Damit wir uns verstehen! Mein Großvater und ich
Mit Auszügen aus den Tagebüchern Fritz Muliars
Wenn Fritz Muliar, der "alte König", die Bühne der Familie betrat, nahmen alle, auch sein Enkel Markus, die ihnen zugedachten Rollen ein. Die Beziehung zu Großvater Fritz, dem österreichischen Volksliebling und Kammerschauspieler, war von Ehrfurcht und...
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Produktinformationen zu „Damit wir uns verstehen! Mein Großvater und ich “
Klappentext zu „Damit wir uns verstehen! Mein Großvater und ich “
Wenn Fritz Muliar, der "alte König", die Bühne der Familie betrat, nahmen alle, auch sein Enkel Markus, die ihnen zugedachten Rollen ein. Die Beziehung zu Großvater Fritz, dem österreichischen Volksliebling und Kammerschauspieler, war von Ehrfurcht und Sehnsucht, von chmerzhafter Sprachlosigkeit und Distanz geprägt.Als Markus Muliar die Tagebücher seines Großvaters entdeckt, beginnt er zu verstehen, warum es so schwierig war für Fritz und seine eneration, über das Erlebte, Erlittene und Empfundene zu sprechen, und welche Folgen dieses Schweigen bis heute für die Enkelgenerationhat.Was steckte hinter den heroisierenden Erzählungen, den bagatellisierten Vorfällen und dem erstickenden Schweigen, das das Leben mit dem Großvater beherrschte?Die Einzelhaft im französischen Auxerre, die erste große Liebe im Wien der Vorkriegszeit, die Schrecken der Front - Fritz Muliar wollte sie verdrängen und vergessen. Er sonnte sich in seinen Erfolgen, die ihn in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Star machten, eine Zeit, die Markus Muliar als Kind miterlebte.In dieser einfühlsamen autobiografischen Erzählung zeigt Markus Muliar auf, wie das Verdrängte dazu führte, dass Großvater und Enkel nie zu einer emotional herzlichen Beziehung finden konnten - ein Schicksal, das viele Familien kennen.
Lese-Probe zu „Damit wir uns verstehen! Mein Großvater und ich “
Markus Muliar - Damit wir uns verstehen!I.VORHANG AUF
Die Erinnerung ist ein Produkt der Zwischenzeit.
Stefan Karner
„Fröhliche Weihnachten! Ihre Marika Rökk“
Diese Grußbotschaft war das Erste was ich sah, als ich den überdimensionierten
Schuhkarton öffnete, den mir mein Großvater
im Alter von fünfzehn Jahren mit den Worten: „Vielleicht kannst
später einmal was damit anfangen“ in die Hand gedrückt hatte.
Er war damals unbesehen in einer Ecke gelandet, um erst zwanzig
Jahre später durch Zufall wieder zum Vorschein zu kommen.
Als mir die verstaubte Schachtel, im wahrsten Sinne des Wortes
und aus dem obersten Regal des alten Vorzimmerschranks, wieder
in die Hände fiel, konnte ich mich schon gar nicht mehr an
sie erinnern. Ebenso vorsichtig wie neugierig hob ich den Deckel
an. Mir strömte leicht verstaubte Luft entgegen, die sich über viele
Jahre im Inneren der Schachtel gesammelt hatte. Mit dem feinen
Geruch von altem Papier und Druckerschwärze atmete ich
auch etwas ein, das ich vergessen geglaubt hatte. Es roch nach
meinem Großvater.
Nie werde ich den Eindruck vergessen, den der erste Anblick
der vielen vollgeschriebenen, vergilbten losen Zettel, Briefe und
Schreibblöcke, Zeile um Zeile mit seiner Handschrift gefüllt, auf
mich machte. Das Entdecken und Erforschen des Schachtelinhalts
geriet für mich, wie Alices Sturz in den Brunnen, zu einer
Reise in ein Wunderland, das ich nie erwartet hatte und das mich
als einen anderen zurückkommen ließ. Ich fiel in eine Welt, die
ich zuvor nicht zu kennen vermochte, und je mehr ich mich damit
beschäftigte, desto mehr verschlang mich die Geschichte –
meine eigene.
Meine Urgroßmutter Lea hatte vor fast hundert Jahren damit
begonnen, in dieser Schachtel Briefe, darunter auch solche meines
... mehr
Urgroßvaters, Urkunden und Fotos aus ihrem Leben und
dem meines Großvaters zu sammeln. Vor allem aber hatte sie
Briefe aufgehoben und auch Tagebucheinträge. Vorsichtig und
voller Respekt für die wunderbare Einzigartigkeit dieses Fundes
begann ich Schicht für Schicht abzutragen, arbeitete mich immer
tiefer durch Postkarten, Briefe, Dokumente, fand einen von ihm
dichtbeschriebenen Schreibblock, übertitelt mit „An Dich, Mutter“.
