Der Ameisenhaufen
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Ein Geldkoffer mit einer Million Euro verschwindet aus dem Büro des Chefs der großen österreichischen Produktionsfirma "MasterTV-Österreich". Diese Million fehlt jetzt im Budget der brandneuen Sendung „Ameisenhaufen". Aus Spargründen beschließt nun das Management, die Mitarbeiter verschiedener Abteilungen des Unternehmens müssen nun gegeneinander im „Ameisenhaufen" antreten und sich gegen einander behaupten. Der Clou: Diejenigen, auf deren Mist diese demütigenden Spiele gewachsen sind, müssen sie nun am eigenen Leib ertragen. Der „Ameisenhaufen" besteht aus fünfzig Fünfjährigen - jeder einzelne davon gnadenlos und unberechenbar. Und in der Mitte steht Jonas - jung, talentiert und Cutter von Beruf - der mit seinem Leben mehr schlecht als recht klar kommt. Im Wettstreit um den Hauptpreis, eine Million Euro, eifern mit Jonas der altruistische Aufnahmeleiter Sami, die intrigante Redaktionsleiterin Maria, der liebeshungrige Showmaster Will Wilson und der bildschöne Praktikant Fabo.
In diesem beeindruckenden Gesellschaftsroman beschreibt Vera Russwurm die tägliche Welt des Fernsehens hinter der Bühne mit all ihren Liebschaften, Intrigen und Glücksrittern, deren Träume einer großen Karriere nur zu häufig wie eine Seifenblase zerplatzen.
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Ein Geldkoffer wird aus dem Chefbüro der großen österreichischen Produktionsfirma "MasterTV-Österreich" gestohlen. Somit fehlt eine Million Euro im Budget der brandneuen Sendung "Ameisenhaufen". Das Management trifft eine höchst ungewöhnliche Sparmaßnahme: Aus verschiedenen Abteilungen wird jeweils ein Mitarbeiter bestimmt, der sich im "Ameisenhaufen" behaupten muss. Der Clou: Diejenigen, die diese demütigenden Spiele erfunden haben, müssen sie nun selber spielen. Der "Ameisenhaufen", das sind fünfzig Fünfjährige - gnadenlos und unberechenbar. Mittendrin ist Jonas - ein junger, hochtalentierter Cutter, der mit seinem Leben nicht zurechtkommt. Neben ihm buhlen der altruistische Aufnahmeleiter Sami, die intrigante Redaktionsleiterin Maria, der liebeshungrige Showmaster Will Wilson und der bildschöne Praktikant Fabo um den Hauptpreis: eine frische Million. Vera Russwurm erzählt in ihrem Gesellschaftsroman von Liebschaften, Intrigen und Glücksrittern, die in der Welt des Fernsehens ihren Träumen hinterherjagen.
1. Kapitel
GELÄNDE »MasterTV-ÖSTERREICH« AUSSEN/MORGEN
Müde schleppt sich der junge Cutter Jonas auch an diesem Freitagmorgen
in Richtung der drei großen, erdfarbenen Gebäude von
»MasterTV-Österreich«. Der Weihnachtsurlaub ist gerade vorbei,
ergo steht ihm nun eine lange, urlaubslose Zeit bevor. Der Jänner
ist regnerisch und föhnig. Die Tage sind kurz, die Herzen schwer,
Jonas muss arbeiten ...
»Hey Cobain, alles klar?« - die morgendliche Begrüßung von
Kevin, einem glatzköpfigen, vollbärtigen Redakteur mit modischer
Brille, der Jonas jovial auf die Schulter klopft. Cobain - diesen
Spitznamen hat Jonas wegen seines blonden Haares, seiner notorischen
Converse-Schuhe, wegen der Eintrittsbänder von zurück -
liegenden Rockfestivals am Handgelenk und des in verschnörkelten
Lettern tätowierten Frauennamens auf seinem Unterarm
geerntet.
Jonas murmelt: »Guten Morgen.« Normalerweise ist diese morgendliche
Begrüßungsfloskel der einzige sprachliche Austausch
zwischen den beiden, doch heute scheint Kevin größeren Redebedarf
zu haben.
»Hast du das Video schon gesehen?«, fragt Kevin aufgeregt. Er
hat wie gewöhnlich eine Fahne. Alle in der Firma wissen von
Kevins Alkoholproblem - nur er weiß nicht, dass es alle wissen.
»Irgendjemand hat den Koffer mit der Million aus dem Büro
vom Herrschler gestohlen!«
Ing. Hans Erschler, von seinen Mitarbeitern heimlich
Herrschler genannt, ist der CEO von »MasterTV-Österreich«.
»Warum hat der Herrschler eine Million Euro in seinem Büro?«,
fragt Jonas verschlafen, denn er hat noch keinen Tropfen Kaffee
intus.
»Na das Preisgeld für »Ameisenhaufen«!«, sagt Kevin. Um
Bilder für sich sprechen zu lassen, zückt er sein
phone: »Das Video ist doch heute an alle Mitarbeiter verschickt
worden.« Jonas lächelt gequält und sagt nichts. Er hat zwar auch
ein Smartphone, empfängt darauf aber keine Firmenmails. Das
hält er für übertriebenen Ehrgeiz.
»Ha, da hab' ich's!«, ruft Kevin. Zu laute Stimmen nerven Jonas,
vor allem, wenn sie völlig umsonst Überambition vorgaukeln.
Kevin hält ihm das riesige Display seines Handys unter die Nase.
›Noch zwei Zentimeter größer und es ist ein Kinoerlebnis‹, denkt
Jonas und schaut höflichkeitshalber auf den Bildschirm. Er steht
jetzt so nahe an Kevin, dass er seine leichte Alkoholfahne, die sich
mit dem Geruch von frischem Mundwasser vermischt hat, besonders
gut riechen kann. Es handelt sich um die Aufzeichnung einer
Überwachungskamera. Jonas wundert sich, dass er ausgerechnet
dieses Video nicht kennt. Üblicherweise hat er einen guten Überblick
über die halbseidenen Vorgänge in der Firma, denn er hackt
zum Zeitvertreib die Überwachungsvideos und beobachtet seine
Kollegen heimlich. Doch diese Aufnahme hat er noch nie gesehen.
Der Timecode im Bild verrät, dass das Überwachungsvideo gestern
Nacht knapp vor Mitternacht aufgezeichnet worden ist.
In schlechter Bildqualität erkennt man eine dunkel gekleidete
Gestalt, die sich mit einem schwarzen Etui in der Hand rasch
auf das Büro des CEOs Hans Erschler zubewegt. Der Unbekannte
ist durch Handschuhe, Sonnenbrille, Schal und Kappe so stark
vermummt, dass nicht einmal zu erkennen ist, ob es sich um
eine Frau oder einen Mann handelt. Vor der Bürotür des CEOs
öffnet der Maskierte das Etui und entnimmt diesem feines Werkzeug.
