Wie der Soldat das Grammofon repariert (ePub)
Roman
Als der Bürgerkrieg in den 90er Jahren Bosnien heimsucht, flieht der junge Aleksandar mit seinen Eltern in den Westen. Rastlos neugierig erobert er sich das fremde Deutschland und erzählt mit unbändiger Lust die irrwitzigen Geschichten von damals, von der...
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Produktinformationen zu „Wie der Soldat das Grammofon repariert (ePub)“
Als der Bürgerkrieg in den 90er Jahren Bosnien heimsucht, flieht der junge Aleksandar mit seinen Eltern in den Westen. Rastlos neugierig erobert er sich das fremde Deutschland und erzählt mit unbändiger Lust die irrwitzigen Geschichten von damals, von der großen Familie und den kuriosen Begebenheiten im kleinen ViSegrad. Aleksandar fabuliert sich die Angst weg und "die Zeit, als alles gut war" wieder herbei.
Aleksandar wächst in der kleinen bosnischen Stadt ViSegrad auf. Sein größtes Talent ist das Erfinden von Geschichten: Er denkt gar nicht daran, sich an die Themen der Schulaufsätze zu halten, viel zu verrückt sind die Erntefeste bei seinen Urgroßeltern, viel zu packend die Amokläufe betrogener Ehemänner und viel zu unglaublich die Geständnisse des Flusses Drina. Als der Krieg mit grausamer Wucht über ViSegrad hereinbricht, hält die Welt, wie Aleksandar sie kannte, der Gewalt nicht stand, und die Familie muss fliehen. In der Fremde eines westlichen Landes erweist sich Aleksandars Fabulierlust als lebenswichtig: Denn so gelingt es ihm, sich an diesem merkwürdigen Ort namens Deutschland zurechtzufinden und sich eine Heimat zu erzählen. Seinen Opa konnte er damals nicht wieder lebendig zaubern, jetzt hat er einen Zauberstab, der tatsächlich funktioniert: seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, muss sich allerdings erst zeigen, ob seine Fabulierkunst auch der Nachkriegsrealität Bosniens standhält.
Mit "Wie der Soldat das Grammofon repariert" hat Sasa Stanisic einen überbordenden, verschwenderischen, burlesken und tragikomischen Roman über eine außergewöhnliche Kindheit unter außergewöhnlichen Umständen geschrieben, über den brutalen Verlust des Vertrauten und über das unzerstörbare Vertrauen in das Erzählen.
Aleksandar wächst in der kleinen bosnischen Stadt ViSegrad auf. Sein größtes Talent ist das Erfinden von Geschichten: Er denkt gar nicht daran, sich an die Themen der Schulaufsätze zu halten, viel zu verrückt sind die Erntefeste bei seinen Urgroßeltern, viel zu packend die Amokläufe betrogener Ehemänner und viel zu unglaublich die Geständnisse des Flusses Drina. Als der Krieg mit grausamer Wucht über ViSegrad hereinbricht, hält die Welt, wie Aleksandar sie kannte, der Gewalt nicht stand, und die Familie muss fliehen. In der Fremde eines westlichen Landes erweist sich Aleksandars Fabulierlust als lebenswichtig: Denn so gelingt es ihm, sich an diesem merkwürdigen Ort namens Deutschland zurechtzufinden und sich eine Heimat zu erzählen. Seinen Opa konnte er damals nicht wieder lebendig zaubern, jetzt hat er einen Zauberstab, der tatsächlich funktioniert: seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, muss sich allerdings erst zeigen, ob seine Fabulierkunst auch der Nachkriegsrealität Bosniens standhält.
Mit "Wie der Soldat das Grammofon repariert" hat Sasa Stanisic einen überbordenden, verschwenderischen, burlesken und tragikomischen Roman über eine außergewöhnliche Kindheit unter außergewöhnlichen Umständen geschrieben, über den brutalen Verlust des Vertrauten und über das unzerstörbare Vertrauen in das Erzählen.
Lese-Probe zu „Wie der Soldat das Grammofon repariert (ePub)“
Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša StanišicWie lange ein Herzstillstand für hundert Meter braucht, wie schwer ein Spinnenleben wiegt, warum mein Trauriger an den grausamen Fluss schreibt und was der Chefgenosse des Unfertigen als Zauberer draufhat
Opa Slavko maß meinen Kopf mit Omas Wäschestrick aus, ich bekam einen Zauberhut, einen spitzen Zauberhut aus Kartonpapier, und Opa Slavko sagte: eigentlich bin ich noch zu jung für so einen Quatsch und du schon zu alt.
Ich bekam einen Zauberhut mit gelben und blauen Sternen, sie zogen gelbe und blaue Schweife, dazu schnippelte ich eine kleine Mondsichel und zwei Dreiecksraketen aus, eine flog Gagarin, die andere Opa Slavko.
Opa, mit dem Hut lasse ich mich nirgendwo blicken! Das will ich hoffen!
Am Morgen des Tages, an dessen Abend er starb, schnitzte mir Opa Slavko aus einem Ast den Zauberstab und sagte: im Hut und im Stab steckt eine Zauberkraft, trägst du den Hut und schwingst du den Stab, wirst du der mächtigste Fähigkeitenzauberer der blockfreien Staaten sein. Vieles wirst du revolutionieren können, solange es mit den Ideen von Tito konform geht und in Übereinstimmung mit den Statuten des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens steht.
Ich zweifelte an der Zauberei, aber ich hatte keine Zweifel an meinem Opa. Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Fantasie. Merk dir das, Aleksandar, sagte Opa ernst, als er mir den Hut aufsetzte, merk dir das und denk dir die Welt schöner aus. Er übergab mir den Stab. Ich zweifelte an nichts mehr.
Es ist üblich, dass man hin und wieder wegen der Verstorbenen traurig wird. Bei uns findet das statt, wenn Sonntag, Regen, Kaffee und Oma Katarina zusammenkommen. Oma schlürft dann aus ihrer Lieblingstasse, der weißen mit dem Sprung im Griff, weint und erinnert sich an alle Toten und an die guten Dinge, die sie gemacht haben, bevor ihnen das
... mehr
Sterben dazwischenkam. Heute sind Familie und Freunde bei Oma, weil wir uns an Opa Slavko erinnern, der seit zwei Tagen vorläufig tot ist, so lange, bis ich meinen Zauberstab und meinen Hut wiederfinde.
Noch nicht gestorben in meiner Familie sind Mutter, Vater und Vaters Brüder - Onkel Bora und Onkel Miki. Nena Fatima, die Mutter meiner Mutter, hält sich noch gut, bei ihr sind nur die Ohren und die Zunge gestorben - sie ist taub wie eine Kanone und stumm wie Schneefall. Sagt man. Tante Gordana ist auch noch nicht gestorben, sie ist Onkel Boras Frau und schwanger. Tante Gordana, eine blonde Insel im dunklen Haarmeer unserer Familie, wird von allen Taifun genannt, weil sie viermal lebendiger lebt als normale Menschen und achtmal schneller läuft und vierzehnmal hektischer redet. Sie legt selbst die Strecke von der Kloschüssel zum Waschbecken im Sprint zurück und hat an der Ladenkasse alles ausgerechnet, bevor es die Kassiererin eintippen kann.
Alle sind wegen Opa Slavkos Tod zu Oma gekommen, reden aber über das Leben in Tante Taifuns Bauch. Niemand zweifelt daran, dass Tante ihr Baby spätestens am Sonntag, maximal am Montag bekommen wird, Monate zu früh, aber schon fertig wie im neunten. Ich schlage vor, das Baby Speedy Gonzales zu nennen. Tante Taifun schüttelt ihre blonden Locken: sindwirmexikaner? Wirdnmädchenkeinemaus! Emawirdsieheißen.