„Glaub mir ja keiner, der diese Zeilen liest, dass ich hier ein
Tagebuch
anlegen will, in dem ich der Umwelt all das eröffne,
was meine Seele und mein Inneres bewegt.“ Mit diesen Worten
begannen die Tagebuchaufzeichnungen meines Großvaters. Ich
betrachtete eingehend Familienfotos, Engagementabrechnungen,
Spielpläne aus dem Simpl, und dann fiel mir das erste Programm
mit Hakenkreuz in die Hände, ein KdF-Veranstaltungsprogramm
für einen „Bunten Abend“ 1940. Meine Großmutter
hatte alles gesammelt und aufgehoben, was ihren Sohn betraf.
Je weiter ich in diese Kiste voll Vergangenheit eindrang, desto
mehr eröffnete sich mir meine eigene Geschichte. Ich bekam
Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt hatte. Und wie Alice
fiel ich immer tiefer, tauchte ein in eine Welt, die ich mir niemals
vorgestellt hatte. Meine Familie hatte immer vorausgesetzt, dass
ich alles wüsste – aber niemand machte sich Gedanken darüber,
wie dieses Wissen zu mir kam. Man spielte nicht mit mir Schach,
weil ich es nicht konnte. Es wurde von mir erwartet, Dinge zu
können und zu wissen, die mir niemand beigebracht hatte. Es
wurde erwartet, dass ich mir alles selbst beibrachte. Wenn ich etwas
nicht wusste, wurde man ärgerlich. In meiner Kindheit hatte
ich das ständige Gefühl einer Holschuld, ohne zu wissen, was
es denn genau war, das ich holen sollte. Wenn man nichts weiß,
kann man auch nicht die richtigen Fragen stellen. Ich hätte mir
gewünscht, dass die älteren Generationen ihr Wissen auch unmuliar-
gefragt mit mir geteilt hätten. Ihre Erfahrungen auch ungefragt
weitergegeben hätten. Mit einem Schauspieler in der Familie gelebt
zu haben bedeutet nicht, dass man selbst schauspielern kann,
zu wissen, dass Krieg war bedeutet nicht, zu wissen, wie er sich
anfühlte und was er aus einem macht. Als Kind von jüdischen
Freunden und Bekannten umgeben gewesen zu sein heißt nicht,
dass man ihre Geschichte und Geschichten kannte. Einer der
Lieblingssätze meines Vaters war: „Meine angeborene Bescheidenheit
verbietet es mir, mit meinem Wissen zu protzen.“ Nun
wünsche ich mir, er hätte es doch getan und sein noble Zurückhaltung
weniger gepflegt – vielleicht hätte ich vieles schon früher
verstehen können, auch ihn. Ich habe meinen Vater nach seinem
Tod zu schnell vergessen, und mein Großvater gab mir als Ersatz
für Gespräche eine Kiste voller Erinnerungen, Gefühle und Gedanken.
Zwanzig Jahre lang war sie gut verstaut, erst jetzt habe
ich sie geöffnet.
Der Inhalt dieser Kiste und was er in mir auslöste war der
Beweggrund, dieses Buch schreiben zu wollen. Der Anstoß, es
auch wirklich zu tun, erfolgte schon bald darauf, als es zu einer
Begebenheit kam, die mir zeigte, dass die Zeit reif war, unsere
Geschichte aufzuschreiben. Als nämlich meine Mutter bei einem
Theaterbesuch für die Pause am Buffet Sekt und Brötchen auf
unseren Namen vorbestellt hatte und wir dort bei unserer Ankunft
im Pausenraum alles vorbereitet fanden … auf den Namen
JULIA.
Da ist etwas in mir passiert.
Den Namen Muliar hochzuhalten war oberstes Gesetz, man
redete nicht über Dinge, die einen Schatten darauf werfen hätten
können. Dass ich meinen Namen immer öfter buchstabieren
musste, daran hatte ich mich in den letzten Jahren schon
gewöhnt. Doch nun war der Bann gebrochen. Wir, die wir uns
unter diesem Namen versammelt hatten, waren Geschichte geworden.
Nun war es mir erlaubt zu erzählen, zu schreiben, zu
berichten. Es war mir erlaubt, einen Blick auf die Geschichte zu
werfen, meinen Blick. Ich konnte mir erlauben, dieses Buch zu
schreiben.
Resümieren bedeutet für mich, „etwas fassen zu wollen“. Die
Beziehung zwischen Großvater und Enkel war nicht einfach und
ich habe Fragen, die er heute nicht mehr beantworten kann – die
er aber auch im Leben nicht hätte beantworten wollen oder auch
können, wenn ich sie ihm damals schon gestellt hätte.
So bin ich gezwungen, mir meine eigene Geschichte zu machen,
selbst die Lücken zu füllen. Die einzelnen Geschichten und
Anekdoten sind interessant oder auch unterhaltsam – zum großen
Ganzen fehlt aber doch immer etwas. Dieses Buch enthält
erzählte und erlebte Geschichte und Geschichten, und auch von
ihm selbst aufgezeichnete Gedanken und Gefühle, die mir geholfen
haben zu verstehen und zu erkennen.
II. VERSCHWORENE GESELLSCHAFT
Ich bin nicht verrückt –
meine Wirklichkeit ist nur eine andere als deine.
Lewis Caroll, Alice im Wunderland
Verworren
Mit 27 Jahren bekam meine Mutter innerhalb von drei Monaten
zwei Kinder. Meine Schwester und mich.