Damit macht er sich am Schloss von Erschlers Büro zu
schaffen.
Der Einbrecher wirkt ungeübt. Wegen seiner Handschuhe hat er
Schwierigkeiten, mit dem feinen Werkzeug umzugehen. Als er versucht,
mit einer Zange auf einen Schraubenzieher zu schlagen,
den er ins Schloss geschoben hat, trifft er immer wieder daneben.
Kurz hält der Dieb inne und lauscht. Dann werkt er weiter. Nach
einer Weile hat er das Schloss geknackt, die Tür springt auf und er
verschwindet im Büro des CEOs. Einige Augenblicke lang ist er so
aus dem Sichtfeld der Überwachungskamera verschwunden. Jonas
schaut zu Kevin. »Ein Aprilscherz im Jänner?«
Kevin schüttelt dramatisch den Kopf, bevor er mit leidgeprüfter
Miene sagt: »Die Maria hat geschrieben, dass sie schon die ersten
Polizisten gesehen hat.«
»Werden wir jetzt alle befragt, oder was?«
»Schau, es geht weiter«, ereifert sich Kevin und stiert auf den
Bildschirm. Doch man sieht nur mehr, wie der Einbrecher mit
dem Etui in der einen und einem Koffer in der anderen Hand aus
dem Büro kommt. Am Gang bleibt der Dieb dann etwa eine halbe
Minute lang stehen, blickt den Gang entlang und geht erst dann
schnellen Schrittes weiter.
»Wer, glaubst du, war's?«, fragt Kevin sensationsgeil.
»Was meinst du jetzt?«
»Alle fragen sich, wer's gewesen sein könnte. Es gibt sogar eine
Verdächtigen-WhatsApp-Gruppe.«
»Ja, ein Einbrecher halt«, sagt Jonas genervt, denn die feuchte
Kälte lässt seine Nase rinnen.
»Ja, aber es ist doch glasklar, dass es einer aus der Firma gewesen
sein muss. Nur wir wussten, dass sich dieses Geld in der
Firma befindet. Und so gut wie alle haben gestern »witzige« Kommentare
darüber geschoben, dass sie sich diesen Geldkoffer
schnappen wollen.«
Jonas hebt die rechte Augenbraue, die linke ist seit seinem
missglückten Augenbrauen-Piercing taub: »Also ich habe gedacht,
das Preisgeld würde erst kurz vorm Finale angeliefert werden. Ich
meine, wozu sollte es schon jetzt hier sein, wo wir noch nicht
einmal die erste Folge gedreht haben?«
»Na wegen des Fotoshootings. Hast du das nicht mitbekommen?
«
Jonas schüttelt langsam den Kopf, also fährt Kevin fort:
»Gestern war ja dieses zweistündige Fotoshooting mit der
neuen, scharfen Moderatorin.«
»Die findest du scharf?«
»Sie ist zumindest ein neues Gesicht, aber angeblich ist sie eine
ziemliche Zicke. Der Praktikant hat sie offenbar falsch am Telefon
gebrieft und sie ist dann bei der Probe richtig ausgezuckt.«
»Sorry, aber man kann auch nicht die Moderatorin vom Praktikanten
briefen lassen. Das geht gar nicht.«
»Stimmt«, pflichtet ihm Kevin bei und sagt schnell: »Ja, also das
Fotoshooting war jedenfalls mit ihr, ein paar von den gecasteten
Kindern und dem Koffer mit der Million Euro. Süße Kinder, sexy
Frau und fettes Geld, du weißt ja, wie die Vorberichterstattung
läuft.«
»Der Geldkoffer ist dann einfach in der Firma geblieben?«
»Der hätte eigentlich heute Früh wieder mit einem Spezialtransport
zurück in die Bank gebracht werden sollen«, erklärt Kevin,
während Jonas der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee in die
Nase steigt. Die Quelle ist ein Pappkaffeebecher, den eine Praktikantin
gerade an ihm vorbeiträgt. Um möglichst schnell weg von
dem Gespräch und zu seinem eigenen Kaffeegenuss zu kommen,
sagt Jonas bloß: »Ich hab' echt nichts davon mitbekommen.«
»Wieder ein bisschen viel gekifft, hä?«, grinst der Redakteur,
aber sein Witz kommt bei Jonas nicht besonders gut an. Als Antwort
hebt er nur die rechte Augenbraue.
Dabei versucht Kevin mit einer betont lässigen Geste sein
Handy wegzustecken. Das überdimensionale Handy passt nur
leider nicht in seine vordere Hosentasche.
»Vielleicht warst es ja du«, scherzt Jonas.
»So ein Scheiß«, lächelt Kevin, wirkt dabei aber gereizt, »ich
glaub', ich weiß, wer's war.«
»Und?«
»Also, ich will niemanden ohne einen Beweis beschuldigen«, erklärt
Kevin bedeutsam, indem er das Kinn leicht in die Höhe
streckt wie ein Mann, der Gerechtigkeit zu kennen glaubt, »daher
behalte ich meinen Verdacht lieber für mich.«
»Auch gut«, sagt Jonas, »ich muss dann eh mal rein. Ich bin
schon ein bissl spät dran. Bis dann.«
Kevins Enttäuschung bleibt dem jungen Cutter nicht verborgen.
2. Kapitel
KLEINES STUDIO »SPIEGEL MIT EI« INNEN/TAG
Sami bemerkt, dass die Moderatorin Franziska Naschhold panisch
in seine Richtung stiert. Es ist offensichtlich, dass sie sich nicht
mehr auf das Gespräch mit ihrem zweiten Gast der Morgenshow
konzentrieren kann, einem Unternehmer, zur einen Hälfte Italiener
und zur anderen Wiener, der mit einer brandneuen Technologie
Pizza-Automaten herstellt. Sami schleicht sich so nahe wie
möglich an die Moderationscouch heran. Offenbar stimmt etwas
mit dem Ton nicht, denn der Tonmann gestikuliert heftig. Im Regiekammerl
wird rasch reagiert: Schnell wird eine voraufgezeichnete
Zuspielung abgespielt. Jetzt wird die Ursache des Problems
klar: Franziskas enges Kleid ist gerissen und die Batterie vom
Mikrofon ist von ihrer Unterhose, an der es festgemacht war, in
ihre Strumpfhose gerutscht.