Und Slavko, fügt Onkel Bora leise hinzu, Slavko, wenn es ein Junge wird.
Groß und überall ist heute die Liebe für Opa Slavko, bei allen Schwarzangezogenen, die bei Oma Katarina Kaffee trinken und verstohlen zum Sofa sehen, auf dem Opa saß, als Carl Lewis in Tokio den Weltrekord aufstellte. Opa starb in 9,86 Sekunden, sein Herz lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Carl Lewis - das Herz stand still, und Carl raste wie ein Wahnsinniger. Opa keuchte, und Carl riss die Arme in die Luft und warf sich eine amerikanische Fahne über die Schultern.
Die Trauergäste bringen Pralinen und Würfelzucker mit, Cognac und Schnaps. Sie möchten Omas Trauer mit Süßem aufwiegen und trinken gegen ihre eigene an. Die männliche Trauer riecht nach Rasierwasser. Sie steht in kleinen Runden in der Küche und betrinkt sich. Die weibliche Trauer sitzt mit Oma um den Wohnzimmertisch, schlägt Namen für das neue Leben in Tante Taifuns Bauch vor, und diskutiert die gesündeste Schlafposition in den ersten Monaten. Als Opas Name fällt, schneiden die Frauen Kuchen und bieten sich gegenseitig die Stücke an. Sie zuckern den Kaffee und rühren ihn mit Löffeln um, die aussehen wie Spielzeugbesteck.
Immer loben Frauen Kuchen.
Ur-Oma Mileva und Ur-Opa Nikola sind nicht hier, weil ihr Sohn zu ihnen kommt, nach Veletovo, weil er in dem Dorf begraben werden soll, wo er geboren wurde. Was das miteinander zu tun hat, weiß ich nicht. Man müsste dort tot sein dürfen, wo man viel und gern am Leben war. Mein Vater unter unserem Keller, den er »das Atelier« nennt, und kaum je verlässt, unter seinen Leinwänden und seinen Pinseln. Oma egal wo, Hauptsache, die Nachbarinnen sind auch da und es gibt Kaffee und Pralinen. Ur-Oma und Ur-Opa unter ihrem Pflaumengarten in Veletovo. Wo war meine Mutter viel und gerne?
Opa Slavko in den besten Geschichten oder unter dem Parteibüro.
Noch zwei Tage halte ich es vielleicht ohne ihn aus, bis dahin werden meine Zauberutensilien schon noch auftauchen.
Ich freue mich darauf, Ur-Opa und Ur-Oma wieder zu sehen. Sie haben, seit ich darauf achte, nie süß gerochen und sind im Durchschnitt circa hundertfünfzig Jahre alt. Trotzdem sind sie am wenigsten gestorben und am meisten am Leben von allen in der Familie, ausgenommen Tante Taifun, aber sie gilt nicht, denn sie läuft nicht unter Menschen, sondern unter Naturkatastrophen und hat einen Propeller im Hintern. Sagt Onkel Bora manchmal und küsst den Rücken seiner Naturkatastrophe.
Onkel Bora wiegt so viel, wie meine Urgroßeltern alt sind.
Auch noch nicht gestorben in meiner Familie ist Oma Katarina, obwohl sie am Abend, an dem Opas großes Herz die schnellste Krankheit der Welt bekam, gewünscht und geklagt hatte: allein, was soll ich ohne dich, allein will ich nicht, Slavko, mein Slavko, wehe mir!
Mehr noch als vor Opas Tod fürchtete ich mich vor dieser großen, auf Knien rutschenden Trauer meiner Oma, allein, wie lebe ich jetzt allein! Oma schlug sich gegen die Brust und flehte darum, Opa zu toten Füßen, selbst nicht mehr am Leben zu sein. Ich atmete nur noch schnell, aber nicht mehr leicht. Oma war so schwach, dass es mir vorkam, als würde ihr Körper auf dem Boden ganz weich werden, weich und rund. Im Fernsehen sprang eine große Frau in den Sand und freute sich darüber. Zu Opas Füßen schrie Oma die Nachbarn herbei, sie knöpften sein Hemd auf, Opas Brille verrutschte, sein Mund hing schief - ich schnitt, wie immer, wenn ich nicht weiterwusste, kleine Dinge aus, mehr Sterne für meinen Zauberhut. Trotz der Angst und so kurz nach einem Sterben sah ich, dass Omas Porzellanhund auf dem Fernseher umgefallen war und dass die Teller mit den Fischgräten vom Abendessen immer noch auf der gehäkelten Tischdecke standen. Ich hörte jedes Wort der herumwuselnden Nachbarn, verstand alles trotz Omas Wimmern und Jaulen. Die zerrte an Opas Beinen, Opa rutschte vom Sofa nach vorne. Ich versteckte mich in der Ecke hinter dem Fernseher. Aber auch hinter tausend Fernsehern hätte ich mich nicht verstecken können vor Omas verzerrtem Gesicht, nicht vor dem verdrehten, vom Sofa abfallenden Opa, nicht vor dem Gedanken, dass meine Großeltern nie hässlicher waren als jetzt.
Ich hätte Oma gern die Hand auf den zitternden Rücken gelegt - ihre Bluse wäre nass vor Schweiß gewesen - und gesagt: Oma, nicht! Es wird alles gut! Opa ist doch in der Partei und die Partei befindet sich in Übereinstimmung mit den Statuten des Bundes der Kommunisten, ich finde bloß meinen Zauberstab gerade nicht. Es wird alles wieder gut, Oma.
Doch ihr trauriger Wahnsinn machte mich stumm. Je lauter sie sich wand, lasst mich!, desto mutloser wurde ich in meinem Versteck. Je mehr Nachbarn sich von Opa ab- und der Oma zuwandten, die Untröstliche trösten wollten, als verkauften sie ihr etwas, das sie nicht im Geringsten brauchte, desto panischer wehrte sie sich. Je mehr Tränen ihre Wangen, ihren Mund, ihr Klagen, ihr Kinn bedeckten wie Öl eine Pfanne, desto mehr Details schnitt ich aus dem Wohnzimmer: das Bücherregal mit Marx, Lenin, Kardelj, links unten »Das Kapital«, der Fischgeruch, die Zweige auf der Tapete, vier Gobelins an der Wand - spielende Kinder auf einer Dorfstraße, bunte Blumen in einer bunten Blumenvase, Schiff auf unruhiger See, Häuschen am Wald -, ein Foto von Tito und Gandhi, die sich mittig über Schiff und Häuschen die Hand geben, der Satz: Wie kriegen wir sie von ihm los?
Immer mehr Leute kamen hinzu, einer nahm dem anderen den Platz weg, als gelte es, etwas nachzuholen oder zumindest nichts mehr zu verpassen und in der Nähe zu einem Tod so lebendig wie möglich zu sein. Opas zu schneller Tod verärgerte die Nachbarn oder ließ sie schuldbewusst zu Boden sehen. Niemand hatte Opas Herz folgen können, auch Oma nicht, wehe mir, warum, warum, warum, Slavko. Teta Amela aus dem zweiten Stock sank nieder, jemand brüllte: Herz Jesu!, ein anderer verfluchte sofort Jesus' Mutter und einige weitere Familienmitglieder noch dazu. Oma zerrte an Opas Hosenbeinen, schlug nach den beiden Sanitätern, die mit ihren Köfferchen im Wohnzimmer auftauchten, Hände weg!, schrie sie. Die Sanitäter trugen unter ihren Kitteln Holzfällerhemden und zogen Oma von Opas Beinen ab, als lösten sie eine Muschel vom Stein. Opa würde für Oma erst dann tot sein, wenn sie ihn loslässt. Sie ließ nicht los. Die Weißkittel horchten in Opas Brust, einer hielt ihm einen Spiegel vors Gesicht und sagte: nichts.
