Der gestohlene Engel
Ein kleiner goldener Engel ist Ariane als einziger Hinweis auf den leiblichen Vater ihrer Tochter Svenja geblieben. Als Ariane von ihrer unheilbaren Krankheit erfährt, möchte sie ihn wiederfinden. Bei der Suche nach dem verlorenen Vater...
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Produktinformationen zu „Der gestohlene Engel “
Ein kleiner goldener Engel ist Ariane als einziger Hinweis auf den leiblichen Vater ihrer Tochter Svenja geblieben. Als Ariane von ihrer unheilbaren Krankheit erfährt, möchte sie ihn wiederfinden. Bei der Suche nach dem verlorenen Vater stößt Freundin Sophie auf ein fürchterliches Geheimnis.
Lese-Probe zu „Der gestohlene Engel “
Der gestohlene Engel von Sabine Kornbichler1
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Sie hatte mich gewarnt, aber ich hatte die Warnung nicht verstanden. So warf ich den Schneeball, der zur Lawine werden sollte, und setzte etwas in Bewegung, das von einem bestimmten Punkt an nicht mehr aufzuhalten war. Als ich schließlich von den Taten erfuhr, mit denen alles begonnen hatte, begriff ich, dass ein Ziel zu erreichen ein fragwürdiger Erfolg sein kann. Und ich verstand, dass man sich manchmal für das Unrecht entscheiden muss, um ein Leben zu retten. Vielleicht wäre vieles anders gekommen, hätte ich meinen ursprünglichen Plan nicht aus den Augen verloren. Aber wer weiß, vielleicht hätte dann auch nur eine andere den Schneeball geworfen.
Diese Gedanken ändern nichts, aber sie überfallen mich hin und wieder und lassen die Erinnerungen lebendig werden: an dieses ungewöhnlich milde Wochenende im Januar, das wir uns seit Wochen freigehalten hatten, um es gemeinsam im Taunus zu verbringen.
Ich hatte mich verspätet. Judith und Ariane erwarteten mich bereits im Frühstücksraum des Hotels in Falkenstein. Obwohl wir nicht weit voneinander entfernt wohnten - die beiden in Wiesbaden, ich in Frankfurt - und wir uns häufi g trafen, suchten wir uns in regelmäßigen Abständen einen Ort, an dem wir uns fernab unseres Alltags entspannen und austauschen konnten.
»Sophie«, begrüßten mich beide gleichzeitig.
Judith - in Wickelrock und buntem Oberteil - stand auf, umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du da bist!« Sie schob sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Ariane, die ihre langen dunklen Haare mit einer Schildpattspange im Nacken zusammengefasst hatte und wie immer Schwarz trug. »Ist etwas passiert?«
Mit einem Seufzer setzte ich mich den beiden gegenüber. Ich freute mich so sehr, sie zu sehen. Die beiden waren wie Schwestern für mich, und es gab nur wenige Menschen, die mir so vertraut waren: Ariane war selbstbewusst, durchsetzungsstark und sehr direkt. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie ein Blatt vor den Mund nahm. Wer sie nicht gut kannte, empfand sie als kühl. Und sie tat nichts, um diesen Eindruck zu mildern. Aber jeder, der ihr wirklich etwas bedeutete, bekam ihre Wärme zu spüren. Judith machte es ihren Mitmenschen leichter - sie hatte eine sanfte, fröhliche Ausstrahlung und ließ sich nur selten aus der Ruhe bringen, was ihr als Hebamme sehr zugute kam. Sobald sie einen Raum betrat, wurde sie wahrgenommen, und sie hatte eine unglaubliche Energie, wenn es darum ging, jemanden von etwas zu überzeugen, das ihr am Herzen lag.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte ich, »aber ich musste schnell noch ein paar Sachen besorgen.« Am Montag würde ich eine längere Reise antreten; meine Koffer waren bereits gepackt. Ich suchte den Raum nach dem Frühstücksbüfett ab. »Bin gleich wieder da.« Nachdem ich mich mit Früchten, Joghurt, einem Brötchen und Honig eingedeckt und mir einen Kaffee bestellt hatte, kehrte ich zum Tisch zurück. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf dieses Wochenende gefreut habe. Ich konnte es kaum erwarten.«
Judith warf mir einen verständnisvollen Blick zu. Sie wusste, wie es um mich bestellt war.
Ariane schien in Gedanken zu sein. Sie formte aus dem Inneren eines Brötchens kleine Kugeln und ließ sie achtlos auf den Teller fallen.
Erst jetzt nahm ich wahr, dass ihre Haut blass war und einen gräulichen Schimmer hatte. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. Im Gegensatz zu Judith, die rosig aussah, wirkte Ariane angeschlagen. In meinem Inneren ertönte ganz schwach eine Alarmglocke. »Ariane, was ist los? Ich habe dir ein paarmal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen und versucht, dich auf dem Handy zu erreichen. Warum hast du nicht zurückgerufen?«, fragte ich.
»Erst erzählt ihr«, entgegnete sie.
Judith schüttelte den Kopf und deutete auf mich. »Fang du an, Sophie, bei mir gibt es nichts Besonderes.«
Wie sollte ich Ariane die vergangenen drei Wochen zusammenfassen? Sie hatten alles ins Wanken gebracht. Judith wusste davon, wir hatten häufi g telefoniert. »Ich werde verreisen«, begann ich, »drei Monate lang. Zuerst werde ich vier Wochen in einem Kloster an der Mosel verbringen. Anschließend mache ich die Weltreise, von der ich schon so lange träume. Am Montag geht es los.«
Ariane sah mich an, als wolle ich ihr einen Bären aufbinden. »Du Arbeitstier klinkst dich drei Monate lang aus? Das glaube ich nicht. Sonst hast du doch schon bei einem zweiwöchigen Urlaub ein Problem damit, deinen Schreibtisch zurückzulassen. Und was ist mit Peer? Ihn hast du mit keinem Wort erwähnt. Kommt dein Mann nicht mit?«
»Ich habe mich von ihm getrennt.«
Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Sie sammelte die Kugeln auf ihrem Teller zusammen und formte eine einzige daraus. »Hat er eine andere?« Ihrem Tonfall nach schien sie auf ein Nein zu hoffen.
Ich sah zu Judith. »Hast du es ihr erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich dir überlassen.«
»Judith hat nichts erzählt«, sagte Ariane. »Aber ich weiß, was dein Mann dir bedeutet. Es muss schon etwas Gravierendes vorgefallen sein, wenn du ihn verlässt.«
Um nicht sofort in Tränen auszubrechen, versuchte ich, möglichst sachlich zu bleiben. »Der Grund für unsere Trennung heißt Sonja. Sie ist eine ehemalige Studienkollegin von Peer. Er hat sie an einem Wochenende letzten November wiedergetroffen. Beim Kanufahren. Seitdem hat er eine Affäre mit ihr.«
Ariane griff über den Tisch nach meiner Hand und hielt sie fest. »So ein Mist!« Einen Moment lang sah sie mich nur an. »Ich weiß, wie weh das tut. Wie hast du es herausgefunden?«
»Er hat es mir gesagt. Und ich bin aus allen Wolken gefallen. Peer war in den vergangenen Wochen wie immer, vielleicht ein bisschen abwesender, in sich gekehrt. Ich habe angenommen, das hinge mit seiner Arbeit zusammen. Eine Zeitlang war seine Auftragslage schwach, dann musste einer seiner direkten Wettbewerber Insolvenz anmelden. Einem freischaffenden Marketingberater rennen die Kunden momentan nicht gerade die Tür ein. Ich habe die Signale einfach falsch gedeutet. Vielleicht habe ich sie auch zu wenig wahrgenommen, ich hatte in der Kanzlei zu viel um die Ohren.«
»Aber ein Verhältnis muss nicht gleich das Ende einer Ehe bedeuten«, meinte Ariane.