»Kostüm ans Set, schnell!«, gibt Sami durch sein Funkgerät an
das Team weiter. Die Moderatorin, Franziska Naschhold, wirkt
indes den Tränen nahe. Sie ist ein erfahrener alter Hase im
Geschäft und moderiert seit über zehn Jahren unterschiedlich erfolgreiche
Sendungen. Vor Kurzem hat sie wegen einer Gewichtszunahme
aber ihren jahrelangen Werbeauftrag mit einer Bio-
Joghurt-Firma verloren und ist seither verunsichert.
Eine Kostümlady hastet zusammen mit dem Tonmann auf die
Moderatorin zu. Während sie versucht, mit Sicherheitsnadeln das
Kleid von Franziska provisorisch am Rücken zusammenzuflicken,
sodass man im Sitzen die Nadeln nicht sehen kann, verkabelt der
Tonmann die Moderatorin neu. Dafür muss Franziska in ihre
Strumpfhose greifen und die Batterie herausfischen. Für die erfahrene
Franziska ist das zwar nicht unangenehm - das Wort »peinlich
« ist schon seit Jahren aus ihrem Wortschatz gestrichen -, für
den jungen Setpraktikanten Fabo, der der Kostümlady die Sicherheitsnadeln
halten soll, hingegen schon.
Der Ton schimpft über das Kostüm, sie könnten nicht einmal
Kleider richtig auswählen, das Kostüm schimpft über den Ton, sie
könnten nicht richtig verkabeln, und Sami gibt die Zeitangaben:
»Noch zehn Sekunden Leute, noch fünf Sekunden, noch vier, drei,
zwei, eins.« Und wieder sind sie auf Sendung: Noch rechtzeitig
springen Ton und Kostüm von der Moderationscouch weg.
Das Schlimmste scheint überstanden, aber Sami schaut auf die
Uhr und sieht schon das nächste Problem auf sich zukommen: Der
letzte Gast des Tages ist noch immer nicht erschienen und reagiert
auch nicht auf seine Anrufe. Es ist nicht erst einmal vorgekommen,
dass ein Gast aufgrund der frühen Stunde seinen Auftritt völlig
verschlafen hat. Also hat Sami vorsorglich einen anderen Setprak17
tikanten mit dem Produktionswagen losgeschickt, um den Gast
persönlich abzuholen. Aber auch der Praktikant ist seit über einer
Stunde verschwunden und hebt ebenfalls nicht mehr ab. Wenn der
Gast nicht allerspätestens in zwanzig Minuten in der Maske ist,
wird Sami die Moderatorin darüber informieren müssen. Während
einer weiteren Zuspielung wird er sie bitten, das aktuelle Gespräch
in die Länge zu ziehen, um den Ausfall des nächsten Gastes zu kaschieren.
Für Sami Gün, den Aufnahmeleiter der Frühstückssendung
»Spiegel mit Ei«, sind das ganz alltägliche Probleme und
nichts, was ihn weiter aus der Ruhe bringen könnte. Er ist fünfundfünfzig,
beleibt, hat mittellanges, grau meliertes Haar und
dunkelbraune Augen. Er trägt wie jeden Tag eine schwarze Hose,
die - wie jede andere seiner breiten Hosen auch - mindestens
zehn Taschen hat. Er gähnt, beißt in einen Mohnstrudel vom Frühstückstisch
und denkt an die Warnung seines Hausarztes vor
einem drohenden Diabetes. Stark Zuckerhaltiges soll er vermeiden,
kann es aber nicht. Vor allem nicht am Set, wo immer ein
ganzer Tisch voll mit salzigen und süßen Frühstücksleckereien
steht, die er im Übrigen in aller Früh immer selbst vom Bäcker abholt.
»Sami, hast du das schon gesehen?«, flüstert Linda, die Maskenbildnerin,
ihm zu. Dabei wirbelt sie mit ihrem Smartphone hin
und her: »Schau dir das Video da an!«
»Wir können jetzt doch keine Filme schauen«, flüstert Sami
zurück.
»Keine Sorge, ist eh stumm.«
Sami runzelt die Stirn und Linda spielt das Überwachungsvideo
von dem Kofferdieb ab.
»Das gibt's doch nicht!«
Leises Kichern von Linda, dann ihre Vertrauensfrage: »Wer,
glaubst du, war's?«
Sami zuckt mit den Schultern.
Linda: »Sicher einer aus der Buchhaltung.«
»Vielleicht war's auch jemand aus der Herstellungsleitung«,
sagt Sami und denkt dabei an seine Exfrau Astrid. Immerhin befindet
sich ihr Büro im selben Gang wie das des CEOs Herrschler.
Jetzt bemerkt Sami, dass ihn Linda eingehend und auf einmal
ganz ernst ansieht. Sie berührt seine Schulter:
»Ich hab' auch über ein Jahr gebraucht, um über meinen Exfreund
hinwegzukommen.«
Sami würde jetzt gerne länger reden, aber der Setpraktikant
taucht neben den beiden auf und hat den letzten Gast der Morgenshow
im Schlepptau. Mit einem Handzeichen bedeutet Sami
seinem jungen Helfer, den verschlafenen Studiogast in die Garderobe
zu führen.
»Das wird schon wieder«, flüstert Linda und erhebt sich, um für
heute Früh zum letzten Mal dicke Make-up-Schichten über Blässe
und Augenringe zu schminken. In diesem Moment erhält Sami ein
E-Mail auf seinem Smartphone, gesendet aus dem Eckbüro der
obersten Riege der Firma, vom CEO Ing. Hans Erschler persönlich.
Nach Drehschluss solle Sami das Team darüber informieren, dass
alle länger bleiben müssen, denn um fünfzehn Uhr seien sie alle
zu einem Krisenmeeting geordert. Es handle sich um den gestohlenen
Geldkoffer. Sami seufzt, er hat sich schon auf seinen Mittagsschlaf
gefreut. Da er, so wie fast das gesamte Team, für die
neue Sendung »Ameisenhaufen« arbeitet, ist dieses Meeting
höchst wichtig. Sami schickt Fabo los, um Zigaretten, abgepackte
Salate, Sandwiches und Energydrinks zu kaufen. Wenn ein Fernsehteam
von weiteren, unbezahlten Überstunden erfährt, muss
etwas für seinen Schlund bereitstehen, vorausgesetzt der Aufnahmeleiter
will weiterleben.
»Bitte, gib dem Team heute wegen des Nachmittagsmeetings
Bescheid«, sagt Astrid flüsternd dicht hinter ihm. Sami dreht sich
um. Sie ist offenbar unbemerkt und leise, um die Dreharbeiten
nicht zu stören, dicht hinter Sami getreten und hat ihm ins Ohr geflüstert.
Er inhaliert ihren vertrauten Geruch. Am liebsten würde
er sie in den Arm nehmen, stattdessen nickt er nur.
»Sonst irgendwas Schreckliches passiert?«, fragt Astrid.
