Der Beobachter
Kriminalroman. Originalausgabe
Ein Voyeur, der Frauen beobachtet.
Ein Einsamer, der in Traumwelten flüchtet.
Ein Mörder, der sadistisch tötet?
Er beobachtet das Leben fremder Frauen. Träumt sich an ihre Seite, in ihren Alltag. Aus der Ferne liebt...
Ein Einsamer, der in Traumwelten flüchtet.
Ein Mörder, der sadistisch tötet?
Er beobachtet das Leben fremder Frauen. Träumt sich an ihre Seite, in ihren Alltag. Aus der Ferne liebt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Beobachter “
Ein Voyeur, der Frauen beobachtet.
Ein Einsamer, der in Traumwelten flüchtet.
Ein Mörder, der sadistisch tötet?
Er beobachtet das Leben fremder Frauen. Träumt sich an ihre Seite, in ihren Alltag. Aus der Ferne liebt er die schöne Gillian, erfolgreiche, glücklich verheiratete Mutter. Bis er entsetzt erkennt, dass er auf eine Fassade hereingefallen ist. Dann schreckt eine Mordserie London auf.
Ein Einsamer, der in Traumwelten flüchtet.
Ein Mörder, der sadistisch tötet?
Er beobachtet das Leben fremder Frauen. Träumt sich an ihre Seite, in ihren Alltag. Aus der Ferne liebt er die schöne Gillian, erfolgreiche, glücklich verheiratete Mutter. Bis er entsetzt erkennt, dass er auf eine Fassade hereingefallen ist. Dann schreckt eine Mordserie London auf.
Klappentext zu „Der Beobachter “
Er beobachtet das Leben wildfremder Frauen. Träumt sich an ihre Seite, in ihren Alltag. Identifiziert sich mit ihnen und will alles von ihnen wissen. Als Beobachter. Auf der Flucht vor seinem eigenen Dasein, das aus Misserfolgen besteht. Nur aus der Ferne liebt er die schöne Gillian Ward. Die beruflich erfolgreiche Frau, glücklich verheiratet, Mutter einer reizenden Tochter, wird von ihm über die Maßen idealisiert. Bis er zu seinem Entsetzen erkennt, dass er auf eine Fassade hereingefallen ist. Denn nichts ist so, wie es scheint. Gleichzeitig schreckt eine Mordserie die Menschen in London auf. Die Opfer: alleinstehende Frauen. Auf eine rachsüchtige, sadistische Weise umgebracht. Die Polizei sucht einen Psychopathen. Einen Mann, der Frauen hasst.Lese-Probe zu „Der Beobachter “
Der Beobachter von Charlotte LinkPROLOG
... mehr
Er fragte sich, ob seine Frau wohl schon etwas gemerkt hatte ... Manchmal sah sie ihn so seltsam an. Misstrauisch. Forschend. Sie sagte nichts, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht sehr genau beobachtete. Und sich ihre Gedanken machte.
Sie hatten im April geheiratet, jetzt war September, und sie befanden sich noch in der Phase, in der man vorsichtig miteinander umging und versuchte, die eigenen Macken nicht allzu deutlich zu offenbaren. Dennoch war ihm jetzt schon klar, dass sich seine Frau irgendwann als Nörglerin entpuppen würde. Sie war nicht der Typ, der lautstark stritt, mit Tellern um sich warf oder gar damit drohte, ihn aus dem Haus zu schmeißen. Sie war der Typ, der leise und unaufhörlich und nervenzersetzend lamentierte.
Aber noch beherrschte sie sich. Versuchte, ihm alles recht zu machen. Sie kochte das Essen, das er mochte, stellte das Bier rechtzeitig in den Kühlschrank, bügelte seine Hosen und Hemden und sah sich mit ihm zusammen die Sportsendungen im Fernsehen an, obwohl sie eigentlich auf Liebesfilme stand.
Und dabei belauerte sie ihn. Das glaubte er jedenfalls zu spüren.
Sie hatte ihn geheiratet, weil sie nicht ohne Mann sein konnte, weil sie sich umsorgt, beschützt und aufgehoben fühlen musste. Er hatte sie geheiratet, weil er kurz davor gestanden hatte, ins Abseits zu kippen. Kein fester Job, wenig Geld. Irgendwann würde er den Halt verlieren, das hatte er gespürt. Er hatte bereits begonnen, zu viel zu trinken. Noch schaffte er es, die eine oder andere Gelegenheitsarbeit zu ergattern und von dem Lohn die Miete der trostlosen Wohnung zu bezahlen, in der er lebte. Aber sein Lebensmut sank. Er sah keine Perspektive mehr.
Und dann war Lucy gekommen und mit ihr die kleine Fahrradwerkstatt, die sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, und er hatte zugegriffen. Er hatte immer einen Blick für Chancen gehabt, und er war stolz, kein Mensch zu sein, der lange zögerte.
Jetzt war er verheiratet. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Er hatte Arbeit.
Sein Leben funktionierte wieder.
Und nun das. Diese Gefühle, diese Besessenheit, die Unfähigkeit, an etwas anderes zu denken. An etwas anderes als an sie.
Obwohl er das im Grunde vorher gewusst hatte. Und sie war nicht Lucy.
Sie war blond. Nicht schlecht gefärbt wie Lucy, die schon hier und da graue Haare bekam, sondern echt blond. Die Haare reichten ihr bis zur Taille hinunter und schimmerten in der Sonne wie ein Tuch aus goldfarbener Seide. Sie hatte blaugrüne Augen: Je nachdem, wie hell es draußen war, aber auch abhängig von den Farben ihrer Kleidung oder des Hintergrundes, vor dem sie sich bewegte, schienen sie manchmal blau zu sein wie Vergissmeinnicht oder grün wie ein tiefer See. Dieses intensive Farbenspiel ihrer Augen faszinierte ihn. Er hatte so etwas vorher noch bei niemandem wahrgenommen.
Er mochte auch ihre Hände. Sie waren sehr feingliedrig, sehr schmal. Lange, schlanke Finger.
Er mochte ihre Beine. Zart. Fast zerbrechlich. Alles an ihr war so. Wie aus einem ganz feinen, hellen Holz geschnitzt, von jemandem, der sich viel Zeit genommen, der sich große Mühe gegeben hatte. Nichts an ihr war plump, dick oder grob. Sie war die vollendete Anmut.
Wenn er an sie dachte, brach ihm der Schweiß aus. Wenn er sie sah, konnte er den Blick nicht mehr abwenden, und das war es wahrscheinlich auch, was Lucy aufgefallen war. Er versuchte, am Hoftor zu stehen, wenn sie die Straße hinunterkam. Meistens probierte er irgendein gerade repariertes Fahrrad auf dem Gehweg aus, um einen Vorwand zu haben, sich dort herumzutreiben. Er liebte ihre Bewegungen. Diese federnden Schritte. Sie trippelte nicht, sie schritt weit aus. Es war so viel Kraft in allem, was sie tat. Ob sie lief oder redete oder lachte: ja, unbändige Kraft. Energie.
Schönheit. Ein solches Übermaß an Schönheit und Vollkommenheit, dass er es manchmal fast nicht zu glauben wagte.
War es Liebe, was er empfand? Es musste Liebe sein, nicht bloß Gier, Erregung, all das, was dazugehörte, was aber nur deshalb entstehen konnte, weil er sie liebte. Die Liebe war der Anfang, der Boden, auf dem die Sehnsucht gedieh. Diese Sehnsucht, die er für Lucy nicht aufbrachte. Lucy war eine Notlösung gewesen, und zwar eine, die er nicht aufgeben konnte, weil jenseits von Lucy nach wie vor der soziale Absturz drohte. Lucy stellte eine bittere Notwendigkeit dar. In bittere Notwendigkeiten musste man sich fügen, manchmal verlangte das Leben es so. Er hatte längst gelernt, dass es nichts brachte, sich dagegen zu wehren.