»Bei dir und Lucas hat sein Verhältnis auch das Ende eurer Ehe eingeläutet.«
Sie strich über meine Hand. »Im Moment bist du verletzt, und das verstehe ich auch. Trotzdem solltest du nicht so schnell alles über Bord werfen. Warum kämpfst du nicht um ihn?«
»Du hast um deinen Mann gekämpft. Und was hat es dir gebracht? Eine fürchterliche Zeit, die dir dermaßen an die Substanz gegangen ist, dass du nur noch ein Schatten deiner selbst warst. Und letzten Endes hast du ihn doch verloren. Das will ich mir ersparen, Ariane. Außerdem hat er mir damit so wehgetan ...«
»Jemanden loszulassen, den man liebt, ist nicht einfach«, sagte sie leise. »Gibt es einen Grund, warum sie in eure Ehe einbrechen konnte?«
»Sie hat es getan, und er hat es zugelassen oder herausgefordert.«
»Habt ihr darüber geredet?«
»Darüber gibt es nichts zu reden. Oder hätte ich ihn etwa fragen sollen, was sie hat, was ich nicht habe? So eine Frage finde ich ...« Ich suchte nach dem richtigen Wort. »... erniedrigend.«
»Möglicherweise hätte er dir aber eine Antwort gegeben. Ich wünschte, ich hätte Lucas damals gefragt, vielleicht wäre dann nicht alles zerbrochen.«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Wahrscheinlich läuft es einfach nur auf das übliche Klischee hinaus - bessere Figur, aufregenderer Sex. Und so eine Antwort erspare ich mir lieber.«
Judith räusperte sich. »Sophie, so redest du nur, weil du verletzt bist. Klar gibt es jede Menge Männer, die nur deshalb fremdgehen, weil sie mal Abwechslung im Bett haben wollen. Aber Peer zählt nicht zu diesen Männern, und das weißt du auch.«
»Das entschuldigt ihn nicht.«
»Aber das könnte der Punkt sein, an dem du ansetzen solltest. In eine intakte Ehe kann man nämlich nicht so ohne weiteres einbrechen.«
»In dieser Hinsicht hast du ja Erfahrung.« Ich hatte es kaum ausgesprochen, als es mir auch schon leidtat. »Entschuldige, Judith, das wollte ich nicht.«
»Und selbst wenn«, sagte sie ungerührt, »ich bin in diese Ehen nicht eingebrochen.« Sie dachte über ihre Worte nach und musste lachen. »Es klingt, als hätte ich massenweise Verhältnisse mit verheirateten Männern gehabt. Dabei waren es nur zwei.«
»Die Männer waren werdende Väter, die Frauen waren in deinen Geburtsvorbereitungskursen. Hast du dich diesen Frauen gegenüber nie mies gefühlt?«
»Hin und wieder schon.«
»Hin und wieder, das ist alles?«
»Sophie, pack deine Moralkeule wieder ein. Es ist nicht meine Aufgabe, die Probleme dieser Menschen zu lösen, das müssen sie schon selbst tun.«
»Du bist das Problem dieser Menschen«, hielt ich ihr aufgebracht entgegen. »Wieso willst du das nicht sehen?« »Weil es nicht so ist. Ich bin der Katalysator.«
»Ich habe Krebs«, sagte Ariane.
Von einer Sekunde auf die andere war es still am Tisch. Ariane saß reglos da, nur ihre Hände bewegten sich und kneteten wieder die Kugel. In ihren Augen war Angst zu lesen.
Ich wollte aufschreien, nein sagen, aber meine Stimme versagte. Wie vom Donner gerührt starrte ich sie an. »Sag bitte, dass das nicht stimmt«, brachte ich schließlich heraus.
»Das ist nicht wahr, oder?«, fragte Judith, in deren Gesicht ich meine eigene Erschütterung gespiegelt sah.
Arianes Blick war Antwort genug. Ihre Blässe und die Ringe unter den Augen bekamen plötzlich ein anderes Gewicht. Sie presste ihre zuckenden Lippen aufeinander.
Judith nahm Arianes Hand in ihre. »Nein«, sagte sie leise, während Tränen über ihr Gesicht liefen. »Das darf nicht sein!«
Einen Moment lang war ich wie erstarrt, dann griff ich nach Arianes anderer Hand. Sie war eiskalt. Ich rieb sie, als könne ich sie damit wärmen. »Und da reden wir die ganze Zeit von mir, dabei ...« Ich schluckte. »Warum hast du nicht viel eher etwas gesagt?« Ich streichelte ihre Hand, die kaum merklich zitterte.
»Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs. Vor zwei Tagen habe ich das endgültige Ergebnis der Untersuchungen bekommen. Für eine Operation ist es zu spät, der Tumor ist bereits zu weit fortgeschritten.« Ariane gab sich Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Trotzdem klang Verzweifl ung durch. Sie war gerade mal siebenunddreißig und hatte eine achtjährige Tochter.
»Was ist mit Chemotherapie?«, fragte Judith.
»Damit beginne ich kommende Woche.«
»Wer sagt, dass es für eine Operation zu spät ist?«, fragte ich in der Hoffnung auf eine rettende Hintertür. Ich schluckte gegen ein Schluchzen an, das an die Oberfl äche drängte.
»Mein Onkologe.«
»Hast du eine zweite Meinung eingeholt?« Ich stellte die Frage, obwohl ich wusste, dass sie überfl üssig war. Ariane war nicht der Typ, der sich mit einer Meinung zufriedengab.
»Ich war bei drei Fachärzten. In meinem Fall gibt es keine zwei Meinungen, alle sind sich einig. Ich bin zu spät zum Arzt gegangen, da ich keine wirklichen Beschwerden hatte, nur Zipperlein, aber die habe ich nicht ernst genommen. Sie können nicht mehr allzu viel für mich tun, wie sie sagen.« Es schien sie ungeheure Kraft zu kosten, einigermaßen ruhig darüber zu reden. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und schloss für einen Moment die Augen. »Ich möchte etwas mit euch besprechen: Für den Fall, dass ich das nicht überlebe, muss für Svenja gesorgt sein ...« Sie wandte sich an Judith. »Du bist ihre Patentante. Ich weiß, dass ich damit viel von dir verlange, aber ich möchte, dass meine Tochter in dem Fall bei dir aufwächst. Du kennst sie von Anfang an und hast eine ganz besondere Verbindung zu ihr. Es gibt keine idealere Ersatzmutter als dich.«
Judith wischte sich die Tränen fort. Schweigend sah sie Ariane an.
