Die Kaufmannstochter
1500: Man sagt, Gutta, die reiche Kaufmannstochter, könne "Geschäfte riechen". Deswegen wird sie von den Freunden Ludovik und Bertram umworben. Als Bertram Gutta heiratet, ist sein Erfolg nicht mehr zu bremsen. Doch Ludovik wird sein Feind. Der...
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Produktinformationen zu „Die Kaufmannstochter “
1500: Man sagt, Gutta, die reiche Kaufmannstochter, könne "Geschäfte riechen". Deswegen wird sie von den Freunden Ludovik und Bertram umworben. Als Bertram Gutta heiratet, ist sein Erfolg nicht mehr zu bremsen. Doch Ludovik wird sein Feind. Der fulminante Auftakt zu einer mehrbändigen Familienchronik, die die Geschichte Deutschlands widerspiegelt.
Lese-Probe zu „Die Kaufmannstochter “
Die Kaufmannstochter von Ines ThornProlog
Burg Sauerthal in der Nacht zum 1. Januar 1500
Ein Schrei durchbrach den nächtlichen Frieden der Burg,
ging in schrilles Stöhnen über. Die Kerzen im Zimmer der
Burgherrin flackerten und warfen zuckende Schatten an die
Wände. Im Kohlebecken glimmten die rot glühenden Augen
des letzten Holzscheites, während es zu Asche wurde. Draußen
rüttelte ein Schneesturm an Fenstern und Türen, drückte
die Bäume auf den Boden und brüllte mit der Kreißenden
um die Wette.
»Gelobt sei Jesus Christus«, keuchte die Hebamme, riss
sich den nassen Umhang vom Leib und wischte sich ein paar
Eiskristalle von der Haube.
»In Ewigkeit, Amen«,flüsterte die Magd, die sich mit beiden
Händen an den Bettpfosten klammerte. Angstvoll starrte
sie auf das Gesicht der Kreißenden, die schlaff im Gebärstuhl
hing und mit den Händen am Stoff ihres Kleides riss.
»Wie geht es Euch, Herrin?«
»Das Kind«, stammelte diese matt aus schweißfeuchten
Kleidern.»Es liegt so schwer wie ein Stein. Gott wird uns alle
strafen.«
Die Hebamme rieb die blassen, eiskalten Hände aneinander.
»Abwarten, Herrin. Zwar sagte der Priester, dass die Welt
in der heutigen Nacht, die die Jahrhunderte scheidet, untergehen
wird, dass Gott uns alle für unsere Sünden strafen wird
und deshalb diesen eisigen Sturm als Boten geschickt hat,
aber erst bringen wir Euer Kind zur Welt.«
Dann trat sie zu den Fenstern, hängte Decken davor. Doch
auch die hielten die Kälte und den Sturm nicht ab, sondern
bewegten sich wie Leichentücher im Wind.
... mehr
»Mir ... mir ist so kalt, als stünde der Tod schon im Zimmer
«, flüsterte die junge Burgherrin und wand sich in einer
Wehe.
»Pscht, pscht«, machte die Hebamme und betastete den
Leib der Kreißenden mit sorgenvollem Ausdruck. Dann
schlug sie ihr die Röcke nach oben, spreizte die Schenkel
und ließ die Hände in ihrem Schoß verschwinden. Die junge
Frau wimmerte.
»Das Kind«, murmelte die Hebamme. »Ihr habt recht, es
liegt falsch. Eine Arschgeburt wird es wohl werden.«
Die Magd schrie auf und schlug sich die Hand vor den
Mund.»Eine Arschgeburt?«,murmelte sie und riss die Augen
weit auf.
»Ja. Das Kind, so es lebt, wird mit dem Hintern zuerst in
die Welt gucken. Du, schrei nicht, sondern geh und hole
Branntwein. Wird genug davon in diesem Hause geben, wie
ich den Herrn kenne. Die junge Frau kann's brauchen.«
Die Kreißende starrte wild auf die Magd. »Sag dem Burgherrn
nichts von der Arschgeburt«, bat sie. »Halt den Mund!
Er wird das Kind sonst verstoßen, noch bevor die Welt untergegangen
ist.«
Die Hebamme stemmte die Hände in die Hüften.