Und dennoch war alles in ihm Auflehnung. Auflehnung und dazwischen immer wieder niederschmetternde Hoffnungslosigkeit. Denn welche Chance hatte er? Er war kein attraktiver Mann, das sah er ohne jede Illusion. Früher ja, aber heute ... Den dicken Bauch verdankte er seiner Vorliebe für Bier und fettes Essen. Er hatte schlaffe, aufgeschwemmte Gesichtszüge. Er war achtundvierzig Jahre alt und sah zehn Jahre älter aus, besonders dann, wenn er abends zu viel getrunken hatte, und leider schaffte er es nicht, damit aufzuhören. Er müsste Sport treiben und mehr Gemüse essen, dazu Wasser oder Tee trinken, aber Herrgott noch mal, wenn man dreißig Jahre lang anders gelebt hatte, dann ging das nicht so einfach mit der Umgewöhnung. Er fragte sich, ob ihn diese Elfe, diese Fee, dieses wunderbare Wesen trotzdem würde lieben können. Trotz Bauch und Tränensäcken und obwohl er bei der kleinsten Anstrengung keuchte und schwitzte. Er hatte innere Werte, und vielleicht würde es ihm gelingen, ihr diese zu vermitteln. Denn er hatte längst begriffen, dass er nicht auf sie würde verzichten können. Trotz Lucy und ihrer Eifersucht und trotz des Risikos, das er einging.
Er war ein achtundvierzigjähriger Fettsack mit einem Körper und einer Seele, die in Flammen standen.
Das Problem war: Sie, die Fee, das Wesen, nach dem er sich Tag und Nacht verzehrte, war so viel jünger. So sehr viel jünger.
Sie war neun.
SAMSTAG, 31. OKTOBER 2009
Es gelang Liza, den Ort der Veranstaltung ungesehen zu verlassen, als der Sohn des Jubilars zu einer Rede ansetzte. Er hatte mehrfach mit einer Gabel gegen sein Glas geschlagen, und endlich hatten die rund einhundert geladenen Gäste begriffen. Das Reden und Lachen, das den Raum mit einem Dröhnen zu erfüllen schien, war verstummt, und alle Blicke wandten sich dem nervösen Mann zu, der in diesem Moment nichts so sehr zu bereuen schien wie seinen Entschluss, dem Vater zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag eine Laudatio zu halten.
Ein paar Männer witzelten, weil der Redner abwechselnd rot und blass wurde und sich dann so verhaspelte, dass er dreimal neu ansetzen musste, ehe er wirklich beginnen konnte. Auf jeden Fall zog er mit seinem ungekonnten Auftritt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
Der Moment konnte günstiger nicht sein.
Liza hatte sich während der letzten Viertelstunde bereits in die Nähe des Ausgangs vorgearbeitet, und so hatte sie nun nur noch zwei Schritte zu gehen, ehe sie draußen war. Sie schloss die schwere Tür hinter sich, lehnte sich für einen Moment tief atmend gegen die Wand. Wie ruhig es hier draußen war. Wie kühl! Der Raum hatte sich durch die vielen Menschen unnatürlich aufgeheizt. Obwohl sie den Eindruck gehabt hatte, dass niemand so sehr unter der Hitze litt wie sie.
Aber überhaupt schien jeder den Abend aus tiefstem Herzen zu genießen. Schöne Kleider, Schmuck, Parfüm, ausgelassenes Lachen. Und sie inmitten des Geschehens und doch getrennt von allen anderen wie durch eine unsichtbare Wand. Sie hatte mechanisch gelächelt, hatte geantwortet, wenn sie etwas gefragt wurde, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt und von ihrem Champagner getrunken, aber die ganze Zeit war sie wie betäubt gewesen, hatte das Gefühl gehabt, zu funktionieren wie eine Marionette, die an Fäden hing und von irgendjemandem geführt wurde, ohne zu einer einzigen eigenständigen Bewegung fähig zu sein. Und genau so war es eigentlich seit Jahren: Sie lebte nicht mehr nach ihrem eigenen Willen. Wenn man das, was sie tat, überhaupt noch leben nennen konnte.
Eine junge Angestellte des eleganten Kensington-Hotels, in dem der Geburtstag standesgemäß gefeiert wurde, kam vorbei und verharrte einen Moment, unschlüssig, ob die an der Wand lehnende Frau vielleicht Hilfe brauchte. Liza vermutete, dass sie ziemlich mitgenommen wirkte, jedenfalls dann, wenn sie auch nur ungefähr so aussah, wie sie sich fühlte. Sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Angestellte.
Sie nickte. »Ja. Es ist nur ... es ist ziemlich heiß da drinnen!« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür. Die junge Frau sah sie mitleidig an, ging dann weiter. Liza begriff, dass sie unbedingt die Toilette aufsuchen und sich herrichten musste. So, wie die gerade geschaut hatte, schien sie ziemlich derangiert auszusehen.
Der marmorgeflieste Raum empfing sie mit sanftem Licht und einer leisen, beruhigenden Musik, die aus verborgenen Lautsprechern erklang. Sie hatte Angst gehabt, jemandem zu begegnen, aber offensichtlich war sie allein. Auch in den Toilettenkabinen schien sich niemand aufzuhalten. Aber bei allein hundert Geladenen auf der Geburtstagsfeier und jeder Menge zusätzlicher Gäste, die sich im Hotel aufhielten, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein, das war Liza klar. Jede Sekunde konnte jemand hereinkommen. Ihr blieb nicht viel Zeit.
Sie stützte sich auf eines der luxuriösen Waschbecken und schaute in den hohen Spiegel darüber.
Wie so häufig, wenn sie in einen Spiegel blickte, hatte sie den Eindruck, die Frau nicht zu kennen, die sie sah. Auch dann, wenn sie nicht so gestresst wirkte wie jetzt. Ihre schönen hellblonden Haare, die sie zu Beginn des Abends aufgesteckt hatte, hingen inzwischen wirr an den Seiten hinunter. Ihr Lippenstift klebte wahrscheinlich am Rand ihres Champagnerglases, jedenfalls war nichts mehr davon auf ihrem Mund zu sehen, was ihre Lippen sehr bleich machte. Sie hatte stark geschwitzt. Ihre Nase glänzte, und ihr Make-up war verschmiert.
Sie hatte es gespürt. Geahnt. Deshalb hatte sie seit zwanzig Minuten nichts so sehr ersehnt, wie diesen furchtbaren Raum mit den erstickend vielen Menschen darin verlassen zu können. Sie musste sich jetzt schnell wieder in Form bringen, und dann musste sie versuchen, irgendwie diesen Abend zu überstehen. Er konnte nicht ewig dauern. Der Champagnerempfang war praktisch vorüber. Als Nächstes würde das Buffet eröffnet werden. Gott sei Dank, das war besser als ein gesetztes Essen mit fünf Gängen, das sich über Stunden hinziehen konnte und bei dem jeder, der sich zwischendurch abseilte, sofort auffiel - zumindest seinen beiden Tischnachbarn. Ein Buffet erlaubte viel mehr Möglichkeiten des raschen, diskreten Aufbruchs.
Sie stellte ihre Handtasche vor sich auf die Marmorplatte, nestelte nervös und ungeschickt am Verschluss herum, schaffte es schließlich, Make-up -Tube und Puderdose herauszuangeln. Wenn nur ihre Hände nicht so zitterten! Sie musste aufpassen, dass sie nicht ihr Kleid bekleckerte. Das wäre dann der Höhepunkt dieses furchtbaren Abends und genau das, was ihr noch gefehlt hatte.