»Alles gut - bis auf die Sendung«, flüstert Sami. Astrid lächelt.
»Ich muss wieder nach oben. Mein Büro ist ja im selben Gang
wie das vom Herrschler, deshalb durchsucht die Polizei gerade
jeden Winkel darin ab.«
»Ich hoffe, du hast ein Alibi«, witzelt Sami. »Und hoffentlich
kostet mich diese Polizeiaktion nicht noch mehr Zeit. Sie haben
mich eh schon eine halbe Stunde lang verhört.«
»Werde ich auch verhört?«
»Ja, ich glaube, alle werden verhört.«
»Vielleicht war's ja ich.«
»Sami, du würdest nicht einmal einen Karabiner vom Lichtdepartment
mitgehen lassen.«
»Wenn du wüsstest, was für eine kriminelle Energie in mir
steckt«, säuselt Sami scherzhaft, er will das Gespräch mit Astrid
um alles in der Welt am Laufen halten. Doch sie muss - wie immer
- weiter.
Einmal mehr spürt Sami diesen Stich. Diesen Stich, wenn
Astrid von ihm weggeht. Dabei wünscht er sie während eines Gesprächs
meistens weit fort. Irgendwohin, wo er dieses Lächeln
nicht mehr sehen muss. Kaum ist sie dann weg, wünscht er sie sich
wieder zurück. Er will sie dann an der Hand nehmen, mit ihr in
alle Bars und Lokale gehen, in denen sie gemeinsam unglücklich
gewesen sind, in denen Astrid wegen ihres Konkurses und Sami
wegen Astrid verzweifelt waren. Doch sie würden wohl nie wieder
dort sein.
Ein Glück, dass es jetzt Zeit ist, in der Garderobe Dampf zu machen.
In zehn Minuten muss der letzte Gast am Set stehen.
3. Kapitel
VORPLATZ AUSSEN/MORGEN
Ein typischer Freitagmorgen: Aus allen Gängen und Tunnel krabbelt
es hervor. Mitarbeiter strömen heraus, als hätte jemand versucht,
den Bau auszuräuchern, laufen wieder hinein, als gelte es,
sich vor einem tobenden Sturm zu schützen. Vor allem jüngere,
aber durchaus auch ältere Menschen laufen schreiend, lachend,
schimpfend und Kisten schleppend durch Haupt-, Neben- und
Notausgänge. Wüsste Jonas nicht, dass jede einzelne ihrer Handlungen
einem größeren Ganzen diente und einen Handgriff in
einem mächtigen, doch nicht immer greifbaren Universum darstellte,
hätte es den Anschein, als hätten ihre unterschiedlichen Beschäftigungen
rein gar nichts miteinander zu tun. Dieses größere
Ganze ist »MasterTV-Österreich«, eine große Fernsehproduktionsfirma
mit festen und freien Mitarbeitern. Die meisten von ihnen
müssen häufig an zwei Projekten gleichzeitig arbeiten.
Zwei uniformierte Polizisten und zwei Männer in weißen
Schutzanzügen, die wohl zur Spurensicherung gehören, verlassen
das Gebäude zwei.
›Bestimmt haben sie sich das Büro vom Herrschler genau angesehen‹,
denkt Jonas und schaut zum Fenster des dritten Stocks
vom Gebäude zwei zum Fenster des Eckbüros des CEOs. Auch
wenn Jonas keine Gestalt am Fenster ausmachen kann, hat er das
Gefühl, dass der Master von »MasterTV-Österreich« dort steht und
auf seine Mitarbeiter herabblickt.
Der CEO ist ein extremer Mensch. Gerüchte besagen, er sei in
grauer Vorzeit mit einer wesentlich älteren, reichen Frau verheiratet
gewesen, die er beerbt hätte. Ihr Tod sei ungeklärt geblieben.
Mit ihrem Geld hätte er seine eigene Produktionsfirma aufbauen
können. Danach sei er von »MasterTV-US« für ihre österreichische
Dependance »MasterTV-Österreich« als CEO eingesetzt worden.
Ob das stimmte? Keiner vermag es zu sagen. Auch das Internet
schweigt zu Herrschlers Curriculum. Sicher ist nur, dass
Herrschler tatsächlich eine kleine, eher erfolglose Produktionsfirma
besessen hat. Die wahren Gründe für seinen plötzlichen Aufstieg
durch den US-amerikanischen Fernsehkonzern liegen also im
Dunklen. Man erzählt sich vieles über Herrschler, dabei hat kaum
jemand direkt mit ihm zu tun. Er arbeitet ohne Unterlass und verlässt
nur selten sein Büro. Nicht einmal zu Neujahr kommt er
später als sieben Uhr Früh in die Firma. Jonas hat noch nie auch
nur ein einziges Wort persönlich mit Herrschler gewechselt. Vorstellungs-
oder gar Personalgespräche führt er grundsätzlich nicht
selbst. Manche vertreten sogar die Theorie, dass er Gerüchte und
Legenden über sich absichtlich verbreiten lässt, um weiterhin unangreifbar,
unbesiegt und unangefochten seine Funktion als CEO
bestreiten zu können.
4. Kapitel
VORPLATZ INNEN/MORGEN
Es ist kurz nach neun Uhr vormittags. Auch die notorischen Zuspätkommer
sind bereits in ihren Büros verschwunden. Nur Maria
Weber, die hagere Redaktionsleiterin - von Josepha heimlich »Weberknecht
« getauft -, schleicht am Gang vor den Redaktionsbüros
umher. Sie stiehlt wie jeden Vormittag aus der nunmehr verlassenen
Kaffeeecke die teuren Espresso-Kapseln. Aber genau deshalb,
weil Marias Taschen pünktlich um neun Uhr voller Espresso-
Kapseln sind, wird sie sich hüten, in Josephas Büro zu kommen -
wie sie es sonst immer ungefragt tut. Das ist gut, denn seit dem
Kofferdiebstahl fürchtet Josepha ihre Chefin besonders. Sie hat
lange genug in der Branche gearbeitet, um heftige Intrigen so gut
zu kennen wie ein Sträfling seine Zelle. Jedoch die Kühnheit dieser
neuen Gerüchte lassen sogar die Redakteurin noch staunen. Ein
Staunen, das mit der großen Furcht einhergeht, selbst in der einen
oder anderen Gesprächsrunde als Täterin genannt zu werden. Anschuldigungen
und Verdächtigungen gegen jeden nur erdenklichen
Mitarbeiter kursieren bereits. Die Hälfte davon ist natürlich
vom Weberknecht höchstpersönlich erfunden worden. Die Auswirkungen
solcher Gerüchte kennt Josepha wie keine andere, denn sie
ist nicht erst einmal Opfer mittelgroßer Mobbingaktionen gewesen.
