Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1
Kriminalroman
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe: Sie werden es lieben, ihn zu hassen!
Im Wald bei Västeras: Pfadfinder entdecken die Leiche des 16-jährigen Roger. Er wurde brutal misshandelt, sein Herz ist herausgerissen. Zuletzt...
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Produktinformationen zu „Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1 “
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe: Sie werden es lieben, ihn zu hassen!
Im Wald bei Västeras: Pfadfinder entdecken die Leiche des 16-jährigen Roger. Er wurde brutal misshandelt, sein Herz ist herausgerissen. Zuletzt hatte der Junge ein exklusives Privatgymnasium besucht. Psychologe Bergman blickt hinter die noble Fassade der Eliteschule - Abgründe offenbaren sich. Fast jeder hat etwas zu verbergen.
Klappentext zu „Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1 “
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe:
Hochintelligent. Unausstehlich.
In einem Waldstück bei Västerås wird die Leiche eines Jungen entdeckt - brutal ermordet, mit herausgerissenem Herzen. Roger war Schüler eines Elitegymnasiums, ein sensibler Junge.
Die Polizei vor Ort ist überfordert, und so reist Kommissar Höglund mit seinem Team aus Stockholm in die Provinz. Dort trifft er überraschend einen alten Bekannten: Sebastian Bergman, ein brillanter Kriminalpsychologe und berüchtigter Kotzbrocken. Er bietet Höglund seine Hilfe an. Das Team ist wenig begeistert, doch schon bald wird der hochintelligente Bergman unverzichtbar. Denn in Västerås gibt es mehr als eine zerstörte Seele ...
Sebastian Bergmans erster Fall
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe:
Hochintelligent. Unausstehlich.
In einem Waldstück bei Västerås wird die Leiche eines Jungen entdeckt - brutal ermordet, mit herausgerissenem Herzen. Roger war Schüler eines Elitegymnasiums, ein sensibler Junge.
Die Polizei vor Ort ist überfordert, und so reist Kommissar Höglund mit seinem Team aus Stockholm in die Provinz. Dort trifft er überraschend einen alten Bekannten: Sebastian Bergman, ein brillanter Kriminalpsychologe und berüchtigter Kotzbrocken. Er bietet Höglund seine Hilfe an. Das Team ist wenig begeistert, doch schon bald wird der hochintelligente Bergman unverzichtbar. Denn in Västerås gibt es mehr als eine zerstörte Seele ...
Sebastian Bergmans erster Fall
Hochintelligent. Unausstehlich.
In einem Waldstück bei Västerås wird die Leiche eines Jungen entdeckt - brutal ermordet, mit herausgerissenem Herzen. Roger war Schüler eines Elitegymnasiums, ein sensibler Junge.
Die Polizei vor Ort ist überfordert, und so reist Kommissar Höglund mit seinem Team aus Stockholm in die Provinz. Dort trifft er überraschend einen alten Bekannten: Sebastian Bergman, ein brillanter Kriminalpsychologe und berüchtigter Kotzbrocken. Er bietet Höglund seine Hilfe an. Das Team ist wenig begeistert, doch schon bald wird der hochintelligente Bergman unverzichtbar. Denn in Västerås gibt es mehr als eine zerstörte Seele ...
Sebastian Bergmans erster Fall
Lese-Probe zu „Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1 “
Der Mann, der kein Mörder war von Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt... mehr
Der Mann war kein Mörder.
Er redete es sich selbst ein, während er den toten Jungen den Abhang hinunterschleifte: Ich bin kein Mörder.
Mörder sind Kriminelle. Mörder sind schlechte Menschen. Die Finsternis hat ihre Seele verschlungen, sie haben die Schwärze umarmt und willkommen geheißen, dem Licht ihren Rücken zugewandt. Er war kein schlechter Mensch. Ganz und gar nicht.
Hatte er in letzter Zeit nicht sogar genau das Gegenteil bewiesen? Hatte er nicht zum Wohl anderer seine eigenen Gefühle, seinen eigenen Willen zurückgestellt und sich damit beinahe selbst Gewalt angetan? Die andere Wange hingehalten, das hatte er. War nicht die Tatsache, dass er hier, in dieser sumpfigen Senke mitten im Nirgendwo, mit einem toten Jungen stand, ein weiterer Beweis dafür, dass er das Richtige tun wollte? Es tun musste. Dass er nie wieder versagen durfte.
Der Mann blieb stehen und verschnaufte. Der Junge war nicht sonderlich groß, aber er war schwer. Trainiert. Viele Stunden im Fitnessstudio. Doch nun war es nicht mehr weit. Er packte das Hosenbein, das einmal weiß gewesen war, in der Dunkelheit jedoch fast schwarz aussah. Der Junge hatte so stark geblutet.
Ja, es war falsch, einen Menschen umzubringen. Fünftes Gebot. Du sollst nicht töten. Doch es gab Ausnahmen. An vielen Stellen forderte die Bibel sogar zum Töten auf, wenn es gerechtfertigt war. Es gab jene, die es verdient hatten. Aus falsch konnte richtig werden. Nichts war absolut.
Wenn das Motiv nicht egoistisch war. Wenn der Verlust eines Menschenlebens andere retten würde. Ihnen eine Chance gäbe, ein neues Leben schenkte. Dann konnte die Tat doch unmöglich schlecht sein? Wenn die Absicht gut war?
Als er das dunkle Gewässer erreicht hatte, blieb der Mann stehen. Die Regenfälle der letzten Tage hatten den Boden durchweicht, sodass der Tümpel, der sonst nur wenige Meter tief war, sich nun wie ein kleiner See über die gestrüppreiche Senke erstreckte.
Der Mann beugte sich vor und fasste den Jungen an den Schultern. Mühsam zog er den leblosen Körper in eine halb aufrechte Position hoch. Für einen Moment sah er dem Jungen direkt in die Augen. Was war sein letzter Gedanke gewesen? Hatte er überhaupt Zeit gehabt, etwas zu denken? Hatte er begriffen, dass er sterben würde? Und sich gefragt, warum? Hatte er an all das gedacht, wofür er in seinem kurzen Leben keine Zeit mehr gehabt hatte? Oder an das, was er geschafft hatte?
Es spielte keine Rolle.
Warum quälte er sich dann so?
Er hatte keine Wahl.
Er durfte nicht versagen, nicht noch einmal.
Dennoch zögerte er. Nein, sie würden es nicht verstehen. Ihm nicht verzeihen. Nicht wie er die andere Wange hinhalten.
Er gab dem Jungen einen Stoß, und der Körper fiel mit einem lauten Platsch ins Wasser. Überrascht von dem plötzlichen Geräusch in der Stille der Dunkelheit, fuhr der Mann zusammen.