Während sie versuchte, die Puderdose zu öffnen, was ihr nicht gelingen wollte, fing sie plötzlich an zu weinen. Es geschah ziemlich unspektakulär: Die Tränen kullerten einfach aus ihren Augen, und sie konnte nichts dagegen machen. Entsetzt hob sie den Kopf, sah dieses fremde Gesicht an, das sich nun auch noch in ein verheultes Gesicht verwandelte. Was das Drama perfekt machte. Wie sollte sie in den Saal zurückkehren mit dicken, roten, verschwollenen Augen?
Fast panisch riss sie ein ganzes Bündel seidenweicher Kosmetiktücher aus dem silbernen Behälter an der Wand und versuchte, die Flut zu stoppen. Aber es hatte beinahe den Anschein, als werde es dadurch, dass sie es zu verhindern suchte, nur heftiger. Ihre Augen liefen einfach über.
Ich muss nach Hause, dachte sie, es hat keinen Sinn, ich muss hier weg!
Und als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, vernahm sie nun auch noch hinter sich ein Geräusch. Die Tür, die zum Gang führte, wurde geöffnet. Spitze Absätze klapperten auf dem Marmor. Schemenhaft, verschwommen durch den Tränenschleier, nahm Liza eine Gestalt hinter sich wahr, eine Frau, die den Raum in Richtung der Toiletten durchquerte. Sie presste die Kosmetiktücher gegen ihr Gesicht und versuchte den Anschein zu wecken, als putze sie sich die Nase.
Beeil dich, dachte sie, verschwinde!
Die Schritte hielten plötzlich inne. Einen kurzen Augenblick lang herrschte völlige Stille in dem Raum. Dann drehte die Fremde sich um und kam auf Liza zu. Eine Hand legte sich auf ihre leise bebende Schulter. Sie hob den Blick und sah die andere hinter sich im Spiegel. Ein besorgtes Gesicht. Fragende Augen. Sie kannte die Frau nicht, aber nach ihrer Garderobe zu schließen, gehörte sie ebenfalls zu der Geburtstagsgesellschaft.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ...«
Die Freundlichkeit, die Sorge, die aus der ruhigen Stimme sprach, waren mehr, als Liza ertragen konnte. Sie ließ die Tücher sinken.
Dann ergab sie sich ihrem Schmerz und versuchte nicht mehr, den Strom ihrer Tränen aufzuhalten.
SONNTAG, 22. NOVEMBER
Es war am späteren Sonntagabend, als Carla die Eigentümlichkeit des Aufzuges und der Aufzugtüren bewusst wahrnahm. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lange zu leben, aber ihre Vorstellungskraft hätte nicht ausgereicht, sich auszumalen, was ihr in dieser Nacht passieren würde.
Sie saß in ihrer Wohnung, etwas verwundert, denn sie hatte plötzlich den sicheren Eindruck, dass es schon seit einigen Tagen so ging: Der Fahrstuhl kam bis zu ihr hinauf in den achten Stock gefahren, hielt an, die Türen öffneten sich automatisch, aber dann passierte nichts weiter. Niemand stieg aus, denn dann hätte sie die Schritte im Gang hören müssen. Es stieg aber offensichtlich auch niemand ein, denn dann hätte man zuvor Schritte gehört. Sie war aber sicher, dass da keine gewesen waren. Sie hätte sie sonst auf irgendeiner Ebene ihres Bewusstseins realisiert. Dieses Haus verschluckte kaum Geräusche. Ein Hochhaus aus den Siebzigerjahren, ein ziemlich schmuckloser Kasten mit langen Gängen im Inneren und einer Vielzahl an Wohnungen. In den größeren wohnten Familien mit Kindern, in etlichen kleineren Wohnungen lebten Singles, die ganz in ihren Berufen aufgingen und praktisch nie zu Hause waren. Hackney gehörte zu den ärmeren Stadtteilen Londons, aber die Gegend, in der Carla wohnte, war nicht allzu schlecht.
Sie überlegte, wann genau sie erstmals den Aufzug hatte ankommen hören, ohne dass jemand ausstieg. Natürlich kam das manchmal vor, war von Anfang an vorgekommen. Es musste nur jemand auf die falsche Taste drücken, seinen Irrtum bemerken und doch früher aussteigen, dann fuhr der Fahrstuhl dennoch bis nach ganz oben, öffnete seine Türen, schloss sie dann wieder und wartete, bis er in ein anderes Stockwerk gerufen wurde. Aber in der letzten Zeit hatte es sich gehäuft. Ungewöhnlich gehäuft.
Vielleicht seit einer Woche? Vielleicht seit vierzehn Tagen? Sie schaltete den Fernseher aus, die Talkshow, die gerade lief, interessierte sie ohnehin nicht.
Sie ging zur Wohnungstür, schloss auf, öffnete sie. Betätigte den Lichtschalter gleich neben der Klingel und tauchte damit den Gang in ein grelles, weißes Licht. Wer hatte hier nur diese Lampen eingebaut? Man hatte die Gesichtsfarbe einer Leiche in ihrem Schein.
Sie blickte den langen, stillen Gang entlang. Nichts und niemand war zu sehen. Die Aufzugtüren hatten sich wieder geschlossen.
Vielleicht irgendein Scherzkeks. Irgendein Halbwüchsiger, der hier im Haus wohnte und grundsätzlich auf die Acht drückte, ehe er ausstieg. Was er davon hatte, war Carla allerdings schleierhaft. Aber vieles von dem, was Menschen bewegte, was Menschen taten oder anstrebten, war ihr schleierhaft. Am Ende, dachte sie mitunter, befand sie sich doch schon ein ziemlich großes Stück außerhalb der Gesellschaft. Allein, verlassen und seit fünf Jahren in Rente. Wenn man morgens allein aufstand und allein frühstückte, den Tag lesend oder fernsehend in einer kleinen Wohnung verbrachte und sich nur gelegentlich zu einem Spaziergang aufraffte, abends wieder allein aß und dann erneut vor dem Fernseher saß, dann entfernte man sich aus der Normalität. Man verlor den Kontakt zu den Menschen, deren Alltag aus Beruf, Kollegen, Ehepartnern, Kindern und allen damit verbundenen Sorgen, Anstrengungen und natürlich auch Freuden bestand. Womöglich wirkte sie auf andere schon viel wunderlicher, als ihr das selbst klar war. Sie schloss die Wohnungstür wieder, lehnte sich von innen dagegen, atmete tief. Als sie in das Hochhaus eingezogen war - eines der wenigen in Hackney, wo es sonst eher viktorianische, größtenteils ziemlich heruntergekommene Bauten gab -, hatte sie zunächst geglaubt, hier werde alles besser. Sie hatte gehofft, sich in einem Haus voller Menschen weniger einsam zu fühlen, aber nun war das Gegenteil der Fall. Jeder hier strampelte sich durch seinen Alltag, keiner schien den anderen wirklich zu kennen, man lebte in größtmöglicher Anonymität. Einige Wohnungen standen zudem leer. Oben, im achten Stock, wohnte seit einiger Zeit außer Carla überhaupt niemand mehr.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück, überlegte, ob sie den Fernseher wieder einschalten sollte. Sie unterließ es, schenkte sich stattdessen noch etwas Wein nach. Sie trank jeden Abend, aber sie hatte sich selbst die Regel auferlegt, es nie vor acht Uhr zu tun. Bislang glückte es ihr, sich daran zu halten.
Sie zuckte zusammen, als sie das Geräusch des Aufzuges wieder vernahm. Er fuhr nach unten. Jemand hatte ihn offenbar herangerufen. Das war immerhin ein Zeichen von Normalität. Menschen im Haus kamen und gingen. Sie war nicht allein.
