Mit Tante Otti auf der Insel (ePub)
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Mit Tante Otti auf der Insel von Gabi Breuer1. Kapitel
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Polanskis Augen kugelten wie die des Krümelmonsters aus der Sesamstraße. Zum dritten Mal in dieser Woche hielt er eine Predigt über die Arbeitsmoral. Nur war die Angelegenheit viel zu ernst, als dass man darüber lachen konnte. Die Tatsache, dass sie den dritten Samstag hintereinander eine Doppelschicht arbeiten musste, trieb Jule eher die Tränen in die Augen. Durch ihr Gedärm fraß sich die Wut wie eine hässliche Raupe.
»Nun schauen sie nicht so entsetzt. Was soll ich denn machen, wenn ich nicht genug Personal habe?«, pampte Polanski.
Der hatte doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Leute hatte er bestimmt genug, nur die erfahrenen Kolleginnen husteten Polanski was. Das hätte Jule auch gern getan, doch leider befand sie sich noch in der Probezeit. Die hässliche Raupe hatte sich mittlerweile bis zu ihrem Magen vorgearbeitet.
»Ach, und übrigens, Frau Winkler, wir räumen die Regale um. Die Zahnpflegeprodukte kommen hinten an die letzte Wand, wo jetzt die Haarpflegeprodukte stehen. Die Haarpflegeprodukte kommen in die Regale am Fenster, und die Waschmittel ...«
Jule hörte ihm nicht weiter zu und schaute ins Leere. Ihre Gedanken wanderten zu der Party, die am kommenden Samstag stattfinden sollte. Wieder konnte sie nicht dabei sein, weil sie erst weit nach 22 Uhr aus dem Laden kam. So kaputt wie sie dann sein würde, fehlte ihr bestimmt die Kraft, sich zu Hause noch aufzubrezeln und dann feiern zu gehen. Außerdem machte es keinen Spaß, wenn alle anderen schon vorgeglüht hatten und sie später allein zu ihnen stieß. Jule seufzte. Irgendwann war sie alt und grau - und totgearbeitet. Völlig unnötig. Sie suchte sich besser einen neuen Job. Doch das war leichter gesagt, als getan. Wer, außer Polanski, stellte schon eine ungelernte Kraft ein? Und bis sie sich entschieden hatte, wie es mit ihrem Studium weitergehen sollte, fiel das BAföG ja leider weg. Dennoch bereute Jule es nicht, das Ingenieurstudium schon nach einem Semester abgebrochen zu haben. Das war wirklich nichts für sie gewesen. Zu trocken, zu schwer und viel zu physiklastig. Nur die Aussicht auf eine spätere Karriere hatte sie in den Studiengang gelockt.
»Und denken Sie bitte daran, die Regale auszuwischen, bevor Sie sie wieder einräumen.« Polanski schnaufte kurz. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
Rasch verließ Jule ihre dunkle Gedankenwelt und nickte. »Ja, hab schon verstanden, Chef.«
»Na dann. Worauf warten Sie? Auf den Feierabend?«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte sie an Polanski vorbei, um sich einen Einkaufswagen zu schnappen. Bis zum Feierabend war es noch einige Zeit hin, aber wenn sie genug zu tun hatte, vergingen wenigsten die Stunden zügig. Jule kramte in ihrer Kitteltasche, holte ein Haargummi hervor und band ihre rotblonden Locken zusammen. Dann schob sie den Wagen zu dem Regal. Was hatte Polanski noch mal gesagt? Die Haarpflegeprodukte ans Fenster? Oje, vielleicht hätte sie ihm doch besser zugehört. Während Jule versuchte, sich an seine Worte zu erinnern, zupfte plötzlich jemand an ihrem Ärmel.
»Frollein, könnten Sie mir bitte helfen?«
Sie drehte sich um und schaute auf die kleine Person. Vor ihr stand Frau Bär, eine Stammkundin des Drogeriemarktes. Sie reichte Jule gerade mal bis an die Brust. Mit ihrer blonden Perücke und der zierlichen Figur erinnerte sie an eine dieser lebensgroßen Puppen, wie Jule sie als Sechsjährige besessen hatte. Die Schnallenschuhe und das rote Mäntelchen musste die Seniorin wohl in der Kinderabteilung gekauft haben. Oder wo bekam man sonst solch kleine Sachen für Erwachsene?