»Was ist mit Lucas?«, fragte ich. »Hast du schon mit ihm gesprochen?«
»Damit will ich mir noch Zeit lassen. Er wird es früh genug erfahren. Ich habe seit der Scheidung das alleinige Sorgerecht für Svenja, wie du weißt. Wenn ich sterbe, kann er sie weiter jedes zweite Wochenende und an einem Nachmittag in der Woche sehen, mehr nicht. Dafür musst du sorgen, Sophie. Du bist Anwältin. Ich möchte, dass du eine Verfügung aufsetzt: Svenja soll nach meinem Tod bei Judith leben.«
Vor drei Jahren hatten Ariane und Lucas sich scheiden lassen. Seitdem erstickte Ariane jeden seiner Versuche, Svenja häufi ger zu sehen, im Keim. Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er sie wegen einer anderen Frau, mit der er inzwischen verheiratet war, verlassen hatte. Wann immer wir über das Scheitern ihrer Ehe gesprochen hatten, war mein Beitrag der einer Blinden über die Farbe gewesen. Inzwischen wusste ich, wie ihr Schmerz sich anfühlte. Das, was ich ihr zu sagen hatte, fiel mir deshalb nicht leicht. »Ariane, so einfach, wie du dir das vorstellst, ist eine solche Verfügung nicht. Eigentlich ist sie nach geltendem Recht sogar unmöglich. Svenja würde in jedem Fall ihrem Vater zugesprochen. Außer es sprächen wirklich triftige Gründe dagegen. Aber deine Tochter hat eine intensive und tragfähige Beziehung zu Lucas. Er ist nicht gerade die Idealbesetzung als Ehemann, aber er ist ein guter Vater.«
»Trotzdem möchte ich, dass sie bei Judith lebt«, sagte sie in einem vorwurfsvollen Ton.
»Ich bin deine Freundin, Ariane, nicht diejenige, die diese Gesetze gemacht hat.«
»Aber du fi ndest sie richtig.«
»Ich fi nde es richtig, dass die Eltern immer den Vorzug haben, vorausgesetzt, sie misshandeln ihre Kinder nicht.«
»Und vorausgesetzt, sie sind tatsächlich die Eltern. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich es bisher nie erzählt habe, ich hatte meine Gründe ...« Sie sah erst zu Judith, dann zu mir. »Lucas ist nicht Svenjas Vater. Und jetzt tu mir bitte den Gefallen, Sophie, und setze diese Verfügung auf.«
Ich hatte Verständnis dafür, dass sie es auf diese Weise versuchte, dennoch musste ich ihr klarmachen, dass sie damit nicht weit kommen würde. »Ariane, ich kann aufschreiben, was du willst, entscheidend ist jedoch, wie das Familiengericht entscheidet. Ich kann in eine solche Verfügung nicht einfach hineinschreiben, Lucas sei nicht der Vater deiner Tochter. Dein Wort genügt da nicht. Sobald Lucas einen Vaterschaftstest durchsetzt, ist die Verfügung hinfällig. So schwer es dir auch fällt, mach dich mit dem Gedanken vertraut, dass Svenja ...«
»Damit diese Frau, die schon meinen Mann hat, auch noch meine Tochter bekommt? Wie es im Moment aussieht, muss ich Svenja in nicht allzu ferner Zukunft loslassen. Und wenn ich mir vorstelle ...« Sie schüttelte den Kopf, um die beängstigenden Bilder abzuwehren.
Ich sah zu Judith, von der ich mir Unterstützung erhoffte, aber sie wich meinem Blick aus. »Ich verstehe, was du fühlst, Ariane. Inzwischen verstehe ich es sogar sehr gut. Aber Svenja hängt sehr an ihrem Vater. Wenn du einmal alles andere beiseitelässt und versuchst, allein im Sinne deiner Tochter zu entscheiden, meinst du nicht, dass es besser wäre, ...?«
»Svenja hängt an Lucas, ihren biologischen Vater kennt sie nicht.«
Ich konnte es ihr immer noch nicht glauben. »Damit kommst du nicht durch. Diese Behauptung lässt sich schnell widerlegen.«
»Es ist die Wahrheit, Sophie. Ich habe Lucas damals belogen. Sobald er einen DNA-Test durchführen lässt, bekommt er es schwarz auf weiß, dass ich ihn getäuscht habe.«
»So weit darfst du es nicht kommen lassen!« Judith beugte sich vor und sah Ariane eindringlich an. »Denk bitte in Ruhe nach, und mach dir die Konsequenzen klar. Wenn du einen Dominostein erst einmal anschubst, entsteht eine Kettenreaktion, die du nicht mehr in der Hand hast. Es bricht alles zusammen.«
»Judith hat recht«, sagte ich. »Niemand drängt dich, lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen.«
»Ich hatte Zeit genug zum Nachdenken, nächtelang. Aber vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Ich werde alles tun, was möglich ist. Ich werde für jeden einzelnen Tag kämpfen. Und ich möchte, dass ihr beide mir helft, für mein Kind zu kämpfen. Ihr seid meine besten Freundinnen.«
Und dennoch hatte sie uns nichts von Svenjas wirklichem Vater erzählt. So ganz konnte ich es immer noch nicht glauben. Vielleicht rührte meine Skepsis aber auch daher, dass ich enttäuscht war. Acht Jahre lang hatte sie geschwiegen und ihr Geheimnis für sich behalten. Ich hatte nicht einmal etwas geahnt. »Lucas ist weder krank noch Alkoholiker«, sagte ich. »Nach dem Gesetz könnte er sich also problemlos um seine Tochter kümmern. Wenn es dir jedoch so ernst damit ist, könnte ich mich mit meinen Kolleginnen in der Kanzlei beraten, vielleicht kennt eine von ihnen einen Weg, wie Svenja dennoch bei Judith aufwachsen könnte. Nur ...« Ich zögerte. »Meinst du nicht, dass es für Svenja besser wäre, zu ihrem Vater zu kommen?«
»Ich will nicht, dass sie zu Lucas kommt!«
»Aber begreif doch: Er wird es nicht ohne Widerstand hinnehmen und um Svenja kämpfen. Das Gericht hat bei allen Entscheidungen immer das Kindeswohl im Auge. Und dem Kindeswohl entspricht es, bei den Eltern oder zumindest einem Elternteil aufzuwachsen. Die Eltern werden Dritten immer vorgezogen, selbst wenn andere Personen vielleicht für die Kindererziehung geeigneter wären.« Es fiel mir schwer, in dieser Richtung fortzufahren, aber ich kannte Ariane, sie würde nicht lockerlassen. »Hast du denn noch Kontakt zu Svenjas biologischem Vater?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weiß er überhaupt, dass er eine Tochter hat?« »Nein.«
»Dann setz dich mit ihm in Verbindung und sag es ihm. Sollte ihm im Fall des Falles das Sorgerecht zugesprochen werden, kann er sich vielleicht später mit Judith absprechen.« Insgeheim fragte ich mich allerdings, wie die Chancen standen, dass er sich überhaupt um das Sorgerecht bemühen würde.
»Ich kann mich nicht mit ihm in Verbindung setzen.« »Ist er verheiratet?«
»Ich weiß es nicht, Sophie. Ich weiß überhaupt nichts über ihn.«
»Was heißt das, du weißt nichts über ihn?«
Sie wich meinem Blick aus.