Die Leiche des Jungen versank im Wasser und verschwand.
Der Mann, der kein Mörder war, kehrte zu seinem Auto zurück, das er auf einem kleinen Waldweg geparkt hatte, und fuhr nach Hause.
Polizei Västerås, Sie sprechen mit Klara Lidman.»
«Ich möchte meinen Sohn vermisst melden.»
Die Frau klang beinahe entschuldigend. Als wäre sie nicht sicher, ob sie die richtige Nummer gewählt hatte, oder als erwartete sie im Grunde nicht, dass man ihr glauben würde. Klara Lidman zog ihren Notizblock heran, obwohl das Gespräch ohnehin auf Band aufgezeichnet wurde.
«Wie ist Ihr Name?»
«Lena Eriksson. Mein Sohn heißt Roger. Roger Eriksson.»
«Und wie alt ist Ihr Sohn?»
«Sechzehn. Ich habe ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen.»
Klara notierte das Alter und begriff, dass sie diese Angelegenheit sofort an die Kollegen weiterleiten musste. Vorausgesetzt, der Junge war tatsächlich verschwunden.
«Seit wann genau gestern Nachmittag?»
«Er hat sich so gegen fünf aus dem Staub gemacht.»
Vor zweiundzwanzig Stunden. Zweiundzwanzig wichtige Stunden, wenn ein Mensch vermisst wurde.
«Wissen Sie, wohin er gegangen ist?»
«Ja, zu Lisa.»
«Wer ist das?»
«Seine Freundin. Ich habe heute bei ihr angerufen, aber sie hat gesagt, dass er gestern Abend gegen zehn wieder gegangen ist.»
Klara strich die beiden Zweien auf dem Notizzettel durch und ersetzte sie durch eine Siebzehn.
«Wohin ist er dann gegangen?»
«Das wusste sie nicht. Nach Hause, dachte sie. Aber er kam hier nicht an. Die ganze Nacht nicht. Und jetzt ist fast schon ein Tag vergangen.»
Und da rufst du erst jetzt an, dachte Klara.
Die Frau am anderen Ende wirkte nicht sonderlich aufgeregt, das fi el ihr nun auf. Eher gedämpft. Resigniert.
«Wie heißt Lisa weiter?»
«Hansson.»
Klara notierte den Namen.
«Besitzt Roger ein Handy? Haben Sie schon versucht, ihn zu erreichen?»
«Ja, aber er geht nicht ran.»
«Und Sie haben keine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte? Hat er vielleicht bei einem Freund übernachtet?»
«Nein, dann hätte er angerufen.»
Die Frau machte eine kurze Pause, und Klara vermutete zunächst, ihr hätte die Stimme versagt, bis sie am anderen Ende der Leitung ein Inhalieren hörte. Sie hatte lediglich einen tiefen Zug von ihrer Zigarette genommen.
Die Frau stieß den Rauch aus.
«Er ist einfach weg.»
Der Traum kehrte jede Nacht wieder. Er ließ ihm keine Ruhe. Der immer gleiche Traum, die immer gleichen Szenen der Angst. Das irritierte ihn. Machte ihn wahnsinnig. Sebastian Bergman war einfach zu gut dafür. Wer, wenn nicht er, wusste, was Träume bedeuteten; wer, wenn nicht er, müsste diese fi eberhaften Erinnerungen zu verkraften lernen. Doch so gut er auch gewappnet war, so klar er diesen Traum zu interpretieren vermochte, er konnte nicht verhindern, von ihm verfolgt zu werden. Es schien, als könne der Traum seine Professionalität austricksen, um ihm vor Augen zu führen, was auch ein Teil von ihm war.
4:43 Uhr.
Es dämmerte. Sein Mund war trocken. Hatte er geschrien? Vermutlich nicht, denn die Frau, die neben ihm lag, war nicht aufgewacht. Sie atmete ruhig, er sah, wie ihr langes Haar über ihre nackte Brust fi el und sie zur Hälfte bedeckte. Sebastian streckte seine verkrampften Finger, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass seine rechte Faust fest geballt war, wenn er aus dem Traum erwachte.
Er versuchte, sich an den Namen des Wesens zu erinnern, das neben ihm schlief. Katarina? Karin?
Sie musste ihn gestern Abend irgendwann genannt haben. Kristina? Caroline?
Nicht, dass es irgendeine Rolle spielte, er hatte nicht vor, sie jemals wieder zu treffen. In seinem Gedächtnis zu wühlen, half ihm jedoch, die verschwommenen Reste des Traumes zu verjagen, die an all seinen Sinnen zu haften schienen.
Dieses Traumes, der ihn seit mehr als fünf Jahren verfolgte. Jede Nacht der gleiche Traum, die gleichen Bilder. Sein Unterbewusstsein war hellwach und verarbeitete, was ihm tagsüber nicht gelang: mit seiner Schuld fertigzuwerden.
Sebastian erhob sich langsam aus dem Bett, unterdrückte ein Gähnen und nahm seine Kleider von dem Stuhl, auf dem er sie vor einigen Stunden abgelegt hatte. Während er sich anzog, blickte er sich desinteressiert in dem Zimmer um, in dem er die Nacht verbracht hatte. Ein Bett, zwei Wandschränke, einer davon mit Spiegeltür, ein einfacher, weißer Nachttisch von IKEA, darauf ein Wecker und eine Ausgabe Fit for Fun. Außerdem ein Tisch mit einem Foto vom Scheidungskind und allerlei Kleinkram neben dem Stuhl, von dem er gerade seine Kleider genommen hatte. Nichtssagende Kunstdrucke hingen an den Wänden, die ein gewiefter Makler sicherlich als «Latte-farben» bezeichnet hätte, dabei waren sie einfach nur schmutzigbeige. Das Zimmer war genau wie der Sex, den er hier gehabt hatte: phantasielos und ein wenig langweilig, aber er erfüllte seinen Zweck. So wie immer. Leider hielt die Befriedigung nie besonders lange an.
Sebastian schloss die Augen. Dies war der Moment, der am meisten schmerzte. Der Übergang zur Wirklichkeit. Der U-Turn der Gefühle, den er so gut kannte. Er konzentrierte sich auf die Frau im Bett, insbesondere auf die eine Brustwarze, die nicht bedeckt war.
Wie hieß sie bloß? Er wusste, dass er sich vorgestellt hatte, als er mit den Drinks zu ihr zurückkam, das machte er immer so. Nie in dem Moment, wenn er sich erkundigte, ob der Platz neben ihr noch frei sei, was sie trinken wolle und ob er sie zu etwas einladen dürfe. Immer erst dann, wenn er das Glas vor ihr abstellte.