»Jetzt hört mit dem Geschwätz auf, Herrin, Ihr werdet
Eure Kräfte noch brauchen. Wenn Gott im Himmel wirklich
zum Jüngsten Gericht blasen sollte, werden wir es noch früh
genug erfahren.«
Sie hätte gern weiter geschimpft, doch im selben Augenblick
schlug draußen die Glocke des Kirchturms ein Mal, dann ein
zweites Mal. Die Hebamme stand stumm und bekreuzigte
sich.
»Gleich Mitternacht«, flüsterte die Kreißende und sah die
Hebamme flehend an. »Macht, dass das Kind jetzt kommt.
Sofort! Ihr wisst, dass es zum Unglück bestimmt ist, wenn ich
es beim zwölften Glockenschlag zur Welt bringe. Und noch
dazu eine Arschgeburt!«
Drei Mal, vier Mal schlug die Glocke. Die Tür flog auf und
der Burgherr kam, gefolgt von der Magd, mit der Branntweinflasche
herein. »Eine Arschgeburt«, schrie er. »Hebamme,
ich werde dich der Inquisition ausliefern, wenn du das
Balg verhext hast.« Er nahm einen langen Schluck vom
Branntwein.
Fünfter, sechster, siebter Glockenschlag. Die junge Frau
schrie in den Wehen, krallte ihre Hände in die Lehnen des
Gebärstuhls, während die Hebamme, die Arme bis zu den
Ellbogen im Schoß der Frau, versuchte, das Kind in die richtige
Lage zu bringen.
»Ich kann es nicht drehen, es geht nicht!«
»Tu endlich was!«, brüllte der Burgherr. »Sonst bist du des
Teufels!«
Der Hebamme lief der Schweiß in Strömen über das
Gesicht, während sie zugleich vor Kälte zitterte. Acht, neun
Schläge. Sie riss dem Burgherrn den Branntwein aus den
Händen, nahm einen kräftigen Schluck, goss wenig feinfühlig
auch der Kreißenden davon in den offenen Mund.
Zehn Mal, elf Mal tönte die Kirchenglocke. Die junge
Burgherrin schrie in schrillen Tönen, die Magd betete laut
das Vaterunser.
Die Hebamme kniete zwischen den Schenkeln der Kreißenden.
»Es kommt! Jetzt kommt es!«
Mit dem mitternächtlichen Glockenschlag ertönte das
erste zaghafte Schreien des Säuglings in dieser Welt. Seine
Mutter wandte sich ab, bedeckte die Augen und begann zu
schluchzen.
Sein Vater aber starrte auf das schreiende Bündel und sagte
dumpf: »Eine Arschgeburt um Mitternacht und zwischen
zwei Jahrhunderten! Tötet das Kind, damit es kein Unglück
über uns bringt.«
1
Rhein-Taunus, im Jahre 1508
Die Bauern holten das Korn von den Feldern, und die
Sonne zeigte erste Anzeichen von Schwäche, als der Junge
sah, wie ein paar Männer in den Burghof ritten, der Burgherr
und der Rossknecht ihre Pferde bestiegen und alle
gemeinsam durch das Tor und hinüber in den Wald ritten, der
bis zur großen Straße reichte. Der Junge war neugierig
geworden. Schon oft waren die Männer so weggeritten und
spät am Abend erschöpft und lärmend mit staubigen
Umhängen und verdreckten Stiefeln zurückgekommen.
Und immer hatten sie volle Satteltaschen gehabt, die sie
nachts mit stolzer Brust in die Vorratskammern schleppten.
Der Junge wäre so gern mit den Männern geritten, aber er
durfte dem Burgherrn nicht unter die Augen kommen.
Gleich nach seiner Geburt hatte der Taunusritter Wolf von
Sauerthal ihn töten wollen, aber die Frauen hatten es verhindert,
hatte ihm die Magd Burga erzählt. Jetzt musste er dafür
sorgen, dass er unsichtbar blieb, sonst warf ihn der Herr doch
noch in den Burggraben und den Raben zum Fraß vor.
Schon oft hatte sich der Junge vorgestellt, wie es wäre, mit
den Männern gemeinsam durch den Wald zu reiten, die
Hunde voran, und ein Wildschwein zu schießen oder eine
Hirschkuh. Heute aber hatten sie keine Hunde dabei, und
der Junge ahnte, dass sie zur Straße ritten. Er hatte keine Ah-
nung, was sie da taten, doch oft hatte er gehört, dass sich die
»Straße gelohnt hatte«.