Unsere leibliche Mutter hatte ein Jahr davor beschlossen, dass
ein Familienleben doch nicht ihren Vorstellungen entsprach und
meinen Vater mit uns beiden Kindern, damals sieben und drei
Jahre alt, sitzen gelassen. Sie hatte einen Sohn geboren, damit war
ihre Pflicht getan. Ursprünglich wollte sie, damals junge Journalistin,
durch ihre Heirat wohl ihrer strengen, reichen Familie
entkommen und eine Künstlerehe führen. Mein Vater Hans war
zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens nur ein junger Juwelier gewesen,
mit kreativer Begabung und dem Talent, Menschen für
sich einzunehmen. Doch verhalf ihm dies schon bald zu Erfolg
und er erwartete, dass sie den Platz an seiner Seite in einer Gesellschaft
einnahm, die kaufkräftige Kunden verhieß. Sie gab ihren
Beruf auf, erlernte das Goldschmiedehandwerk und brachte es
innerhalb weniger Jahre zum Meister darin. Mein Vater machte
sie zum Kompagnon in der Werkstatt und benannte das Atelier
in der Wiener Innenstadt in Doris und Hans Muliar um.
Wieder in das Korsett gesellschaftlicher Repräsentationspflichten
eingeengt zu werden, erschien ihr auf Dauer jedoch unerträglich.
„Hätte ich im Wald spazieren gehen wollen, wäre ich ein
14
Reh geworden“, meinte sie damals. Waren Arbeit und Familie für
meinen Vater eine Einheit, so empfand sie diese Vermischung als
ausgesprochen belastend und fühlte sich von ihm im Stich gelassen.
Freiheit und Selbstverwirklichung erschienen ihr ab einem
gewissen Punkt, um genau zu sein nach drei Jahren Ehe, erstrebenswerter
– ein Leben ohne Familie und Kinder verlockender.
Ich war damals zu klein, um diesen Umstand zu begreifen oder
auch zu bedauern, und bin bis zum heutigen Tag sehr glücklich
über diese Entwicklung, denn sie bescherte mir meine „wahre“
Mutter Andrea. Sie war die beste Mutter, die ich mir nur wünschen
konnte – und zweifellos eine bessere als es mir meine biologische
Mutter jemals war. Andrea ist und bleibt auch die einzige,
die ich als „Mutter“ bezeichne – obwohl ich sie bis heute beim
Vornamen nenne.
Dass Kinder nicht von ihren eigenen Eltern aufgezogen werden,
hatte in unserer Familie allerdings so etwas wie Tradition. Es
zieht sich einem roten Faden gleich durch unsere Geschichte und
verbindet uns so auf eine gewisse Art und Weise.
Meine Großmutter wohnt in einem Schloss
Von meinem Verständnis her waren nicht nur die Eltern, sondern
auch die Großeltern getrennt, denn meine Großmutter hatte
ihren Peppino und mein Großvater seine Franzi.
Meine Großmutter Gretl wohnte im Schloss Laxenburg, dem
ehemaligen Wohnsitz des unglücklichen Habsburger Kronprinzen
Rudolf und seiner Gemahlin Stephanie von Belgien, wenige
Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Wien. Ich kann mich
noch gut an unsere Ausflüge zur Großmama erinnern. Wenn
uns der Parkwächter freundlich durch das große schmiedeeiserne
Tor winkte, hatte ich als kleines Kind immer den Eindruck,
meine Großmutter wäre mindestens Schlossherrin. Ihrem Gehabe
nach hätte sie das auf jeden Fall sein müssen. Tatsächlich jedoch
gehörten die Räume der Gemeinde Laxenburg: eine dunkle
Mietwohnung im Erdgeschoß, gleich neben den ehemaligen Stalmuliar-
15
lungen gelegen, mit zwei Meter dicken Wänden, in denen früher
die Bediensteten des Schlosses untergebracht gewesen waren.
Mein Großvater hatte Gretl nach seiner Entlassung aus der
englischen Kriegsgefangenschaft in Graz kennengelernt und
Meine Großeltern Gretl und Fritz, 1944
16
recht flott geheiratet. Sie war damals eine sehr schöne junge Frau
aus gutem Hause mit schauspielerischen Ambitionen; ein altes
Postkartenfoto aus der Zeit ihres Kennenlernens zeigt Fritz und
Gretl gemeinsam auf der Bühne. Auf die Rückseite hatte sie für
ihn geschrieben: „Damit du dich an mich erinnerst wenn ich
einmal berühmt bin.“ Mein Großvater feixte schadenfroh, als er
mir die Karte zeigte, denn eine Berühmtheit wurde sie zu ihrem
unendlichen Bedauern nie. Aus ihrer ersten Ehe brachte Gretl
ihren vierjährigen Sohn Heinz mit, der uns und meinem Großvater
viele Jahre lang als „echtes“ Familienmitglied eng verbunden
blieb. Ein Jahr später kam mein Vater, „Hansi“ genannt, zur
Welt – weitere vier Jahre später betrachteten meine Großeltern
ihre Beziehung als gescheitert und ließen sich wieder scheiden.
Hansi landete bei der Mutter seines Vaters, Halbbruder Heinz
lebte ebenfalls schon bei seiner Großmutter.