Ich schrie, dass Opa noch da sei, und dass sein Tod nicht konform mit den Zielen des Kommunistischen Bundes gehe. Aus dem Weg, meinen Zauberstab her und ich beweise es euch!
Niemand beachtete mich. Die Holzfäller-Sanitäter gruben in Opas Hemd und leuchteten mit einem Stift in sein Auge. Ich zog das Stromkabel, und der Fernseher verstummte. In der Ecke neben der Steckdose hingen lose Spinnwebenfäden. Um wie viel leichter als ein Menschentod wiegt ein Spinnentod? Welches tote Bein ihres Ehemannes umklammert die Spinnenfrau? Ich nahm mir vor, niemals wieder eine Spinne in eine Flasche einzusperren und langsam Wasser hineinlaufen zu lassen.
Wo war mein Zauberstab?
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Ecke gestanden habe, bevor mich mein Vater am Arm fasste, als nehme er mich gefangen. Er übergab mich meiner Mutter, sie zerrte mich durch das Treppenhaus in den Hof. Die Luft roch nach Mirabellenmaische, auf dem Megdan brannten Feuer. Vom Megdan aus kann man fast die ganze Stadt sehen, vielleicht auch in den Hof vor dem großen Haus mit seinen fünf Stockwerken, für Visegrad schon ein Hochhaus, wo sich eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und braunen Augen zu einem Jungen mit der gleichen Haarfarbe und den gleichen Mandelaugen beugte. Sie pustete ihm Strähnen aus der Stirn, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was sie zu dem Jungen flüsterte, war auf dem Megdan nicht zu hören. Wahrscheinlich war auch nicht zu erkennen, dass der Junge, nachdem ihn die Frau umarmt und lange, lange fest gehalten hatte, nickte. So wie man nickt, wenn man etwas verspricht.
Am Abend des dritten Tages nach Opa Slavkos Tod sitze ich
in der Küche und blättere Fotoalben durch. Ich nehme alle Fotos von Opa Slavko aus dem Album heraus, noch weiß ich nicht, was ich mit ihnen vorhabe. Im Hof legt sich unsere Kirsche mit dem Wind an, ein Sturm. Nachdem ich Opa Slavko die Fähigkeit gegeben haben werde, wieder zu leben, wird mein nächster Streich sein, uns allen die Fähigkeit zu geben, Geräusche festzuhalten. Wir werden den Wind in den Kirschblättern und das Rumoren des Donners und das nächtliche Hundebellen im Sommer in ein Album aus Tönen legen können. Und hier hacke ich Holz für den Kamin - so werden wir unser Leben aus Tönen stolz vorführen wie sonst die Bilder aus dem Adria-Urlaub. Kleine Geräusche wird man in der Faust tragen können. Meiner Mutter würde ich ihr Lachen der guten Tage über die Sorgen im Gesicht legen.
Die bräunlichen Fotos mit dem breiten, weißen Rand riechen nach Plastiktischdecken und zeigen Menschen mit komischen, nach unten breiter werdenden Hosen. Vor den Fassaden eines unfertigen Visegrads steht ein kleiner Mann in Bahnwärteruniform und sieht geradeaus, steif wie ein Soldat: Opa Rafik.
Opa Rafik, der Vater meiner Mutter, ist schon lange endgültig tot, er ist in der Drina ertrunken. Ich kannte ihn kaum, erinnere mich aber an ein Spiel mit ihm, ein einfaches Spiel. Opa Rafik zeigte auf etwas, und ich nannte davon den Namen, die Farbe und das Erste, was mir dazu einfiel. Er zeigte auf sein Taschenmesser, und ich sagte: Messer, grau und Lokomotive. Er zeigte auf einen Spatz, und ich sagte: Vogel, grau und Lokomotive. Opa Rafik zeigte durch das Fenster in die Nacht, und ich sagte: Träume, grau und Lokomotive, und Opa deckte mich zu und sagte: schlaf eisern.
Die Zeit meiner grauen Periode war die Zeit meiner Besuche beim Augenarzt, der nichts feststellte, außer, dass ich mir zu schnell Sachen merken konnte, zum Beispiel die Reihenfolge der kleinen und großen Buchstaben auf seinem Plakat. Frau Krsmanovic´, das müssen Sie ihm irgendwie austreiben, sagte der Arzt und verschrieb meiner Mutter Tropfen wegen ihrer immer geröteten Augen. Vor Lokomotiven und Zügen fürchtete ich mich damals sehr. Opa Rafik hatte mich zu der stillgelegten Eisenbahn-Trasse mitgenommen, die abblätternde Farbe von der alten Lok gekratzt, ihr habt mir das Herz gebrochen, geflüstert und die schwarze Farbe zwischen den Handflächen zerrieben. Auf dem Nachhauseweg - Pflasterstein, grau, Lokomotive, meine Hand in seiner großen, mit scharfen Farbsplittern geschwärzten - beschloss ich aus Sorge um mein Herz, zu Zügen gut zu sein. Nur kamen ja schon lange keine mehr durch unsere Stadt. Einige Jahre später zeigte mir meine erste nicht erwiderte Liebe, Danijela mit dem sehr langen Haar, wie albern ich die ganze Zeit war, mein Herz vor Zugbruch zu schützen, wenn sie es doch sei, die mir die wirkliche Bedeutung von Herzbruch offenbaren würde.
Abblätternde Farbfetzen und das graue Spiel sind meine einzige Erinnerung an Opa Rafik, es sei denn, alte Fotos zählen als Erinnerungen. An Opa Rafik mangelt es überhaupt bei uns. So gern und so viel meine Familie beim Kaffee über sich und andere Familien und über die Toten bei sich und bei den anderen Familien erzählt, so selten wird dabei Opa Rafik bedacht. Nie sieht jemand in den Kaffeesatz und seufzt: ach, Rafik, mein Rafik, wenn du das erleben könntest! Nie mutmaßt jemand, was Opa Rafik zu irgendetwas sagen würde, sein Name fällt weder als Dank noch als Vorwurf.
Weniger am Leben als Opa Rafik kann kein Toter sein.
Die Toten haben es in ihrer Erde einsam genug, warum lässt man auch noch die Erinnerung an Opa Rafik vereinsamen?
Mutter kommt in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Sie will Brote schmieren für die Arbeit, legt Butter und Käse auf den Tisch. Ich sehe in ihr Gesicht, suche darin Opa Rafiks Fotogesicht.
Mama, siehst du Opa Rafik ähnlich?, frage ich, als sie sich an den Tisch setzt und Brot auspackt. Sie schneidet die Tomate auf. Ich warte und stelle die Frage noch einmal, jetzt erst hält Mutter inne, Messerschneide auf der Tomate. Was für ein Opa war Opa Rafik?, frage ich weiter, warum spricht niemand über ihn? Wie soll ich jemals wissen, was für einen Opa ich hatte?
Mutter legt das Messer zur Seite und die Hände in den Schoß. Mutter hebt die Augen. Mutter sieht mich an.
Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Traurigen. Der trauerte um seinen Fluss und seine Erde. Der kniete sich hin, kratzte in dieser seiner Erde, bis ihm die Fingernägel brachen und Blut kam. Der streichelte Gras und roch daran und weinte in die Grasbüschel wie das kleinste Kind - meine Erde, wie bist du mir getreten undjedem Gewicht ausgeliefert. Du hattest keinen Opa, einen Dummen hattest du. Der soff und soff. Der aß Erde, würgte Erde, kroch dann auf allen vieren ans Ufer, spülte sich mit dem Flusswasser den Mund aus. Wie liebte dein Trauriger seinen Fluss! Seinen Cognac - dein Dummer, der nur lieben konnte, was er unterjocht und gedemütigt sah. Der nur lieben konnte, wenn er soff und soff.