‹Ich heiße übrigens Sebastian.›
Und was hatte sie geantwortet? Irgendwas mit K, da war er sich ziemlich sicher. Er zog den Gürtel durch die Schlaufen seiner Hose. Ein kurzes, metallisches Klirren von der Schnalle.
«Du gehst?» Ihre Stimme war schläfrig-heiser, ihr Blick suchte nach dem Wecker auf dem Nachttisch.
«Ja.»
«Ich dachte, wir frühstücken noch zusammen. Wie viel Uhr ist es?»
«Kurz vor fünf.»
Die Frau stützte sich auf einen Ellbogen. Wie alt war sie? Knapp vierzig? Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Reste des Schlafs wurden von der Erkenntnis vertrieben, dass der Morgen nicht so verlaufen würde, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Sebastian hatte sich aus dem Bett geschlichen, angezogen und gehen wollen, ohne sie zu wecken. Sie würden weder gemeinsam frühstücken, noch Zeitung lesen, noch einen Sonntagsspaziergang machen. Er würde sie nicht näher kennenlernen wollen und nicht wieder anrufen, was auch immer er behauptet hatte. Das wusste sie.
Deshalb sagte er nur: «Mach es gut.»
Sebastian bemühte sich nicht einmal mehr, ihren Namen zu erraten. Plötzlich war er sich sogar unsicher, ob er überhaupt mit K anfing.
In der Morgendämmerung war es noch ruhig auf der Straße. Der Vorort schlummerte, und alle Geräusche wirkten so dezent, als wollten sie ihn nicht wecken. Sogar der Verkehr auf dem nahe gelegenen Nynäsvägen klang geradezu respektvoll gedämpft. Sebastian blieb vor dem Straßenschild an der nächsten Kreuzung stehen. Varpavägen. Irgendwo in Gubbängen. Ein gutes Stück bis nach Hause. Fuhr die U-Bahn so früh schon? Heute Nacht hatten sie ein Taxi genommen. Unterwegs bei einem 7-Eleven gehalten und Brötchen fürs Frühstück gekauft, weil ihr eingefallen war, dass sie nichts mehr im Haus hatte. Denn er habe doch wohl vor, zum Frühstück zu bleiben? Brötchen und Saft hatten sie gekauft, er und ... es war einfach zum Verzweifeln. Wie hieß diese Frau? Sebastian setzte seinen Weg auf der menschenleeren Straße fort.
Er hatte sie verletzt, wie auch immer sie hieß.
In vierzehn Stunden würde er nach Västerås fahren und erledigen, was zu tun war. Diese Frau würde ihn nichts mehr angehen.
Es begann zu regnen.
Was für ein beschissener Morgen.
In Gubbängen.
Es ging alles schief, was nur schiefgehen konnte. Die Schuhe von Polizeikommissar Thomas Haraldsson waren undicht, sein Funkgerät funktionierte nicht, und obendrein hatte er seinen Suchtrupp verloren. Die Sonnenstrahlen blendeten ihn so sehr, dass er blinzeln musste, um nicht über die niedrigen Büsche und Wurzeln zu stolpern, die auf dem sumpfigen Boden wucherten. Haraldsson fluchte vor sich hin und sah auf die Uhr. In knapp zwei Stunden begann Jennys Mittagspause im Krankenhaus. Sie würde sich ins Auto setzen und nach Hause fahren in der Hoffnung, dass er ebenfalls käme. Doch er würde es nicht schaffen. Er würde noch immer in diesem verfluchten Wald umherstapfen.
Haraldsson sank mit dem linken Fuß ein und spürte, wie die Tennissocke das Wasser in seinen Schuh hineinsog. In der Luft lag bereits die junge, flüchtige Wärme des Frühjahrs, aber das Wasser bewahrte noch die Kälte des Winters. Ihn schauderte, doch es gelang ihm, den Fuß aus dem sumpfigen Untergrund herauszuziehen und festen Boden zu erreichen.
Haraldsson sah sich um. In diese Richtung musste Osten sein. Waren dort nicht die Soldaten unterwegs? Oder die Pfadfinder? Es war allerdings auch möglich, dass er im Kreis gelaufen war und völlig die Orientierung verloren hatte. Ein Stück entfernt erblickte er jedoch einen Hügel, der trockenen Boden versprach, eine kleine Oase in diesem Höllenpfuhl. Er begann, dorthin zu stapfen. Sein Fuß sank erneut ein. Diesmal der rechte. Eine schöne Scheiße.
Es war alles Hansers Schuld.
Er müsste hier nicht bis zu den Waden durchnässt stehen, hätte Hanser nicht unbedingt Handlungsstärke demonstrieren wollen. Dazu hatte sie auch allen Grund, denn eigentlich war sie ja noch nicht einmal eine richtige Polizistin. Sie gehörte zu jenen Juristen, die sich bis zur Führungsebene durchmogelten, ohne sich je die Hände schmutzig zu machen oder, wie in seinem Fall, die Füße nass.
Nein, hätte die Entscheidung bei Haraldsson gelegen, wären sie die Sache vollkommen anders angegangen. Sicher, der Junge war seit Freitag verschwunden, und laut Vorschrift war es richtig, das Suchgebiet auszuweiten, insbesondere, weil ein Anrufer an dem betreffenden Wochenende «nächtliche Aktivitäten» und «Licht im Wald» in der Gegend um Listakärr beobachtet hatte. Doch Haraldsson wusste aus Erfahrung, dass diese Aktion völlig sinnlos war. Der Junge war in Stockholm und lachte über seine besorgte Mutter. Er war sechzehn Jahre alt. Und sechzehnjährige Jungs taten das nun mal - über ihre Mütter lachen.
Hanser.
Je nasser Haraldsson wurde, desto mehr hasste er sie. Sie war das Schlimmste, was ihm je passiert war. Jung, attraktiv, erfolgreich, politisch, eine Repräsentantin der neuen, modernen Polizei.
Hanser war ihm in die Quere gekommen. Schon als sie das erste Mal bei der Polizei in Västerås vorsprach, war Haraldsson klar geworden, dass seine Karriere eine Vollbremsung hingelegt hatte. Er bewarb sich um den Posten. Sie bekam ihn. Mindestens fünf Jahre lang würde sie dort Chefi n sein. Seine fünf Jahre. Man hatte ihm die Leiter nach oben weggezogen. Stattdessen hatte sich seine Karriere langsam auf dem jetzigen Niveau eingependelt, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis sie eine Talfahrt machte. Es war geradezu symbolisch, dass er nun ein paar Kilometer von Västerås entfernt in einem Wald bis zu den Knien im stinkenden Schlamm steckte.