»Bist du vergewaltigt worden?«, fragte ich leise.
»Nein, um Gottes willen, nein! Es ist ganz simpel: Ich habe damals ein Wochenende auf Sylt verbracht, bin mit fl üchtigen Bekannten zu einer Party gegangen und ihm dort begegnet. Es gab jede Menge Alkohol, ich hatte gerade eine schwierige Phase mit Lucas ... so kam eines zum anderen. Irgendwann landeten wir am Strand, na ja ... und so weiter.« Sie schien nicht gerne darüber zu reden.
»Weißt du wenigstens seinen Namen?«
»Weißt du von allen Männern, mit denen du jemals Sex hattest, den Namen?«
»Ja. Ich weiß sogar den Namen der Frau, mit der mein Mann Sex hat.« Ich schob den Gedanken an Peer beiseite und riss mich zusammen.
»Sein Vorname ist Andreas, mehr weiß ich nicht«, sagte Ariane.
Ich hatte keinen Blick für die schöne Ausstattung meines Zimmers. Stattdessen starrte ich durchs Fenster auf die Skyline von Frankfurt. Irgendwo dort unten traf mein Mann sich mit dieser Frau. Als er mir von ihr erzählte, hatte ich geweint wie schon lange nicht mehr. Dann hatte ich ihn aufgefordert, sich so schnell wie möglich eine neue Bleibe zu suchen. Um Abstand zu gewinnen, hatte ich beschlossen, für eine Weile zu verreisen.
Es war erst eine Woche her. Eine Woche voller Hektik und zahlreicher Gespräche in der Kanzlei. Mein Chef hatte mir die Risiken eines dreimonatigen Ausstiegs aufgezeigt. Er hatte versucht, mich umzustimmen. Zwecklos. Ich musste fort. Ich konnte nicht einfach so weitermachen, ohne Peer.
Aber jetzt? Drei Monate? Für eine Operation ist es zu spät, der Tumor ist bereits zu weit fortgeschritten, hörte ich Ariane sagen. Es war, als breiteten diese Worte eine eiskalte Decke über alles andere, als drängten sie jeden anderen Gedanken in den Hintergrund. Zu spät ... zu weit ... Ariane und Judith waren seit Kindertagen meine engsten Freundinnen. Die Vorstellung, eine von ihnen zu verlieren, tat unsagbar weh. Ich konnte Ariane nicht im Stich lassen. Ich möchte, dass ihr beide mir helft, für mein Kind zu kämpfen, hatte sie gesagt.
Ich dachte nach: Svenjas biologischer Vater hieß Andreas. Das war nicht viel für den Anfang. Mehr würden vielleicht die damaligen Gastgeber wissen. Ich nahm mir vor, Ariane später nach deren Namen zu fragen. Aber war es richtig, was wir da taten? Was bedeutete es für Svenja? Sie würde möglicherweise ihre Mutter verlieren und in dieser schweren Zeit auch noch mit einem neuen Vater konfrontiert werden. Wie sollte sie das verkraften? Andererseits: Hatte ein Kind nicht ein Recht darauf, über seine Wurzeln Bescheid zu wissen, seinen wirklichen Vater kennenzulernen?
Auf ein Klopfen hin öffnete ich meine Zimmertür. Judith und Ariane standen im Flur.
»Na los«, sagte Judith, »hol deinen Mantel, wir machen einen Waldspaziergang.«
»Kommt rein und wartet bitte zwei Minuten, ich ziehe mir nur schnell eine Jeans an.« Ich zog die Hose und einen warmen Pullover aus meiner Reisetasche und verschwand damit im Bad.
Während ich mich umzog, hörte ich die beiden im Zimmer reden. Erst war es nur ein leises Murmeln, dann wurde Arianes Stimme lauter.
»Du hast es mir versprochen«, sagte sie, als ich gerade die Tür öffnete. Sie starrte auf etwas, das Judith in der Hand hielt.
»Worum geht es?«, fragte ich neugierig.
»Ach nichts«, antwortete Ariane und warf Judith einen warnenden Blick zu.
»Für nichts hast du aber ziemlich erbost geklungen.«
Als Judith das, was sie in der Hand hielt, in die Manteltasche stecken wollte, fiel es zu Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Judith war jedoch schneller und griff danach.
»Was ist denn das Geheimnisvolles?«, fragte ich.
Widerstrebend öffnete sie die Hand. Darin lag ein kleiner goldener Engel. In seine ausgebreiteten Flügel waren glitzernde, bunte Steine gearbeitet.
»Ist der schön«, sagte ich und strich mit dem Finger darüber. »Sieht aus wie ein kleiner Schutzengel. Woher hast du ihn?«
»Von mir!« Ariane nahm ihn und steckte ihn in die Hosentasche. Ihre Stimme klang nur vordergründig verärgert. Dahinter lag eine Verstörtheit, die ich mir nicht erklären konnte. »Und jetzt lasst uns endlich gehen, sonst ist es dunkel, bevor wir im Wald sind.« Sie ging voraus und war bereits am Aufzug, als ich noch die Zimmertür hinter mir schloss.
Die frische Luft, die uns draußen empfi ng, war fast schon ein Vorbote des Frühlings. Ich sog sie ein und füllte meine Lungen damit. Doch das befreiende Gefühl, das sich sonst einstellte, blieb aus. Zu wissen, dass Ariane so schwer erkrankt war, hatte Judith und mich tief erschüttert. Wir verständigten uns mit Blicken darüber, sie das Tempo bestimmen zu lassen, um ihr jede unnötige Anstrengung zu ersparen.
Nachdem wir minutenlang unseren Gedanken nachgehangen hatten, brach es aus mir heraus: »Ariane, du kannst das nicht einfach hinnehmen!« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als mir bewusst wurde, dass eigentlich ich diejenige war, die es nicht hinnehmen konnte. In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, meinen Mund gehalten zu haben.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als es hinzunehmen.« Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Mit zwei Schritten war ich bei ihr, legte die Arme um sie und hielt sie fest. »Entschuldige, bitte entschuldige, ich bin ein Tölpel. Es ist nur so schwer zu akzeptieren.«
Ariane legte den Kopf auf meine Schulter. »Ich dachte immer, ich hätte alles im Griff, es gäbe für alles eine Lösung«, flüsterte sie. »Wäre ich gläubig, könnte ich auf den Gedanken kommen, dass wer immer dort oben die Fäden zieht, mir eine Lektion erteilen will.«
Judith strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Scht, Unsinn, niemand will dir eine Lektion erteilen. Krank¬heiten machen keinen Unterschied zwischen Guten oder Bösen. Wenn du Pech hast, erwischen sie dich.«
»Vielleicht ist mein Glückskonto voll, vielleicht ha¬be ich es überstrapaziert. Vielleicht geht es jetzt ans Be¬zahlen.«
»Das ist Blödsinn!«, sagte ich. »Bei Krebs entarten Zel¬len, da ist kein Schuldeneintreiber am Werk. Lass solche Gedanken gar nicht erst zu, sie schaden dir nur.«
Ariane löste sich aus meinen Armen. »Das sagt sich alles so einfach. Aber es gibt inzwischen eine Menge Momente, da habe ich meine Gedanken nicht mehr im Griff. Da ver¬selbständigen sie sich und bekommen eine Färbung, die mir bisher fremd war.«
»Du hast Angst«, sagte ich leise und nahm ihre Hand. »Wie noch nie in meinem Leben.«
...