Drina, welch vernachlässigter Fluss, welch vergessenes Schön!, heulte er, wenn er aus einer der Kneipen getorkelt kam, einmal das Brillengestell verbogen, ein anderes Mal die Hose voll gepisst, dieser Gestank! Welch liederliche Marotte das Alter, weinte er, wenn er stolperte und fiel, sich am Fluss festhalten wollte, um nicht abzuheben. Wie oft fanden wir ihn nachts unter dem ersten Brückenbogen, bäuchlings, die Finger in die Wasseroberfläche gekrallt. Aufgedunsene Hände, blau, halb zu Fäusten geballt. Blumen hielt er in den Fluss, Steine, manchmal eine Cognacflasche. Jahre ist das so gegangen. Seit sie die Eisenbahn abgeschafft hatten, seit kein Zug mehr durch die Stadt fuhr, dem dein Trauriger Weichen stellen, Signale setzen und Schranken heben konnte. Er verlor seine Arbeit und verlor darüber kein Wort, es gab nichts mehr zu tun, und es gab nichts zu sagen. Er wurde in Rente geschickt und versoff sie Tag um Tag, erst heimlich, oben am Bahnhof, der keiner mehr war, wo aber noch die alte Lokomotive stand. Später am Fluss und mitten in der Stadt, voll plötzlicher, dummer Liebe zum Wasser und zu seinen Ufern.
Keinen Opa, einen Verbitterten hattest du. Der trank und trank und trank sich lebensmatt. Wenn er doch bloß Schach oder die Partei oder uns so geliebt hätte wie seine Züge und dann seinen Fluss, am meisten seinen Weinbrand! Wenn er doch bloß auf uns gehört hätte und nicht auf die tiefe, unergründliche Drina!
Am Abend der Nacht, in der er starb, ritzte dein Gehetzter Buchstaben ins Ufer. Drei Liter Wein hatte er getrunken, ein abgeschlagener Flaschenhals war sein Stift, er schrieb dem Fluss einen langen Brief. Wir zogen ihn an den Füßen aus dem Schlamm, er winselte und schrie in den Fluss: wie soll ich dich, wie soll ich allein etwas so Großes retten?
Dass etwas dermaßen Trauriges so stinken kann! Man hatte uns gerufen, als seine Schreie und seine Lieder unerträglich geworden waren. Auf den Armen trug Papa ihn nach Hause, legte ihn mitsamt der Kleidung in die Badewanne, wo sich dein Besoffener zweimal wütend übergab, alle Angler verfluchend, mögen sich eure Waffen gegen eure eigenen Münder wenden, weil ihr im Flussmagen mit den Haken so stochert, den Fischen - was für ein stummer Schmerz! - die Lippen zerreißt! Soll eure Haut, Verbrecher, abgezogen werden mit stumpfen Messern, hol euch die Tiefe, Boote, Drecksbenzin, alle Wehre, alle Turbinen, alle Bagger! Ein Fluss: nur Wasser und Leben und Kraft und nichts sonst!
Um Mitternacht wusch ich ihm das Haar und den Schildkrötennacken, wusch ihn hinter den Ohren und unter den Achseln. Er küsste meine Hände und sagte, er wisse genau, wer ich sei. Trotz Tränen erkenne er, wessen Knöchel er streichele und erinnere alles: was für ein Kleinod die Liebe sei und was für ein Drecksack das Schicksal.
Ich bin deine Tochter, sagte ich drei Mal, und er gab mir in dieser, seiner letzten Nacht, drei Versprechen: saubere Kleidung, kein Alkohol, Leben. Er erfüllte nur eines. Seine Bahnwärtermütze fand man unter dem ersten Brückenbogen, man fand die Cognacflasche, ihn fand man nicht. Mit Heugabeln stocherten wir im Uferwasser der Drina nach ihm. Warum war er noch einmal losgezogen? Was gab es noch in dieser Mainacht zu lieben? Die Kaschemmen waren alle längst geschlossen, als ich ihn nach seinem Bad, nach seinen Versprechen zugedeckt hatte. Ausgerechnet ein Angler entdeckte den Körper flussabwärts im Schilf. Das Gesicht unter Wasser, die Füße am Ufer - seine geliebte Drina küsste ihn in den Tod, eine Trauung für deinen Traurigen, der nur ein Versprechen hielt -, er hatte sich fein gemacht für diese Hochzeit: er trug seine Uniform mit dem Eisenbahnerwappen. So viele Nächte hatte er den Tod gesucht, besaß bis dahin den Mut nicht, ihn zu finden, behielt den Kopf nie lang genug unter Wasser, damit ihm die Drina seine einzige und letzte Träne wurde.
Und als er für die Todesfeier vorbereitet werden sollte, zwölf Stunden nur nachdem ich ihn in drei Lebensversprechen gewaschen hatte, war wieder ich es, die den Schwamm nahm, den härtesten, den ich finden konnte, war wieder ich es, die den dürren Oberkörper abschrubbte, wie man Teppiche schrubbt, die Seife in den gelben, faltigen Bauch rieb und die schlaffen Waden bürstete. Finger und Gesicht rührte ich nicht an. Dein Trauriger hatte in seinem Ufer gewühlt, und was wäre ich für eine Tochter gewesen, ihm die Erde unter den Nägeln auszuschaben? Ihm, der verlangt hatte, wenn ich verrecke, will ich keinen Sarg! Wie liebte dein Trauriger seinen grausamen Fluss, wie liebte er die Weiden und den Fisch und den Schlamm! Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Dummen. Nur warst du zu klein, um dich an seine Dummheit zu erinnern. Du mochtest, dass er zu allem graugraugrau sagte, das fandest du lustig, warum auch immer. Nur für seinen Fluss erfand er die malerischsten Farben, nur die Drina sah er sich genau an, dein Trauriger, der nur dann lachen konnte, wenn er sein Spiegelbild im Wasser betrachtete. Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Traurigen.
Ich sehe meine Mutter mit tausend Fragen an. Sie hat mir den
Traurigen gesungen, als hätte sie das Lied seit dem Tag geübt, an dem er ertrunken war. Sie hat gesungen, als gehörte er ihr nicht und doch so zärtlich wütend, dass ich Angst hatte, ein bloßes Kopfnicken von mir könnte ihn ihr stehlen. Über unsichtbare Dinge schüttelt sie jetzt den Kopf und legt die Brotscheiben in eine Reihe auf den Tisch.
Von den tausend Fragen stelle ich nur zwei. Was hat Opa an das Ufer geschrieben? Und warum habt ihr ihm nicht geholfen?
Meine Mutter ist eine kleine Frau. Sie fährt sich durch das lange Haar, die Finger als Kamm. Sie pustet mir ins Gesicht, als würden wir spielen. Sie packt die Butter aus. Packt den Käse aus. Schmiert die Butter aufs Brot. Legt eine Scheibe Käse auf die Butter. Legt Tomaten auf den Käse. Streut zwischen Zeigefinger und Daumen Salz auf die Tomaten. Nimmt das Brot auf die Handfläche. Presst eine zweite Brotscheibe darauf. Presst fest.