Als verhinderte Schauspielerin, laut meinem Großvater in Ermangelung
von Talent, fand sie Mittel und Wege, sich im Wien
der Nachkriegszeit gebührend in Szene zu setzen und damit immer
gut durchzukommen. Sie hatte nach dem Krieg eine Fabrik
und gleichzeitig ein großes Vermögen geerbt – das sie innerhalb
relativ kurzer Zeit durchbrachte. Jede ihrer Unternehmungen
hatte einen gewissen Glamour. So lieferte sie damals, als Alkohol
Mangelware und nur mit guten Beziehungen zu haben war, in ihrem
elfenbeinfarbenen Cabrio Whiskey an noble Wiener Innenstadtlokale
wie die berühmt-berüchtigte Eden Bar und ähnliche
Etablissements aus. Später lernte sie ihren Peppino kennen, der
im Schweizer Tessin lebte, über viel Geld verfügte und meiner
Großmutter viele Jahre lang ein Leben nach ihrem Geschmack
bot. Er hatte nur einen – kleinen – Makel: Er war verheiratet und
sehr katholisch, Scheidung kam für ihn nicht in Frage. Nachdem
also eine Taube nicht in Reichweite war, nahm meine pragmatische
Großmutter Gretl den Spatz in der Hand und lebte in einer
risikobehafteten, außerehelichen Beziehung mit ihm. Ausländische
Ehebrecherinnen wie sie konnten damals wegen dieses
Vergehens noch aus der Schweiz ausgewiesen werden. Passiert
ist allerdings nie etwas und Gretl genoss die Annehmlichkeiten,
17
die Peppino ihr bieten konnte, in vollen Zügen. Die Wohnung
war prachtvoll und hoch über dem Lago Maggiore gelegen – erreichbar
war sie nur über einen Aufzug, der im Inneren des Ber-
Die schöne Gretl
18
ges nach unten führte. Man fuhr mit dem Auto hinauf auf den
Berg, wo sich eine kleine Hütte befand. Diese betrat man, um in
einen Lift einzusteigen, der ins Innere des Berges hinab führte.
Neben der riesigen Terrasse, die zur Wohnung gehörte und einen
grandiosen Panoramablick über den See und die Berge bot, gab
es auch einen Indoor-Pool, der das Schwimmen im Berg ermöglichte.
Ich kam mir vor wie in einem James Bond-Film, wenn wir
Gretl und Peppino im Sommer besuchten, um Urlaub zu machen.
Mein Vater urlaubte mit uns Kindern gemeinsam im Sommer
dort, was sich für mich dann wie viele Wochen anfühlte. Vermutlich
waren es aber nur einige wenige Tage, die wir in Gesellschaft
meiner Großmutter verbrachten. Ich wollte nie gern Zeit mit ihr
verbringen. Meine Großmutter war eine echte Salondame, die in
Gesellschaft aufblühte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden
erwartete und genoss. Anderen, und auch uns Kindern gegenüber,
zeigte sie sehr wenig Gefühl und hörte prinzipiell nie
zu. Sie war kein netter Mensch und hatte Ressentiments gegen
meine Mutter. Da sie aber konfliktscheu war und von jedem geliebt
und angehimmelt werden wollte – sogar von Leuten, die sie
selbst nicht ausstehen konnte –, versuchte sie uns Kinder zu instrumentalisieren,
um Andrea wieder loszuwerden. Dazu war ihr
jedes Mittel recht, und als ich eines Tages von einem Besuch bei
ihr nach Hause kam, fragte ich meine Mutter: „Die Omama sagt,
dass alle Stiefmütter böse sind. Stimmt das?“ Von da an musste
ich nicht mehr alleine Zeit bei ihr verbringen.
Wenn wir bei ihr waren, kamen immer Freunde vorbei, sodass
wir alles in allem sehr bewegte Tage inmitten der Schweizer
Berge verbrachten, jedoch hauptsächlich auf der Terrasse, umgeben
von Erwachsenen in Partylaune. In ihr obligates, immer gut
gefülltes Sektglas tat meine Großmutter dann immer schon vorsorglich
eine Kopfschmerztablette – vermutlich, damit sie ausgiebig
trinken konnte, ohne einen Kater zu bekommen. Bei einer
ihrer Geburtstagspartys sang ihr schwarzer Beo, dessen Voliere
sich ebenfalls mit uns allen auf der Terrasse befand, zum Amüsement
aller Anwesenden laut „La Cucaracha“ und alle sangen mit,
am lautesten meine Großmutter. Erst Jahre später kam mir einmuliar-
19
mal die Übersetzung unter und brachte mich noch einmal zum
Lachen, weil ich dabei an das Geburtstagsständchen ihres Vogels
dachte:
Die Küchenschabe, die Küchenschabe
kann nicht mehr aufrecht gehen,
denn sie hat kein, denn ihr fehlt –
Marihuana zum Rauchen.
Meine Taufe fand ebenfalls in Form einer Terrassenparty im
Tessin statt, Peppino übernahm scheinbar freudig meine Patenschaft.