»Können Sie mir nun helfen, oder soll ich jemand anderes fragen?«
Erst jetzt bemerkte Jule, dass sie die alte Dame angestarrt hatte. »Ja, natürlich helfe ich Ihnen. Was kann ich für Sie tun?« Ihr Blick fiel auf die Sonnenmilch, die Frau Bär in der Hand hielt.
»Ich möchte das hier umtauschen.«
»Kann ich verstehen, bei dem Wetter draußen. Wer braucht da schon einen Sonnenschutz?«
»Nein ... ach, das hat andere Gründe.« Die Augen hinter der Goldrandbrille füllten sich mit Tränen. Es schien, als würde die alte Dame jeden Augenblick anfangen zu weinen. Doch dann schnappte sie kurz nach Luft und beruhigte sich wieder.
»Ja, natürlich können Sie die Sonnenmilch umtauschen. Haben Sie noch den Kassenbon? Dann wird Ihnen meine Kollegin an der Kasse das Geld zurückgeben.«
»Wissen Sie ...« Frau Bär zog die Nase hoch. Es musste wirklich ein schlimmer Grund hinter der Umtauschaktion stecken, denn die kleine Dame schaute mit einem herzzerreißenden Blick zu Jule auf. »Ich brauche die Sonnenmilch nicht mehr. Und wissen Sie, warum?«
Jule schüttelte verneinend den Kopf. Sicher würde sie es gleich erfahren.
»Ich bin auf dem Weg ins Reisebüro. Kein leichter Schritt für mich.« Jetzt kullerten tatsächlich Tränen aus den Augen der Seniorin. »Ach, was habe ich mich auf die Reise gefreut.«
»Wollen Sie den Urlaub stornieren?«
»Ja, das muss ich.«
»Warum?«, fragte Jule nach. Dafür, dass die alte Dame Gesprächsbedarf hatte, ließ sie sich ganz schön die Wörter aus der Nase ziehen.
»Ich hab mich mit Hildchen verkracht, und nun will sie nicht mit mir auf die Kanaren fliegen«, schluchzte Frau Bär. »Und das alles wegen eines kleinen Missverständnisses.« Sie drückte Jule die Sonnenmilch in die Hand und kramte in ihrer mit Perlen verzierten Tasche. Dann zog sie ein Stofftuch hervor und schnäuzte sich. Richtig verloren wirkte die kleine Frau Bär in dem großen Laden.
Jule vergaß ihren Groll über Polanski und hätte Frau Bär am liebsten über den Kopf gestrichen. »Ist Hildchen Ihre Freundin?«
»Ja, aber nicht nur das. Sie ...« Frau Bär hielt kurz die Luft an. »... sie ist auch meine Mitbewohnerin«, fügte sie rasch hinzu. »Und wenn Hildchen sauer ist, wird ihr Hang zur Sauberkeit noch schlimmer, als er ohnehin ist. Manchmal ist es wirklich ein bisschen viel, was sie mir aufträgt. Und es ist doch klar, dass ich das nicht alles im Kopf behalten kann.« Die Stimme der alten Dame wurde dunkler. »Denk an die Kaffeemaschine, die entkalkt werden muss.« Offensichtlich ahmte sie nun Hildchen nach. »Der Putzmittelschrank müsste auch mal wieder ausgewaschen werden. Die Schuhe zum Lüften auf den Balkon.« Frau Bär schüttelte den Kopf. »Wie soll ich mir das denn alles merken? Hildchen kann einem manchmal den letzten Nerv rauben, glauben Sie mir.«
Jule starrte in den leeren Einkaufswagen. Sie konnte sich wirklich nicht erinnern, wohin sie die Haarpflegeprodukte räumen sollte.
»Ich mag Hildchen ja sehr gern. Aber manchmal geht sie zu weit. Ich bin schließlich kein Putzroboter. Gibt es so etwas eigentlich schon?«
»Ja, es gibt einen Staubsaugerrobo«, antwortete Jule. »Soll aber nicht so gut sein. Geht Hildchen Ihnen denn gar nicht zur Hand?«
»Sie hat genug in der Metzgerei zu tun. Da ist sie abends fix und fertig. Was ich ja auch verstehen kann. Schließlich ist sie mit ihren zweiundsiebzig Jahren nicht mehr die Jüngste. Aber nötig hat sie es nicht. Ich meine, in ihrer Metzgerei zu stehen. Die Angestellten kämen gut allein zurecht.«
»Haben Sie mal über eine Haushaltshilfe nachgedacht?« Jule griff nach den Haarsprayflaschen und legte sie in den Wagen.