«HEUTE KUSCHELIGE MITTAGSPAUSE» war in Großbuchstaben in der SMS zu lesen gewesen, die er vorhin erhalten hatte. Was bedeutete, dass Jenny über Mittag nach Hause kommen würde, um mit ihm zu schlafen, und abends würden sie es dann noch ein- oder zweimal tun. So sah ihr Leben zurzeit aus. Jenny war in Behandlung, weil sie nicht schwanger wurde, und sie hatte gemeinsam mit dem Arzt einen Zeitplan ausgearbeitet, um die Befruchtungschancen zu optimieren. Und heute war ein optimaler Tag. Daher die SMS. Haraldsson war zwiegespalten. In gewisser Hinsicht wusste er es zu schätzen, dass ihr Sexleben in der letzten Zeit eine Aktivitätssteigerung von mehreren hundert Prozent erfahren hatte, dass Jenny ihn ständig wollte. Gleichzeitig wurde er den Gedanken nicht los, dass sie im Grunde gar nicht ihn wollte, sondern nur seine Spermien. Ohne ihren Kinderwunsch wäre sie niemals auf die Idee gekommen, für einen Quickie über Mittag nach Hause zu fahren. Das Ganze erinnerte ein wenig an Tierzucht. Sobald eine Eizelle ihre Wanderung in Richtung Gebärmutter antrat, legten sie los wie die Kaninchen. Und zwischendurch auch, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Doch es ging nie mehr um Genuss, nie mehr um Nähe. Was war aus der Leidenschaft geworden? Der Lust? Und jetzt würde sie mittags in ein leeres Haus kommen. Vielleicht hätte er sie anrufen sollen, um zu fragen, ob er in ein Glas ejakulieren und es in den Kühlschrank stellen sollte, bevor er ging. Und das Schlimmste: Er war sich nicht einmal sicher, ob Jenny das für eine gänzlich schlechte Idee gehalten hätte.
Alles hatte am Samstag begonnen.
Gegen 15 Uhr hatte die Notrufzentrale ein Gespräch zur Polizei Västerås durchgestellt. Eine Mutter hatte ihren sechzehnjährigen Sohn vermisst gemeldet. Da es sich um einen Minderjährigen handelte, wurde die Vermisstenmeldung mit der höchsten Priorität versehen. Ganz vorschriftsgemäß.
Leider blieb die dringende Meldung dann allerdings bis Sonntag liegen, als eine Streife damit beauftragt wurde, der Sache nachzugehen - mit dem Ergebnis, dass die Mutter gegen 16 Uhr Besuch von zwei uniformierten Beamten bekam. Ihre Angaben wurden nun ein zweites Mal aufgenommen und registriert, bevor die Beamten am späteren Abend ihren Dienst beendeten. Noch immer hatte man keinerlei Maßnahmen ergriffen, abgesehen davon, dass nun zwei sorgfältige, nahezu identische Vermisstenmeldungen zum selben Vermissten vorlagen. Beide mit dem Vermerk «höchste Priorität» gekennzeichnet.
Erst am Montagmorgen, als Roger Eriksson bereits seit achtundfünfzig Stunden verschwunden war, fiel dem diensthabenden Beamten auf, dass die Vermisstenmeldung ohne weitere Konsequenzen geblieben war. Leider zog sich eine Fachsitzung über den Vorschlag des Reichspolizeiamtes zum Thema neue Uniformen so sehr in die Länge, dass man Haraldsson den aufgeschobenen Fall erst nach der Mittagspause zuteilte. Als er das Eingangsdatum sah, dankte Haraldsson seinem Schutzengel, dass die Streife Lena Eriksson am Sonntagabend besucht hatte. Dass die Beamten lediglich eine weitere Meldung geschrieben hatten, musste Rogers Mutter ja nicht erfahren. Nein, die Ermittlungen hatten bereits am Sonntag ernsthaft begonnen, aber noch zu keinem Ergebnis geführt. An dieser Version würde Haraldsson festhalten.
Er sah ein, dass er gezwungen war, zumindest einige zusätzliche Informationen einzuholen, bevor er mit Lena Eriksson sprach. Also versuchte er, Lisa Hansson zu erreichen, die jedoch noch in der Schule war.
Er suchte im Polizeiregister sowohl nach Lena Eriksson als auch nach ihrem Sohn. Bei Roger tauchten einige Anzeigen wegen Ladendiebstahls auf. Die letzte war bereits ein Jahr her und nur schwer mit seinem Verschwinden in Verbindung zu bringen. Zur Mutter gab es nichts.
Haraldsson rief bei der Gemeindeverwaltung an und erfuhr, dass Roger auf die Palmlövska-Schule ging.
Nicht gut, dachte Haraldsson.
Dieses Gymnasium war eine Privatschule mit angeschlossenem Internat. Ranglisten zufolge eine der besten Schulen des Landes. Auf die Palmlövska gingen begabte und äußerst motivierte Kinder reicher Eltern. Eltern mit guten Kontakten. Man würde einen Sündenbock dafür suchen, dass die Ermittlungen nicht sofort aufgenommen worden waren, und in diesem Zusammenhang machte es keinen guten Eindruck, am dritten Tag rein gar nichts erreicht zu haben. Haraldsson beschloss, alles andere beiseitezulegen. Seine Karriere war bereits zum Stillstand gekommen, und es wäre dumm, weitere Risiken einzugehen.
Also hatte er an jenem Nachmittag hart gearbeitet und der Schule einen Besuch abgestattet. Sowohl Rektor Ragnar Groth als auch Roger Erikssons Klassenlehrerin Beatrice Strand reagierten äußerst besorgt und bestürzt, als sie erfuhren, dass Roger vermisst wurde, konnten davon abgesehen allerdings nicht weiterhelfen. Zumindest hatten sie nichts Ungewöhnliches bemerkt. Roger habe sich verhalten wie immer, ganz normal die Schule besucht, Freitagnachmittag eine Klausur in Schwedisch geschrieben, und laut seinen Mitschülern war er hinterher gut gelaunt gewesen.
Immerhin konnte Haraldsson hier mit Lisa Hansson sprechen, die Roger am Freitagabend als Letzte gesehen hatte. Sie ging in die Parallelklasse und wurde ihm in der Cafeteria des Gymnasiums vorgestellt. Sie war ein hübsches, wenn auch ziemlich durchschnittliches Mädchen. Glattes, blondes Haar, den Pony mit einer einfachen Haarspange hochgesteckt. Ungeschminkte blaue Augen. Eine bis zum vorletzten Knopf geschlossene, weiße Bluse, darüber eine Weste. Haraldsson musste unmittelbar an die Freikirche denken, als er ihr gegenüber Platz nahm. Oder an das Mädchen aus dieser Serie, «Der weiße Stein», die im Fernsehen gelaufen war, als er noch ein Kind war. Er fragte, ob sie etwas trinken wolle. Sie schüttelte den Kopf.