Kurz vor meinem Schuleintritt beschlossen meine Eltern,
mich taufen zu lassen, um mich nicht den damals noch verbreiteten
Hänseleien, oder gar – wie es meinem Vater in der Volksschule
ergangen war – Repressalien auszusetzen. Er war wegen der
„Mischehe“ seiner Eltern (Gretl war evangelisch, mein Großvater
Fritz katholisch) in die letzte Reihe gesetzt worden. Mir sollte
nichts Derartiges wegen eines fehlenden Glaubensbekenntnisses
widerfahren können. Eigens für diesen festlichen Anlass wurde
mir ein kleiner dunkelblauer Anzug angefertigt, ein Dreiteiler.
Bei der Ankündigung des „Gilets“ brach ich in Verzweiflung aus
und weinte mir zur Belustigung aller die Augen aus dem Kopf:
„Ich will keinen Anzug aus Gelee!“
Leider konnte sich der gute, wohlhabende Peppino mit den
schicken Sportwagen nicht dazu durchringen, sie zu heiraten –
er war ja schon verheiratet – und verließ sie nach mehr als zehn
Jahren für eine Jüngere. Ich glaube, es war – recht klassisch – seine
Sekretärin. Seine Funktion als Taufpate legte er damit wohl
auch zurück, jedenfalls hörte ich nie wieder von ihm. Gretl zog
nach Wien zurück, fand eine Bleibe in Laxenburg, und erinnerte
sich daran, dass sie auch hier Familie hatte. Diese forderte sie
fortan gnadenlos ein, und so ging mein Vater einmal die Woche
mit ihr in sein Stammlokal, das „Café Korb“, mittagessen.
Er nannte es den „Muttertag“. Darüber hinaus vermied er allerdings
jeden Kontakt. Er ging prinzipiell nie selbst ans Telefon,
aus Angst, seine Mutter könnte anrufen. Unsere Videokamera an
© KREMAYR & SCHERIAU Verlag
dem meines Großvaters zu sammeln. Vor allem aber hatte sie
Briefe aufgehoben und auch Tagebucheinträge. Vorsichtig und
voller Respekt für die wunderbare Einzigartigkeit dieses Fundes
begann ich Schicht für Schicht abzutragen, arbeitete mich immer
tiefer durch Postkarten, Briefe, Dokumente, fand einen von ihm
dichtbeschriebenen Schreibblock, übertitelt mit „An Dich, Mutter“.
„Glaub mir ja keiner, der diese Zeilen liest, dass ich hier ein
Tagebuch
anlegen will, in dem ich der Umwelt all das eröffne,
was meine Seele und mein Inneres bewegt.“ Mit diesen Worten
begannen die Tagebuchaufzeichnungen meines Großvaters. Ich
betrachtete eingehend Familienfotos, Engagementabrechnungen,
Spielpläne aus dem Simpl, und dann fiel mir das erste Programm
mit Hakenkreuz in die Hände, ein KdF-Veranstaltungsprogramm
für einen „Bunten Abend“ 1940. Meine Großmutter
hatte alles gesammelt und aufgehoben, was ihren Sohn betraf.
Je weiter ich in diese Kiste voll Vergangenheit eindrang, desto
mehr eröffnete sich mir meine eigene Geschichte. Ich bekam
Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt hatte. Und wie Alice
fiel ich immer tiefer, tauchte ein in eine Welt, die ich mir niemals
vorgestellt hatte. Meine Familie hatte immer vorausgesetzt, dass
ich alles wüsste – aber niemand machte sich Gedanken darüber,
wie dieses Wissen zu mir kam. Man spielte nicht mit mir Schach,
weil ich es nicht konnte. Es wurde von mir erwartet, Dinge zu
können und zu wissen, die mir niemand beigebracht hatte. Es
wurde erwartet, dass ich mir alles selbst beibrachte. Wenn ich etwas
nicht wusste, wurde man ärgerlich. In meiner Kindheit hatte
ich das ständige Gefühl einer Holschuld, ohne zu wissen, was
es denn genau war, das ich holen sollte. Wenn man nichts weiß,
kann man auch nicht die richtigen Fragen stellen. Ich hätte mir
gewünscht, dass die älteren Generationen ihr Wissen auch unmuliar-
gefragt mit mir geteilt hätten. Ihre Erfahrungen auch ungefragt
weitergegeben hätten. Mit einem Schauspieler in der Familie gelebt
zu haben bedeutet nicht, dass man selbst schauspielern kann,
zu wissen, dass Krieg war bedeutet nicht, zu wissen, wie er sich
anfühlte und was er aus einem macht. Als Kind von jüdischen
Freunden und Bekannten umgeben gewesen zu sein heißt nicht,
dass man ihre Geschichte und Geschichten kannte. Einer der
Lieblingssätze meines Vaters war: „Meine angeborene Bescheidenheit
verbietet es mir, mit meinem Wissen zu protzen.“ Nun
wünsche ich mir, er hätte es doch getan und sein noble Zurückhaltung
weniger gepflegt – vielleicht hätte ich vieles schon früher
verstehen können, auch ihn. Ich habe meinen Vater nach seinem
Tod zu schnell vergessen, und mein Großvater gab mir als Ersatz
für Gespräche eine Kiste voller Erinnerungen, Gefühle und Gedanken.