Dass Maria weiß, dass Josepha als Minderjährige zweimal
in Jugendhaft war, trägt zu ihrer prinzipiellen Nervosität bei. Für
sie war es ein Segen, dass die Polizei heute Früh jeden einzeln vernommen
hat. So hat Josepha nicht vor ihren Kollegen preisgeben
müssen, dass ihr Strafregister nicht unbedingt ein unbeschriebenes
Blatt ist. Als die Beamten beim Verhör von ihrer Vorgeschichte
erfahren haben, wurden sie aufmerksam und haben sich
genauer in Josephas Büro umgesehen. Sie musste sogar ihre Fingerabdrücke
abgeben. Angeblich mussten Josephas Kollegen das
nicht tun, doch zumindest wurde sie nicht auf das Kommissariat
eingeladen. Dass Josepha als Eigenbrötlerin gilt, macht die
Situation auch nicht besser. Dabei weiß Josepha um ihre Schwerfälligkeit
beim Smalltalk, um ihre völlige Unfähigkeit, bei harmlosen
Späßen im richtigen Moment zu lachen und um ihre fehlende
Schlagfertigkeit.
Eigentlich ist die Fernsehredaktion der völlig falsche Ort für sie.
Viel lieber wäre sie Journalistin geworden: Ständig unterwegs zu
sein, interessante Menschen zu treffen, tiefgründige Gespräche zu
führen und sich zwischendurch sogar in Lebensgefahr zu begeben
- das wäre es gewesen! Das Schicksal hat Josepha aber nicht zu
einer Zeitung, sondern zu »MasterTV-Österreich« gespült. Sie ist
zufällig, fast ungewollt und doch geradewegs in das offene Maul
»der Branche« hineingestolpert.
Wie so häufig stehlen Nervosität und Müdigkeit Josepha die
Konzentrationsfähigkeit. Ihre seit Wochen andauernden Schlafprobleme
machen ihr zu schaffen. Also stellt sie auf ihrem Computer
ein beschwingtes Abba-Lied an, das sie auf dem Weg zur
Arbeit im Radio gehört hat und das nach einer Strophe von ihrer
Tochter Noemi weggeschaltet worden ist. Ihre Laune passt zu dem
fröhlichen Lied wie Senf auf einen Gugelhupf.
Verstohlen schleicht Josepha zum Fenster und lässt die Jalousien
herunter. Jetzt huscht die Redakteurin im Schutz der Dunkelheit
zur Tür und versperrt sie. Josepha schließt die Augen und löst
ihr Haarband. Statt des Dutts wallen nun dunkle Locken an ihren
Schultern herab. Wie von selbst bewegen sich ihre mageren Arme
zum Rhythmus der Musik, ihre schlanken Beine über den Boden,
rauscht ihr langes, lockiges Haar durch die Luft. Sie springt, dreht
eine Pirouette, noch eine, stößt sich den Fuß an und schreit auf.
Nicht einmal der Schmerz holt sie länger als fünf Sekunden aus
ihrer Trance. Der ganze Stress liegt vor ihr, ihr schwieriges Privatleben,
ihr Unmut im Job - alles ist auf einmal greifbar, doch in
diesem Moment ist sie ganz Herrin ihrer verzwickten Lage. Das
Lied endet und schon hört sie ein verdächtiges Geräusch am
Gang! Die Tür wieder entsperren und das obligatorische »MasterTV-
Österreich-Lächeln« aufsetzen! Paranoid läuft Josepha zu
ihrem Schreibtisch und würgt das zweite Lied ab, das automatisch
folgt. Auffälliges Verhalten wäre angesichts der Geldkofferaffäre
fatal.
5. Kapitel
GEBÄUDE ZWEI INNEN/MORGEN
Jonas ist mittlerweile bei der Kaffeeecke angelangt und der erste
doppelte Espresso des Tages fließt endlich in seine gelbe Smiley-
Tasse. Über der Kaffeemaschine hängt ein Plakat für die neue
Sendung »Ameisenhaufen« - das neue Format von »MasterTVÖsterreich
«, das sich zum jetzigen Zeitpunkt noch in der Vorbereitungsphase
befindet. Es ist ein österreichisches Original, wohingegen
alle anderen Formate - sogar »Spiegel mit Ei« - Ableger der
U.S.-amerikanischen Mutterfirma »MasterTV-US« sind. Jeder
weiß, dass sich Herrschler damit ein Denkmal setzen will. Es ist
gemeinhin bekannt, dass er den Ehrgeiz hat, endlich internationale
Preise einzuheimsen. »Ameisenhaufen« ist daher auch die
einzige Sendung, die dank ihres speziellen Stellenwerts dem CEO
direkt unterstellt ist, und zwar ohne einen Show-Producer dazwischen.
Es gibt zwar eine Redaktionsleitung, aber auf einen klassischen
Producer hat Herrschler verzichtet. Vor vier Monaten wurde
folgendes Konzept an Jonas und alle anderen Mitarbeiter verschickt:
AMEISENHAUFEN
Format: Weekly; Family-Game-Show
Zeit: Hauptabend
Länge: 45 Minuten
Logline: »Kinder an die Macht!«
Cast:
Moderatorin: Kokett, neues Gesicht, blond, fesch.
5 Kandidaten: Sympathisch, eher männlich und jung,
möglichst hip und modern, am besten solche, die
vorher noch nie etwas mit Kindern zu tun hatten.
5 Kindergartengruppen: Je 50 Kinder zwischen 5 und
6 Jahren, bitte auf ethnische Vielfalt achten
sowie mindestens auf ein blondes Mädchen. In
jeder Folge sollen es neue Kinder sein, außer
im Finale, dort sollen nur diejenigen auftreten,
die sich als besonders schlimm/lustig/liebenswert/
unterhaltsam herauskristallisiert haben.
Insgesamt werden also 250 Kinder benötigt. So
gibt es beim Finale für die Zuschauer ein Wiedersehen
mit ihren Lieblingsrackern.
Folgen: 6 Folgen, wobei die 6. Show die Entscheidungssendung
ist, in der zwei Finalisten gegeneinander
antreten.
Ablauf: Jeweils einer der fünf Kandidaten muss mit
einer immer gleichbleibenden Gruppe von fünfzig
Kindern, die von fünf städtischen Kindergärten
zur Verfügung gestellt werden, jeweils drei Aufgaben
erfüllen. Eine mögliche Aufgabe wäre es
beispielsweise, in fünf Minuten mit allen Kindern
einen Fruchtsalat zuzubereiten.