«Erzähl mir von dem Freitag, als Roger bei dir war.»
Lisa sah ihn an und zuckte kurz mit den Achseln.
«Er ist vielleicht so um halb sechs gekommen, wir haben in meinem Zimmer gesessen und ferngesehen, und dann ist er gegen zehn nach Hause gegangen. Jedenfalls hat er gesagt, er würde nach Hause gehen ...»
Haraldsson nickte. Viereinhalb Stunden auf ihrem Zimmer. Zwei Sechzehnjährige. Ferngesehen, das konnte sie vielleicht ihrer Großmutter erzählen. Oder schloss er zu sehr von sich auf andere? Wie lange war es her, seit Jenny und er das letzte Mal einen ganzen Abend lang ferngesehen hatten? Ohne Quickie in der Werbepause? Monate.
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Der Mann war kein Mörder.
Er redete es sich selbst ein, während er den toten Jungen den Abhang hinunterschleifte: Ich bin kein Mörder.
Mörder sind Kriminelle. Mörder sind schlechte Menschen. Die Finsternis hat ihre Seele verschlungen, sie haben die Schwärze umarmt und willkommen geheißen, dem Licht ihren Rücken zugewandt. Er war kein schlechter Mensch. Ganz und gar nicht.
Hatte er in letzter Zeit nicht sogar genau das Gegenteil bewiesen? Hatte er nicht zum Wohl anderer seine eigenen Gefühle, seinen eigenen Willen zurückgestellt und sich damit beinahe selbst Gewalt angetan? Die andere Wange hingehalten, das hatte er. War nicht die Tatsache, dass er hier, in dieser sumpfigen Senke mitten im Nirgendwo, mit einem toten Jungen stand, ein weiterer Beweis dafür, dass er das Richtige tun wollte? Es tun musste. Dass er nie wieder versagen durfte.
Der Mann blieb stehen und verschnaufte. Der Junge war nicht sonderlich groß, aber er war schwer. Trainiert. Viele Stunden im Fitnessstudio. Doch nun war es nicht mehr weit. Er packte das Hosenbein, das einmal weiß gewesen war, in der Dunkelheit jedoch fast schwarz aussah. Der Junge hatte so stark geblutet.
Ja, es war falsch, einen Menschen umzubringen. Fünftes Gebot. Du sollst nicht töten. Doch es gab Ausnahmen. An vielen Stellen forderte die Bibel sogar zum Töten auf, wenn es gerechtfertigt war. Es gab jene, die es verdient hatten. Aus falsch konnte richtig werden. Nichts war absolut.
Wenn das Motiv nicht egoistisch war. Wenn der Verlust eines Menschenlebens andere retten würde. Ihnen eine Chance gäbe, ein neues Leben schenkte. Dann konnte die Tat doch unmöglich schlecht sein? Wenn die Absicht gut war?
Als er das dunkle Gewässer erreicht hatte, blieb der Mann stehen. Die Regenfälle der letzten Tage hatten den Boden durchweicht, sodass der Tümpel, der sonst nur wenige Meter tief war, sich nun wie ein kleiner See über die gestrüppreiche Senke erstreckte.
Der Mann beugte sich vor und fasste den Jungen an den Schultern. Mühsam zog er den leblosen Körper in eine halb aufrechte Position hoch. Für einen Moment sah er dem Jungen direkt in die Augen. Was war sein letzter Gedanke gewesen? Hatte er überhaupt Zeit gehabt, etwas zu denken? Hatte er begriffen, dass er sterben würde? Und sich gefragt, warum? Hatte er an all das gedacht, wofür er in seinem kurzen Leben keine Zeit mehr gehabt hatte? Oder an das, was er geschafft hatte?
Es spielte keine Rolle.
Warum quälte er sich dann so?
Er hatte keine Wahl.
Er durfte nicht versagen, nicht noch einmal.
Dennoch zögerte er. Nein, sie würden es nicht verstehen. Ihm nicht verzeihen. Nicht wie er die andere Wange hinhalten.
Er gab dem Jungen einen Stoß, und der Körper fiel mit einem lauten Platsch ins Wasser. Überrascht von dem plötzlichen Geräusch in der Stille der Dunkelheit, fuhr der Mann zusammen.
Die Leiche des Jungen versank im Wasser und verschwand.
Der Mann, der kein Mörder war, kehrte zu seinem Auto zurück, das er auf einem kleinen Waldweg geparkt hatte, und fuhr nach Hause.
Polizei Västerås, Sie sprechen mit Klara Lidman.»
«Ich möchte meinen Sohn vermisst melden.»
Die Frau klang beinahe entschuldigend. Als wäre sie nicht sicher, ob sie die richtige Nummer gewählt hatte, oder als erwartete sie im Grunde nicht, dass man ihr glauben würde. Klara Lidman zog ihren Notizblock heran, obwohl das Gespräch ohnehin auf Band aufgezeichnet wurde.
«Wie ist Ihr Name?»
«Lena Eriksson. Mein Sohn heißt Roger. Roger Eriksson.»
«Und wie alt ist Ihr Sohn?»
«Sechzehn. Ich habe ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen.»
Klara notierte das Alter und begriff, dass sie diese Angelegenheit sofort an die Kollegen weiterleiten musste. Vorausgesetzt, der Junge war tatsächlich verschwunden.
«Seit wann genau gestern Nachmittag?»
«Er hat sich so gegen fünf aus dem Staub gemacht.»
Vor zweiundzwanzig Stunden. Zweiundzwanzig wichtige Stunden, wenn ein Mensch vermisst wurde.
«Wissen Sie, wohin er gegangen ist?»
«Ja, zu Lisa.»
«Wer ist das?»
«Seine Freundin. Ich habe heute bei ihr angerufen, aber sie hat gesagt, dass er gestern Abend gegen zehn wieder gegangen ist.»
Klara strich die beiden Zweien auf dem Notizzettel durch und ersetzte sie durch eine Siebzehn.
«Wohin ist er dann gegangen?»
«Das wusste sie nicht. Nach Hause, dachte sie. Aber er kam hier nicht an. Die ganze Nacht nicht. Und jetzt ist fast schon ein Tag vergangen.»
Und da rufst du erst jetzt an, dachte Klara.
Die Frau am anderen Ende wirkte nicht sonderlich aufgeregt, das fi el ihr nun auf. Eher gedämpft. Resigniert.
«Wie heißt Lisa weiter?»
«Hansson.»
Klara notierte den Namen.
«Besitzt Roger ein Handy? Haben Sie schon versucht, ihn zu erreichen?»
«Ja, aber er geht nicht ran.»