Zwanzig Jahre lang war sie gut verstaut, erst jetzt habe
ich sie geöffnet.
Der Inhalt dieser Kiste und was er in mir auslöste war der
Beweggrund, dieses Buch schreiben zu wollen. Der Anstoß, es
auch wirklich zu tun, erfolgte schon bald darauf, als es zu einer
Begebenheit kam, die mir zeigte, dass die Zeit reif war, unsere
Geschichte aufzuschreiben. Als nämlich meine Mutter bei einem
Theaterbesuch für die Pause am Buffet Sekt und Brötchen auf
unseren Namen vorbestellt hatte und wir dort bei unserer Ankunft
im Pausenraum alles vorbereitet fanden … auf den Namen
JULIA.
Da ist etwas in mir passiert.
Den Namen Muliar hochzuhalten war oberstes Gesetz, man
redete nicht über Dinge, die einen Schatten darauf werfen hätten
können. Dass ich meinen Namen immer öfter buchstabieren
musste, daran hatte ich mich in den letzten Jahren schon
gewöhnt. Doch nun war der Bann gebrochen. Wir, die wir uns
unter diesem Namen versammelt hatten, waren Geschichte geworden.
Nun war es mir erlaubt zu erzählen, zu schreiben, zu
berichten. Es war mir erlaubt, einen Blick auf die Geschichte zu
werfen, meinen Blick. Ich konnte mir erlauben, dieses Buch zu
schreiben.
Resümieren bedeutet für mich, „etwas fassen zu wollen“. Die
Beziehung zwischen Großvater und Enkel war nicht einfach und
ich habe Fragen, die er heute nicht mehr beantworten kann – die
er aber auch im Leben nicht hätte beantworten wollen oder auch
können, wenn ich sie ihm damals schon gestellt hätte.
So bin ich gezwungen, mir meine eigene Geschichte zu machen,
selbst die Lücken zu füllen. Die einzelnen Geschichten und
Anekdoten sind interessant oder auch unterhaltsam – zum großen
Ganzen fehlt aber doch immer etwas. Dieses Buch enthält
erzählte und erlebte Geschichte und Geschichten, und auch von
ihm selbst aufgezeichnete Gedanken und Gefühle, die mir geholfen
haben zu verstehen und zu erkennen.
II. VERSCHWORENE GESELLSCHAFT
Ich bin nicht verrückt –
meine Wirklichkeit ist nur eine andere als deine.
Lewis Caroll, Alice im Wunderland
Verworren
Mit 27 Jahren bekam meine Mutter innerhalb von drei Monaten
zwei Kinder. Meine Schwester und mich.
Unsere leibliche Mutter hatte ein Jahr davor beschlossen, dass
ein Familienleben doch nicht ihren Vorstellungen entsprach und
meinen Vater mit uns beiden Kindern, damals sieben und drei
Jahre alt, sitzen gelassen. Sie hatte einen Sohn geboren, damit war
ihre Pflicht getan. Ursprünglich wollte sie, damals junge Journalistin,
durch ihre Heirat wohl ihrer strengen, reichen Familie
entkommen und eine Künstlerehe führen. Mein Vater Hans war
zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens nur ein junger Juwelier gewesen,
mit kreativer Begabung und dem Talent, Menschen für
sich einzunehmen. Doch verhalf ihm dies schon bald zu Erfolg
und er erwartete, dass sie den Platz an seiner Seite in einer Gesellschaft
einnahm, die kaufkräftige Kunden verhieß. Sie gab ihren
Beruf auf, erlernte das Goldschmiedehandwerk und brachte es
innerhalb weniger Jahre zum Meister darin. Mein Vater machte
sie zum Kompagnon in der Werkstatt und benannte das Atelier
in der Wiener Innenstadt in Doris und Hans Muliar um.
Wieder in das Korsett gesellschaftlicher Repräsentationspflichten
eingeengt zu werden, erschien ihr auf Dauer jedoch unerträglich.
„Hätte ich im Wald spazieren gehen wollen, wäre ich ein
14
Reh geworden“, meinte sie damals. Waren Arbeit und Familie für
meinen Vater eine Einheit, so empfand sie diese Vermischung als
ausgesprochen belastend und fühlte sich von ihm im Stich gelassen.
Freiheit und Selbstverwirklichung erschienen ihr ab einem
gewissen Punkt, um genau zu sein nach drei Jahren Ehe, erstrebenswerter
– ein Leben ohne Familie und Kinder verlockender.
Ich war damals zu klein, um diesen Umstand zu begreifen oder
auch zu bedauern, und bin bis zum heutigen Tag sehr glücklich
über diese Entwicklung, denn sie bescherte mir meine „wahre“
Mutter Andrea. Sie war die beste Mutter, die ich mir nur wünschen
konnte – und zweifellos eine bessere als es mir meine biologische
Mutter jemals war. Andrea ist und bleibt auch die einzige,
die ich als „Mutter“ bezeichne – obwohl ich sie bis heute beim
Vornamen nenne.
Dass Kinder nicht von ihren eigenen Eltern aufgezogen werden,
hatte in unserer Familie allerdings so etwas wie Tradition. Es
zieht sich einem roten Faden gleich durch unsere Geschichte und
verbindet uns so auf eine gewisse Art und Weise.