Die drei Aufgaben des Kandidaten werden jeweils
am Anfang der Folge von ihm selbst gezogen. Am
Ende der Folge stimmen die Kinder per Handzeichen
ab, ob sie ihren heutigen Kandidaten als Kindergärtner
haben wollen oder nicht. Es kommt aber
überhaupt erst zur Abstimmung, wenn der Kandidat
es schafft, zumindest zwei der drei Aufgaben mit
den Kindern erfolgreich zu meistern. Jene zwei
Kandidaten, die von den Kindern ins Finale gevotet
werden, treten bei der 6. Show gegeneinander
an. Schaffen es mehr als zwei Kandidaten
ins Finale, entscheiden die Kinder per Schreien
via Phonometer, welche zwei es werden sollen.
Der Sieger gewinnt eine Million Euro Preisgeld.
Unique Selling Proposition: Kinder sind gnadenlos
und genau diese Gnadenlosigkeit wollen wir erstmals
erfrischend unterhaltsam auf die Bildfläche
bringen. Dieses Mal sind es die Erwachsenen, die
die Gunst der Kinder erwerben müssen, um nicht
von eben dieser Kindermeute vor laufender Kamera
bloßgestellt zu werden.
Dieses Konzept ist von einem österreichischen Privatsender angenommen
worden und so in Vorbereitung gegangen. Herrschler hat
daraufhin eine Rede vor seinen Mitarbeitern gehalten, fast so, als
stünde der Emmy schon auf seinem Trophäenregal. Endlich
konnte er vor dem US-amerikanischen Mutterkonzern einen Erfolg
verbuchen. Obwohl Jonas Neuigkeiten in der Firma, die ihn
nicht direkt betreffen, kaum interessieren, kommt er nicht umhin,
von den neuen Entwicklungen der entstehenden Sendung Notiz
zu nehmen. Auch er weiß, dass die Kandidaten mittlerweile
gecastet sind, dass die Studiodeko bereits gebaut wird und dass
endlich genügend Kindergartengruppen zur Verfügung stehen -
auch wenn das angeblich eine Ochsentour mit dem Jugendamt gewesen
sein soll. Jemand ruf seinen Namen. Jonas dreht sich um
und sieht sich zwei Polizisten gegenüber: einem jungen, Solariumgebräunten
Beamten sowie einer etwas älteren und wohlgenährten
Beamtin.
»Sie sind Herr Gambacher?«, fragt die rundliche Polizistin.
Jonas nickt unsicher.
»Wir haben ein paar Fragen an Sie und würden uns gerne in
Ihrem Büro umsehen.«
Jonas fällt das Herz in die Hose. Auch wenn er in Rechtsdingen
nicht bewandert ist, weiß er dennoch, dass es nicht legal sein kann,
Überwachungskameras zu hacken, um zum persönlichen Zeitvertreib
seine Kollegen zu beobachten.
»Wo befindet sich denn Ihr Büro?«
Wie auf einer Hochschaubahn im Prater schlägt sein Magen vor
Nervosität einen Salto. Sachte deutet Jonas mit dem Kopf in eine
Richtung. Die Polizisten gehen voraus, er ihnen nach. Dabei
schwappt der Espresso aus Jonas' Smiley-Tasse.
»Warum sind die denn alle so nervös?«, kann Jonas den jungen
Polizisten seine ältere Kollegin leise fragen hören. Halblaut antwortet
sie:
»Wenn du einmal länger im Job bist, verstehst du das sicher.«
6. KAPITEL
BÜRO JOSEPHA INNEN/TAG
Eine hagere Gestalt mit langem, dunkelbraun gefärbtem Haar erscheint
in Josephas Büro. Es ist Maria, neununddreißig dürre Jahre
alt - natürlich ohne vorher angeklopft zu haben, denn sie ist Redaktionsleiterin
und muss das täglich beweisen. Eine, die mehr
einer Ameisenkönigin, manchmal mehr einer Spinne, konkret
einem Weberknecht mit ausgebeulten Taschen von all den gestohlenen
Espresso-Kapseln gleicht als einer Redaktionsleiterin. Sie ist
relativ weit oben in der Nahrungskette und von einer besonders
aggressiven Art: starker Paarungstrieb, grimmige Verteidigung
ihrer Position und exzessive Ausreizung ihrer Macht. Angeblich
hat sie früher als Model gearbeitet. Ihre meterlangen Beine erinnern
an diese frühere Karriere. Josephas Redaktionskollege Kevin
zum Beispiel findet Maria unendlich attraktiv und hat bereits alles
versucht, um sie ins Bett zu bekommen - erfolglos.
»Hast du da vorher aufgeschrien?«, fragt Maria vordergründig
besorgt.
»Ich hab' mir nur das Bein angestoßen. Sehr lieb, dass du extra
herkommst, um dich zu erkundigen«, antwortet Josepha mit einer
möglichst neutralen Mimik. Josepha sieht schon das Insert vor
sich, das sie bei einer Show als Einblendung am Bildschirm zu
Maria schreiben würde:
Maria Weber, liebt Klatschpresse und Gerüchte
Eine ihrer vielen Arbeitskrankheiten ist es nämlich, ihr Gegenüber
innerlich mit Inserts - also den bei Sendungen üblichen, eingeblendeten
Bauchbinden - zu beschreiben. Eine Angewohnheit,
die nach ihrem zweiten Jahr bei »MasterTV-Österreich« und etwa
fünfhundert geschriebenen Inserts nicht mehr abzulegen ist.
»Ja, das hat sich ja ganz schlimm angehört.« Maria macht eine
kurze Pause, in der Josepha hüstelt und wieder einmal nicht weiß,
was sie darauf noch sagen soll.
»Du hast Musik gehört?«, fragt der Weberknecht misstrauisch.
»Ich hab' mal in die Musik-CDs für die nächste Sendung reingehört.
«
Josepha glaubt, damit Marias nächster Frage ausweichen zu
können.
»Aber das ist doch gar nicht deine Aufgabe«, sagt Maria streng
und zugleich lächelnd, wobei sie die Zähne fletscht.
›Noch so eine Belehrung und ich verpfeif ' dich und deine Espresso-
Kapseln‹, denkt Josepha und nickt dabei ebenfalls lächelnd.
»Ich dachte, es wären ein paar gute Inputs für den Cutter, um
die Sendung etwas aufzupeppen. Wegen der mageren Quote von
»Cook your Cast« sollen wir doch jetzt verstärkt auf Kleinigkeiten
achten«, entgegnet Josepha und denkt, dass diese Antwort nach
Fleiß klingt.
»Ja, aber wie kommst du denn mit deiner Arbeit für »Ameisenhaufen
« voran? Hast du dir schon neue Aufgaben überlegt?