So lief er den Männern wenigstens hinterher und in den
Wald, aber schon bald hatte er sie aus den Augen verloren. Er
war allein. Seit seiner Geburt war er das. Die Burga gab ihm
zu essen und zu trinken, wusch im Frühling und im Herbst
seinen Kittel, schnitt ihm an Karfreitag und zu Erntedank das
Haar. Die Nacht verbrachte er im Stall, den Tag auf den Wiesen
und Feldern, am Bach oder im Wald.
Er war jetzt an eine Stelle gekommen, an der sich der Weg
gabelte. Unter seinen Füßen raschelte frisch gefallenes Laub,
es roch nach Eicheln, Erde, feuchtem Moos und Pilzen. Ein
paar blasse Sonnenstrahlen spielten mit dem letzten Grün der
Blätter, malten helle Streifen auf den trockenen Waldboden.
Unschlüssig sah der Junge in alle vier Richtungen, suchte
vergebens auf dem Boden nach Hufabdrücken. Den kleinen
Weg, breit genug für seine Füße, aber zu schmal für Pferd und
Reiter, hatte er schon im Frühling entdeckt.
Der Pfad führte durch den Wald bis zur Straße. Vielleicht
würde der Junge heute vor den Männern da sein. Er streifte
zwischen Bäumen und Gesträuch, erschrak vor einem
Eichelhäher, aß ein paar späte Blaubeeren, trank aus dem
Bach und hatte endlich den Waldrand erreicht. Eine Mannshöhe
unter ihm zog sich in einem weiten Bogen die Straße
entlang. Sie kam von Rüdesheim, führte am anderen Ufer
des Flusses an Mainz vorbei und endete in Frankfurt, der großen
Stadt, in der die Könige gekrönt wurden. Über den
abgeernteten Feldern neben der Straße kreisten die Raben.
Weit hinten konnte der Junge dichte graubraune Staubwolken
erkennen. Das hieß, dass sich eine Kolonne oder ein
Trupp Reiter näherte. Es konnten die Leute von der Burg
sein, die da kamen. Und wenn nicht, so würde er die Wagenkolonne,
die Wandermönche, die Gauklertruppe, entflohene
Söldner, fahrende Schüler, einzelne Reiter oder wenigstens
einen Bauern mit einem voll beladenen Karren beobachten.
Er setzte sich mit dem Rücken gegen einen Baum, verschmolz
in seinem grauen Kittel beinahe mit dem Stamm,
legte die Arme um die Knie, stützte das Kinn darauf und wartete.
Schon hörte er das Rumpeln der schweren Fuhrwerke,
roch den Staub und Pferdeschweiß, schon konnte er Schutzleute
erkennen, die den Kaufmannszug begleiteten.
Der Junge liebte den Anblick der Wachmänner. Groß
schienen sie ihm, stark in ihren schwarzen Umhängen, den
schwarzen Baretten und den Dolchen, die sie am Gürtel hängen
hatten. Fast so groß und stark wie der Burgherr und seine
Leute.
Zwei von ihnen ritten der Kolonne voran, zwei folgten ihr.
Die Fuhrmänner scherzten mit ihnen, nur der, der die
Pferde einer Kutsche lenkte, schaute ernst und aufmerksam
auf den Weg.
Der Junge wollte gerade aufstehen und den Leuten ein
»Gelobt sei Jesus Christus« mit auf die Reise geben, als er sah,
dass sich von hinten im Galopp mehrere Reiter näherten, die
Kapuzen mit Sehschlitzen über den Köpfen trugen. Er
erschrak und verbarg sich hinter dem Baumstamm.
Auch die Wachleute hatten die Kapuzenmänner entdeckt.
Sie brüllten einander Befehle zu, lösten ihre Dolche vom
Gürtel, zogen die Schwerter aus der Scheide.
Der Fuhrmann der Kutsche holte eine Hakenbüchse unter
seinem Sitz hervor, eine Frau schimpfte.
Alles ging so schnell, dass der Junge nicht richtig sah, was
genau geschah. Er duckte sich hinter den Baum, riss einige
Zweige von Sträuchern und hielt sie sich vor das Gesicht, in
der Hoffnung, unkenntlich zu sein.
Schon sanken die Wachmänner vom Pferd, schon kamen
die Reiter, rissen den Kutscher vom Bock und schlugen ihm
die Hakenbüchse über den Schädel, sodass er reglos liegenblieb.