«Und Sie haben keine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte? Hat er vielleicht bei einem Freund übernachtet?»
«Nein, dann hätte er angerufen.»
Die Frau machte eine kurze Pause, und Klara vermutete zunächst, ihr hätte die Stimme versagt, bis sie am anderen Ende der Leitung ein Inhalieren hörte. Sie hatte lediglich einen tiefen Zug von ihrer Zigarette genommen.
Die Frau stieß den Rauch aus.
«Er ist einfach weg.»
Der Traum kehrte jede Nacht wieder. Er ließ ihm keine Ruhe. Der immer gleiche Traum, die immer gleichen Szenen der Angst. Das irritierte ihn. Machte ihn wahnsinnig. Sebastian Bergman war einfach zu gut dafür. Wer, wenn nicht er, wusste, was Träume bedeuteten; wer, wenn nicht er, müsste diese fi eberhaften Erinnerungen zu verkraften lernen. Doch so gut er auch gewappnet war, so klar er diesen Traum zu interpretieren vermochte, er konnte nicht verhindern, von ihm verfolgt zu werden. Es schien, als könne der Traum seine Professionalität austricksen, um ihm vor Augen zu führen, was auch ein Teil von ihm war.
4:43 Uhr.
Es dämmerte. Sein Mund war trocken. Hatte er geschrien? Vermutlich nicht, denn die Frau, die neben ihm lag, war nicht aufgewacht. Sie atmete ruhig, er sah, wie ihr langes Haar über ihre nackte Brust fi el und sie zur Hälfte bedeckte. Sebastian streckte seine verkrampften Finger, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass seine rechte Faust fest geballt war, wenn er aus dem Traum erwachte.
Er versuchte, sich an den Namen des Wesens zu erinnern, das neben ihm schlief. Katarina? Karin?
Sie musste ihn gestern Abend irgendwann genannt haben. Kristina? Caroline?
Nicht, dass es irgendeine Rolle spielte, er hatte nicht vor, sie jemals wieder zu treffen. In seinem Gedächtnis zu wühlen, half ihm jedoch, die verschwommenen Reste des Traumes zu verjagen, die an all seinen Sinnen zu haften schienen.
Dieses Traumes, der ihn seit mehr als fünf Jahren verfolgte. Jede Nacht der gleiche Traum, die gleichen Bilder. Sein Unterbewusstsein war hellwach und verarbeitete, was ihm tagsüber nicht gelang: mit seiner Schuld fertigzuwerden.
Sebastian erhob sich langsam aus dem Bett, unterdrückte ein Gähnen und nahm seine Kleider von dem Stuhl, auf dem er sie vor einigen Stunden abgelegt hatte. Während er sich anzog, blickte er sich desinteressiert in dem Zimmer um, in dem er die Nacht verbracht hatte. Ein Bett, zwei Wandschränke, einer davon mit Spiegeltür, ein einfacher, weißer Nachttisch von IKEA, darauf ein Wecker und eine Ausgabe Fit for Fun. Außerdem ein Tisch mit einem Foto vom Scheidungskind und allerlei Kleinkram neben dem Stuhl, von dem er gerade seine Kleider genommen hatte. Nichtssagende Kunstdrucke hingen an den Wänden, die ein gewiefter Makler sicherlich als «Latte-farben» bezeichnet hätte, dabei waren sie einfach nur schmutzigbeige. Das Zimmer war genau wie der Sex, den er hier gehabt hatte: phantasielos und ein wenig langweilig, aber er erfüllte seinen Zweck. So wie immer. Leider hielt die Befriedigung nie besonders lange an.
Sebastian schloss die Augen. Dies war der Moment, der am meisten schmerzte. Der Übergang zur Wirklichkeit. Der U-Turn der Gefühle, den er so gut kannte. Er konzentrierte sich auf die Frau im Bett, insbesondere auf die eine Brustwarze, die nicht bedeckt war.
Wie hieß sie bloß? Er wusste, dass er sich vorgestellt hatte, als er mit den Drinks zu ihr zurückkam, das machte er immer so. Nie in dem Moment, wenn er sich erkundigte, ob der Platz neben ihr noch frei sei, was sie trinken wolle und ob er sie zu etwas einladen dürfe. Immer erst dann, wenn er das Glas vor ihr abstellte.
‹Ich heiße übrigens Sebastian.›
Und was hatte sie geantwortet? Irgendwas mit K, da war er sich ziemlich sicher. Er zog den Gürtel durch die Schlaufen seiner Hose. Ein kurzes, metallisches Klirren von der Schnalle.
«Du gehst?» Ihre Stimme war schläfrig-heiser, ihr Blick suchte nach dem Wecker auf dem Nachttisch.
«Ja.»
«Ich dachte, wir frühstücken noch zusammen. Wie viel Uhr ist es?»
«Kurz vor fünf.»
Die Frau stützte sich auf einen Ellbogen. Wie alt war sie? Knapp vierzig? Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Reste des Schlafs wurden von der Erkenntnis vertrieben, dass der Morgen nicht so verlaufen würde, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Sebastian hatte sich aus dem Bett geschlichen, angezogen und gehen wollen, ohne sie zu wecken. Sie würden weder gemeinsam frühstücken, noch Zeitung lesen, noch einen Sonntagsspaziergang machen. Er würde sie nicht näher kennenlernen wollen und nicht wieder anrufen, was auch immer er behauptet hatte. Das wusste sie.
Deshalb sagte er nur: «Mach es gut.»
Sebastian bemühte sich nicht einmal mehr, ihren Namen zu erraten. Plötzlich war er sich sogar unsicher, ob er überhaupt mit K anfing.
In der Morgendämmerung war es noch ruhig auf der Straße. Der Vorort schlummerte, und alle Geräusche wirkten so dezent, als wollten sie ihn nicht wecken. Sogar der Verkehr auf dem nahe gelegenen Nynäsvägen klang geradezu respektvoll gedämpft. Sebastian blieb vor dem Straßenschild an der nächsten Kreuzung stehen. Varpavägen. Irgendwo in Gubbängen. Ein gutes Stück bis nach Hause. Fuhr die U-Bahn so früh schon? Heute Nacht hatten sie ein Taxi genommen. Unterwegs bei einem 7-Eleven gehalten und Brötchen fürs Frühstück gekauft, weil ihr eingefallen war, dass sie nichts mehr im Haus hatte. Denn er habe doch wohl vor, zum Frühstück zu bleiben? Brötchen und Saft hatten sie gekauft, er und ... es war einfach zum Verzweifeln. Wie hieß diese Frau? Sebastian setzte seinen Weg auf der menschenleeren Straße fort.
Er hatte sie verletzt, wie auch immer sie hieß.