»Das will Hildchen auf keinen Fall. Sie kann es nicht leiden, wenn fremde Leute in ihren Sachen wühlen.« Frau Bär senkte den Blick und seufzte schwer. »Aber dass sie nun nicht mehr mit mir nach Gran Canaria reisen will, das ist doch übertrieben. Und allein fliegen ist mir zu langweilig. Von daher ...« Ein herzzerreißender Schluchzer entwich ihr.
»Das Leben kann manchmal ganz schön ungerecht sein. Ich war zum Beispiel noch nie im Süden.« Jule musste wieder an den kommenden Samstag und die Party denken. Selbst die würde ihr nicht vergönnt sein. Ihr Groll kehrte zurück, und die nächsten drei Flaschen Haarspray landeten etwas unwirsch im Einkaufswagen.
Erschrocken schaute die Seniorin auf. »Sie sehen aber auch nicht gerade glücklich aus.«
»Das bin ich auch nicht.«
»Was ist denn los? Liebeskummer?« Die alte Dame legte die Hand auf Jules Unterarm.
»Ich glaube, damit könnte ich besser fertig werden«, schnaubte Jule.
»Oh, das hört sich wirklich fies an«, erwiderte Frau Bär.
»Fies ist gar kein Ausdruck für das, was ich hier in dem Laden mitmache.« Die hässliche Raupe in Jules Magen bleckte die blutverschmierten Zähne. »Im Vergleich zu meinen Arbeitsbedingungen hatten die Sklaven im alten Rom Urlaub.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Frau Bär schaute sich verstohlen im Laden um, als würde sie jeden Augenblick das Erscheinen eines Monsters erwarten.
»Polanski weiß, wie man seine Angestellten in den Erschöpfungstod treibt.«
»Der nette Herr Polanski? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. «
»Nett?« Die Raupe in Jules Magen wetzte die Messer, um sich einen Weg zur Lunge freizulegen. »Gegen den ist Jack the Ripper ein zahmes Kätzchen.«
Erschrocken zog Frau Bär den Kopf ein, was sie noch kleiner machte. »Na, jetzt übertreiben Sie aber, Frollein.«
»Das ist nicht übertrieben. Ich arbeite in der Woche an die siebzig Stunden. Da können Sie sich ja vorstellen, wie meine Freizeit aussieht. Wie ein toter Vogel liege ich abends im Bett. Dabei bin ich erst zwanzig!«
»Aber Sie bekommen die Überstunden doch bezahlt, oder?«
»Bezahlt?« Jules Stimme nahm einen schrillen Ton an. Die Raupe schaute entsetzt von ihren gewetzten Messern auf.
»Scht, nun seien Sie doch etwas leiser. Am Ende hört Herr Polanski noch Ihre Schimpftiraden.«
Jule schnappte nach Luft und kniff die Augen zusammen. »Abfeiern kann ich sie, aber erst wenn ich tot bin. Denn lebend bekomme ich eine Doppelschicht nach der anderen aufgebrummt.«
»Ja, ja. Man hört ja immer von den schlechten Arbeitsbedingungen. Erst letztens war ein Bericht über einen Discounter im Fernsehen. Die armen Angestellten, kann ich nur sagen.« Frau Bär zog das Stofftuch in ihrer Hand wieder glatt. Die feuchten Spuren ihrer Traurigkeit glänzten im Licht der Halogenlampen. »Vielleicht würde Ihnen ein Urlaub guttun. Da könnten sie wieder zu Kräften kommen.«
»Ja«, stieß Jule aus, »den bräuchte ich wirklich ganz dringend. « In Gedanken zählte sie nach, wie viele Wochen es bis dahin noch waren - gab aber nach acht gedachten Fingern auf. Außerdem fehlte ihr sowieso das Geld zum Verreisen. Und wie sie Polanski einschätzte, würde er nicht davor zurückschrecken, sie aus dem Urlaub zu holen - natürlich um sie Doppelschichten schieben zu lassen. Vier Flaschen Schaumfestiger kollidierten mit dem Haarspray im Einkaufswagen.
