Was aus den Schatten steigt (ePub)
Was aus den Schatten steigt von Neil White
1
Der alte Mann wandte sich ab, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, doch die Übelkeit erregenden Bilder wollten ihn nicht loslassen. Er versuchte sie zu vertreiben, blinzelte heftig mit den Augen und begann auf und ab zu gehen. Aber es half einfach nichts. Er fand sich jedes Mal dort wieder, von wo aus er losgegangen war, nämlich gleich neben ihr.
Sie war an einen Stuhl gefesselt, die Arme auf den Rücken gedreht und an den dünnen Holzstäben der Lehne festgezurrt. Blut bedeckte ihr Gesicht und hatte sich in großflächigen Spritzern auf ihrer Bluse verteilt. Er betrachtete seine Hände, an denen Blut klebte.
Erneut schloss er die Augen, doch die Geräusche waren viel schwerer auszublenden. Selbst wenn er sie nicht sehen konnte, waren diese Geräusche da, so wie Echos, die ihn unablässig an das Geschehene erinnerten.
Aber er konnte das Bild nicht abschütteln. Er hatte sie gesehen, als sie noch lebte, und nun sah er sie als Tote. Doch das war nicht alles, denn er hatte sie auch sterben sehen, die Augen vor Schmerz und Angst weit aufgerissen, während das Messer näher kam. Sie hatte gewusst, was sie erwartete.
Er ging schneller im Raum auf und ab, Tränen strömten ihm übers Gesicht. Er ballte und öffnete seine Fäuste, sah hoch und hielt sich dann einmal mehr die Ohren zu, um die Geräusche zu ersticken, die abermals auf ihn einstürmten. Er hatte ihr letztes Wort gehört, das sie zwischen zusammengebissenen Zähnen herausgepresst hatte. Es war wie ein gutturales Stöhnen über ihre Lippen gekommen, doch er wusste, um welches Wort es sich handelte. Das Wort Nein. Sie hatte versucht, Nein zu sagen.
Er holte tief Luft und blieb stehen. Langsam drehte er sich um und schaute sie an. Sie saß noch immer genauso dort. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schluchzte, dann sank er auf die Knie. So verharrte er und schaukelte leicht vor und zurück, während er seine Tränen zurückzuhalten versuchte.
Nach ein paar Minuten stand er auf und näherte sich langsam dem Stuhl. Mit dem Handrücken strich er zärtlich über die Wange der Frau, deren Haut sich unter seinen Fingern sanft anfühlte. Aber sie war kalt. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf.
»Es tut mir so leid, so schrecklich leid«, flüsterte er. »Ich habe versucht, dich zu warnen. Ich habe es wirklich versucht.«
Der alte Mann machte einen Schritt zurück und sah nach unten auf seine Füße. Er fühlte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen, über die Haut, die so dünn wie Pergament war. Als er diese Tränen berührte, lief mit ihnen das Blut von seinen Fingerspitzen. Er murmelte etwas vor sich hin, ein persönliches Gebet, erst dann griff er zum Telefon.
»Die Polizei, bitte.«
Es dauerte einen Moment, bis er verbunden wurde, dann hörte er eine Stimme am anderen Ende der Leitung und sagte ruhig und gefasst: »Mein Name ist Eric Randle. Ich möchte einen Mord melden.«
2
Ob im Norden oder im Süden, Mörder waren überall gleich.
Detective Constable Laura McGanity hauchte ihre eisigen Hände an und träumte sekundenlang von London. Zwei Wochen zuvor war dort noch ihr Zuhause gewesen, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie war zwar nur nach Lancashire gezogen, gerade mal dreihundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt, aber sie kam sich vor wie in einem fremden Land, in dem von den Hügeln ringsum eiskalte Luft in die Stadt getrieben wurde. Zitternd vor Kälte ging sie vor dem gelben Absperrband der Polizei auf und ab, das im frühmorgendlichen Wind leise knatterte. Sie zog ihren Schal enger.
Doch es war nicht nur das Wetter, das so fremdartig wirkte, sondern auch die Stille. In einiger Entfernung bildeten die Hügel der West Pennine Moors, deren mit Tau bedecktes Gras im Licht der aufgehenden Sonne silbern glänzte, das Panorama. Sie stand vor einer weitläufigen Rasenfläche in einer Sackgasse mitten in einer gepflegten, sauberen Vorstadt, und das einzige Geräusch, das sie in ihrer Versunkenheit störte, war das Knattern des flatternden Absperrbands. Ihr fehlte London mit all seinen Lichtern und dem Lärm. Im Vergleich dazu ging es in Blackley mucksmäuschenstill zu.
Laura war im Süden aufgewachsen und bei der Metropolitan Police ausgebildet worden, doch die Liebe hatte sie in den Norden geführt. Dort war sie in einer Kleinstadt angekommen, Beton mit Graffiti hatte Moorlandschaften und Bruchsteinmauern Platz gemacht. Sie wusste, sie konnte sich keinen Fehler leisten. Ihre Versetzung in den Norden war riskant gewesen, und sie wollte nicht schon nach ein paar Tagen ihre Karriere gegen die Wand fahren.