Meine Großmutter wohnt in einem Schloss
Von meinem Verständnis her waren nicht nur die Eltern, sondern
auch die Großeltern getrennt, denn meine Großmutter hatte
ihren Peppino und mein Großvater seine Franzi.
Meine Großmutter Gretl wohnte im Schloss Laxenburg, dem
ehemaligen Wohnsitz des unglücklichen Habsburger Kronprinzen
Rudolf und seiner Gemahlin Stephanie von Belgien, wenige
Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Wien. Ich kann mich
noch gut an unsere Ausflüge zur Großmama erinnern. Wenn
uns der Parkwächter freundlich durch das große schmiedeeiserne
Tor winkte, hatte ich als kleines Kind immer den Eindruck,
meine Großmutter wäre mindestens Schlossherrin. Ihrem Gehabe
nach hätte sie das auf jeden Fall sein müssen. Tatsächlich jedoch
gehörten die Räume der Gemeinde Laxenburg: eine dunkle
Mietwohnung im Erdgeschoß, gleich neben den ehemaligen Stalmuliar-
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lungen gelegen, mit zwei Meter dicken Wänden, in denen früher
die Bediensteten des Schlosses untergebracht gewesen waren.
Mein Großvater hatte Gretl nach seiner Entlassung aus der
englischen Kriegsgefangenschaft in Graz kennengelernt und
Meine Großeltern Gretl und Fritz, 1944
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recht flott geheiratet. Sie war damals eine sehr schöne junge Frau
aus gutem Hause mit schauspielerischen Ambitionen; ein altes
Postkartenfoto aus der Zeit ihres Kennenlernens zeigt Fritz und
Gretl gemeinsam auf der Bühne. Auf die Rückseite hatte sie für
ihn geschrieben: „Damit du dich an mich erinnerst wenn ich
einmal berühmt bin.“ Mein Großvater feixte schadenfroh, als er
mir die Karte zeigte, denn eine Berühmtheit wurde sie zu ihrem
unendlichen Bedauern nie. Aus ihrer ersten Ehe brachte Gretl
ihren vierjährigen Sohn Heinz mit, der uns und meinem Großvater
viele Jahre lang als „echtes“ Familienmitglied eng verbunden
blieb. Ein Jahr später kam mein Vater, „Hansi“ genannt, zur
Welt – weitere vier Jahre später betrachteten meine Großeltern
ihre Beziehung als gescheitert und ließen sich wieder scheiden.
Hansi landete bei der Mutter seines Vaters, Halbbruder Heinz
lebte ebenfalls schon bei seiner Großmutter.
Als verhinderte Schauspielerin, laut meinem Großvater in Ermangelung
von Talent, fand sie Mittel und Wege, sich im Wien
der Nachkriegszeit gebührend in Szene zu setzen und damit immer
gut durchzukommen. Sie hatte nach dem Krieg eine Fabrik
und gleichzeitig ein großes Vermögen geerbt – das sie innerhalb
relativ kurzer Zeit durchbrachte. Jede ihrer Unternehmungen
hatte einen gewissen Glamour. So lieferte sie damals, als Alkohol
Mangelware und nur mit guten Beziehungen zu haben war, in ihrem
elfenbeinfarbenen Cabrio Whiskey an noble Wiener Innenstadtlokale
wie die berühmt-berüchtigte Eden Bar und ähnliche
Etablissements aus. Später lernte sie ihren Peppino kennen, der
im Schweizer Tessin lebte, über viel Geld verfügte und meiner
Großmutter viele Jahre lang ein Leben nach ihrem Geschmack
bot. Er hatte nur einen – kleinen – Makel: Er war verheiratet und
sehr katholisch, Scheidung kam für ihn nicht in Frage. Nachdem
also eine Taube nicht in Reichweite war, nahm meine pragmatische
Großmutter Gretl den Spatz in der Hand und lebte in einer
risikobehafteten, außerehelichen Beziehung mit ihm. Ausländische
Ehebrecherinnen wie sie konnten damals wegen dieses
Vergehens noch aus der Schweiz ausgewiesen werden. Passiert
ist allerdings nie etwas und Gretl genoss die Annehmlichkeiten,
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die Peppino ihr bieten konnte, in vollen Zügen. Die Wohnung
war prachtvoll und hoch über dem Lago Maggiore gelegen – erreichbar
war sie nur über einen Aufzug, der im Inneren des Ber-
Die schöne Gretl
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ges nach unten führte. Man fuhr mit dem Auto hinauf auf den
Berg, wo sich eine kleine Hütte befand. Diese betrat man, um in
einen Lift einzusteigen, der ins Innere des Berges hinab führte.
Neben der riesigen Terrasse, die zur Wohnung gehörte und einen
grandiosen Panoramablick über den See und die Berge bot, gab
es auch einen Indoor-Pool, der das Schwimmen im Berg ermöglichte.
Ich kam mir vor wie in einem James Bond-Film, wenn wir
Gretl und Peppino im Sommer besuchten, um Urlaub zu machen.