»Hören Sie zu.« Die alte Dame griff nach der Sonnenmilch, die Jule achtlos ins Regal gestellt hatte. »Ich behalte die Sonnenmilch. Und wissen Sie auch, warum?«
»Weil Sie nun doch in den Urlaub fahren«, entgegnete Jule.
»Richtig. Und zwar mit Ihnen. Ich nehme Sie einfach mit. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.«
Jule blieb die Spucke weg. Ungläubig starrte sie das zarte Wesen an. »Das meinen Sie doch nicht ernst?«
»Doch, das meine ich sogar sehr ernst. Und ich komme für all Ihre Unkosten auf.«
Im Leben nicht!, raunte Jules Verstand. Vorsichtig schaute sie über beide Schultern. Mit Sicherheit sprang gleich ein Mann zwischen den Regalen hervor und schrie: Versteckte Kamera!
Die alte Dame zupfte an ihrem Ärmel. »Sie wollen gar nicht, oder? Bestimmt bin ich Ihnen zu alt.«
Na ja, Frau Bär konnte ihre Großmutter sein, aber das sagte Jule nicht. Außerdem hatte sie mit ihrer Oma nie Probleme gehabt. Im Gegenteil, die hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
»Nein, nein. Es ist nur so unglaublich.«
»Wie im Märchen, nicht wahr?« Die alte Dame grinste.
Plötzlich schrumpfte Jules Verstand auf die Größe eines Sandkorns. In ihren Ohren rauschte das Meer. Sommer, Sonne, Party - der erste richtige Urlaub ihres Lebens! Kein Drogeriemarkt, kein ergrautes Krümelmonster, keine Doppelschichten - der Himmel tat sich vor ihr auf. Engel in glitzernden Hotpants tanzten zu einer flotten Partymucke.
»Was ist denn nun? Würden Sie mich begleiten oder nicht? Sie können mich übrigens Ottilie nennen.« Frau Bär streckte ihr die kleine Hand entgegen.
Jule ergriff sie und stellte sich ebenfalls vor. Dann schüttelte sie den Kopf, um wieder zur Besinnung zu kommen. Die Engel hielten in ihrem Tanz inne und zogen eine Schnute.
© ullstein
Polanskis Augen kugelten wie die des Krümelmonsters aus der Sesamstraße. Zum dritten Mal in dieser Woche hielt er eine Predigt über die Arbeitsmoral. Nur war die Angelegenheit viel zu ernst, als dass man darüber lachen konnte. Die Tatsache, dass sie den dritten Samstag hintereinander eine Doppelschicht arbeiten musste, trieb Jule eher die Tränen in die Augen. Durch ihr Gedärm fraß sich die Wut wie eine hässliche Raupe.
»Nun schauen sie nicht so entsetzt. Was soll ich denn machen, wenn ich nicht genug Personal habe?«, pampte Polanski.
Der hatte doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Leute hatte er bestimmt genug, nur die erfahrenen Kolleginnen husteten Polanski was. Das hätte Jule auch gern getan, doch leider befand sie sich noch in der Probezeit. Die hässliche Raupe hatte sich mittlerweile bis zu ihrem Magen vorgearbeitet.
»Ach, und übrigens, Frau Winkler, wir räumen die Regale um. Die Zahnpflegeprodukte kommen hinten an die letzte Wand, wo jetzt die Haarpflegeprodukte stehen. Die Haarpflegeprodukte kommen in die Regale am Fenster, und die Waschmittel ...«
Jule hörte ihm nicht weiter zu und schaute ins Leere. Ihre Gedanken wanderten zu der Party, die am kommenden Samstag stattfinden sollte. Wieder konnte sie nicht dabei sein, weil sie erst weit nach 22 Uhr aus dem Laden kam. So kaputt wie sie dann sein würde, fehlte ihr bestimmt die Kraft, sich zu Hause noch aufzubrezeln und dann feiern zu gehen. Außerdem machte es keinen Spaß, wenn alle anderen schon vorgeglüht hatten und sie später allein zu ihnen stieß. Jule seufzte. Irgendwann war sie alt und grau - und totgearbeitet. Völlig unnötig. Sie suchte sich besser einen neuen Job. Doch das war leichter gesagt, als getan. Wer, außer Polanski, stellte schon eine ungelernte Kraft ein? Und bis sie sich entschieden hatte, wie es mit ihrem Studium weitergehen sollte, fiel das BAföG ja leider weg. Dennoch bereute Jule es nicht, das Ingenieurstudium schon nach einem Semester abgebrochen zu haben. Das war wirklich nichts für sie gewesen. Zu trocken, zu schwer und viel zu physiklastig. Nur die Aussicht auf eine spätere Karriere hatte sie in den Studiengang gelockt.
