute zum Fenster hinaus auf den aufsteigenden Nebel über dem nach Norden fließenden Contoocook River, und fühlte sich trotz allem überraschend wohl in seiner Haut.
Kapitel 3
Callie konnte fast die Stimme ihres Vaters hören. Kopf hoch, Mädchen ! Das ist nicht das Ende der Welt! Obwohl ihr gar nicht danach war, lächelte sie, während sie Kaffee in den Lieblingsbecher ihres Vaters goss, und fuhr mit dem Finger über den verblassten Anker der U.S. Navy auf der Seite. Sie saß am Küchentisch und bemerkte, dass seine Bibel unter ein paar Papieren lag. Sie fragte sich, warum er sie nicht mitgenommen hatte. Sie griff danach und stellte fest, dass noch eine Ausgabe von The Upper Room zwischen den Seiten lag. So lange Callie zurückdenken konnte, hatten ihre Eltern getreulich jeden Morgen die Zeit aufgebracht, um den von dem kleinen Magazin vorgeschlagenen Bibelvers und die kurze Andacht zu lesen. Sie hatte die Gewohnheit sogar eine Weile selbst übernommen, als sie in der Highschool war, und war oft überrascht gewesen, dass die Worte tatsächlich von genau den Herausforderungen zu handeln schienen, mit denen sie sich plagte. Später, als sie das College besuchte, hatte ihre Mutter ihr das Magazin geschickt, aber sie hatte nur noch selten Zeit gefunden, darin zu lesen.
Sie zog die Zeitschrift aus der Bibel und warf einen Blick auf das Datum der aufgeschlagenen Seite. 15. Januar, zwei Tage bevor ihr Vater ins Pflegeheim gezogen war. Sie dachte an den Anruf, den sie von seinem Anwalt erhalten hatte - er wollte wissen, ob sie nach Hause kommen und das Wasser aus den Leitungen lassen könnte. Er hatte ihr erklärt, dass sie so Heizkosten sparen würde, aber Callie hatte nie Zeit dafür gefunden. Sie hatte ihren Vater besucht, so oft sie konnte, war aber absichtlich danach nie nach Hause gefahren. Hätte sie das getan, das wurde ihr jetzt klar, hätte sie seine Bibel früher gefunden. Sie legte sie vor die Tür. Sie würde bei der Kirche vorbei fahren, um eine aktuelle Ausgabe von The Upper Room zu holen, und sie mitnehmen, wenn sie ihn später besuchte.
Callie langte über die Spüle und drückte auf den grauen Metallbügel, mit dessen Hilfe die Unterseite des Küchenfensters ausgestellt wurde, aber er klemmte, also kletterte sie auf den Tresen, wie sie es als kleines Kind getan hatte, und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Es quietschte und öffnete sich schließlich widerspenstig. Eine Welle frischer Morgenluft drang in die etwas muffige Küche. Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete auch dort die Fenster, dann öffnete sie noch die schwere hölzerne Haustür und stellte fest, dass sie die Gittereinsätze für die Sturmtür finden musste.
Sie zog sich eilig an, band ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zurück, schaute nach Henry, und nahm dann ihre Kaffeetasse mit nach draußen. In der Tür zur Garage blieb sie stehen, sie betrachtete den Kistenberg, der noch auf der Ladefläche des Pickup-Trucks ihres Vaters wartete, und seufzte. Für jemand, der so wenig Geld hatte, hatte sie wirklich ganz schön viel Zeug. Sie ließ den Wagen an, setzte ihn hinaus in die Sonne, und begann auszuladen.
Henry öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zu. Jedes Mal, wenn er sie öffnete, tat er das in der Hoffnung, ein hölzernes Buchregal vor einer blauen Wand zu sehen. Auf einem Bord des Regals, das einen langen Kratzer an der Seite hatte, müssten sechs Bücher der Größe nach geordnet stehen, und neben den Büchern ein kleiner Spielzeug-Truck, den er aus Lego gebaut hatte, und daneben ein kleiner John-Deere-Traktor Model M. Aber jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, kniff er sie augenblicklich wieder zu, denn was er zu sehen erwartete, war nicht da. Er musste außerdem unbedingt pinkeln. Schließlich konnte er nicht länger anhalten, also lag er einfach da und ließ es laufen. Erst war es warm, aber nach einer Weile wurde ihm kalt und er begann zu weinen.