Mein Vater urlaubte mit uns Kindern gemeinsam im Sommer
dort, was sich für mich dann wie viele Wochen anfühlte. Vermutlich
waren es aber nur einige wenige Tage, die wir in Gesellschaft
meiner Großmutter verbrachten. Ich wollte nie gern Zeit mit ihr
verbringen. Meine Großmutter war eine echte Salondame, die in
Gesellschaft aufblühte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden
erwartete und genoss. Anderen, und auch uns Kindern gegenüber,
zeigte sie sehr wenig Gefühl und hörte prinzipiell nie
zu. Sie war kein netter Mensch und hatte Ressentiments gegen
meine Mutter. Da sie aber konfliktscheu war und von jedem geliebt
und angehimmelt werden wollte – sogar von Leuten, die sie
selbst nicht ausstehen konnte –, versuchte sie uns Kinder zu instrumentalisieren,
um Andrea wieder loszuwerden. Dazu war ihr
jedes Mittel recht, und als ich eines Tages von einem Besuch bei
ihr nach Hause kam, fragte ich meine Mutter: „Die Omama sagt,
dass alle Stiefmütter böse sind. Stimmt das?“ Von da an musste
ich nicht mehr alleine Zeit bei ihr verbringen.
Wenn wir bei ihr waren, kamen immer Freunde vorbei, sodass
wir alles in allem sehr bewegte Tage inmitten der Schweizer
Berge verbrachten, jedoch hauptsächlich auf der Terrasse, umgeben
von Erwachsenen in Partylaune. In ihr obligates, immer gut
gefülltes Sektglas tat meine Großmutter dann immer schon vorsorglich
eine Kopfschmerztablette – vermutlich, damit sie ausgiebig
trinken konnte, ohne einen Kater zu bekommen. Bei einer
ihrer Geburtstagspartys sang ihr schwarzer Beo, dessen Voliere
sich ebenfalls mit uns allen auf der Terrasse befand, zum Amüsement
aller Anwesenden laut „La Cucaracha“ und alle sangen mit,
am lautesten meine Großmutter. Erst Jahre später kam mir einmuliar-
19
mal die Übersetzung unter und brachte mich noch einmal zum
Lachen, weil ich dabei an das Geburtstagsständchen ihres Vogels
dachte:
Die Küchenschabe, die Küchenschabe
kann nicht mehr aufrecht gehen,
denn sie hat kein, denn ihr fehlt –
Marihuana zum Rauchen.
Meine Taufe fand ebenfalls in Form einer Terrassenparty im
Tessin statt, Peppino übernahm scheinbar freudig meine Patenschaft.
Kurz vor meinem Schuleintritt beschlossen meine Eltern,
mich taufen zu lassen, um mich nicht den damals noch verbreiteten
Hänseleien, oder gar – wie es meinem Vater in der Volksschule
ergangen war – Repressalien auszusetzen. Er war wegen der
„Mischehe“ seiner Eltern (Gretl war evangelisch, mein Großvater
Fritz katholisch) in die letzte Reihe gesetzt worden. Mir sollte
nichts Derartiges wegen eines fehlenden Glaubensbekenntnisses
widerfahren können. Eigens für diesen festlichen Anlass wurde
mir ein kleiner dunkelblauer Anzug angefertigt, ein Dreiteiler.
Bei der Ankündigung des „Gilets“ brach ich in Verzweiflung aus
und weinte mir zur Belustigung aller die Augen aus dem Kopf:
„Ich will keinen Anzug aus Gelee!“
Leider konnte sich der gute, wohlhabende Peppino mit den
schicken Sportwagen nicht dazu durchringen, sie zu heiraten –
er war ja schon verheiratet – und verließ sie nach mehr als zehn
Jahren für eine Jüngere. Ich glaube, es war – recht klassisch – seine
Sekretärin. Seine Funktion als Taufpate legte er damit wohl
auch zurück, jedenfalls hörte ich nie wieder von ihm. Gretl zog
nach Wien zurück, fand eine Bleibe in Laxenburg, und erinnerte
sich daran, dass sie auch hier Familie hatte. Diese forderte sie
fortan gnadenlos ein, und so ging mein Vater einmal die Woche
mit ihr in sein Stammlokal, das „Café Korb“, mittagessen.
Er nannte es den „Muttertag“. Darüber hinaus vermied er allerdings
jeden Kontakt. Er ging prinzipiell nie selbst ans Telefon,
aus Angst, seine Mutter könnte anrufen. Unsere Videokamera an
© KREMAYR & SCHERIAU Verlag
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Autoren-Porträt von Markus Muliar
MARKUS MULIAREnkel des Burgschauspielers Fritz Muliar, geboren 1976, ist Cafetier in Wien. Nach seiner Ausbildung zum Tourismuskaufmann sammelte er Erfahrung beim Film und bereiste als Fotomodell mehrere Jahre die Welt. 2006 eröffnete er das "Café Markusplatz" in der Wiener Innenstadt, das er bis heute erfolgreich führt. 2013 brachte er eine Sammlung von Gedichten seines Großvaters als Hörbuch heraus.
Bibliographische Angaben
- Autor: Markus Muliar
- 2015, 256 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Verlag Kremayr & Scheriau
- ISBN-10: 3218009650
- ISBN-13: 9783218009652
- Erscheinungsdatum: 24.02.2015
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