In vierzehn Stunden würde er nach Västerås fahren und erledigen, was zu tun war. Diese Frau würde ihn nichts mehr angehen.
Es begann zu regnen.
Was für ein beschissener Morgen.
In Gubbängen.
Es ging alles schief, was nur schiefgehen konnte. Die Schuhe von Polizeikommissar Thomas Haraldsson waren undicht, sein Funkgerät funktionierte nicht, und obendrein hatte er seinen Suchtrupp verloren. Die Sonnenstrahlen blendeten ihn so sehr, dass er blinzeln musste, um nicht über die niedrigen Büsche und Wurzeln zu stolpern, die auf dem sumpfigen Boden wucherten. Haraldsson fluchte vor sich hin und sah auf die Uhr. In knapp zwei Stunden begann Jennys Mittagspause im Krankenhaus. Sie würde sich ins Auto setzen und nach Hause fahren in der Hoffnung, dass er ebenfalls käme. Doch er würde es nicht schaffen. Er würde noch immer in diesem verfluchten Wald umherstapfen.
Haraldsson sank mit dem linken Fuß ein und spürte, wie die Tennissocke das Wasser in seinen Schuh hineinsog. In der Luft lag bereits die junge, flüchtige Wärme des Frühjahrs, aber das Wasser bewahrte noch die Kälte des Winters. Ihn schauderte, doch es gelang ihm, den Fuß aus dem sumpfigen Untergrund herauszuziehen und festen Boden zu erreichen.
Haraldsson sah sich um. In diese Richtung musste Osten sein. Waren dort nicht die Soldaten unterwegs? Oder die Pfadfinder? Es war allerdings auch möglich, dass er im Kreis gelaufen war und völlig die Orientierung verloren hatte. Ein Stück entfernt erblickte er jedoch einen Hügel, der trockenen Boden versprach, eine kleine Oase in diesem Höllenpfuhl. Er begann, dorthin zu stapfen. Sein Fuß sank erneut ein. Diesmal der rechte. Eine schöne Scheiße.
Es war alles Hansers Schuld.
Er müsste hier nicht bis zu den Waden durchnässt stehen, hätte Hanser nicht unbedingt Handlungsstärke demonstrieren wollen. Dazu hatte sie auch allen Grund, denn eigentlich war sie ja noch nicht einmal eine richtige Polizistin. Sie gehörte zu jenen Juristen, die sich bis zur Führungsebene durchmogelten, ohne sich je die Hände schmutzig zu machen oder, wie in seinem Fall, die Füße nass.
Nein, hätte die Entscheidung bei Haraldsson gelegen, wären sie die Sache vollkommen anders angegangen. Sicher, der Junge war seit Freitag verschwunden, und laut Vorschrift war es richtig, das Suchgebiet auszuweiten, insbesondere, weil ein Anrufer an dem betreffenden Wochenende «nächtliche Aktivitäten» und «Licht im Wald» in der Gegend um Listakärr beobachtet hatte. Doch Haraldsson wusste aus Erfahrung, dass diese Aktion völlig sinnlos war. Der Junge war in Stockholm und lachte über seine besorgte Mutter. Er war sechzehn Jahre alt. Und sechzehnjährige Jungs taten das nun mal - über ihre Mütter lachen.
Hanser.
Je nasser Haraldsson wurde, desto mehr hasste er sie. Sie war das Schlimmste, was ihm je passiert war. Jung, attraktiv, erfolgreich, politisch, eine Repräsentantin der neuen, modernen Polizei.
Hanser war ihm in die Quere gekommen. Schon als sie das erste Mal bei der Polizei in Västerås vorsprach, war Haraldsson klar geworden, dass seine Karriere eine Vollbremsung hingelegt hatte. Er bewarb sich um den Posten. Sie bekam ihn. Mindestens fünf Jahre lang würde sie dort Chefi n sein. Seine fünf Jahre. Man hatte ihm die Leiter nach oben weggezogen. Stattdessen hatte sich seine Karriere langsam auf dem jetzigen Niveau eingependelt, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis sie eine Talfahrt machte. Es war geradezu symbolisch, dass er nun ein paar Kilometer von Västerås entfernt in einem Wald bis zu den Knien im stinkenden Schlamm steckte.
«HEUTE KUSCHELIGE MITTAGSPAUSE» war in Großbuchstaben in der SMS zu lesen gewesen, die er vorhin erhalten hatte. Was bedeutete, dass Jenny über Mittag nach Hause kommen würde, um mit ihm zu schlafen, und abends würden sie es dann noch ein- oder zweimal tun. So sah ihr Leben zurzeit aus. Jenny war in Behandlung, weil sie nicht schwanger wurde, und sie hatte gemeinsam mit dem Arzt einen Zeitplan ausgearbeitet, um die Befruchtungschancen zu optimieren. Und heute war ein optimaler Tag. Daher die SMS. Haraldsson war zwiegespalten. In gewisser Hinsicht wusste er es zu schätzen, dass ihr Sexleben in der letzten Zeit eine Aktivitätssteigerung von mehreren hundert Prozent erfahren hatte, dass Jenny ihn ständig wollte. Gleichzeitig wurde er den Gedanken nicht los, dass sie im Grunde gar nicht ihn wollte, sondern nur seine Spermien. Ohne ihren Kinderwunsch wäre sie niemals auf die Idee gekommen, für einen Quickie über Mittag nach Hause zu fahren. Das Ganze erinnerte ein wenig an Tierzucht. Sobald eine Eizelle ihre Wanderung in Richtung Gebärmutter antrat, legten sie los wie die Kaninchen. Und zwischendurch auch, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Doch es ging nie mehr um Genuss, nie mehr um Nähe. Was war aus der Leidenschaft geworden? Der Lust? Und jetzt würde sie mittags in ein leeres Haus kommen. Vielleicht hätte er sie anrufen sollen, um zu fragen, ob er in ein Glas ejakulieren und es in den Kühlschrank stellen sollte, bevor er ging. Und das Schlimmste: Er war sich nicht einmal sicher, ob Jenny das für eine gänzlich schlechte Idee gehalten hätte.
Alles hatte am Samstag begonnen.
Gegen 15 Uhr hatte die Notrufzentrale ein Gespräch zur Polizei Västerås durchgestellt. Eine Mutter hatte ihren sechzehnjährigen Sohn vermisst gemeldet. Da es sich um einen Minderjährigen handelte, wurde die Vermisstenmeldung mit der höchsten Priorität versehen. Ganz vorschriftsgemäß.