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Sie hatte mich gewarnt, aber ich hatte die Warnung nicht verstanden. So warf ich den Schneeball, der zur Lawine werden sollte, und setzte etwas in Bewegung, das von einem bestimmten Punkt an nicht mehr aufzuhalten war. Als ich schließlich von den Taten erfuhr, mit denen alles begonnen hatte, begriff ich, dass ein Ziel zu erreichen ein fragwürdiger Erfolg sein kann. Und ich verstand, dass man sich manchmal für das Unrecht entscheiden muss, um ein Leben zu retten. Vielleicht wäre vieles anders gekommen, hätte ich meinen ursprünglichen Plan nicht aus den Augen verloren. Aber wer weiß, vielleicht hätte dann auch nur eine andere den Schneeball geworfen.
Diese Gedanken ändern nichts, aber sie überfallen mich hin und wieder und lassen die Erinnerungen lebendig werden: an dieses ungewöhnlich milde Wochenende im Januar, das wir uns seit Wochen freigehalten hatten, um es gemeinsam im Taunus zu verbringen.
Ich hatte mich verspätet. Judith und Ariane erwarteten mich bereits im Frühstücksraum des Hotels in Falkenstein. Obwohl wir nicht weit voneinander entfernt wohnten - die beiden in Wiesbaden, ich in Frankfurt - und wir uns häufi g trafen, suchten wir uns in regelmäßigen Abständen einen Ort, an dem wir uns fernab unseres Alltags entspannen und austauschen konnten.
»Sophie«, begrüßten mich beide gleichzeitig.
Judith - in Wickelrock und buntem Oberteil - stand auf, umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du da bist!« Sie schob sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Ariane, die ihre langen dunklen Haare mit einer Schildpattspange im Nacken zusammengefasst hatte und wie immer Schwarz trug. »Ist etwas passiert?«
Mit einem Seufzer setzte ich mich den beiden gegenüber. Ich freute mich so sehr, sie zu sehen. Die beiden waren wie Schwestern für mich, und es gab nur wenige Menschen, die mir so vertraut waren: Ariane war selbstbewusst, durchsetzungsstark und sehr direkt. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie ein Blatt vor den Mund nahm. Wer sie nicht gut kannte, empfand sie als kühl. Und sie tat nichts, um diesen Eindruck zu mildern. Aber jeder, der ihr wirklich etwas bedeutete, bekam ihre Wärme zu spüren. Judith machte es ihren Mitmenschen leichter - sie hatte eine sanfte, fröhliche Ausstrahlung und ließ sich nur selten aus der Ruhe bringen, was ihr als Hebamme sehr zugute kam. Sobald sie einen Raum betrat, wurde sie wahrgenommen, und sie hatte eine unglaubliche Energie, wenn es darum ging, jemanden von etwas zu überzeugen, das ihr am Herzen lag.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte ich, »aber ich musste schnell noch ein paar Sachen besorgen.« Am Montag würde ich eine längere Reise antreten; meine Koffer waren bereits gepackt. Ich suchte den Raum nach dem Frühstücksbüfett ab. »Bin gleich wieder da.« Nachdem ich mich mit Früchten, Joghurt, einem Brötchen und Honig eingedeckt und mir einen Kaffee bestellt hatte, kehrte ich zum Tisch zurück. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf dieses Wochenende gefreut habe. Ich konnte es kaum erwarten.«
Judith warf mir einen verständnisvollen Blick zu. Sie wusste, wie es um mich bestellt war.
Ariane schien in Gedanken zu sein. Sie formte aus dem Inneren eines Brötchens kleine Kugeln und ließ sie achtlos auf den Teller fallen.
Erst jetzt nahm ich wahr, dass ihre Haut blass war und einen gräulichen Schimmer hatte. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. Im Gegensatz zu Judith, die rosig aussah, wirkte Ariane angeschlagen. In meinem Inneren ertönte ganz schwach eine Alarmglocke. »Ariane, was ist los? Ich habe dir ein paarmal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen und versucht, dich auf dem Handy zu erreichen. Warum hast du nicht zurückgerufen?«, fragte ich.
»Erst erzählt ihr«, entgegnete sie.
Judith schüttelte den Kopf und deutete auf mich. »Fang du an, Sophie, bei mir gibt es nichts Besonderes.«
Wie sollte ich Ariane die vergangenen drei Wochen zusammenfassen? Sie hatten alles ins Wanken gebracht. Judith wusste davon, wir hatten häufi g telefoniert. »Ich werde verreisen«, begann ich, »drei Monate lang. Zuerst werde ich vier Wochen in einem Kloster an der Mosel verbringen. Anschließend mache ich die Weltreise, von der ich schon so lange träume. Am Montag geht es los.«
Ariane sah mich an, als wolle ich ihr einen Bären aufbinden. »Du Arbeitstier klinkst dich drei Monate lang aus? Das glaube ich nicht. Sonst hast du doch schon bei einem zweiwöchigen Urlaub ein Problem damit, deinen Schreibtisch zurückzulassen. Und was ist mit Peer? Ihn hast du mit keinem Wort erwähnt. Kommt dein Mann nicht mit?«
»Ich habe mich von ihm getrennt.«
Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Sie sammelte die Kugeln auf ihrem Teller zusammen und formte eine einzige daraus. »Hat er eine andere?« Ihrem Tonfall nach schien sie auf ein Nein zu hoffen.
Ich sah zu Judith. »Hast du es ihr erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich dir überlassen.«
»Judith hat nichts erzählt«, sagte Ariane. »Aber ich weiß, was dein Mann dir bedeutet. Es muss schon etwas Gravierendes vorgefallen sein, wenn du ihn verlässt.«
Um nicht sofort in Tränen auszubrechen, versuchte ich, möglichst sachlich zu bleiben. »Der Grund für unsere Trennung heißt Sonja. Sie ist eine ehemalige Studienkollegin von Peer. Er hat sie an einem Wochenende letzten November wiedergetroffen. Beim Kanufahren. Seitdem hat er eine Affäre mit ihr.«
Ariane griff über den Tisch nach meiner Hand und hielt sie fest. »So ein Mist!« Einen Moment lang sah sie mich nur an. »Ich weiß, wie weh das tut. Wie hast du es herausgefunden?«
»Er hat es mir gesagt. Und ich bin aus allen Wolken gefallen. Peer war in den vergangenen Wochen wie immer, vielleicht ein bisschen abwesender, in sich gekehrt. Ich habe angenommen, das hinge mit seiner Arbeit zusammen. Eine Zeitlang war seine Auftragslage schwach, dann musste einer seiner direkten Wettbewerber Insolvenz anmelden. Einem freischaffenden Marketingberater rennen die Kunden momentan nicht gerade die Tür ein. Ich habe die Signale einfach falsch gedeutet. Vielleicht habe ich sie auch zu wenig wahrgenommen, ich hatte in der Kanzlei zu viel um die Ohren.«
»Aber ein Verhältnis muss nicht gleich das Ende einer Ehe bedeuten«, meinte Ariane.