Callie trug die letzte Kiste nach drinnen. Als sie sie auf den Küchentresen stellte, hörte sie einen gedämpften Laut, eilte durch den Flur und fand Henry auf dem Boden sitzend vor. Seine Unterhose war nass, er hatte die Arme um die Knie geschlungen. »Oh, Schätzchen, das tut mir leid.« Sie half ihm in den Stand und führte ihn durch den Flur. »Warum hast du nicht nach dem Badezimmer gesucht?« Henry rieb sich die Augen und sah sich, wie sie es vorgeschlagen hatte, suchend um.
Sie redete weiter auf ihn ein, während sie warmes Wasser in die Wanne ließ. Sie badete ihn zügig und, da das Wasser ihn zu beruhigen schien, ließ ihn noch ein paar Minuten spielen, während sie die nassen Laken von seinem Bett abziehen ging. Als sie jedoch zurückkehrte, um ihn herauszuheben, trat er nach ihr und kreischte. Callie setzte ihn zurück in die Wanne, verschwand, und kehrte mit einem Spielzeuglaster zurück in der Hoffnung, dass er sich ablenken ließe. Während Henry den Laster inspizierte, nahm sie ihn wieder aus der Wanne und trocknete ihn liebevoll mit einem weichen Handtuch ab. Dann spülte sie die Wanne aus und ging zurück in den Flur, um nach einer Kiste mit Kleidung zu suchen. Mit dem Handtuch über den Schultern, seinen kleinen Laster in den Händen, tapste Henry hinter ihr her in den Flur.
»Wusstest du, dass das hier einmal Mamas Zimmer war?«, fragte sie, während sie in einer der Kisten wühlte. Henry runzelte nachdenklich die Stirn, während er sich in dem kleinen, einfach eingerichteten Zimmer umsah. Er deutete auf den Schreibtisch aus Pinienholz und sie wandte sich um, um herauszufinden, was er gesehen hatte. Vor dem Spiegel standen etliche alte Pokale. Callie zog saubere Unterwäsche, Shorts und ein T-Shirt aus einer prallvollen Kiste mit Kleidung, klemmte sie unter ihren Arm, nahm einen der Pokale, und kniete sich vor ihn hin. Henry fuhr mit dem Finger leicht über die Figur eines Mädchens, das einen Basketball warf, und hinterließ eine dünne goldglänzende Spur im Staub vieler Jahre. Callie reichte ihm den Pokal, damit er ihn hielt, während sie ihm seine Shorts anzog, und Henry legte seine freie Hand auf ihre Schulter, während er nacheinander die Beine hob. Als sie sein T-Shirt über den Kopf zog, stellte er den Pokal hin und steckte die Arme durch die Ärmel. Danach nahm er den Pokal wieder auf und fuhr mit dem Finger über das gravierte Namensschild. »Mal sehen, was du da hast«, sagte sie und las die Aufschrift. »›Voll engagiert‹. Fühlt sich an, als wäre es ewig her.« Henry deutete auf den Pokal eines Mädchens, das einen Fußball schoss, dann auf den eines Mädchens, das einen Baseballschläger schwang. Callie reichte ihm geduldig alle ihre High-School-Auszeichnungen und sah zu, wie er sie sorgfältig der Größe nach anordnete. »Du bist schon ein lustiger Kerl«, sagte sie mit einem liebevollen Lächeln. Henry sah hoch und zeigte auf eine Medaille, die von der Ecke des Spiegels hing. Als Callie danach griff, bemerkte sie ein verblasstes Foto, das in die Ecke des Spiegels geklemmt war. Sie reichte Henry die Medaille, zog das Foto heraus, und setzte sich neben ihn. Während Henry seinen neuen Schatz untersuchte, betrachtete Callie den groß gewachsenen, schlanken Jungen auf dem Foto und dachte an einen Sommertag vor langer Zeit zurück.
Es war der letzte Tag gewesen, bevor sie zu verschiedenen Colleges aufbrachen, eine Entscheidung, auf die seine Eltern gedrängt hatten. An jenem Morgen hatte sie endlich begonnen, ihre Sachen zu packen, als er überraschend aufgetaucht war und sie gefragt hatte, ob sie einen Ausflug unternehmen wollte. Er hatte sogar ein Picknick gepackt. Sie hatte die Klamottenhaufen auf ihrem Bett gemustert, dann hatte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, und zögernd nachgegeben.