Vielleicht sollte ich mir aber doch eine andere Wohnung suchen, dachte sie.
Viel Spielraum ließ ihr Geldbeutel nicht zu. Ihre Rente war bescheiden, große Sprünge konnte sie nicht machen. Außerdem war fraglich, ob sie woanders weniger einsam sein würde. Vielleicht lag es nicht an dem Haus. Vielleicht lag es an ihr selbst.
Da sie die Stille plötzlich nicht mehr zu ertragen glaubte, zog sie sich das Telefon heran und tippte hastig die Nummer ihrer Tochter ein, schnell genug, ehe Furcht oder Schüchternheit ihr Vorhaben im Keim ersticken konnten. Sie hatte eigentlich immer ein gutes Verhältnis zu Keira gehabt, aber seitdem diese verheiratet war und nun auch noch ein Baby hatte, bröckelte der Kontakt immer stärker. Den jungen Leuten fehlte es an Zeit, sie waren vollauf mit sich und ihrem Leben beschäftigt.
Woher noch die Energie nehmen, sich um die Mutter mit dem gescheiterten Lebensentwurf zu kümmern?
Carla konnte es manchmal selbst nicht glauben: die Ehe nach achtundzwanzig Jahren geschieden. Ihr Mann finanziell vollkommen verschuldet, da er auf zu großem Fuß gelebt und sein Leben über Jahre nur noch auf Schulden aufgebaut hatte. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, ehe ihn seine Gläubiger zur Rechenschaft ziehen konnten; seit Jahren gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Carla selbst war verstört, häufig am Jammern. Ihre Tochter Keira hatte sich aus dem ganzen Schlamassel, in den die berufliche Pleite ihres Vaters die Familie gestürzt hatte, immerhin in eine gesicherte bürgerliche Existenz und bis in eine der zahllosen Reihenhaussiedlungen von Bracknell, eine knappe Dreiviertelstunde südwestlich vom Londoner Stadtzentrum gelegen, gerettet, indem sie nach einem Mathematikstudium eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht und einen Mann mit sicherer Stelle in der Verwaltung geheiratet hatte. Carla wusste, dass sie sich eigentlich für sie freuen müsste.
Keira meldete sich beim zweiten Klingeln. Sie klang gestresst, im Hintergrund schrie ihr kleiner Sohn.
»Hallo, Keira, ich bin es, Mummie. Ich wollte nur mal hören, wie es so geht.«
»Oh, hallo, Mum«, sagte Keira. Sie wirkte nicht begeistert. »Ja, es ist alles okay. Der Kleine schläft nur wieder mal nicht ein. Er schreit wirklich ständig. Ich bin ziemlich zermürbt inzwischen.«
»Sicher bekommt er Zähne.«
»Ja, so ist es.« Keira schwieg einen Moment, dann fragte sie pflichtschuldig: »Und wie geht es dir?«
Eine Sekunde lang war Carla versucht, einfach die Wahrheit zu sagen: dass es ihr schlecht ging, dass sie sich völlig vereinsamt vorkam. Aber sie wusste, dass ihre Tochter das nicht hören wollte, dass sie sich überfordert gefühlt und sofort gereizt reagiert hätte.
»Ach, na ja, ich bin eben oft ziemlich allein«, sagte sie daher nur. »Seit ich in Rente bin ...« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Die Dinge ließen sich eben nicht ändern.
Keira seufzte. »Du müsstest dir irgendeine sinnvolle Freizeitbeschäftigung suchen. Ein Hobby, das dich mit Gleichgesinnten zusammenbringt. Und wenn es ein Kochkurs ist, den du belegst, oder ein Sport, den du anfängst! Hauptsache, du kommst unter Menschen.«
»Ach, zwischen lauter alten Frauen beim Seniorenturnen herumzuhüpfen...«
Keira seufzte erneut, diesmal deutlich ungeduldig. »Es muss ja nicht das Seniorenturnen sein. Meine Güte, es wird so vieles angeboten. Da wirst du doch etwas finden, das selbst deinen Ansprüchen gerecht wird!«
Carla fühlte sich für einen Moment versucht, ihrer Tochter anzuvertrauen, dass sie es einige Zeit zuvor schon einmal bei einer Selbsthilfegruppe für allein lebende Frauen probiert hatte, dass es ihr aber auch dort nicht gelungen war, dauerhafte Freundschaften zu schließen. Wahrscheinlich jammerte sie zu viel. Niemand hielt es lange mit ihr aus. Besser, Keira erfuhr von diesem Projekt erst gar nichts.
»Ich glaube, mich deprimiert eben alles«, sagte sie. »Wenn ich mitten am Tag schwimmen gehe oder koche, dann wird mir nur noch bewusster, dass ich kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr bin. Dass ich nicht mehr arbeite und auch keine Familie mehr zu versorgen habe. Und wenn ich wieder nach Hause komme, wartet sowieso niemand auf mich.«
»Du würdest aber bestimmt nette Frauen kennenlernen, mit denen du hin und wieder etwas unternehmen könntest.«
»Die meisten haben dann wahrscheinlich eine Familie und überhaupt keine Zeit für mich.«
»Ja, natürlich, weil du die einzige geschiedene, allein lebende Rentnerin in ganz England bist«, erklärte Keira schroff. »Willst du für den Rest deines Lebens jeden Abend vor dem Fernseher in deiner Wohnung sitzen und Trübsal blasen?«
»Und meiner Tochter auf die Nerven gehen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das Haus ist bedrückend«, sagte Carla. »Keiner kümmert sich hier um den anderen. Und dauernd fährt der Aufzug hier hoch zu mir, und dann steigt niemand aus.«
Keira schien irritiert. »Wie?«
Carla wünschte, sie hätte das nicht gesagt. »Na ja, es ist mir einfach aufgefallen. Dass es ziemlich häufig geschieht, meine ich. Außer mir wohnt hier oben ja niemand. Aber dauernd kommt der Aufzug.«
»Dann schickt ihn irgendjemand nach oben. Oder das System ist einfach so ausgelegt. Dass er zwischendurch automatisch alle Stockwerke abklappert.«
»Bis vor ein oder zwei Wochen war das aber nicht so.« »Mum ...«
»Ja, ich weiß. Ich werde langsam wunderlich, das denkst du doch. Mach dir keine Sorgen. Irgendwie kriege ich mein Leben schon in den Griff.«
»Ganz bestimmt. Mum, der Kleine schreit ständig, und ...«
»Ich mache schon Schluss! Es wäre schön, wenn ihr mich mal wieder besuchen würdet, du und der Kleine. Vielleicht an irgendeinem Wochenende?«
»Ich schau mal, ob das klappt«, sagte Keira unverbindlich, dann verabschiedete sie sich rasch und ließ Carla mit dem Gefühl zurück, gestört zu haben, lästig gewesen zu sein.
Sie ist meine Tochter, dachte sie trotzig, es ist normal, dass ich sie gelegentlich anrufe. Und dass ich es ihr sage, wenn es mir nicht besonders gut geht.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach zehn.
Dennoch beschloss sie, ins Bett zu gehen. Vielleicht noch ein bisschen zu lesen. Und zu hoffen, dass sie rasch einschlief.
Sie wollte gerade ins Bad gehen, um sich die Zähne zu putzen, als sie den Aufzug wieder vernahm. Er kam nach oben.
Sie blieb mitten im Flur stehen. Lauschte.
Ich wünschte wirklich, irgendjemand würde hier oben außer mir noch wohnen, dachte sie.
Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich.
Carla wartete. Darauf, dass nichts sein würde. Kein Laut, nichts.
Aber diesmal hörte sie etwas. Diesmal verließ jemand den Aufzug. Da waren Schritte. Sie vernahm sie ganz deutlich. Schritte draußen in dem vermutlich hell erleuchteten Gang.