»Bei dir und Lucas hat sein Verhältnis auch das Ende eurer Ehe eingeläutet.«
Sie strich über meine Hand. »Im Moment bist du verletzt, und das verstehe ich auch. Trotzdem solltest du nicht so schnell alles über Bord werfen. Warum kämpfst du nicht um ihn?«
»Du hast um deinen Mann gekämpft. Und was hat es dir gebracht? Eine fürchterliche Zeit, die dir dermaßen an die Substanz gegangen ist, dass du nur noch ein Schatten deiner selbst warst. Und letzten Endes hast du ihn doch verloren. Das will ich mir ersparen, Ariane. Außerdem hat er mir damit so wehgetan ...«
»Jemanden loszulassen, den man liebt, ist nicht einfach«, sagte sie leise. »Gibt es einen Grund, warum sie in eure Ehe einbrechen konnte?«
»Sie hat es getan, und er hat es zugelassen oder herausgefordert.«
»Habt ihr darüber geredet?«
»Darüber gibt es nichts zu reden. Oder hätte ich ihn etwa fragen sollen, was sie hat, was ich nicht habe? So eine Frage finde ich ...« Ich suchte nach dem richtigen Wort. »... erniedrigend.«
»Möglicherweise hätte er dir aber eine Antwort gegeben. Ich wünschte, ich hätte Lucas damals gefragt, vielleicht wäre dann nicht alles zerbrochen.«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Wahrscheinlich läuft es einfach nur auf das übliche Klischee hinaus - bessere Figur, aufregenderer Sex. Und so eine Antwort erspare ich mir lieber.«
Judith räusperte sich. »Sophie, so redest du nur, weil du verletzt bist. Klar gibt es jede Menge Männer, die nur deshalb fremdgehen, weil sie mal Abwechslung im Bett haben wollen. Aber Peer zählt nicht zu diesen Männern, und das weißt du auch.«
»Das entschuldigt ihn nicht.«
»Aber das könnte der Punkt sein, an dem du ansetzen solltest. In eine intakte Ehe kann man nämlich nicht so ohne weiteres einbrechen.«
»In dieser Hinsicht hast du ja Erfahrung.« Ich hatte es kaum ausgesprochen, als es mir auch schon leidtat. »Entschuldige, Judith, das wollte ich nicht.«
»Und selbst wenn«, sagte sie ungerührt, »ich bin in diese Ehen nicht eingebrochen.« Sie dachte über ihre Worte nach und musste lachen. »Es klingt, als hätte ich massenweise Verhältnisse mit verheirateten Männern gehabt. Dabei waren es nur zwei.«
»Die Männer waren werdende Väter, die Frauen waren in deinen Geburtsvorbereitungskursen. Hast du dich diesen Frauen gegenüber nie mies gefühlt?«
»Hin und wieder schon.«
»Hin und wieder, das ist alles?«
»Sophie, pack deine Moralkeule wieder ein. Es ist nicht meine Aufgabe, die Probleme dieser Menschen zu lösen, das müssen sie schon selbst tun.«
»Du bist das Problem dieser Menschen«, hielt ich ihr aufgebracht entgegen. »Wieso willst du das nicht sehen?« »Weil es nicht so ist. Ich bin der Katalysator.«
»Ich habe Krebs«, sagte Ariane.
Von einer Sekunde auf die andere war es still am Tisch. Ariane saß reglos da, nur ihre Hände bewegten sich und kneteten wieder die Kugel. In ihren Augen war Angst zu lesen.
Ich wollte aufschreien, nein sagen, aber meine Stimme versagte. Wie vom Donner gerührt starrte ich sie an. »Sag bitte, dass das nicht stimmt«, brachte ich schließlich heraus.
»Das ist nicht wahr, oder?«, fragte Judith, in deren Gesicht ich meine eigene Erschütterung gespiegelt sah.
Arianes Blick war Antwort genug. Ihre Blässe und die Ringe unter den Augen bekamen plötzlich ein anderes Gewicht. Sie presste ihre zuckenden Lippen aufeinander.
Judith nahm Arianes Hand in ihre. »Nein«, sagte sie leise, während Tränen über ihr Gesicht liefen. »Das darf nicht sein!«
Einen Moment lang war ich wie erstarrt, dann griff ich nach Arianes anderer Hand. Sie war eiskalt. Ich rieb sie, als könne ich sie damit wärmen. »Und da reden wir die ganze Zeit von mir, dabei ...« Ich schluckte. »Warum hast du nicht viel eher etwas gesagt?« Ich streichelte ihre Hand, die kaum merklich zitterte.
»Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs. Vor zwei Tagen habe ich das endgültige Ergebnis der Untersuchungen bekommen. Für eine Operation ist es zu spät, der Tumor ist bereits zu weit fortgeschritten.« Ariane gab sich Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Trotzdem klang Verzweifl ung durch. Sie war gerade mal siebenunddreißig und hatte eine achtjährige Tochter.
»Was ist mit Chemotherapie?«, fragte Judith.
»Damit beginne ich kommende Woche.«
»Wer sagt, dass es für eine Operation zu spät ist?«, fragte ich in der Hoffnung auf eine rettende Hintertür. Ich schluckte gegen ein Schluchzen an, das an die Oberfl äche drängte.
»Mein Onkologe.«
»Hast du eine zweite Meinung eingeholt?« Ich stellte die Frage, obwohl ich wusste, dass sie überfl üssig war. Ariane war nicht der Typ, der sich mit einer Meinung zufriedengab.
»Ich war bei drei Fachärzten. In meinem Fall gibt es keine zwei Meinungen, alle sind sich einig. Ich bin zu spät zum Arzt gegangen, da ich keine wirklichen Beschwerden hatte, nur Zipperlein, aber die habe ich nicht ernst genommen. Sie können nicht mehr allzu viel für mich tun, wie sie sagen.« Es schien sie ungeheure Kraft zu kosten, einigermaßen ruhig darüber zu reden. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und schloss für einen Moment die Augen. »Ich möchte etwas mit euch besprechen: Für den Fall, dass ich das nicht überlebe, muss für Svenja gesorgt sein ...« Sie wandte sich an Judith. »Du bist ihre Patentante. Ich weiß, dass ich damit viel von dir verlange, aber ich möchte, dass meine Tochter in dem Fall bei dir aufwächst. Du kennst sie von Anfang an und hast eine ganz besondere Verbindung zu ihr. Es gibt keine idealere Ersatzmutter als dich.«
Judith wischte sich die Tränen fort. Schweigend sah sie Ariane an.