Leider blieb die dringende Meldung dann allerdings bis Sonntag liegen, als eine Streife damit beauftragt wurde, der Sache nachzugehen - mit dem Ergebnis, dass die Mutter gegen 16 Uhr Besuch von zwei uniformierten Beamten bekam. Ihre Angaben wurden nun ein zweites Mal aufgenommen und registriert, bevor die Beamten am späteren Abend ihren Dienst beendeten. Noch immer hatte man keinerlei Maßnahmen ergriffen, abgesehen davon, dass nun zwei sorgfältige, nahezu identische Vermisstenmeldungen zum selben Vermissten vorlagen. Beide mit dem Vermerk «höchste Priorität» gekennzeichnet.
Erst am Montagmorgen, als Roger Eriksson bereits seit achtundfünfzig Stunden verschwunden war, fiel dem diensthabenden Beamten auf, dass die Vermisstenmeldung ohne weitere Konsequenzen geblieben war. Leider zog sich eine Fachsitzung über den Vorschlag des Reichspolizeiamtes zum Thema neue Uniformen so sehr in die Länge, dass man Haraldsson den aufgeschobenen Fall erst nach der Mittagspause zuteilte. Als er das Eingangsdatum sah, dankte Haraldsson seinem Schutzengel, dass die Streife Lena Eriksson am Sonntagabend besucht hatte. Dass die Beamten lediglich eine weitere Meldung geschrieben hatten, musste Rogers Mutter ja nicht erfahren. Nein, die Ermittlungen hatten bereits am Sonntag ernsthaft begonnen, aber noch zu keinem Ergebnis geführt. An dieser Version würde Haraldsson festhalten.
Er sah ein, dass er gezwungen war, zumindest einige zusätzliche Informationen einzuholen, bevor er mit Lena Eriksson sprach. Also versuchte er, Lisa Hansson zu erreichen, die jedoch noch in der Schule war.
Er suchte im Polizeiregister sowohl nach Lena Eriksson als auch nach ihrem Sohn. Bei Roger tauchten einige Anzeigen wegen Ladendiebstahls auf. Die letzte war bereits ein Jahr her und nur schwer mit seinem Verschwinden in Verbindung zu bringen. Zur Mutter gab es nichts.
Haraldsson rief bei der Gemeindeverwaltung an und erfuhr, dass Roger auf die Palmlövska-Schule ging.
Nicht gut, dachte Haraldsson.
Dieses Gymnasium war eine Privatschule mit angeschlossenem Internat. Ranglisten zufolge eine der besten Schulen des Landes. Auf die Palmlövska gingen begabte und äußerst motivierte Kinder reicher Eltern. Eltern mit guten Kontakten. Man würde einen Sündenbock dafür suchen, dass die Ermittlungen nicht sofort aufgenommen worden waren, und in diesem Zusammenhang machte es keinen guten Eindruck, am dritten Tag rein gar nichts erreicht zu haben. Haraldsson beschloss, alles andere beiseitezulegen. Seine Karriere war bereits zum Stillstand gekommen, und es wäre dumm, weitere Risiken einzugehen.
Also hatte er an jenem Nachmittag hart gearbeitet und der Schule einen Besuch abgestattet. Sowohl Rektor Ragnar Groth als auch Roger Erikssons Klassenlehrerin Beatrice Strand reagierten äußerst besorgt und bestürzt, als sie erfuhren, dass Roger vermisst wurde, konnten davon abgesehen allerdings nicht weiterhelfen. Zumindest hatten sie nichts Ungewöhnliches bemerkt. Roger habe sich verhalten wie immer, ganz normal die Schule besucht, Freitagnachmittag eine Klausur in Schwedisch geschrieben, und laut seinen Mitschülern war er hinterher gut gelaunt gewesen.
Immerhin konnte Haraldsson hier mit Lisa Hansson sprechen, die Roger am Freitagabend als Letzte gesehen hatte. Sie ging in die Parallelklasse und wurde ihm in der Cafeteria des Gymnasiums vorgestellt. Sie war ein hübsches, wenn auch ziemlich durchschnittliches Mädchen. Glattes, blondes Haar, den Pony mit einer einfachen Haarspange hochgesteckt. Ungeschminkte blaue Augen. Eine bis zum vorletzten Knopf geschlossene, weiße Bluse, darüber eine Weste. Haraldsson musste unmittelbar an die Freikirche denken, als er ihr gegenüber Platz nahm. Oder an das Mädchen aus dieser Serie, «Der weiße Stein», die im Fernsehen gelaufen war, als er noch ein Kind war. Er fragte, ob sie etwas trinken wolle. Sie schüttelte den Kopf.
«Erzähl mir von dem Freitag, als Roger bei dir war.»
Lisa sah ihn an und zuckte kurz mit den Achseln.
«Er ist vielleicht so um halb sechs gekommen, wir haben in meinem Zimmer gesessen und ferngesehen, und dann ist er gegen zehn nach Hause gegangen. Jedenfalls hat er gesagt, er würde nach Hause gehen ...»
Haraldsson nickte. Viereinhalb Stunden auf ihrem Zimmer. Zwei Sechzehnjährige. Ferngesehen, das konnte sie vielleicht ihrer Großmutter erzählen. Oder schloss er zu sehr von sich auf andere? Wie lange war es her, seit Jenny und er das letzte Mal einen ganzen Abend lang ferngesehen hatten? Ohne Quickie in der Werbepause? Monate.
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Autoren-Porträt von Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt
Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, ist einer der angesehensten Drehbuchautoren Schwedens und Schöpfer der bislang erfolgreichsten skandinavischen Serie «Die Brücke», die in über 170 Ländern ausgestrahlt wurde und zahlreiche Preise erhielt. Für die britische Fernsehserie «Marcella» wurde er mit dem British Screenwriters' Award in der Kategorie Best Crime Writing on Television ausgezeichnet. Als Teil des Autorenduos Hjorth & Rosenfeldt schrieb er sechs Kriminalromane der Sebastian-Bergman-Reihe, die in 34 Ländern erscheint, sich weltweit über 4 Millionen mal verkauft hat - allein in Deutschland 2,5 Millionen mal - und die von Sveriges Television in Kooperation mit dem ZDF verfilmt wird. Alle Bände befanden sich monatelang in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerlisten, mit Band 6 gelang der Sprung auf Platz 1 sowohl auf der Spiegel-Hardcover- als auch der Taschenbuch-Liste. In seinem Heimatland Schweden ist Hans Rosenfeldt ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Michael Hjorth , Hans Rosenfeldt
- 2016, 31. Aufl., 624 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Allenstein, Ursel
- Übersetzer: Ursel Allenstein
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499256703
- ISBN-13: 9783499256707
- Erscheinungsdatum: 02.01.2013
Rezension zu „Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1 “
Was für ein Buch! Schlaflose, weil durchlesene, Nächte sind garantiert. leser-welt.de
Kommentare zu "Der Mann, der kein Mörder war / Sebastian Bergman Bd.1"
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