Carla schluckte trocken. Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut.
Jetzt mach dich bloß nicht verrückt! Erst hast du dich aufgeregt, weil niemand ausstieg, und jetzt regst du dich auf, weil es offenbar doch jemand tut.
Die Schritte kamen näher.
Zu mir, dachte Carla, da kommt jemand zu mir.
Wie paralysiert stand sie vor ihrer Wohnungstür. Jemand befand sich auf der anderen Seite.
Als die Klingel schrillte, löste sich der Bann. Die Klingel war Normalität.
Einbrecher klingeln nicht, dachte Carla.
Dennoch spähte sie vorsichtshalber durch den Türspion. Sie zögerte.
Dann öffnete sie.
...
Copyright © 2012 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Er fragte sich, ob seine Frau wohl schon etwas gemerkt hatte ... Manchmal sah sie ihn so seltsam an. Misstrauisch. Forschend. Sie sagte nichts, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht sehr genau beobachtete. Und sich ihre Gedanken machte.
Sie hatten im April geheiratet, jetzt war September, und sie befanden sich noch in der Phase, in der man vorsichtig miteinander umging und versuchte, die eigenen Macken nicht allzu deutlich zu offenbaren. Dennoch war ihm jetzt schon klar, dass sich seine Frau irgendwann als Nörglerin entpuppen würde. Sie war nicht der Typ, der lautstark stritt, mit Tellern um sich warf oder gar damit drohte, ihn aus dem Haus zu schmeißen. Sie war der Typ, der leise und unaufhörlich und nervenzersetzend lamentierte.
Aber noch beherrschte sie sich. Versuchte, ihm alles recht zu machen. Sie kochte das Essen, das er mochte, stellte das Bier rechtzeitig in den Kühlschrank, bügelte seine Hosen und Hemden und sah sich mit ihm zusammen die Sportsendungen im Fernsehen an, obwohl sie eigentlich auf Liebesfilme stand.
Und dabei belauerte sie ihn. Das glaubte er jedenfalls zu spüren.
Sie hatte ihn geheiratet, weil sie nicht ohne Mann sein konnte, weil sie sich umsorgt, beschützt und aufgehoben fühlen musste. Er hatte sie geheiratet, weil er kurz davor gestanden hatte, ins Abseits zu kippen. Kein fester Job, wenig Geld. Irgendwann würde er den Halt verlieren, das hatte er gespürt. Er hatte bereits begonnen, zu viel zu trinken. Noch schaffte er es, die eine oder andere Gelegenheitsarbeit zu ergattern und von dem Lohn die Miete der trostlosen Wohnung zu bezahlen, in der er lebte. Aber sein Lebensmut sank. Er sah keine Perspektive mehr.
Und dann war Lucy gekommen und mit ihr die kleine Fahrradwerkstatt, die sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, und er hatte zugegriffen. Er hatte immer einen Blick für Chancen gehabt, und er war stolz, kein Mensch zu sein, der lange zögerte.
Jetzt war er verheiratet. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Er hatte Arbeit.
Sein Leben funktionierte wieder.
Und nun das. Diese Gefühle, diese Besessenheit, die Unfähigkeit, an etwas anderes zu denken. An etwas anderes als an sie.
Obwohl er das im Grunde vorher gewusst hatte. Und sie war nicht Lucy.
Sie war blond. Nicht schlecht gefärbt wie Lucy, die schon hier und da graue Haare bekam, sondern echt blond. Die Haare reichten ihr bis zur Taille hinunter und schimmerten in der Sonne wie ein Tuch aus goldfarbener Seide. Sie hatte blaugrüne Augen: Je nachdem, wie hell es draußen war, aber auch abhängig von den Farben ihrer Kleidung oder des Hintergrundes, vor dem sie sich bewegte, schienen sie manchmal blau zu sein wie Vergissmeinnicht oder grün wie ein tiefer See. Dieses intensive Farbenspiel ihrer Augen faszinierte ihn. Er hatte so etwas vorher noch bei niemandem wahrgenommen.
Er mochte auch ihre Hände. Sie waren sehr feingliedrig, sehr schmal. Lange, schlanke Finger.
Er mochte ihre Beine. Zart. Fast zerbrechlich. Alles an ihr war so. Wie aus einem ganz feinen, hellen Holz geschnitzt, von jemandem, der sich viel Zeit genommen, der sich große Mühe gegeben hatte. Nichts an ihr war plump, dick oder grob. Sie war die vollendete Anmut.
Wenn er an sie dachte, brach ihm der Schweiß aus. Wenn er sie sah, konnte er den Blick nicht mehr abwenden, und das war es wahrscheinlich auch, was Lucy aufgefallen war. Er versuchte, am Hoftor zu stehen, wenn sie die Straße hinunterkam. Meistens probierte er irgendein gerade repariertes Fahrrad auf dem Gehweg aus, um einen Vorwand zu haben, sich dort herumzutreiben. Er liebte ihre Bewegungen. Diese federnden Schritte. Sie trippelte nicht, sie schritt weit aus. Es war so viel Kraft in allem, was sie tat. Ob sie lief oder redete oder lachte: ja, unbändige Kraft. Energie.
Schönheit. Ein solches Übermaß an Schönheit und Vollkommenheit, dass er es manchmal fast nicht zu glauben wagte.
War es Liebe, was er empfand? Es musste Liebe sein, nicht bloß Gier, Erregung, all das, was dazugehörte, was aber nur deshalb entstehen konnte, weil er sie liebte. Die Liebe war der Anfang, der Boden, auf dem die Sehnsucht gedieh. Diese Sehnsucht, die er für Lucy nicht aufbrachte. Lucy war eine Notlösung gewesen, und zwar eine, die er nicht aufgeben konnte, weil jenseits von Lucy nach wie vor der soziale Absturz drohte. Lucy stellte eine bittere Notwendigkeit dar. In bittere Notwendigkeiten musste man sich fügen, manchmal verlangte das Leben es so. Er hatte längst gelernt, dass es nichts brachte, sich dagegen zu wehren.
Und dennoch war alles in ihm Auflehnung. Auflehnung und dazwischen immer wieder niederschmetternde Hoffnungslosigkeit. Denn welche Chance hatte er? Er war kein attraktiver Mann, das sah er ohne jede Illusion. Früher ja, aber heute ... Den dicken Bauch verdankte er seiner Vorliebe für Bier und fettes Essen. Er hatte schlaffe, aufgeschwemmte Gesichtszüge. Er war achtundvierzig Jahre alt und sah zehn Jahre älter aus, besonders dann, wenn er abends zu viel getrunken hatte, und leider schaffte er es nicht, damit aufzuhören. Er müsste Sport treiben und mehr Gemüse essen, dazu Wasser oder Tee trinken, aber Herrgott noch mal, wenn man dreißig Jahre lang anders gelebt hatte, dann ging das nicht so einfach mit der Umgewöhnung. Er fragte sich, ob ihn diese Elfe, diese Fee, dieses wunderbare Wesen trotzdem würde lieben können. Trotz Bauch und Tränensäcken und obwohl er bei der kleinsten Anstrengung keuchte und schwitzte. Er hatte innere Werte, und vielleicht würde es ihm gelingen, ihr diese zu vermitteln. Denn er hatte längst begriffen, dass er nicht auf sie würde verzichten können. Trotz Lucy und ihrer Eifersucht und trotz des Risikos, das er einging.
Er war ein achtundvierzigjähriger Fettsack mit einem Körper und einer Seele, die in Flammen standen.
Das Problem war: Sie, die Fee, das Wesen, nach dem er sich Tag und Nacht verzehrte, war so viel jünger. So sehr viel jünger.
Sie war neun.