Die Kirsche trotzt dem Sturm alles ab, peitscht mit ihren Zweigen um sich. Erst wie einzelne Münzen in einer Spardose, dann immer schneller klopft es gegen unser Vordach, ein Hagel. Nachdem meine Mutter die Küche verlassen hat, öffne ich das Fenster und lege ein Foto von Opa Slavko und mir auf den Sims. Der kalte Wind greift nach meinem Gesicht, ich schließe das Fenster. Auf den anderen bräunlichen Fotos stehen Leute in längs gestreiften Badeanzügen, knöcheltief in der Drina. Solche Badenzüge gibt es heute nicht mehr, die Hündin und ihre vier Welpen wahrscheinlich auch nicht. Der junge Opa Slavko mit Hut streichelt die Welpen und freut sich. Welches ist das letzte Foto von ihm? Wie alt werden Hunde und kenne ich einen der Welpen? Irgendwann gibt es von Hunden und Menschen keine neuen Fotos mehr, weil ihr Leben fertig ist. Wie aber fotografiert man ein Lebenzuende? Wenn ich fertig bin, fotografiert mich in der Erde, werde ich allen sagen. In siebzig Jahren geht das. Fotografiert, wie mir die Nägel wachsen und wie ich dünner werde und meine Haut verliere. Alles Abgeschlossene und jeder Tod kommen mir unnötig und unglücklich und unverdient vor. Sommer werden Herbst, Häuser werden abgerissen und Menschen auf den Fotos werden Fotos auf den Grabsteinen. So viele Dinge sollten nicht fertig werden - Sonntage nicht, damit Montage nicht kommen, Staudämme nicht, damit Flüsse nicht aufgehalten werden. Tische sollten nicht lackiert werden, vom Geruch bekomme ich Kopfweh, die Ferien nicht Schulanfang, die Zeichentrickfilme nicht Nachrichten. Auch meine Liebe zu Danijela mit dem sehr langen Haar hätte nicht zu einer unerwiderten werden dürfen. Und man sollte niemals Zauberhüte mit Opa fertig gebastelt haben, sondern mit ihm endlos über die Vorteile eines Lebens als Zauberer im Dienst des Kommunistischen Bundes reden und darüber, was passieren kann, wenn man Brot mit Sternenschweifstaub würzt.
Ich bin gegen das Enden, gegen das Kaputtwerden ! Das Fertige muss aufgehalten werden! Ich bin der Chefgenosse für das Immerweitergehen und unterstütze das Undsoweiter!
Im letzten Fotoalbum finde ich ein Bild von der Brücke über die Drina. Die Brücke sieht aus wie immer, nur dass Gerüste ihre elf Bögen umzäunen. Menschen stehen auf dem Gerüst, sie winken, als sei die Brücke ein Schiff, das gleich abfahren wird, den Fluss hinab. Trotz der Gerüste sieht die Brücke fertig aus. Sie ist komplett, die Gerüste können ihrer Schönheit und ihrem Nutzen nichts anhaben. Dieses riesige Vollendetsein unserer Brücke macht mir nichts aus. Die Drina ist reißend, schnell: die breite, die gefährliche Drina - einjunger Fluss!
Wenn du schnell fließt, ist das wie laut schreien.
Heute wälzt sie sich träge dahin, mehr See als Fluss, das Wasser ist vom Staudamm entmutigt worden - die langsame Drina, an den Rändern wie ausgefranst von Treibholz und Schmutz. Ich löse die Brücke vorsichtig aus dem Album. Die Oberfläche ist kühl und glatt, so ist heute der damals wilde, ungezähmte Fluss. Ich stecke das Foto in die Hosentasche, es wird zerknittern und Eselsohren bekommen.
© 2006 Luchterhand Literaturverlag, München
Noch nicht gestorben in meiner Familie sind Mutter, Vater und Vaters Brüder - Onkel Bora und Onkel Miki. Nena Fatima, die Mutter meiner Mutter, hält sich noch gut, bei ihr sind nur die Ohren und die Zunge gestorben - sie ist taub wie eine Kanone und stumm wie Schneefall. Sagt man. Tante Gordana ist auch noch nicht gestorben, sie ist Onkel Boras Frau und schwanger. Tante Gordana, eine blonde Insel im dunklen Haarmeer unserer Familie, wird von allen Taifun genannt, weil sie viermal lebendiger lebt als normale Menschen und achtmal schneller läuft und vierzehnmal hektischer redet. Sie legt selbst die Strecke von der Kloschüssel zum Waschbecken im Sprint zurück und hat an der Ladenkasse alles ausgerechnet, bevor es die Kassiererin eintippen kann.
Alle sind wegen Opa Slavkos Tod zu Oma gekommen, reden aber über das Leben in Tante Taifuns Bauch. Niemand zweifelt daran, dass Tante ihr Baby spätestens am Sonntag, maximal am Montag bekommen wird, Monate zu früh, aber schon fertig wie im neunten. Ich schlage vor, das Baby Speedy Gonzales zu nennen. Tante Taifun schüttelt ihre blonden Locken: sindwirmexikaner? Wirdnmädchenkeinemaus! Emawirdsieheißen.
Und Slavko, fügt Onkel Bora leise hinzu, Slavko, wenn es ein Junge wird.
Groß und überall ist heute die Liebe für Opa Slavko, bei allen Schwarzangezogenen, die bei Oma Katarina Kaffee trinken und verstohlen zum Sofa sehen, auf dem Opa saß, als Carl Lewis in Tokio den Weltrekord aufstellte. Opa starb in 9,86 Sekunden, sein Herz lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Carl Lewis - das Herz stand still, und Carl raste wie ein Wahnsinniger. Opa keuchte, und Carl riss die Arme in die Luft und warf sich eine amerikanische Fahne über die Schultern.
Die Trauergäste bringen Pralinen und Würfelzucker mit, Cognac und Schnaps. Sie möchten Omas Trauer mit Süßem aufwiegen und trinken gegen ihre eigene an. Die männliche Trauer riecht nach Rasierwasser. Sie steht in kleinen Runden in der Küche und betrinkt sich. Die weibliche Trauer sitzt mit Oma um den Wohnzimmertisch, schlägt Namen für das neue Leben in Tante Taifuns Bauch vor, und diskutiert die gesündeste Schlafposition in den ersten Monaten. Als Opas Name fällt, schneiden die Frauen Kuchen und bieten sich gegenseitig die Stücke an. Sie zuckern den Kaffee und rühren ihn mit Löffeln um, die aussehen wie Spielzeugbesteck.
Immer loben Frauen Kuchen.
Ur-Oma Mileva und Ur-Opa Nikola sind nicht hier, weil ihr Sohn zu ihnen kommt, nach Veletovo, weil er in dem Dorf begraben werden soll, wo er geboren wurde. Was das miteinander zu tun hat, weiß ich nicht. Man müsste dort tot sein dürfen, wo man viel und gern am Leben war. Mein Vater unter unserem Keller, den er »das Atelier« nennt, und kaum je verlässt, unter seinen Leinwänden und seinen Pinseln. Oma egal wo, Hauptsache, die Nachbarinnen sind auch da und es gibt Kaffee und Pralinen. Ur-Oma und Ur-Opa unter ihrem Pflaumengarten in Veletovo. Wo war meine Mutter viel und gerne?
Opa Slavko in den besten Geschichten oder unter dem Parteibüro.
Noch zwei Tage halte ich es vielleicht ohne ihn aus, bis dahin werden meine Zauberutensilien schon noch auftauchen.
Ich freue mich darauf, Ur-Opa und Ur-Oma wieder zu sehen. Sie haben, seit ich darauf achte, nie süß gerochen und sind im Durchschnitt circa hundertfünfzig Jahre alt. Trotzdem sind sie am wenigsten gestorben und am meisten am Leben von allen in der Familie, ausgenommen Tante Taifun, aber sie gilt nicht, denn sie läuft nicht unter Menschen, sondern unter Naturkatastrophen und hat einen Propeller im Hintern. Sagt Onkel Bora manchmal und küsst den Rücken seiner Naturkatastrophe.
Onkel Bora wiegt so viel, wie meine Urgroßeltern alt sind.
Auch noch nicht gestorben in meiner Familie ist Oma Katarina, obwohl sie am Abend, an dem Opas großes Herz die schnellste Krankheit der Welt bekam, gewünscht und geklagt hatte: allein, was soll ich ohne dich, allein will ich nicht, Slavko, mein Slavko, wehe mir!