Vielleicht ausnahmsweise solche, die vom Jugendschutz bewilligt
werden? Es hat ja nicht jeder junge Mensch eine so niedrige
Hemmschwelle, wie du sie damals gehabt hast. Übrigens, hast du
die Polizisten, die heute da waren, eigentlich von früher gekannt?«
Da ist sie also - die tägliche Anspielung auf Josephas kriminelle
Vergangenheit. Sie schüttelt den Kopf und denkt:
›Wieso störst du mich, du blöde Kuh, geh und fröne deiner
Espresso-Kapsel-Kleptomanie ...‹
Maria unterbricht Josephas Gedankengang kalt lächelnd:
»Deinem Schweigen entnehme ich, dass du das mit den neuen
Aufgaben für »Ameisenhaufen« noch nicht erledigt hast. Du musst
das unbedingt noch fertigkriegen. Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht
harsch, aber wir müssen da echt alle zusammenhalten.«
Beim Wort »zusammenhalten« kann Josepha nur lächeln. Sie
hat sich natürlich noch keine Gedanken über die neuen, ihrer Meinung
nach allesamt schwachsinnigen Aufgaben für »Ameisenhaufen
« gemacht, und sie hat sich auch geschworen, dieser Firma
keine weitere Gehirnzellenanstrengung mehr zu schenken.
»Ich, äh -«, Josephas Magen knurrt, »ich habe an Pizza gedacht.«
Maria leckt sich die dünnen Lippen.
»Pizza?«, fragt Maria leicht spöttisch nach.
»Ja, also, wenn der Kandidat mit den Kindern eine Pizza belegen
müsste?«
Maria gähnt und blickt herablassend auf Josepha, die nervös
wird und schnell weiterspricht:
»Aber nicht irgendeine Pizza«, Josephas Fantasie nimmt Fahrt
auf, »sondern eine mit einem Schriftzug darauf. Stell dir vor, eine
riesige Pizza, auf der mit Mozzarella ›KäSE‹ geschrieben steht! Stell
dir einmal das Durcheinander vor, wenn man fünfzig Kinder dazu
koordinieren müsste und wenn ...«
»Eine Pizza, auf der mit Käse ›KäSE‹ geschrieben steht?« Maria
unterbricht Josepha in fast jeder Konversation mindestens ein30
mal. Der Weberknecht stülpt nachdenklich seine knochige Hüfte
vor.» Oder vielleicht steht es da auch mit Tomaten oder Oliven oder
Balsamico.«
»Also, der ganze Witz an der Sache ist doch, dass mit Käse
›KäSE‹ geschrieben wird, oder etwa nicht?«
»Klar, natürlich.«
»Hast du schon mit den Autoren darüber gesprochen?«
»Nein, ich wollte diese Idee zuerst mit dir besprechen, damit
die Autoren dann nicht wieder jammern, wenn sie die Idee umsonst
ausarbeiten müssen.«
»Ja, das ist rücksichtsvoll von dir. Die Idee gefällt mir. Von mir
aus geh zu den Autoren und gib ihnen den Auftrag!«
In diesem Moment geht der zwanzigjährige, gutaussehende
Fahrradbote Marcello am Gang vorbei - in Richtung Marias Büro.
Seit »Ameisenhaufen« in die Vorbereitungsphase gegangen ist,
kommt Marcello fast täglich in ihr Büro, um Unterlagen zu bringen
oder abzuholen. Es ist offensichtlich, dass sich Maria für seine
Besuche jedes Mal besonders viel Zeit nimmt.
›Ob sie ihm dann einen Espresso anbietet?‹, fragt sich Josepha
im Stillen.
»So, jetzt muss ich aber wieder«, sagt der Weberknecht in plötzlicher
Eile, dreht sich weg und fährt sich dabei prüfend durchs
Haar. In der Tür dreht sich Maria noch einmal zu Josepha um: »Sag
mal, warum sitzt du eigentlich im Dunkeln?«
»Migräne.«
Die Redaktionsleiterin ist aber schon Richtung Fahrradboten
abgerauscht. Josepha weiß, dass sie nur nachgefragt hat, um zu
zeigen, dass ihr die heruntergelassene Jalousie sehr wohl aufgefallen
ist.
Maria hat die Tür offengelassen. Diese Unart findet Josepha seit
ihrem ersten Arbeitstag ärgerlich. Also stellt sie sich zum tau31
sendsten Mal die Frage, warum sie ihr Leben von allen möglichen
Ausgängen, das es hätte nehmen können, ausgerechnet zu »MasterTV-
Österreich« führen hat müssen.
7. Kapitel
GROSSER KONFERENZRAUM INNEN/TAG
Der Konferenzraum ist bereits zum Brechen voll, als ihn Jonas betritt.
Neben seiner Cutterkollegin Lisa, die ihm einen Stuhl freigehalten
hat, findet er Platz. Rechts von der Tür ist ein Podest aufgebaut
worden, auf dem ein Tisch mit drei Stühlen steht. Auf dem
linken, etwas fragil wirkenden Plastikstuhl sitzt bereits der Personalchef.
Auf dem rechten, ebenfalls instabilen Plastikstuhl sitzt
der Chef der Buchhaltung. Nur der massive Stahlsessel in der
Mitte ist noch frei. Fast das gesamte fünfundzwanzig-köpfige
Team, das über die neuen Begebenheiten in der Causa »Ameisenhaufen
« informiert werden soll, sitzt auf Holzstühlen vor dem
Podest. SMS und E-Mails werden beantwortet, man unterhält sich,
fächelt sich Luft zu, lacht zwischendurch und dennoch ist die Atmosphäre
höchst angespannt. Aber trotz dieser Anspannung ist
Jonas erleichtert. Das Verhör hat er glimpflich überstanden. Eingangs
hat ihm die Polizei nur einige Fragen gestellt und sich in
seinem Schnittraum umgesehen. Erst als sie erfahren hat, dass er
für seine kleine Tochter regelmäßig Alimente zahlen muss, ist sie
misstrauisch geworden und hat ihn gebeten, seinen Rechner anzustellen.
Die polizeiliche Untersuchung seines Computers ist dann
aber eher oberflächlich verlaufen. Da Jonas seine gehackten Videos
in einer unscheinbaren Datei namens »unbrauchbarer Bin«
verstaut hält, haben die Polizisten diese Videofiles nur für Ausschnitte
vergangener Sendungen gehalten. Dass sie anders formatiert
waren als die übrigen eigentlichen Schnitt-Files, ist ihnen
nicht aufgefallen. Sie haben auch nicht genug Zeit gehabt, sich die
Videos alle anzusehen.
Auf einmal verstummt der gesamte Konferenzraum. Herrschler
ist eingetreten. Er lächelt kühl, setzt sich auf seinen Thron und betrachtet
die Runde.