SAMSTAG, 31. OKTOBER 2009
Es gelang Liza, den Ort der Veranstaltung ungesehen zu verlassen, als der Sohn des Jubilars zu einer Rede ansetzte. Er hatte mehrfach mit einer Gabel gegen sein Glas geschlagen, und endlich hatten die rund einhundert geladenen Gäste begriffen. Das Reden und Lachen, das den Raum mit einem Dröhnen zu erfüllen schien, war verstummt, und alle Blicke wandten sich dem nervösen Mann zu, der in diesem Moment nichts so sehr zu bereuen schien wie seinen Entschluss, dem Vater zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag eine Laudatio zu halten.
Ein paar Männer witzelten, weil der Redner abwechselnd rot und blass wurde und sich dann so verhaspelte, dass er dreimal neu ansetzen musste, ehe er wirklich beginnen konnte. Auf jeden Fall zog er mit seinem ungekonnten Auftritt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
Der Moment konnte günstiger nicht sein.
Liza hatte sich während der letzten Viertelstunde bereits in die Nähe des Ausgangs vorgearbeitet, und so hatte sie nun nur noch zwei Schritte zu gehen, ehe sie draußen war. Sie schloss die schwere Tür hinter sich, lehnte sich für einen Moment tief atmend gegen die Wand. Wie ruhig es hier draußen war. Wie kühl! Der Raum hatte sich durch die vielen Menschen unnatürlich aufgeheizt. Obwohl sie den Eindruck gehabt hatte, dass niemand so sehr unter der Hitze litt wie sie.
Aber überhaupt schien jeder den Abend aus tiefstem Herzen zu genießen. Schöne Kleider, Schmuck, Parfüm, ausgelassenes Lachen. Und sie inmitten des Geschehens und doch getrennt von allen anderen wie durch eine unsichtbare Wand. Sie hatte mechanisch gelächelt, hatte geantwortet, wenn sie etwas gefragt wurde, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt und von ihrem Champagner getrunken, aber die ganze Zeit war sie wie betäubt gewesen, hatte das Gefühl gehabt, zu funktionieren wie eine Marionette, die an Fäden hing und von irgendjemandem geführt wurde, ohne zu einer einzigen eigenständigen Bewegung fähig zu sein. Und genau so war es eigentlich seit Jahren: Sie lebte nicht mehr nach ihrem eigenen Willen. Wenn man das, was sie tat, überhaupt noch leben nennen konnte.
Eine junge Angestellte des eleganten Kensington-Hotels, in dem der Geburtstag standesgemäß gefeiert wurde, kam vorbei und verharrte einen Moment, unschlüssig, ob die an der Wand lehnende Frau vielleicht Hilfe brauchte. Liza vermutete, dass sie ziemlich mitgenommen wirkte, jedenfalls dann, wenn sie auch nur ungefähr so aussah, wie sie sich fühlte. Sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Angestellte.
Sie nickte. »Ja. Es ist nur ... es ist ziemlich heiß da drinnen!« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür. Die junge Frau sah sie mitleidig an, ging dann weiter. Liza begriff, dass sie unbedingt die Toilette aufsuchen und sich herrichten musste. So, wie die gerade geschaut hatte, schien sie ziemlich derangiert auszusehen.
Der marmorgeflieste Raum empfing sie mit sanftem Licht und einer leisen, beruhigenden Musik, die aus verborgenen Lautsprechern erklang. Sie hatte Angst gehabt, jemandem zu begegnen, aber offensichtlich war sie allein. Auch in den Toilettenkabinen schien sich niemand aufzuhalten. Aber bei allein hundert Geladenen auf der Geburtstagsfeier und jeder Menge zusätzlicher Gäste, die sich im Hotel aufhielten, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein, das war Liza klar. Jede Sekunde konnte jemand hereinkommen. Ihr blieb nicht viel Zeit.
Sie stützte sich auf eines der luxuriösen Waschbecken und schaute in den hohen Spiegel darüber.
Wie so häufig, wenn sie in einen Spiegel blickte, hatte sie den Eindruck, die Frau nicht zu kennen, die sie sah. Auch dann, wenn sie nicht so gestresst wirkte wie jetzt. Ihre schönen hellblonden Haare, die sie zu Beginn des Abends aufgesteckt hatte, hingen inzwischen wirr an den Seiten hinunter. Ihr Lippenstift klebte wahrscheinlich am Rand ihres Champagnerglases, jedenfalls war nichts mehr davon auf ihrem Mund zu sehen, was ihre Lippen sehr bleich machte. Sie hatte stark geschwitzt. Ihre Nase glänzte, und ihr Make-up war verschmiert.
Sie hatte es gespürt. Geahnt. Deshalb hatte sie seit zwanzig Minuten nichts so sehr ersehnt, wie diesen furchtbaren Raum mit den erstickend vielen Menschen darin verlassen zu können. Sie musste sich jetzt schnell wieder in Form bringen, und dann musste sie versuchen, irgendwie diesen Abend zu überstehen. Er konnte nicht ewig dauern. Der Champagnerempfang war praktisch vorüber. Als Nächstes würde das Buffet eröffnet werden. Gott sei Dank, das war besser als ein gesetztes Essen mit fünf Gängen, das sich über Stunden hinziehen konnte und bei dem jeder, der sich zwischendurch abseilte, sofort auffiel - zumindest seinen beiden Tischnachbarn. Ein Buffet erlaubte viel mehr Möglichkeiten des raschen, diskreten Aufbruchs.
Sie stellte ihre Handtasche vor sich auf die Marmorplatte, nestelte nervös und ungeschickt am Verschluss herum, schaffte es schließlich, Make-up -Tube und Puderdose herauszuangeln. Wenn nur ihre Hände nicht so zitterten! Sie musste aufpassen, dass sie nicht ihr Kleid bekleckerte. Das wäre dann der Höhepunkt dieses furchtbaren Abends und genau das, was ihr noch gefehlt hatte.
Während sie versuchte, die Puderdose zu öffnen, was ihr nicht gelingen wollte, fing sie plötzlich an zu weinen. Es geschah ziemlich unspektakulär: Die Tränen kullerten einfach aus ihren Augen, und sie konnte nichts dagegen machen. Entsetzt hob sie den Kopf, sah dieses fremde Gesicht an, das sich nun auch noch in ein verheultes Gesicht verwandelte. Was das Drama perfekt machte. Wie sollte sie in den Saal zurückkehren mit dicken, roten, verschwollenen Augen?
Fast panisch riss sie ein ganzes Bündel seidenweicher Kosmetiktücher aus dem silbernen Behälter an der Wand und versuchte, die Flut zu stoppen. Aber es hatte beinahe den Anschein, als werde es dadurch, dass sie es zu verhindern suchte, nur heftiger. Ihre Augen liefen einfach über.
Ich muss nach Hause, dachte sie, es hat keinen Sinn, ich muss hier weg!
Und als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, vernahm sie nun auch noch hinter sich ein Geräusch. Die Tür, die zum Gang führte, wurde geöffnet. Spitze Absätze klapperten auf dem Marmor. Schemenhaft, verschwommen durch den Tränenschleier, nahm Liza eine Gestalt hinter sich wahr, eine Frau, die den Raum in Richtung der Toiletten durchquerte. Sie presste die Kosmetiktücher gegen ihr Gesicht und versuchte den Anschein zu wecken, als putze sie sich die Nase.
Beeil dich, dachte sie, verschwinde!