Mehr noch als vor Opas Tod fürchtete ich mich vor dieser großen, auf Knien rutschenden Trauer meiner Oma, allein, wie lebe ich jetzt allein! Oma schlug sich gegen die Brust und flehte darum, Opa zu toten Füßen, selbst nicht mehr am Leben zu sein. Ich atmete nur noch schnell, aber nicht mehr leicht. Oma war so schwach, dass es mir vorkam, als würde ihr Körper auf dem Boden ganz weich werden, weich und rund. Im Fernsehen sprang eine große Frau in den Sand und freute sich darüber. Zu Opas Füßen schrie Oma die Nachbarn herbei, sie knöpften sein Hemd auf, Opas Brille verrutschte, sein Mund hing schief - ich schnitt, wie immer, wenn ich nicht weiterwusste, kleine Dinge aus, mehr Sterne für meinen Zauberhut. Trotz der Angst und so kurz nach einem Sterben sah ich, dass Omas Porzellanhund auf dem Fernseher umgefallen war und dass die Teller mit den Fischgräten vom Abendessen immer noch auf der gehäkelten Tischdecke standen. Ich hörte jedes Wort der herumwuselnden Nachbarn, verstand alles trotz Omas Wimmern und Jaulen. Die zerrte an Opas Beinen, Opa rutschte vom Sofa nach vorne. Ich versteckte mich in der Ecke hinter dem Fernseher. Aber auch hinter tausend Fernsehern hätte ich mich nicht verstecken können vor Omas verzerrtem Gesicht, nicht vor dem verdrehten, vom Sofa abfallenden Opa, nicht vor dem Gedanken, dass meine Großeltern nie hässlicher waren als jetzt.
Ich hätte Oma gern die Hand auf den zitternden Rücken gelegt - ihre Bluse wäre nass vor Schweiß gewesen - und gesagt: Oma, nicht! Es wird alles gut! Opa ist doch in der Partei und die Partei befindet sich in Übereinstimmung mit den Statuten des Bundes der Kommunisten, ich finde bloß meinen Zauberstab gerade nicht. Es wird alles wieder gut, Oma.
Doch ihr trauriger Wahnsinn machte mich stumm. Je lauter sie sich wand, lasst mich!, desto mutloser wurde ich in meinem Versteck. Je mehr Nachbarn sich von Opa ab- und der Oma zuwandten, die Untröstliche trösten wollten, als verkauften sie ihr etwas, das sie nicht im Geringsten brauchte, desto panischer wehrte sie sich. Je mehr Tränen ihre Wangen, ihren Mund, ihr Klagen, ihr Kinn bedeckten wie Öl eine Pfanne, desto mehr Details schnitt ich aus dem Wohnzimmer: das Bücherregal mit Marx, Lenin, Kardelj, links unten »Das Kapital«, der Fischgeruch, die Zweige auf der Tapete, vier Gobelins an der Wand - spielende Kinder auf einer Dorfstraße, bunte Blumen in einer bunten Blumenvase, Schiff auf unruhiger See, Häuschen am Wald -, ein Foto von Tito und Gandhi, die sich mittig über Schiff und Häuschen die Hand geben, der Satz: Wie kriegen wir sie von ihm los?
Immer mehr Leute kamen hinzu, einer nahm dem anderen den Platz weg, als gelte es, etwas nachzuholen oder zumindest nichts mehr zu verpassen und in der Nähe zu einem Tod so lebendig wie möglich zu sein. Opas zu schneller Tod verärgerte die Nachbarn oder ließ sie schuldbewusst zu Boden sehen. Niemand hatte Opas Herz folgen können, auch Oma nicht, wehe mir, warum, warum, warum, Slavko. Teta Amela aus dem zweiten Stock sank nieder, jemand brüllte: Herz Jesu!, ein anderer verfluchte sofort Jesus' Mutter und einige weitere Familienmitglieder noch dazu. Oma zerrte an Opas Hosenbeinen, schlug nach den beiden Sanitätern, die mit ihren Köfferchen im Wohnzimmer auftauchten, Hände weg!, schrie sie. Die Sanitäter trugen unter ihren Kitteln Holzfällerhemden und zogen Oma von Opas Beinen ab, als lösten sie eine Muschel vom Stein. Opa würde für Oma erst dann tot sein, wenn sie ihn loslässt. Sie ließ nicht los. Die Weißkittel horchten in Opas Brust, einer hielt ihm einen Spiegel vors Gesicht und sagte: nichts.
Ich schrie, dass Opa noch da sei, und dass sein Tod nicht konform mit den Zielen des Kommunistischen Bundes gehe. Aus dem Weg, meinen Zauberstab her und ich beweise es euch!
Niemand beachtete mich. Die Holzfäller-Sanitäter gruben in Opas Hemd und leuchteten mit einem Stift in sein Auge. Ich zog das Stromkabel, und der Fernseher verstummte. In der Ecke neben der Steckdose hingen lose Spinnwebenfäden. Um wie viel leichter als ein Menschentod wiegt ein Spinnentod? Welches tote Bein ihres Ehemannes umklammert die Spinnenfrau? Ich nahm mir vor, niemals wieder eine Spinne in eine Flasche einzusperren und langsam Wasser hineinlaufen zu lassen.
Wo war mein Zauberstab?
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Ecke gestanden habe, bevor mich mein Vater am Arm fasste, als nehme er mich gefangen. Er übergab mich meiner Mutter, sie zerrte mich durch das Treppenhaus in den Hof. Die Luft roch nach Mirabellenmaische, auf dem Megdan brannten Feuer. Vom Megdan aus kann man fast die ganze Stadt sehen, vielleicht auch in den Hof vor dem großen Haus mit seinen fünf Stockwerken, für Visegrad schon ein Hochhaus, wo sich eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und braunen Augen zu einem Jungen mit der gleichen Haarfarbe und den gleichen Mandelaugen beugte. Sie pustete ihm Strähnen aus der Stirn, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was sie zu dem Jungen flüsterte, war auf dem Megdan nicht zu hören. Wahrscheinlich war auch nicht zu erkennen, dass der Junge, nachdem ihn die Frau umarmt und lange, lange fest gehalten hatte, nickte. So wie man nickt, wenn man etwas verspricht.
Am Abend des dritten Tages nach Opa Slavkos Tod sitze ich
in der Küche und blättere Fotoalben durch. Ich nehme alle Fotos von Opa Slavko aus dem Album heraus, noch weiß ich nicht, was ich mit ihnen vorhabe. Im Hof legt sich unsere Kirsche mit dem Wind an, ein Sturm. Nachdem ich Opa Slavko die Fähigkeit gegeben haben werde, wieder zu leben, wird mein nächster Streich sein, uns allen die Fähigkeit zu geben, Geräusche festzuhalten. Wir werden den Wind in den Kirschblättern und das Rumoren des Donners und das nächtliche Hundebellen im Sommer in ein Album aus Tönen legen können. Und hier hacke ich Holz für den Kamin - so werden wir unser Leben aus Tönen stolz vorführen wie sonst die Bilder aus dem Adria-Urlaub. Kleine Geräusche wird man in der Faust tragen können. Meiner Mutter würde ich ihr Lachen der guten Tage über die Sorgen im Gesicht legen.
Die bräunlichen Fotos mit dem breiten, weißen Rand riechen nach Plastiktischdecken und zeigen Menschen mit komischen, nach unten breiter werdenden Hosen. Vor den Fassaden eines unfertigen Visegrads steht ein kleiner Mann in Bahnwärteruniform und sieht geradeaus, steif wie ein Soldat: Opa Rafik.