»Und denken Sie bitte daran, die Regale auszuwischen, bevor Sie sie wieder einräumen.« Polanski schnaufte kurz. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
Rasch verließ Jule ihre dunkle Gedankenwelt und nickte. »Ja, hab schon verstanden, Chef.«
»Na dann. Worauf warten Sie? Auf den Feierabend?«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte sie an Polanski vorbei, um sich einen Einkaufswagen zu schnappen. Bis zum Feierabend war es noch einige Zeit hin, aber wenn sie genug zu tun hatte, vergingen wenigsten die Stunden zügig. Jule kramte in ihrer Kitteltasche, holte ein Haargummi hervor und band ihre rotblonden Locken zusammen. Dann schob sie den Wagen zu dem Regal. Was hatte Polanski noch mal gesagt? Die Haarpflegeprodukte ans Fenster? Oje, vielleicht hätte sie ihm doch besser zugehört. Während Jule versuchte, sich an seine Worte zu erinnern, zupfte plötzlich jemand an ihrem Ärmel.
»Frollein, könnten Sie mir bitte helfen?«
Sie drehte sich um und schaute auf die kleine Person. Vor ihr stand Frau Bär, eine Stammkundin des Drogeriemarktes. Sie reichte Jule gerade mal bis an die Brust. Mit ihrer blonden Perücke und der zierlichen Figur erinnerte sie an eine dieser lebensgroßen Puppen, wie Jule sie als Sechsjährige besessen hatte. Die Schnallenschuhe und das rote Mäntelchen musste die Seniorin wohl in der Kinderabteilung gekauft haben. Oder wo bekam man sonst solch kleine Sachen für Erwachsene?
»Können Sie mir nun helfen, oder soll ich jemand anderes fragen?«
Erst jetzt bemerkte Jule, dass sie die alte Dame angestarrt hatte. »Ja, natürlich helfe ich Ihnen. Was kann ich für Sie tun?« Ihr Blick fiel auf die Sonnenmilch, die Frau Bär in der Hand hielt.
»Ich möchte das hier umtauschen.«
»Kann ich verstehen, bei dem Wetter draußen. Wer braucht da schon einen Sonnenschutz?«
»Nein ... ach, das hat andere Gründe.« Die Augen hinter der Goldrandbrille füllten sich mit Tränen. Es schien, als würde die alte Dame jeden Augenblick anfangen zu weinen. Doch dann schnappte sie kurz nach Luft und beruhigte sich wieder.
»Ja, natürlich können Sie die Sonnenmilch umtauschen. Haben Sie noch den Kassenbon? Dann wird Ihnen meine Kollegin an der Kasse das Geld zurückgeben.«
»Wissen Sie ...« Frau Bär zog die Nase hoch. Es musste wirklich ein schlimmer Grund hinter der Umtauschaktion stecken, denn die kleine Dame schaute mit einem herzzerreißenden Blick zu Jule auf. »Ich brauche die Sonnenmilch nicht mehr. Und wissen Sie, warum?«
Jule schüttelte verneinend den Kopf. Sicher würde sie es gleich erfahren.
»Ich bin auf dem Weg ins Reisebüro. Kein leichter Schritt für mich.« Jetzt kullerten tatsächlich Tränen aus den Augen der Seniorin. »Ach, was habe ich mich auf die Reise gefreut.«
»Wollen Sie den Urlaub stornieren?«
»Ja, das muss ich.«
»Warum?«, fragte Jule nach. Dafür, dass die alte Dame Gesprächsbedarf hatte, ließ sie sich ganz schön die Wörter aus der Nase ziehen.
»Ich hab mich mit Hildchen verkracht, und nun will sie nicht mit mir auf die Kanaren fliegen«, schluchzte Frau Bär. »Und das alles wegen eines kleinen Missverständnisses.« Sie drückte Jule die Sonnenmilch in die Hand und kramte in ihrer mit Perlen verzierten Tasche. Dann zog sie ein Stofftuch hervor und schnäuzte sich. Richtig verloren wirkte die kleine Frau Bär in dem großen Laden.