»Was ist mit Lucas?«, fragte ich. »Hast du schon mit ihm gesprochen?«
»Damit will ich mir noch Zeit lassen. Er wird es früh genug erfahren. Ich habe seit der Scheidung das alleinige Sorgerecht für Svenja, wie du weißt. Wenn ich sterbe, kann er sie weiter jedes zweite Wochenende und an einem Nachmittag in der Woche sehen, mehr nicht. Dafür musst du sorgen, Sophie. Du bist Anwältin. Ich möchte, dass du eine Verfügung aufsetzt: Svenja soll nach meinem Tod bei Judith leben.«
Vor drei Jahren hatten Ariane und Lucas sich scheiden lassen. Seitdem erstickte Ariane jeden seiner Versuche, Svenja häufi ger zu sehen, im Keim. Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er sie wegen einer anderen Frau, mit der er inzwischen verheiratet war, verlassen hatte. Wann immer wir über das Scheitern ihrer Ehe gesprochen hatten, war mein Beitrag der einer Blinden über die Farbe gewesen. Inzwischen wusste ich, wie ihr Schmerz sich anfühlte. Das, was ich ihr zu sagen hatte, fiel mir deshalb nicht leicht. »Ariane, so einfach, wie du dir das vorstellst, ist eine solche Verfügung nicht. Eigentlich ist sie nach geltendem Recht sogar unmöglich. Svenja würde in jedem Fall ihrem Vater zugesprochen. Außer es sprächen wirklich triftige Gründe dagegen. Aber deine Tochter hat eine intensive und tragfähige Beziehung zu Lucas. Er ist nicht gerade die Idealbesetzung als Ehemann, aber er ist ein guter Vater.«
»Trotzdem möchte ich, dass sie bei Judith lebt«, sagte sie in einem vorwurfsvollen Ton.
»Ich bin deine Freundin, Ariane, nicht diejenige, die diese Gesetze gemacht hat.«
»Aber du fi ndest sie richtig.«
»Ich fi nde es richtig, dass die Eltern immer den Vorzug haben, vorausgesetzt, sie misshandeln ihre Kinder nicht.«
»Und vorausgesetzt, sie sind tatsächlich die Eltern. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich es bisher nie erzählt habe, ich hatte meine Gründe ...« Sie sah erst zu Judith, dann zu mir. »Lucas ist nicht Svenjas Vater. Und jetzt tu mir bitte den Gefallen, Sophie, und setze diese Verfügung auf.«
Ich hatte Verständnis dafür, dass sie es auf diese Weise versuchte, dennoch musste ich ihr klarmachen, dass sie damit nicht weit kommen würde. »Ariane, ich kann aufschreiben, was du willst, entscheidend ist jedoch, wie das Familiengericht entscheidet. Ich kann in eine solche Verfügung nicht einfach hineinschreiben, Lucas sei nicht der Vater deiner Tochter. Dein Wort genügt da nicht. Sobald Lucas einen Vaterschaftstest durchsetzt, ist die Verfügung hinfällig. So schwer es dir auch fällt, mach dich mit dem Gedanken vertraut, dass Svenja ...«
»Damit diese Frau, die schon meinen Mann hat, auch noch meine Tochter bekommt? Wie es im Moment aussieht, muss ich Svenja in nicht allzu ferner Zukunft loslassen. Und wenn ich mir vorstelle ...« Sie schüttelte den Kopf, um die beängstigenden Bilder abzuwehren.
Ich sah zu Judith, von der ich mir Unterstützung erhoffte, aber sie wich meinem Blick aus. »Ich verstehe, was du fühlst, Ariane. Inzwischen verstehe ich es sogar sehr gut. Aber Svenja hängt sehr an ihrem Vater. Wenn du einmal alles andere beiseitelässt und versuchst, allein im Sinne deiner Tochter zu entscheiden, meinst du nicht, dass es besser wäre, ...?«
»Svenja hängt an Lucas, ihren biologischen Vater kennt sie nicht.«
Ich konnte es ihr immer noch nicht glauben. »Damit kommst du nicht durch. Diese Behauptung lässt sich schnell widerlegen.«
»Es ist die Wahrheit, Sophie. Ich habe Lucas damals belogen. Sobald er einen DNA-Test durchführen lässt, bekommt er es schwarz auf weiß, dass ich ihn getäuscht habe.«
»So weit darfst du es nicht kommen lassen!« Judith beugte sich vor und sah Ariane eindringlich an. »Denk bitte in Ruhe nach, und mach dir die Konsequenzen klar. Wenn du einen Dominostein erst einmal anschubst, entsteht eine Kettenreaktion, die du nicht mehr in der Hand hast. Es bricht alles zusammen.«
»Judith hat recht«, sagte ich. »Niemand drängt dich, lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen.«
»Ich hatte Zeit genug zum Nachdenken, nächtelang. Aber vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Ich werde alles tun, was möglich ist. Ich werde für jeden einzelnen Tag kämpfen. Und ich möchte, dass ihr beide mir helft, für mein Kind zu kämpfen. Ihr seid meine besten Freundinnen.«
Und dennoch hatte sie uns nichts von Svenjas wirklichem Vater erzählt. So ganz konnte ich es immer noch nicht glauben. Vielleicht rührte meine Skepsis aber auch daher, dass ich enttäuscht war. Acht Jahre lang hatte sie geschwiegen und ihr Geheimnis für sich behalten. Ich hatte nicht einmal etwas geahnt. »Lucas ist weder krank noch Alkoholiker«, sagte ich. »Nach dem Gesetz könnte er sich also problemlos um seine Tochter kümmern. Wenn es dir jedoch so ernst damit ist, könnte ich mich mit meinen Kolleginnen in der Kanzlei beraten, vielleicht kennt eine von ihnen einen Weg, wie Svenja dennoch bei Judith aufwachsen könnte. Nur ...« Ich zögerte. »Meinst du nicht, dass es für Svenja besser wäre, zu ihrem Vater zu kommen?«
»Ich will nicht, dass sie zu Lucas kommt!«
»Aber begreif doch: Er wird es nicht ohne Widerstand hinnehmen und um Svenja kämpfen. Das Gericht hat bei allen Entscheidungen immer das Kindeswohl im Auge. Und dem Kindeswohl entspricht es, bei den Eltern oder zumindest einem Elternteil aufzuwachsen. Die Eltern werden Dritten immer vorgezogen, selbst wenn andere Personen vielleicht für die Kindererziehung geeigneter wären.« Es fiel mir schwer, in dieser Richtung fortzufahren, aber ich kannte Ariane, sie würde nicht lockerlassen. »Hast du denn noch Kontakt zu Svenjas biologischem Vater?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weiß er überhaupt, dass er eine Tochter hat?« »Nein.«
»Dann setz dich mit ihm in Verbindung und sag es ihm. Sollte ihm im Fall des Falles das Sorgerecht zugesprochen werden, kann er sich vielleicht später mit Judith absprechen.« Insgeheim fragte ich mich allerdings, wie die Chancen standen, dass er sich überhaupt um das Sorgerecht bemühen würde.
»Ich kann mich nicht mit ihm in Verbindung setzen.« »Ist er verheiratet?«
»Ich weiß es nicht, Sophie. Ich weiß überhaupt nichts über ihn.«
»Was heißt das, du weißt nichts über ihn?«
Sie wich meinem Blick aus.
»Bist du vergewaltigt worden?«, fragte ich leise.
»Nein, um Gottes willen, nein! Es ist ganz simpel: Ich habe damals ein Wochenende auf Sylt verbracht, bin mit fl üchtigen Bekannten zu einer Party gegangen und ihm dort begegnet. Es gab jede Menge Alkohol, ich hatte gerade eine schwierige Phase mit Lucas ... so kam eines zum anderen. Irgendwann landeten wir am Strand, na ja ... und so weiter.« Sie schien nicht gerne darüber zu reden.
»Weißt du wenigstens seinen Namen?«
»Weißt du von allen Männern, mit denen du jemals Sex hattest, den Namen?«
»Ja. Ich weiß sogar den Namen der Frau, mit der mein Mann Sex hat.« Ich schob den Gedanken an Peer beiseite und riss mich zusammen.