Opa Rafik, der Vater meiner Mutter, ist schon lange endgültig tot, er ist in der Drina ertrunken. Ich kannte ihn kaum, erinnere mich aber an ein Spiel mit ihm, ein einfaches Spiel. Opa Rafik zeigte auf etwas, und ich nannte davon den Namen, die Farbe und das Erste, was mir dazu einfiel. Er zeigte auf sein Taschenmesser, und ich sagte: Messer, grau und Lokomotive. Er zeigte auf einen Spatz, und ich sagte: Vogel, grau und Lokomotive. Opa Rafik zeigte durch das Fenster in die Nacht, und ich sagte: Träume, grau und Lokomotive, und Opa deckte mich zu und sagte: schlaf eisern.
Die Zeit meiner grauen Periode war die Zeit meiner Besuche beim Augenarzt, der nichts feststellte, außer, dass ich mir zu schnell Sachen merken konnte, zum Beispiel die Reihenfolge der kleinen und großen Buchstaben auf seinem Plakat. Frau Krsmanovic´, das müssen Sie ihm irgendwie austreiben, sagte der Arzt und verschrieb meiner Mutter Tropfen wegen ihrer immer geröteten Augen. Vor Lokomotiven und Zügen fürchtete ich mich damals sehr. Opa Rafik hatte mich zu der stillgelegten Eisenbahn-Trasse mitgenommen, die abblätternde Farbe von der alten Lok gekratzt, ihr habt mir das Herz gebrochen, geflüstert und die schwarze Farbe zwischen den Handflächen zerrieben. Auf dem Nachhauseweg - Pflasterstein, grau, Lokomotive, meine Hand in seiner großen, mit scharfen Farbsplittern geschwärzten - beschloss ich aus Sorge um mein Herz, zu Zügen gut zu sein. Nur kamen ja schon lange keine mehr durch unsere Stadt. Einige Jahre später zeigte mir meine erste nicht erwiderte Liebe, Danijela mit dem sehr langen Haar, wie albern ich die ganze Zeit war, mein Herz vor Zugbruch zu schützen, wenn sie es doch sei, die mir die wirkliche Bedeutung von Herzbruch offenbaren würde.
Abblätternde Farbfetzen und das graue Spiel sind meine einzige Erinnerung an Opa Rafik, es sei denn, alte Fotos zählen als Erinnerungen. An Opa Rafik mangelt es überhaupt bei uns. So gern und so viel meine Familie beim Kaffee über sich und andere Familien und über die Toten bei sich und bei den anderen Familien erzählt, so selten wird dabei Opa Rafik bedacht. Nie sieht jemand in den Kaffeesatz und seufzt: ach, Rafik, mein Rafik, wenn du das erleben könntest! Nie mutmaßt jemand, was Opa Rafik zu irgendetwas sagen würde, sein Name fällt weder als Dank noch als Vorwurf.
Weniger am Leben als Opa Rafik kann kein Toter sein.
Die Toten haben es in ihrer Erde einsam genug, warum lässt man auch noch die Erinnerung an Opa Rafik vereinsamen?
Mutter kommt in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Sie will Brote schmieren für die Arbeit, legt Butter und Käse auf den Tisch. Ich sehe in ihr Gesicht, suche darin Opa Rafiks Fotogesicht.
Mama, siehst du Opa Rafik ähnlich?, frage ich, als sie sich an den Tisch setzt und Brot auspackt. Sie schneidet die Tomate auf. Ich warte und stelle die Frage noch einmal, jetzt erst hält Mutter inne, Messerschneide auf der Tomate. Was für ein Opa war Opa Rafik?, frage ich weiter, warum spricht niemand über ihn? Wie soll ich jemals wissen, was für einen Opa ich hatte?
Mutter legt das Messer zur Seite und die Hände in den Schoß. Mutter hebt die Augen. Mutter sieht mich an.
Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Traurigen. Der trauerte um seinen Fluss und seine Erde. Der kniete sich hin, kratzte in dieser seiner Erde, bis ihm die Fingernägel brachen und Blut kam. Der streichelte Gras und roch daran und weinte in die Grasbüschel wie das kleinste Kind - meine Erde, wie bist du mir getreten undjedem Gewicht ausgeliefert. Du hattest keinen Opa, einen Dummen hattest du. Der soff und soff. Der aß Erde, würgte Erde, kroch dann auf allen vieren ans Ufer, spülte sich mit dem Flusswasser den Mund aus. Wie liebte dein Trauriger seinen Fluss! Seinen Cognac - dein Dummer, der nur lieben konnte, was er unterjocht und gedemütigt sah. Der nur lieben konnte, wenn er soff und soff.
Drina, welch vernachlässigter Fluss, welch vergessenes Schön!, heulte er, wenn er aus einer der Kneipen getorkelt kam, einmal das Brillengestell verbogen, ein anderes Mal die Hose voll gepisst, dieser Gestank! Welch liederliche Marotte das Alter, weinte er, wenn er stolperte und fiel, sich am Fluss festhalten wollte, um nicht abzuheben. Wie oft fanden wir ihn nachts unter dem ersten Brückenbogen, bäuchlings, die Finger in die Wasseroberfläche gekrallt. Aufgedunsene Hände, blau, halb zu Fäusten geballt. Blumen hielt er in den Fluss, Steine, manchmal eine Cognacflasche. Jahre ist das so gegangen. Seit sie die Eisenbahn abgeschafft hatten, seit kein Zug mehr durch die Stadt fuhr, dem dein Trauriger Weichen stellen, Signale setzen und Schranken heben konnte. Er verlor seine Arbeit und verlor darüber kein Wort, es gab nichts mehr zu tun, und es gab nichts zu sagen. Er wurde in Rente geschickt und versoff sie Tag um Tag, erst heimlich, oben am Bahnhof, der keiner mehr war, wo aber noch die alte Lokomotive stand. Später am Fluss und mitten in der Stadt, voll plötzlicher, dummer Liebe zum Wasser und zu seinen Ufern.
Keinen Opa, einen Verbitterten hattest du. Der trank und trank und trank sich lebensmatt. Wenn er doch bloß Schach oder die Partei oder uns so geliebt hätte wie seine Züge und dann seinen Fluss, am meisten seinen Weinbrand! Wenn er doch bloß auf uns gehört hätte und nicht auf die tiefe, unergründliche Drina!
Am Abend der Nacht, in der er starb, ritzte dein Gehetzter Buchstaben ins Ufer. Drei Liter Wein hatte er getrunken, ein abgeschlagener Flaschenhals war sein Stift, er schrieb dem Fluss einen langen Brief. Wir zogen ihn an den Füßen aus dem Schlamm, er winselte und schrie in den Fluss: wie soll ich dich, wie soll ich allein etwas so Großes retten?
Dass etwas dermaßen Trauriges so stinken kann! Man hatte uns gerufen, als seine Schreie und seine Lieder unerträglich geworden waren. Auf den Armen trug Papa ihn nach Hause, legte ihn mitsamt der Kleidung in die Badewanne, wo sich dein Besoffener zweimal wütend übergab, alle Angler verfluchend, mögen sich eure Waffen gegen eure eigenen Münder wenden, weil ihr im Flussmagen mit den Haken so stochert, den Fischen - was für ein stummer Schmerz! - die Lippen zerreißt! Soll eure Haut, Verbrecher, abgezogen werden mit stumpfen Messern, hol euch die Tiefe, Boote, Drecksbenzin, alle Wehre, alle Turbinen, alle Bagger! Ein Fluss: nur Wasser und Leben und Kraft und nichts sonst!
Um Mitternacht wusch ich ihm das Haar und den Schildkrötennacken, wusch ihn hinter den Ohren und unter den Achseln. Er küsste meine Hände und sagte, er wisse genau, wer ich sei. Trotz Tränen erkenne er, wessen Knöchel er streichele und erinnere alles: was für ein Kleinod die Liebe sei und was für ein Drecksack das Schicksal.