Die anderen Fuhrmänner hatten ihre Wagen gestoppt und
standen mit erhobenen Händen.
»Verschont uns. Um des Herrgotts willen, lasst uns am
Leben«, riefen sie, schlugen das Kreuz und warfen ihre Dolche
zum Zeichen der Unterwerfung in den Staub.
»Los!«, schrie einer der Kapuzenmänner. »Bindet sie an
den Baum. Ich kümmere mich um die Wachleute.«
Wieder ging alles rasend schnell, Männer gingen zu
Boden, Wut- und Schmerzensschreie ertönten, Metall schlug
auf Metall, Holz krachte, Knochen splitterten. Ein einziges
Keuchen und Stöhnen, Schreien und Wüten war zu hören.
Der Junge sah, wie zwei andere Kapuzenmänner Kisten
und Fässer, Truhen und Ballen von den Fuhrwerken luden
und sie zu einem Gefährt schafften, das plötzlich aus einem
Seitenweg aufgetaucht war.
Dann hörte er eine Weiberstimme aufschreien und wagte
sich ein Stück nach vorn. Er sah eine Frau, die älter als die
Magd Burga, aber jünger als die dicke Köchin mit dem grauen
Haar war. Ein Kapuzenmann stand vor ihr und hielt ihr
einen Dolch an die Kehle.
»Sing, Vögelchen! Los, sing!«, befahl der Mann und lachte.
Der Junge erstarrte. Die Stimme! Er kannte sie! Unzählige
Male hatte er sie fluchen hören. Es war die Stimme des
Burgherrn, Wolf von Sauerthal.
Der Junge sah, wie der maskierte Burgherr den Dolch beinahe
zärtlich gegen den Hals der Frau drückte. Ein einzelner
Blutstropfen rollte herunter und verschwand zwischen den
Brüsten der Frau, die am ganzen Leib zitterte.
»Lasst mich am Leben«, bat sie. »Ich habe Kinder!«
»Dann sing für mich, mein Vögelchen«, wiederholte der
Burgherr.
Er lachte dröhnend. In diesem Augenblick wurde das
Gesicht der Frau grau wie Herdasche. Sie hob die Hand und
riss an der Kapuze. Der Junge konnte für einen Lidschlag
lang das Gesicht des Burgherrn erkennen, die wilden Augen,
den schmalen, zusammengekniffenen Mund. Er begann zu
zittern, war nur knapp eine Mannshöhe über ihm und hatte
Angst, sein hastiger Atem würde ihn verraten.
Schon schob sich der Mann die Kapuze zurecht, hob die
Hand, gab einen tierischen Laut von sich - und stach der
Frau seinen Dolch in die Brust! Niemand hatte das gesehen.
Nur der Junge.
Er sah, wie ihre Augen zu rollen begannen, dann sank sie
nach vorn, tiefer in den Dolch hinein. Mit einem heftigen
Aufschrei stieß der Ritter die Frau von sich, sodass sie hintenüber
in den Straßenstaub fiel. Der Junge sah den blutroten
Fleck, der sich unter ihrem Mieder ausbreitete. Der Kapuzenmann
starrte auf die Frau, deren Leib sich noch einmal
aufbäumte, ehe er erlosch, dann auf den Dolch, schleuderte
ihn auf die Wiese neben der Straße.
Im selben Augenblick riefen die, die das Gefährt beladen
hatten: »Wir sind fertig, Herr.«
Auch diesmal hatte der Junge eine Stimme erkannt; es war
die Stimme von Andres, dem Pferdeknecht.
»Lasst uns verschwinden.« Der Burgherr blickte noch ein
mal auf die Frau, die sich nicht mehr rührte, dann rannte er
zu seinen Kumpanen, sprang auf sein Pferd und verschwand
hinter einer riesigen Staubwolke.
Am Abend dauerte die Messe in der Burgkapelle länger als
gewöhnlich. Der Junge stand in einer Ecke, von einem Pfeiler
verborgen, und starrte auf den Ritter.
Der Burgherr war auf die Knie gesunken, hatte vor der
Statue der Heiligen Mutter Maria mit Inbrunst gebetet.
Zuerst das Sündenbekenntnis, dann den Rosenkranz, zum
Schluss das Vaterunser. Sogar eine dicke Wachskerze hatte er
angezündet, die es sonst nur an Weihnachten oder Ostern
gab, und war schließlich, den Priester vor sich her stoßend, in
den Beichtstuhl geschritten. Der Junge hatte gewartet, ob die
Statue der Jungfrau Maria, die neben dem Beichtstuhl stand,
hölzerne Tränen vergießen würde, doch nichts war passiert.