»Sein Vorname ist Andreas, mehr weiß ich nicht«, sagte Ariane.
Ich hatte keinen Blick für die schöne Ausstattung meines Zimmers. Stattdessen starrte ich durchs Fenster auf die Skyline von Frankfurt. Irgendwo dort unten traf mein Mann sich mit dieser Frau. Als er mir von ihr erzählte, hatte ich geweint wie schon lange nicht mehr. Dann hatte ich ihn aufgefordert, sich so schnell wie möglich eine neue Bleibe zu suchen. Um Abstand zu gewinnen, hatte ich beschlossen, für eine Weile zu verreisen.
Es war erst eine Woche her. Eine Woche voller Hektik und zahlreicher Gespräche in der Kanzlei. Mein Chef hatte mir die Risiken eines dreimonatigen Ausstiegs aufgezeigt. Er hatte versucht, mich umzustimmen. Zwecklos. Ich musste fort. Ich konnte nicht einfach so weitermachen, ohne Peer.
Aber jetzt? Drei Monate? Für eine Operation ist es zu spät, der Tumor ist bereits zu weit fortgeschritten, hörte ich Ariane sagen. Es war, als breiteten diese Worte eine eiskalte Decke über alles andere, als drängten sie jeden anderen Gedanken in den Hintergrund. Zu spät ... zu weit ... Ariane und Judith waren seit Kindertagen meine engsten Freundinnen. Die Vorstellung, eine von ihnen zu verlieren, tat unsagbar weh. Ich konnte Ariane nicht im Stich lassen. Ich möchte, dass ihr beide mir helft, für mein Kind zu kämpfen, hatte sie gesagt.
Ich dachte nach: Svenjas biologischer Vater hieß Andreas. Das war nicht viel für den Anfang. Mehr würden vielleicht die damaligen Gastgeber wissen. Ich nahm mir vor, Ariane später nach deren Namen zu fragen. Aber war es richtig, was wir da taten? Was bedeutete es für Svenja? Sie würde möglicherweise ihre Mutter verlieren und in dieser schweren Zeit auch noch mit einem neuen Vater konfrontiert werden. Wie sollte sie das verkraften? Andererseits: Hatte ein Kind nicht ein Recht darauf, über seine Wurzeln Bescheid zu wissen, seinen wirklichen Vater kennenzulernen?
Auf ein Klopfen hin öffnete ich meine Zimmertür. Judith und Ariane standen im Flur.
»Na los«, sagte Judith, »hol deinen Mantel, wir machen einen Waldspaziergang.«
»Kommt rein und wartet bitte zwei Minuten, ich ziehe mir nur schnell eine Jeans an.« Ich zog die Hose und einen warmen Pullover aus meiner Reisetasche und verschwand damit im Bad.
Während ich mich umzog, hörte ich die beiden im Zimmer reden. Erst war es nur ein leises Murmeln, dann wurde Arianes Stimme lauter.
»Du hast es mir versprochen«, sagte sie, als ich gerade die Tür öffnete. Sie starrte auf etwas, das Judith in der Hand hielt.
»Worum geht es?«, fragte ich neugierig.
»Ach nichts«, antwortete Ariane und warf Judith einen warnenden Blick zu.
»Für nichts hast du aber ziemlich erbost geklungen.«
Als Judith das, was sie in der Hand hielt, in die Manteltasche stecken wollte, fiel es zu Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Judith war jedoch schneller und griff danach.
»Was ist denn das Geheimnisvolles?«, fragte ich.
Widerstrebend öffnete sie die Hand. Darin lag ein kleiner goldener Engel. In seine ausgebreiteten Flügel waren glitzernde, bunte Steine gearbeitet.
»Ist der schön«, sagte ich und strich mit dem Finger darüber. »Sieht aus wie ein kleiner Schutzengel. Woher hast du ihn?«
»Von mir!« Ariane nahm ihn und steckte ihn in die Hosentasche. Ihre Stimme klang nur vordergründig verärgert. Dahinter lag eine Verstörtheit, die ich mir nicht erklären konnte. »Und jetzt lasst uns endlich gehen, sonst ist es dunkel, bevor wir im Wald sind.« Sie ging voraus und war bereits am Aufzug, als ich noch die Zimmertür hinter mir schloss.
Die frische Luft, die uns draußen empfi ng, war fast schon ein Vorbote des Frühlings. Ich sog sie ein und füllte meine Lungen damit. Doch das befreiende Gefühl, das sich sonst einstellte, blieb aus. Zu wissen, dass Ariane so schwer erkrankt war, hatte Judith und mich tief erschüttert. Wir verständigten uns mit Blicken darüber, sie das Tempo bestimmen zu lassen, um ihr jede unnötige Anstrengung zu ersparen.
Nachdem wir minutenlang unseren Gedanken nachgehangen hatten, brach es aus mir heraus: »Ariane, du kannst das nicht einfach hinnehmen!« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als mir bewusst wurde, dass eigentlich ich diejenige war, die es nicht hinnehmen konnte. In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, meinen Mund gehalten zu haben.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als es hinzunehmen.« Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Mit zwei Schritten war ich bei ihr, legte die Arme um sie und hielt sie fest. »Entschuldige, bitte entschuldige, ich bin ein Tölpel. Es ist nur so schwer zu akzeptieren.«
Ariane legte den Kopf auf meine Schulter. »Ich dachte immer, ich hätte alles im Griff, es gäbe für alles eine Lösung«, flüsterte sie. »Wäre ich gläubig, könnte ich auf den Gedanken kommen, dass wer immer dort oben die Fäden zieht, mir eine Lektion erteilen will.«
Judith strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Scht, Unsinn, niemand will dir eine Lektion erteilen. Krank¬heiten machen keinen Unterschied zwischen Guten oder Bösen. Wenn du Pech hast, erwischen sie dich.«
»Vielleicht ist mein Glückskonto voll, vielleicht ha¬be ich es überstrapaziert. Vielleicht geht es jetzt ans Be¬zahlen.«
»Das ist Blödsinn!«, sagte ich. »Bei Krebs entarten Zel¬len, da ist kein Schuldeneintreiber am Werk. Lass solche Gedanken gar nicht erst zu, sie schaden dir nur.«
Ariane löste sich aus meinen Armen. »Das sagt sich alles so einfach. Aber es gibt inzwischen eine Menge Momente, da habe ich meine Gedanken nicht mehr im Griff. Da ver¬selbständigen sie sich und bekommen eine Färbung, die mir bisher fremd war.«
»Du hast Angst«, sagte ich leise und nahm ihre Hand. »Wie noch nie in meinem Leben.«
...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sabine Kornbichler
Sabine Kornbichler, 1957 in Wiesbaden geboren, wuchs an der Nordsee auf. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Hamburg arbeitete sie mehrere Jahre als Beraterin in einer Frankfurter PR-Agentur. Sabine Kornbichler ist verheiratet und lebt und arbeitet heute als Autorin in München.Gleich ihr erster Roman, "Klaras Haus", war ein großer Erfolg, dem viele weitere folgten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Kornbichler
- 2012, 1, 336 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006974
- ISBN-13: 9783868006971
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