Ich bin deine Tochter, sagte ich drei Mal, und er gab mir in dieser, seiner letzten Nacht, drei Versprechen: saubere Kleidung, kein Alkohol, Leben. Er erfüllte nur eines. Seine Bahnwärtermütze fand man unter dem ersten Brückenbogen, man fand die Cognacflasche, ihn fand man nicht. Mit Heugabeln stocherten wir im Uferwasser der Drina nach ihm. Warum war er noch einmal losgezogen? Was gab es noch in dieser Mainacht zu lieben? Die Kaschemmen waren alle längst geschlossen, als ich ihn nach seinem Bad, nach seinen Versprechen zugedeckt hatte. Ausgerechnet ein Angler entdeckte den Körper flussabwärts im Schilf. Das Gesicht unter Wasser, die Füße am Ufer - seine geliebte Drina küsste ihn in den Tod, eine Trauung für deinen Traurigen, der nur ein Versprechen hielt -, er hatte sich fein gemacht für diese Hochzeit: er trug seine Uniform mit dem Eisenbahnerwappen. So viele Nächte hatte er den Tod gesucht, besaß bis dahin den Mut nicht, ihn zu finden, behielt den Kopf nie lang genug unter Wasser, damit ihm die Drina seine einzige und letzte Träne wurde.
Und als er für die Todesfeier vorbereitet werden sollte, zwölf Stunden nur nachdem ich ihn in drei Lebensversprechen gewaschen hatte, war wieder ich es, die den Schwamm nahm, den härtesten, den ich finden konnte, war wieder ich es, die den dürren Oberkörper abschrubbte, wie man Teppiche schrubbt, die Seife in den gelben, faltigen Bauch rieb und die schlaffen Waden bürstete. Finger und Gesicht rührte ich nicht an. Dein Trauriger hatte in seinem Ufer gewühlt, und was wäre ich für eine Tochter gewesen, ihm die Erde unter den Nägeln auszuschaben? Ihm, der verlangt hatte, wenn ich verrecke, will ich keinen Sarg! Wie liebte dein Trauriger seinen grausamen Fluss, wie liebte er die Weiden und den Fisch und den Schlamm! Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Dummen. Nur warst du zu klein, um dich an seine Dummheit zu erinnern. Du mochtest, dass er zu allem graugraugrau sagte, das fandest du lustig, warum auch immer. Nur für seinen Fluss erfand er die malerischsten Farben, nur die Drina sah er sich genau an, dein Trauriger, der nur dann lachen konnte, wenn er sein Spiegelbild im Wasser betrachtete. Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Traurigen.
Ich sehe meine Mutter mit tausend Fragen an. Sie hat mir den
Traurigen gesungen, als hätte sie das Lied seit dem Tag geübt, an dem er ertrunken war. Sie hat gesungen, als gehörte er ihr nicht und doch so zärtlich wütend, dass ich Angst hatte, ein bloßes Kopfnicken von mir könnte ihn ihr stehlen. Über unsichtbare Dinge schüttelt sie jetzt den Kopf und legt die Brotscheiben in eine Reihe auf den Tisch.
Von den tausend Fragen stelle ich nur zwei. Was hat Opa an das Ufer geschrieben? Und warum habt ihr ihm nicht geholfen?
Meine Mutter ist eine kleine Frau. Sie fährt sich durch das lange Haar, die Finger als Kamm. Sie pustet mir ins Gesicht, als würden wir spielen. Sie packt die Butter aus. Packt den Käse aus. Schmiert die Butter aufs Brot. Legt eine Scheibe Käse auf die Butter. Legt Tomaten auf den Käse. Streut zwischen Zeigefinger und Daumen Salz auf die Tomaten. Nimmt das Brot auf die Handfläche. Presst eine zweite Brotscheibe darauf. Presst fest.
Die Kirsche trotzt dem Sturm alles ab, peitscht mit ihren Zweigen um sich. Erst wie einzelne Münzen in einer Spardose, dann immer schneller klopft es gegen unser Vordach, ein Hagel. Nachdem meine Mutter die Küche verlassen hat, öffne ich das Fenster und lege ein Foto von Opa Slavko und mir auf den Sims. Der kalte Wind greift nach meinem Gesicht, ich schließe das Fenster. Auf den anderen bräunlichen Fotos stehen Leute in längs gestreiften Badeanzügen, knöcheltief in der Drina. Solche Badenzüge gibt es heute nicht mehr, die Hündin und ihre vier Welpen wahrscheinlich auch nicht. Der junge Opa Slavko mit Hut streichelt die Welpen und freut sich. Welches ist das letzte Foto von ihm? Wie alt werden Hunde und kenne ich einen der Welpen? Irgendwann gibt es von Hunden und Menschen keine neuen Fotos mehr, weil ihr Leben fertig ist. Wie aber fotografiert man ein Lebenzuende? Wenn ich fertig bin, fotografiert mich in der Erde, werde ich allen sagen. In siebzig Jahren geht das. Fotografiert, wie mir die Nägel wachsen und wie ich dünner werde und meine Haut verliere. Alles Abgeschlossene und jeder Tod kommen mir unnötig und unglücklich und unverdient vor. Sommer werden Herbst, Häuser werden abgerissen und Menschen auf den Fotos werden Fotos auf den Grabsteinen. So viele Dinge sollten nicht fertig werden - Sonntage nicht, damit Montage nicht kommen, Staudämme nicht, damit Flüsse nicht aufgehalten werden. Tische sollten nicht lackiert werden, vom Geruch bekomme ich Kopfweh, die Ferien nicht Schulanfang, die Zeichentrickfilme nicht Nachrichten. Auch meine Liebe zu Danijela mit dem sehr langen Haar hätte nicht zu einer unerwiderten werden dürfen. Und man sollte niemals Zauberhüte mit Opa fertig gebastelt haben, sondern mit ihm endlos über die Vorteile eines Lebens als Zauberer im Dienst des Kommunistischen Bundes reden und darüber, was passieren kann, wenn man Brot mit Sternenschweifstaub würzt.
Ich bin gegen das Enden, gegen das Kaputtwerden ! Das Fertige muss aufgehalten werden! Ich bin der Chefgenosse für das Immerweitergehen und unterstütze das Undsoweiter!
Im letzten Fotoalbum finde ich ein Bild von der Brücke über die Drina. Die Brücke sieht aus wie immer, nur dass Gerüste ihre elf Bögen umzäunen. Menschen stehen auf dem Gerüst, sie winken, als sei die Brücke ein Schiff, das gleich abfahren wird, den Fluss hinab. Trotz der Gerüste sieht die Brücke fertig aus. Sie ist komplett, die Gerüste können ihrer Schönheit und ihrem Nutzen nichts anhaben. Dieses riesige Vollendetsein unserer Brücke macht mir nichts aus. Die Drina ist reißend, schnell: die breite, die gefährliche Drina - einjunger Fluss!
Wenn du schnell fließt, ist das wie laut schreien.
Heute wälzt sie sich träge dahin, mehr See als Fluss, das Wasser ist vom Staudamm entmutigt worden - die langsame Drina, an den Rändern wie ausgefranst von Treibholz und Schmutz. Ich löse die Brücke vorsichtig aus dem Album. Die Oberfläche ist kühl und glatt, so ist heute der damals wilde, ungezähmte Fluss. Ich stecke das Foto in die Hosentasche, es wird zerknittern und Eselsohren bekommen.
© 2006 Luchterhand Literaturverlag, München
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Autoren-Porträt von Sasa Stanisic
SaSa StaniSic wurde 1978 in ViSegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und viele Male ausgezeichnet. SaSa StaniSic lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sasa Stanisic
- 2009, 448 Seiten, Deutsch
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 364101543X
- ISBN-13: 9783641015435
- Erscheinungsdatum: 11.03.2009
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