Jule vergaß ihren Groll über Polanski und hätte Frau Bär am liebsten über den Kopf gestrichen. »Ist Hildchen Ihre Freundin?«
»Ja, aber nicht nur das. Sie ...« Frau Bär hielt kurz die Luft an. »... sie ist auch meine Mitbewohnerin«, fügte sie rasch hinzu. »Und wenn Hildchen sauer ist, wird ihr Hang zur Sauberkeit noch schlimmer, als er ohnehin ist. Manchmal ist es wirklich ein bisschen viel, was sie mir aufträgt. Und es ist doch klar, dass ich das nicht alles im Kopf behalten kann.« Die Stimme der alten Dame wurde dunkler. »Denk an die Kaffeemaschine, die entkalkt werden muss.« Offensichtlich ahmte sie nun Hildchen nach. »Der Putzmittelschrank müsste auch mal wieder ausgewaschen werden. Die Schuhe zum Lüften auf den Balkon.« Frau Bär schüttelte den Kopf. »Wie soll ich mir das denn alles merken? Hildchen kann einem manchmal den letzten Nerv rauben, glauben Sie mir.«
Jule starrte in den leeren Einkaufswagen. Sie konnte sich wirklich nicht erinnern, wohin sie die Haarpflegeprodukte räumen sollte.
»Ich mag Hildchen ja sehr gern. Aber manchmal geht sie zu weit. Ich bin schließlich kein Putzroboter. Gibt es so etwas eigentlich schon?«
»Ja, es gibt einen Staubsaugerrobo«, antwortete Jule. »Soll aber nicht so gut sein. Geht Hildchen Ihnen denn gar nicht zur Hand?«
»Sie hat genug in der Metzgerei zu tun. Da ist sie abends fix und fertig. Was ich ja auch verstehen kann. Schließlich ist sie mit ihren zweiundsiebzig Jahren nicht mehr die Jüngste. Aber nötig hat sie es nicht. Ich meine, in ihrer Metzgerei zu stehen. Die Angestellten kämen gut allein zurecht.«
»Haben Sie mal über eine Haushaltshilfe nachgedacht?« Jule griff nach den Haarsprayflaschen und legte sie in den Wagen.
»Das will Hildchen auf keinen Fall. Sie kann es nicht leiden, wenn fremde Leute in ihren Sachen wühlen.« Frau Bär senkte den Blick und seufzte schwer. »Aber dass sie nun nicht mehr mit mir nach Gran Canaria reisen will, das ist doch übertrieben. Und allein fliegen ist mir zu langweilig. Von daher ...« Ein herzzerreißender Schluchzer entwich ihr.
»Das Leben kann manchmal ganz schön ungerecht sein. Ich war zum Beispiel noch nie im Süden.« Jule musste wieder an den kommenden Samstag und die Party denken. Selbst die würde ihr nicht vergönnt sein. Ihr Groll kehrte zurück, und die nächsten drei Flaschen Haarspray landeten etwas unwirsch im Einkaufswagen.
Erschrocken schaute die Seniorin auf. »Sie sehen aber auch nicht gerade glücklich aus.«
»Das bin ich auch nicht.«
»Was ist denn los? Liebeskummer?« Die alte Dame legte die Hand auf Jules Unterarm.
»Ich glaube, damit könnte ich besser fertig werden«, schnaubte Jule.
»Oh, das hört sich wirklich fies an«, erwiderte Frau Bär.
»Fies ist gar kein Ausdruck für das, was ich hier in dem Laden mitmache.« Die hässliche Raupe in Jules Magen bleckte die blutverschmierten Zähne. »Im Vergleich zu meinen Arbeitsbedingungen hatten die Sklaven im alten Rom Urlaub.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Frau Bär schaute sich verstohlen im Laden um, als würde sie jeden Augenblick das Erscheinen eines Monsters erwarten.