Die Luft New Hampshires schmeckte bereits nach Herbst und Callie wusste noch, dass sie gedacht hatte, dass sie noch nie einen so blauen Himmel gesehen hätte. Sie waren auf den Gipfel des Monadnock geklettert, und nach dem Mittagessen war er aufgestanden, um die Höhenmessmarke des Berges zu suchen. Callie hatte ihre Kamera aus ihrem Rucksack gezogen und nach ihm gerufen, und er hatte über seine Schulter zu ihr geschaut. Als er die Kamera bemerkte, hatte er sich ein Lächeln abgerungen. Auf dem Foto wurde sein kastanienbraunes Haar von der Sonne aufgehellt, es war vom Aufstieg zerzaust, und sein Gesicht war gebräunt, aber die Kamera hatte auch die Trauer in seinem Blick festgehalten.
Henry streckte die Arme hoch und hängte Callie die Medaille um den Hals, dann deutete er auf den Jungen auf dem Foto. Callie lächelte wehmütig und flüsterte: »Linden.«
Nachdem sie das Foto gemacht hatte, hatte Linden sie in seine Arme genommen, und sie hatte versucht, ihm in die Augen zu sehen, aber er hatte weggeschaut.
»Was ist?«, hatte sie gefragt.
»Gar nichts«, hatte er gemurmelt, und seine Augen glänzten im Sonnenlicht.
»Das scheint mir nicht so.«
Er hatte zum endlos blauen Himmel hochgeschaut und gestammelt : »Ich hoffe nur, du weißt, wie sehr ich dich vermissen werde.« Schließlich hatte er ihr doch noch in die Augen gesehen. »Callie, bitte vergiss uns nicht.«
»Linden, weißt du das denn nicht?«, hatte sie geflüstert. »Ich könnte uns niemals vergessen.«
Callie schüttelte traurig den Kopf, steckte das Bild zurück in den Rahmen des Spiegels und ging in den Flur, um im Schrank nach sauberen Laken zu suchen. Unten in einem ordentlichen Stapel fand sie ein altes Set, das einmal ihr gehört hatte, und eine saubere Matratzenauflage. Sie zog sie heraus, ging zurück in ihr Zimmer, legte die Matratzenauflage auf, schüttelte das Spannbettlaken aus, zog es über die Ecken der Matratze, und dachte daran zurück, wie sie ihre Mutter immer angefleht hatte, diese Bettwäsche zu waschen und wieder aufzuziehen, statt eine andere zu nehmen. Henry deutete auf die Figuren auf dem verblassten Kopfkissen und Callie nickte. »Ja, Mickey und Minnie, und auf der anderen Seite«, sagte sie und drehte das Kissen um, »sind Donald und Daisy.« Henry betrachtete Donald und Daisy und drehte das Kissen dann wieder um, sodass Mickey und Minnie oben lagen. Als das Bett gemacht war, trug Callie den Wäschekorb in den Keller und steckte eine Ladung in die alte Kenmore ihrer Eltern, wofür sie den letzten Rest Tide verbrauchte, der in einer feuchten Schachtel auf dem Boden stand. Sie stapfte die Treppe hoch und fragte sich, ob in den Schränken irgendetwas wäre, was sie frühstücken könnte. Als sie hochkam, war Henry damit beschäftigt, die Küchenstühle in eine ordentliche Reihe zu stellen, und sie hob ihn hoch. »Was um Himmels willen treibst du da, Hen-Ben?«, fragte sie lächelnd. Aber Henry wand sich und quengelte, also setzte sie ihn wieder ab. Sie öffnete die Tür zum Frühstücksschrank und fand eine Schachtel alte »Shredded Wheat«-Frückstücksflocken und eine weitere alte Schachtel »Chocolate Carnation Instant Breakfast«-Milchshake-Fertigmix, die beide ohne Milch nicht viel brachten. Sie schaltete die Kaffeemaschine aus, nahm die Bibel ihres Vaters und wandte sich an Henry. »Komm, wir gehen Opa besuchen«, erklärte sie. Zu ihrer Überraschung ließ Henry die Stühle ohne Aufstand einfach stehen.