Es bleibt kaum Raum zum Atmen. Die Luft ist dick. Der Raum
ist überheizt, die Fenster sind zu, die ersten Schweißtropfen
perlen. Der Geruch im Zimmer wird streng, die Gesichter werden
ernst, die Stimmung ist gespannt - der CEO spricht:
»Die Polizei ist gerade dabei, Spuren zu sichern. In meinem
Büro haben sie schon Fingerabdrücke gesichert. Heute Früh habe
ich außerdem am Kommissariat als Geschädigter ausgesagt. Die
Polizei hat mich darüber aufgeklärt, dass die Ermittlungen nun
mindestens vier Wochen lang weitergehen werden. Dabei werden
die Kriminalbeamten immer wieder hier sein und euch möglicherweise
nach weiteren Details fragen, sofern sie schon ein erstes
Verhör durchgeführt haben. Wie auch immer es sich darstellen
wird - seid bitte kooperativ. Die Chance, den Dieb zu finden, ist
für die Polizei aber eher gering. Leider muss ich euch mitteilen«, er
hält inne und scheint ehrlich verärgert, als er weiterspricht, »dass
das Geld wegen eines Formalfehlers nicht versichert war. Es ist
überhaupt nur deshalb in meinem Büro gelegen, weil wir es für ein
Foto-Shooting mit der neuen Moderatorin, Janina Talina, gebraucht
haben.«
›Wieso redet Klein-Cäsar immer im Plural, wenn er sich doch
nur selber meint?‹, fragt sich Jonas und blickt sich um.
Die Mitarbeiter nicken, ihre Münder bleiben stumm und
Herrschler fährt fort: »Euch allen wurde das Überwachungsvideo
zugeschickt, aber leider sieht man tatsächlich sehr wenig darauf.
Das Einzige, was wir sonst noch wissen, ist, dass der leere Koffer
selbst am Wochenende im Donaukanal gefunden worden ist.
Wenn einer von euch einen Verdacht hegen sollte, dann behaltet
ihn bitte für euch, bis er sich erhärtet hat. Wir wollen hier ja keine
Hexenjagd auslösen. Wir bitten um Zeugen, nicht aber um unhaltbare
Anschuldigungen. Falls also jemand etwas beobachtet haben
sollte oder dergleichen, kommt bitte zu uns.«
Fäuste werden geballt, Lippen geleckt, Nägel gebissen, und
das so unauffällig wie möglich. Auf Jonas wirkt es so, als wittere
jeder der anwesenden Mitarbeiter seine Chance, seinem persönlichen
Rivalen oder Gegenspieler einen Denkzettel zu verpassen.
Herrschler setzt sich in seinem Thron zurecht und legt eine künstliche
Pause ein. Jonas schaut zu seinen Kollegen, alle wirken verunsichert.
Herrschler ergreift wieder das Wort: »Natürlich werden weder
ich noch das Personalbüro jetzt Detektiv spielen, doch wenn
sich Verdachtsmomente gegen einen von euch erhärten sollten,
werden wir selbstverständlich ein Gespräch mit dieser Person in
die Wege leiten! Aber wie gesagt, bitte keine unhaltbaren Anschuldigungen.
«
8. Kapitel
VORPLATZ AUSSEN/TAG
Die leichenblasse Praktikantin - ihr ist auf dem Weg zum Meeting
auf einmal übel geworden - bekommt langsam wieder Farbe im
Gesicht. Obwohl Sami eigentlich bei der Konferenz sein sollte,
wartet er, bis sich das Mädchen wieder besser fühlt. Schluck für
Schluck trinkt sie das Cola, das ihr Sami in aller Eile besorgt hat.
Eine SMS von seinem älteren Sohn Patrick aus erster Ehe erreicht
ihn. Patrick hat ihm erst gestern mitgeteilt, dass seine Freundin ein
Kind von ihm erwartet. Sami wird also Großvater! Das Problem an
der Sache ist nur, dass Patrick noch studiert und neben dem Ingenieursstudium
nicht für eine Familie aufkommen kann. Er hat Sami
also um Unterstützung gebeten und das, obwohl er immer noch
Alimente für Gregor, seinen Sohn aus zweiter Ehe, zahlen muss.
Frische Scheidungskosten hat er auch noch zu tragen. Seinen eigenen
Vater, Mahir Gün, um Unterstützung zu bitten, kommt nicht
infrage. Obwohl sich die beiden sehr schätzen, haben sie ein
schwieriges Verhältnis zueinander. Mahir betreibt das kleine, türkische
Restaurant »Evet« in Eisenstadt. Er ist Mitte siebzig und steht
noch immer jeden Tag von früh bis spät in seinem Lokal. Letzteres
bringt gerade genug ein, um Mahir selbst über die Runden zu
bringen. »Evet« zu verkaufen und endlich in Pension zu gehen,
kommt für ihn, den Wirt aus Leidenschaft, nicht infrage. Seit dem
Tod von Samis Mutter ist das Restaurant sein Lebensinhalt.
Für Mahirs Stammklientel ist er zudem so etwas wie eine wandelnde
Lebenshilfe, die man in jeder Situation um Rat fragen
kann. Manchmal erinnert sein Ratschlag tatsächlich eher an Orakelsprüche,
die erstaunlich nah an dem dran sind, was tatsächlich
eintreten wird. Als Sami klein war, hat sein Vater einmal zu ihm gesagt:
»Sohn, du wirst ein großer Mann werden.« Damit hatte Mahir
wohl nicht Samis heutigen Köperumfang gemeint. Sami weiß, dass
es Mahirs Wunsch gewesen ist, ihn eines Tages als seinen Nachfolger
das Lokal vergrößern zu sehen, um es später an seinen eigenen
Sohn weiterzugeben, es vielleicht sogar zu einer wichtigen
Einrichtung in Eisenstadt zu machen, zu einem Lokal, das es in
jeden Reiseführer schafft. Obwohl Sami dem Wunsch seines Vaters
nicht nachgekommen ist, hat sein Vater ihm das nie offen zum
Vorwurf gemacht, dennoch weiß Sami, dass er für das Fernsehleben
die Erwartungen seines Vaters enttäuscht hat. Das macht
ihm zu schaffen. Im Gegenzug - so Samis Theorie - soll er zumindest
versuchen, in der Fernsehwelt möglichst weit zu kommen, um
dort »ein großer Mann« zu werden. Jedoch würde das bedeuten,
nicht mehr ständig am Set stehen zu können, und genau zu
diesem Schritt hat sich Sami noch nie entschließen können.
© Amalthea Signum
- Autor: Vera Russwurm
- 2016, 1. Aufl., 256 Seiten, Maße: 12,8 x 19,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Amalthea
- ISBN-10: 3990500538
- ISBN-13: 9783990500538
- Erscheinungsdatum: 07.10.2016
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