Die Blicke der anderen Polizisten auf der Wache waren ihr nicht entgangen. Zurückhaltende, misstrauische Blicke. Sie war die Neue aus der Großstadt, die hergekommen war, um ihnen zu sagen, wie sie ihre Arbeit zu machen hatten.
Sie musste jetzt aufpassen und durfte sich von absolut nichts ablenken lassen. Bei jedem Mord waren die ersten vierundzwanzig Stunden die wichtigste Phase. Danach drohte Gefahr, dass Beweise verloren gingen, mit denen der Mörder überführt werden könnte. Jemand konnte die Fingernägel säubern, seine Haare kurz schneiden, einen Wagen ausbrennen lassen.
Sie sah in dem Moment auf, als Pete Dawson näherkam, der andere Detective am Tatort, ihr Kollege. In seinen Händen hielt er zwei Becher mit dampfendem Kaffee.
»Sie sehen aus, als könnten Sie einen davon gut gebrauchen«, sagte er.
Laura kam es vor, als würde er sie anherrschen, da er so ungewohnt abgehackt redete und die vokale so kurz und stumpf aussprach. Im Vergleich dazu besaß die ihr so vertraut gewordene Londoner Sprechweise viel mehr Rhythmus und Schwung.
Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie einen der Becher und legte die Hände darum. »Wo haben Sie den her?«
Er deutete auf ein Haus auf der anderen Straßenseite, wo Laura ein paar Finger erkennen konnte, die den Rand der Gardine umklammert hielten. Im Haus war das Licht ausgeschaltet, damit von außen niemand sehen konnte, dass dort jemand das Geschehen aufmerksam verfolgte. »Sie guckt uns schon seit einer halben Stunde zu. Ich glaube, sie hofft darauf, etwas von uns zu erfahren, wenn sie uns mit Kaffee versorgt.«
»Haben Sie ihr irgendwas gesagt?«
Pete schüttelte den Kopf. »Ich warte jetzt, ob sie uns auch noch ein üppiges Frühstück anbietet. Aber seien Sie vorsichtig. Diese alten Mühlenarbeiterinnen beherrschen das Lippenlesen.« Als Laura ihm einen verwunderten Blick zuwarf, fügte er an: »So konnten sie sich trotz des Maschinenlärms unterhalten.«
Lächelnd nickte Laura. Sie konnte Pete gut leiden. Er war einer von diesen unvermeidlichen Cops. Ein scharfsinniger Verstand war eine tolle Sache - so etwas half, um ein komplexes Lügengeflecht zu durchschauen oder selbst in einer scheinbaren Sackgasse noch eine Spur zu entdecken -, manchmal jedoch brauchte man jemanden, der in der Lage war, eine Tür einzutreten oder aus einem Verdächtigen wichtige Informationen herauszuholen. Laura hatte das Gefühl, dass Pete viele Methoden kannte, um das zu erreichen. Mit seinem kurz geschorenen Haar, dem finsteren Blick und der schmuddeligen Jeans sah er aus wie jemand, dem ein falsches Wort genügte, um einem anderen wehzutun. Normalerweise arbeitete er im Drogendezernat, drückte Dealer gegen die Wand, um sie zum Reden zu bringen. Sich an einem Tatort aufzuhalten und in einem Mord zu ermitteln war für ihn nicht Routine.
Sie trank einen kleinen Schluck aus ihrem Becher und seufzte. Der Kaffee war heiß und stark, und sie hob den Becher in Richtung des Fensters mit den ein Stück weit geöffneten Gardinen, um sich für die umsichtige Geste zu bedanken.
»Auf mich machen Sie den Eindruck, dass Sie mehr erwartet haben«, meinte Dawson und deutete auf das Absperrband. »Haben Sie sich noch nicht an das ruhige Leben gewöhnt?«
Eine Woche zuvor hätte Laura noch geglaubt, er wolle sie heruntermachen, aber inzwischen kannte sie ihn besser. Petes Lächeln ließ seine Worte sanfter klingen, und der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Sie wurden heller, wärmer, und Laura bemerkte etwas Spitzbübisches in seinem Blick.
Seine Vermutung traf trotzdem zu. Laura hatte tatsächlich mehr erwartet, mehr Aktivität, einen Trupp uniformierter Polizisten, die ein Grundstück absuchten, ein Rudel Detectives, die von Haus zu Haus gingen, um Fragen zu stellen. Hier und jetzt gab es nichts in dieser Art. Die Leiche hatte man weggebracht, nur die zwei Cops, die als Erste an den Tatort gekommen waren, hielten sich noch hier auf. Der eine war ein kreidebleicher Neuling in seiner Probezeit, der andere musste
Weltbild Buchverlag
-Originalausgaben-
Deutsche Erstausgabe 2010
Copyright © Neil White 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung:»Ralph Sander«
- Autor: Neil White
- 2012, 461 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863656113
- ISBN-13: 9783863656119
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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