Die Schritte hielten plötzlich inne. Einen kurzen Augenblick lang herrschte völlige Stille in dem Raum. Dann drehte die Fremde sich um und kam auf Liza zu. Eine Hand legte sich auf ihre leise bebende Schulter. Sie hob den Blick und sah die andere hinter sich im Spiegel. Ein besorgtes Gesicht. Fragende Augen. Sie kannte die Frau nicht, aber nach ihrer Garderobe zu schließen, gehörte sie ebenfalls zu der Geburtstagsgesellschaft.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ...«
Die Freundlichkeit, die Sorge, die aus der ruhigen Stimme sprach, waren mehr, als Liza ertragen konnte. Sie ließ die Tücher sinken.
Dann ergab sie sich ihrem Schmerz und versuchte nicht mehr, den Strom ihrer Tränen aufzuhalten.
SONNTAG, 22. NOVEMBER
Es war am späteren Sonntagabend, als Carla die Eigentümlichkeit des Aufzuges und der Aufzugtüren bewusst wahrnahm. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lange zu leben, aber ihre Vorstellungskraft hätte nicht ausgereicht, sich auszumalen, was ihr in dieser Nacht passieren würde.
Sie saß in ihrer Wohnung, etwas verwundert, denn sie hatte plötzlich den sicheren Eindruck, dass es schon seit einigen Tagen so ging: Der Fahrstuhl kam bis zu ihr hinauf in den achten Stock gefahren, hielt an, die Türen öffneten sich automatisch, aber dann passierte nichts weiter. Niemand stieg aus, denn dann hätte sie die Schritte im Gang hören müssen. Es stieg aber offensichtlich auch niemand ein, denn dann hätte man zuvor Schritte gehört. Sie war aber sicher, dass da keine gewesen waren. Sie hätte sie sonst auf irgendeiner Ebene ihres Bewusstseins realisiert. Dieses Haus verschluckte kaum Geräusche. Ein Hochhaus aus den Siebzigerjahren, ein ziemlich schmuckloser Kasten mit langen Gängen im Inneren und einer Vielzahl an Wohnungen. In den größeren wohnten Familien mit Kindern, in etlichen kleineren Wohnungen lebten Singles, die ganz in ihren Berufen aufgingen und praktisch nie zu Hause waren. Hackney gehörte zu den ärmeren Stadtteilen Londons, aber die Gegend, in der Carla wohnte, war nicht allzu schlecht.
Sie überlegte, wann genau sie erstmals den Aufzug hatte ankommen hören, ohne dass jemand ausstieg. Natürlich kam das manchmal vor, war von Anfang an vorgekommen. Es musste nur jemand auf die falsche Taste drücken, seinen Irrtum bemerken und doch früher aussteigen, dann fuhr der Fahrstuhl dennoch bis nach ganz oben, öffnete seine Türen, schloss sie dann wieder und wartete, bis er in ein anderes Stockwerk gerufen wurde. Aber in der letzten Zeit hatte es sich gehäuft. Ungewöhnlich gehäuft.
Vielleicht seit einer Woche? Vielleicht seit vierzehn Tagen? Sie schaltete den Fernseher aus, die Talkshow, die gerade lief, interessierte sie ohnehin nicht.
Sie ging zur Wohnungstür, schloss auf, öffnete sie. Betätigte den Lichtschalter gleich neben der Klingel und tauchte damit den Gang in ein grelles, weißes Licht. Wer hatte hier nur diese Lampen eingebaut? Man hatte die Gesichtsfarbe einer Leiche in ihrem Schein.
Sie blickte den langen, stillen Gang entlang. Nichts und niemand war zu sehen. Die Aufzugtüren hatten sich wieder geschlossen.
Vielleicht irgendein Scherzkeks. Irgendein Halbwüchsiger, der hier im Haus wohnte und grundsätzlich auf die Acht drückte, ehe er ausstieg. Was er davon hatte, war Carla allerdings schleierhaft. Aber vieles von dem, was Menschen bewegte, was Menschen taten oder anstrebten, war ihr schleierhaft. Am Ende, dachte sie mitunter, befand sie sich doch schon ein ziemlich großes Stück außerhalb der Gesellschaft. Allein, verlassen und seit fünf Jahren in Rente. Wenn man morgens allein aufstand und allein frühstückte, den Tag lesend oder fernsehend in einer kleinen Wohnung verbrachte und sich nur gelegentlich zu einem Spaziergang aufraffte, abends wieder allein aß und dann erneut vor dem Fernseher saß, dann entfernte man sich aus der Normalität. Man verlor den Kontakt zu den Menschen, deren Alltag aus Beruf, Kollegen, Ehepartnern, Kindern und allen damit verbundenen Sorgen, Anstrengungen und natürlich auch Freuden bestand. Womöglich wirkte sie auf andere schon viel wunderlicher, als ihr das selbst klar war. Sie schloss die Wohnungstür wieder, lehnte sich von innen dagegen, atmete tief. Als sie in das Hochhaus eingezogen war - eines der wenigen in Hackney, wo es sonst eher viktorianische, größtenteils ziemlich heruntergekommene Bauten gab -, hatte sie zunächst geglaubt, hier werde alles besser. Sie hatte gehofft, sich in einem Haus voller Menschen weniger einsam zu fühlen, aber nun war das Gegenteil der Fall. Jeder hier strampelte sich durch seinen Alltag, keiner schien den anderen wirklich zu kennen, man lebte in größtmöglicher Anonymität. Einige Wohnungen standen zudem leer. Oben, im achten Stock, wohnte seit einiger Zeit außer Carla überhaupt niemand mehr.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück, überlegte, ob sie den Fernseher wieder einschalten sollte. Sie unterließ es, schenkte sich stattdessen noch etwas Wein nach. Sie trank jeden Abend, aber sie hatte sich selbst die Regel auferlegt, es nie vor acht Uhr zu tun. Bislang glückte es ihr, sich daran zu halten.
Sie zuckte zusammen, als sie das Geräusch des Aufzuges wieder vernahm. Er fuhr nach unten. Jemand hatte ihn offenbar herangerufen. Das war immerhin ein Zeichen von Normalität. Menschen im Haus kamen und gingen. Sie war nicht allein.
Vielleicht sollte ich mir aber doch eine andere Wohnung suchen, dachte sie.
Viel Spielraum ließ ihr Geldbeutel nicht zu. Ihre Rente war bescheiden, große Sprünge konnte sie nicht machen. Außerdem war fraglich, ob sie woanders weniger einsam sein würde. Vielleicht lag es nicht an dem Haus. Vielleicht lag es an ihr selbst.
Da sie die Stille plötzlich nicht mehr zu ertragen glaubte, zog sie sich das Telefon heran und tippte hastig die Nummer ihrer Tochter ein, schnell genug, ehe Furcht oder Schüchternheit ihr Vorhaben im Keim ersticken konnten. Sie hatte eigentlich immer ein gutes Verhältnis zu Keira gehabt, aber seitdem diese verheiratet war und nun auch noch ein Baby hatte, bröckelte der Kontakt immer stärker. Den jungen Leuten fehlte es an Zeit, sie waren vollauf mit sich und ihrem Leben beschäftigt.
Woher noch die Energie nehmen, sich um die Mutter mit dem gescheiterten Lebensentwurf zu kümmern?
Carla konnte es manchmal selbst nicht glauben: die Ehe nach achtundzwanzig Jahren geschieden. Ihr Mann finanziell vollkommen verschuldet, da er auf zu großem Fuß gelebt und sein Leben über Jahre nur noch auf Schulden aufgebaut hatte. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, ehe ihn seine Gläubiger zur Rechenschaft ziehen konnten; seit Jahren gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Carla selbst war verstört, häufig am Jammern. Ihre Tochter Keira hatte sich aus dem ganzen Schlamassel, in den die berufliche Pleite ihres Vaters die Familie gestürzt hatte, immerhin in eine gesicherte bürgerliche Existenz und bis in eine der zahllosen Reihenhaussiedlungen von Bracknell, eine knappe Dreiviertelstunde südwestlich vom Londoner Stadtzentrum gelegen, gerettet, indem sie nach einem Mathematikstudium eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht und einen Mann mit sicherer Stelle in der Verwaltung geheiratet hatte. Carla wusste, dass sie sich eigentlich für sie freuen müsste.