Nachdem sie in der Kirche ein Upper Room geholt hatte, fuhr Callie zu McDonald's, wo sie feststellte, dass bereits Mittagessen serviert wurde. Sie griff in die Tasche, zog drei Eindollarscheine heraus und bestellte ein Happy Meal. Sie selbst war nicht sonderlich hungrig, und außerdem wusste sie, dass sie mindestens ein McNugget und ein paar Pommes abkriegen würde. Sie musste ihren Vater unbedingt fragen, ob sie sich etwas Geld leihen könnte.
Im Fahren dachte Callie über das Pflegeheim nach und fragte sich, ob ihr Vater vielleicht zurück nach Hause ziehen konnte, jetzt, wo sie dort wohnte. Es wäre nicht einfach, sich um ihn zu kümmern, aber es würde ihn so viel glücklicher machen. Die Idee besserte ihre Laune und gab ihr etwas Hoffnung.
Die Luft in der Lobby des Pflegeheimes roch alt und abgestanden. Sie trat vor den Fahrstuhl und erinnerte sich an die Szene, die Henry das letzte Mal veranstaltet hatte, als sie damit gefahren waren. Die Enge oder die unbekannten Bewegungen hatten ihn gestört, und da sie nicht schon wieder so einen Aufstand wollte, hob sie ihn auf ihren Arm und ging stattdessen drei Stockwerke die Treppe hoch. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und musste im zweiten Stock Pause machen, um die Bibel unter ihrem Arm wieder zurechtzurücken. Im dritten Stock drückte sie die Tür auf, trat hinaus in den Flur, und ging eilig an den schrecklich stillen Zimmern vorbei. Sie versuchte im Gehen die ganzen vergessenen Seelen dahinter zu ignorieren. Es brach ihr das Herz, so viele einsame alte Leute zu sehen, und sie fragte sich, wie jemand hier Tag für Tag arbeiten konnte. Manche Patienten saßen in Rollstühlen und ihre Köpfe waren so tief heruntergesunken, dass ihr Kinn auf der Brust ruhte, es schien beinahe, als wären ihre Köpfe nach so vielen Jahren zu schwer geworden, um sie noch aufrecht zu halten. Andere Patienten schoben ohne erkennbares Ziel ihre Gehhilfen langsam vor sich her, und ein alter Mann ohne Zähne rief: »Hey, Süße, fährst du mich nach Hause?« Callie lächelte traurig, schüttelte den Kopf und ging weiter. Als sie sich dem Zimmer ihres Vaters näherte, kam eine Schwester mit Laken in den Armen heraus, aber als sie Callie bemerkte, blieb sie abrupt stehen.
»Miss Wyeth, wir haben versucht, Sie zu erreichen.« Callie bemerkte den besorgten Blick auf ihrem Gesicht und ihr Herz begann zu rasen.
»Geht es ihm gut?«, platzte sie heraus.
»Er ist ...« Die Schwester hielt inne und legte eine Hand auf Callies Arm. »Letzte Nacht hatte er einen leichten Herzanfall. Wir haben versucht, Sie unter den beiden Nummern zu erreichen, die wir in der Akte haben, aber da liefen nur Ansagen, dass die Nummern nicht mehr gültig seien.«
Callie löste sich von ihr. »Ja, ich weiß. Sie haben unser Telefon freigeschaltet, aber es funktioniert noch nicht. Nächste Woche soll jemand kommen und es in Ordnung bringen.« Sie wollte in das Zimmer ihres Vaters gehen, aber die Schwester stoppte sie.
»Miss Wyeth, Ihr Vater ist nicht hier. Er wurde letzte Nacht ins Krankenhaus gebracht.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg
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Autoren-Porträt von NAN ROSSITER
Nan Rossiter stammt aus New York State; heute lebt sie mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einem Hund auf dem Land in Connecticut. Sie ist ausgebildete Zeichnerin und hat zahlreiche Kinderbücher geschrieben und illustriert, bevor sie beschloss, Romane für Erwachsene zu schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: NAN ROSSITER
- 2013, 229 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863653912
- ISBN-13: 9783863653910
- Erscheinungsdatum: 28.05.2013
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