»Polanski weiß, wie man seine Angestellten in den Erschöpfungstod treibt.«
»Der nette Herr Polanski? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. «
»Nett?« Die Raupe in Jules Magen wetzte die Messer, um sich einen Weg zur Lunge freizulegen. »Gegen den ist Jack the Ripper ein zahmes Kätzchen.«
Erschrocken zog Frau Bär den Kopf ein, was sie noch kleiner machte. »Na, jetzt übertreiben Sie aber, Frollein.«
»Das ist nicht übertrieben. Ich arbeite in der Woche an die siebzig Stunden. Da können Sie sich ja vorstellen, wie meine Freizeit aussieht. Wie ein toter Vogel liege ich abends im Bett. Dabei bin ich erst zwanzig!«
»Aber Sie bekommen die Überstunden doch bezahlt, oder?«
»Bezahlt?« Jules Stimme nahm einen schrillen Ton an. Die Raupe schaute entsetzt von ihren gewetzten Messern auf.
»Scht, nun seien Sie doch etwas leiser. Am Ende hört Herr Polanski noch Ihre Schimpftiraden.«
Jule schnappte nach Luft und kniff die Augen zusammen. »Abfeiern kann ich sie, aber erst wenn ich tot bin. Denn lebend bekomme ich eine Doppelschicht nach der anderen aufgebrummt.«
»Ja, ja. Man hört ja immer von den schlechten Arbeitsbedingungen. Erst letztens war ein Bericht über einen Discounter im Fernsehen. Die armen Angestellten, kann ich nur sagen.« Frau Bär zog das Stofftuch in ihrer Hand wieder glatt. Die feuchten Spuren ihrer Traurigkeit glänzten im Licht der Halogenlampen. »Vielleicht würde Ihnen ein Urlaub guttun. Da könnten sie wieder zu Kräften kommen.«
»Ja«, stieß Jule aus, »den bräuchte ich wirklich ganz dringend. « In Gedanken zählte sie nach, wie viele Wochen es bis dahin noch waren - gab aber nach acht gedachten Fingern auf. Außerdem fehlte ihr sowieso das Geld zum Verreisen. Und wie sie Polanski einschätzte, würde er nicht davor zurückschrecken, sie aus dem Urlaub zu holen - natürlich um sie Doppelschichten schieben zu lassen. Vier Flaschen Schaumfestiger kollidierten mit dem Haarspray im Einkaufswagen.
»Hören Sie zu.« Die alte Dame griff nach der Sonnenmilch, die Jule achtlos ins Regal gestellt hatte. »Ich behalte die Sonnenmilch. Und wissen Sie auch, warum?«
»Weil Sie nun doch in den Urlaub fahren«, entgegnete Jule.
»Richtig. Und zwar mit Ihnen. Ich nehme Sie einfach mit. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.«
Jule blieb die Spucke weg. Ungläubig starrte sie das zarte Wesen an. »Das meinen Sie doch nicht ernst?«
»Doch, das meine ich sogar sehr ernst. Und ich komme für all Ihre Unkosten auf.«
Im Leben nicht!, raunte Jules Verstand. Vorsichtig schaute sie über beide Schultern. Mit Sicherheit sprang gleich ein Mann zwischen den Regalen hervor und schrie: Versteckte Kamera!
Die alte Dame zupfte an ihrem Ärmel. »Sie wollen gar nicht, oder? Bestimmt bin ich Ihnen zu alt.«
Na ja, Frau Bär konnte ihre Großmutter sein, aber das sagte Jule nicht. Außerdem hatte sie mit ihrer Oma nie Probleme gehabt. Im Gegenteil, die hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
»Nein, nein. Es ist nur so unglaublich.«
»Wie im Märchen, nicht wahr?« Die alte Dame grinste.
Plötzlich schrumpfte Jules Verstand auf die Größe eines Sandkorns. In ihren Ohren rauschte das Meer. Sommer, Sonne, Party - der erste richtige Urlaub ihres Lebens! Kein Drogeriemarkt, kein ergrautes Krümelmonster, keine Doppelschichten - der Himmel tat sich vor ihr auf. Engel in glitzernden Hotpants tanzten zu einer flotten Partymucke.
»Was ist denn nun? Würden Sie mich begleiten oder nicht? Sie können mich übrigens Ottilie nennen.« Frau Bär streckte ihr die kleine Hand entgegen.
Jule ergriff sie und stellte sich ebenfalls vor. Dann schüttelte sie den Kopf, um wieder zur Besinnung zu kommen. Die Engel hielten in ihrem Tanz inne und zogen eine Schnute.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Gabi Breuer
- 2013, 1. Auflage, 288 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706441
- ISBN-13: 9783843706445
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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- Größe: 2.43 MB
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