Keira meldete sich beim zweiten Klingeln. Sie klang gestresst, im Hintergrund schrie ihr kleiner Sohn.
»Hallo, Keira, ich bin es, Mummie. Ich wollte nur mal hören, wie es so geht.«
»Oh, hallo, Mum«, sagte Keira. Sie wirkte nicht begeistert. »Ja, es ist alles okay. Der Kleine schläft nur wieder mal nicht ein. Er schreit wirklich ständig. Ich bin ziemlich zermürbt inzwischen.«
»Sicher bekommt er Zähne.«
»Ja, so ist es.« Keira schwieg einen Moment, dann fragte sie pflichtschuldig: »Und wie geht es dir?«
Eine Sekunde lang war Carla versucht, einfach die Wahrheit zu sagen: dass es ihr schlecht ging, dass sie sich völlig vereinsamt vorkam. Aber sie wusste, dass ihre Tochter das nicht hören wollte, dass sie sich überfordert gefühlt und sofort gereizt reagiert hätte.
»Ach, na ja, ich bin eben oft ziemlich allein«, sagte sie daher nur. »Seit ich in Rente bin ...« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Die Dinge ließen sich eben nicht ändern.
Keira seufzte. »Du müsstest dir irgendeine sinnvolle Freizeitbeschäftigung suchen. Ein Hobby, das dich mit Gleichgesinnten zusammenbringt. Und wenn es ein Kochkurs ist, den du belegst, oder ein Sport, den du anfängst! Hauptsache, du kommst unter Menschen.«
»Ach, zwischen lauter alten Frauen beim Seniorenturnen herumzuhüpfen...«
Keira seufzte erneut, diesmal deutlich ungeduldig. »Es muss ja nicht das Seniorenturnen sein. Meine Güte, es wird so vieles angeboten. Da wirst du doch etwas finden, das selbst deinen Ansprüchen gerecht wird!«
Carla fühlte sich für einen Moment versucht, ihrer Tochter anzuvertrauen, dass sie es einige Zeit zuvor schon einmal bei einer Selbsthilfegruppe für allein lebende Frauen probiert hatte, dass es ihr aber auch dort nicht gelungen war, dauerhafte Freundschaften zu schließen. Wahrscheinlich jammerte sie zu viel. Niemand hielt es lange mit ihr aus. Besser, Keira erfuhr von diesem Projekt erst gar nichts.
»Ich glaube, mich deprimiert eben alles«, sagte sie. »Wenn ich mitten am Tag schwimmen gehe oder koche, dann wird mir nur noch bewusster, dass ich kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr bin. Dass ich nicht mehr arbeite und auch keine Familie mehr zu versorgen habe. Und wenn ich wieder nach Hause komme, wartet sowieso niemand auf mich.«
»Du würdest aber bestimmt nette Frauen kennenlernen, mit denen du hin und wieder etwas unternehmen könntest.«
»Die meisten haben dann wahrscheinlich eine Familie und überhaupt keine Zeit für mich.«
»Ja, natürlich, weil du die einzige geschiedene, allein lebende Rentnerin in ganz England bist«, erklärte Keira schroff. »Willst du für den Rest deines Lebens jeden Abend vor dem Fernseher in deiner Wohnung sitzen und Trübsal blasen?«
»Und meiner Tochter auf die Nerven gehen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das Haus ist bedrückend«, sagte Carla. »Keiner kümmert sich hier um den anderen. Und dauernd fährt der Aufzug hier hoch zu mir, und dann steigt niemand aus.«
Keira schien irritiert. »Wie?«
Carla wünschte, sie hätte das nicht gesagt. »Na ja, es ist mir einfach aufgefallen. Dass es ziemlich häufig geschieht, meine ich. Außer mir wohnt hier oben ja niemand. Aber dauernd kommt der Aufzug.«
»Dann schickt ihn irgendjemand nach oben. Oder das System ist einfach so ausgelegt. Dass er zwischendurch automatisch alle Stockwerke abklappert.«
»Bis vor ein oder zwei Wochen war das aber nicht so.« »Mum ...«
»Ja, ich weiß. Ich werde langsam wunderlich, das denkst du doch. Mach dir keine Sorgen. Irgendwie kriege ich mein Leben schon in den Griff.«
»Ganz bestimmt. Mum, der Kleine schreit ständig, und ...«
»Ich mache schon Schluss! Es wäre schön, wenn ihr mich mal wieder besuchen würdet, du und der Kleine. Vielleicht an irgendeinem Wochenende?«
»Ich schau mal, ob das klappt«, sagte Keira unverbindlich, dann verabschiedete sie sich rasch und ließ Carla mit dem Gefühl zurück, gestört zu haben, lästig gewesen zu sein.
Sie ist meine Tochter, dachte sie trotzig, es ist normal, dass ich sie gelegentlich anrufe. Und dass ich es ihr sage, wenn es mir nicht besonders gut geht.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach zehn.
Dennoch beschloss sie, ins Bett zu gehen. Vielleicht noch ein bisschen zu lesen. Und zu hoffen, dass sie rasch einschlief.
Sie wollte gerade ins Bad gehen, um sich die Zähne zu putzen, als sie den Aufzug wieder vernahm. Er kam nach oben.
Sie blieb mitten im Flur stehen. Lauschte.
Ich wünschte wirklich, irgendjemand würde hier oben außer mir noch wohnen, dachte sie.
Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich.
Carla wartete. Darauf, dass nichts sein würde. Kein Laut, nichts.
Aber diesmal hörte sie etwas. Diesmal verließ jemand den Aufzug. Da waren Schritte. Sie vernahm sie ganz deutlich. Schritte draußen in dem vermutlich hell erleuchteten Gang.
Carla schluckte trocken. Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut.
Jetzt mach dich bloß nicht verrückt! Erst hast du dich aufgeregt, weil niemand ausstieg, und jetzt regst du dich auf, weil es offenbar doch jemand tut.
Die Schritte kamen näher.
Zu mir, dachte Carla, da kommt jemand zu mir.
Wie paralysiert stand sie vor ihrer Wohnungstür. Jemand befand sich auf der anderen Seite.
Als die Klingel schrillte, löste sich der Bann. Die Klingel war Normalität.
Einbrecher klingeln nicht, dachte Carla.
Dennoch spähte sie vorsichtshalber durch den Türspion. Sie zögerte.
Dann öffnete sie.
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Autoren-Porträt von Charlotte Link
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre psychologischen Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Im Tal des Fuchses« eroberte wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 31 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Verfilmungen, zuletzt Das andere Kind, werden im Fernsehen mit enorm hohen Einschaltquoten ausgestrahlt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2011, 651 Seiten, Maße: 12,6 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442367263
- ISBN-13: 9783442367269
- Erscheinungsdatum: 28.11.2011
Rezension zu „Der Beobachter “
"Die Polizei hat viele Spuren, von denen die meisten ins Nichts führen, und auch der Leser wird getäuscht. Das macht die Spannung dieses Romans aus, der, wie immer bei Charlotte Link, auch durch beeindruckende Schilderungen von Atmosphäre und Personen fesselt."
Pressezitat
"Charlotte Link [...] hat die fast unheimliche Menschenkenntnis, die psychologische Spannungsautoren auszeichnet. Während die meisten von uns ihre Nachbarn beobachten und nichts als gewöhnliche Menschen sehen, entdecken sie etwas Dunkles und Bedrohliches unter der Oberfläche." The New York Times über "Das andere Kind"
Kommentar zu "Der Beobachter"