Auch später, als der Burgherr längst in der Halle feierte, das
größte Stück Braten in der Hand und die Burga auf dem
Schoß, war der Zorn Gottes zum großen Erstaunen des Jungen
nicht über ihn gekommen.
Am nächsten Tag lief der Junge wieder durch den Wald bis
hin zur Straße. Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck
hinunter an die Stelle, an der gestern der Überfall stattgefunden
hatte. Dann atmete er auf. Die Frau war weg, die Fuhrleute,
Wachmänner und die Wagen ebenfalls. Nur Holzsplitter,
Sackfetzen, niedergetretenes Gras und ein dunkler Fleck,
genau dort, wo die Frau gelegen hatte, waren noch zu sehen.
Der Junge starrte auf den Fleck, bekreuzigte sich, sah sich
nach allen Seiten um. Als er sicher war, dass die Gegend ruhig
lag und kein Reiter, kein Bauer, keine Kolonne sich näherte,
stieg er den Abhang hinab und lief auf die Wiese. Er musste
nicht lange suchen. Der Dolch des Burgherrn blitzte in der
Sonne. Vorsichtig hob der Junge ihn auf und wischte das
Blut, das noch daran klebte, am feuchten Gras ab, betrachtete
den schön gearbeiteten Griff mit dem Wappen des Burgherrn.
Er sah sich um, dann steckte er das Messer vorsichtig
unter seinen Kittel.
Der Winter hatte gerade begonnen, als die Magd Burga aufhörte,
dem Jungen zu essen und zu trinken zu bringen, ihm
das Haar nicht mehr schnitt und den Kittel nicht wusch. Er
hatte rasch begriffen, dass die Burga ihn schon noch versorgen
würde, wenn er ihr etwas dafür gab. Für ihre Arbeit auf
der Burg bekam sie Lohn; für einen Platz auf ihrer Bettstatt
gaben ihr der Burgherr und der Pferdeknecht bunte Bänder,
Spangen, ein Stück Tuch oder Naschwerk. Jetzt, so schien es
dem Jungen, war auch er dran, der Burga etwas zu bezahlen.
Er hatte Hunger. Sein Haar hing ihm ins Gesicht, und im
Kittel hausten die Wanzen. Aber er hatte weder Naschwerk
noch Bänder oder Spangen.
Er kratzte sich, dann ging er hinüber in den Wald. Er
schlang die Arme um den Körper, setzte seine nackten Füße
ganz vorsichtig auf, denn der Boden war gefroren. Die ganze
Nacht hatte er zitternd wach gelegen, immer neue Hände
voll Heu über sich gepackt, doch ihm war nicht warm
geworden. Selbst seine Knochen schienen vereist zu sein,
bereit, bei jedem falschen Schritt zu splittern. Er lief im Wald
umher auf der Suche nach ein wenig Holz. Der Burga wollte
er es bringen, damit sie das Kohlebecken heizen konnte
und ihn aus Dankbarkeit für eine Nacht bei sich in der Kammer
schlafen ließ. In das letzte Eckchen würde er sich quetschen,
kein Wort sagen, kaum atmen würde er, wenn sie ihn
nur bleiben ließe. Schon jetzt schimmerte seine Haut bläulich.
Der Kittel war dünn, der Wind zerrte daran, und der
Junge klapperte mit den Zähnen. Den Dolch, den er in den
Wiesen gefunden hatte, trug er an einem Strick um den bloßen
Leib. Er hätte ihn eintauschen können, doch aus einem
Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, behielt er
ihn.
Eine Weile schritt er auf seinem Pfad entlang, doch er fand
keinen Ast, kein bisschen Reisig. Die Leute aus dem Dorf
hatten schon alles abgegrast, hatten jeden Tannenzapfen, jedes
Zweiglein und sogar trockenes Laub weggesammelt. Die
Kälte war viel zu früh gekommen. Selbst Kühe, hatte die
Burgköchin erzählt, waren schon draußen auf den Weiden
erfroren. Der Junge schaute nach oben in die Bäume und sah,
dass die unteren Äste abgehackt waren. Er schnüffelte in der
Luft herum und roch, dass es bald schneien würde. Jetzt
musste er Holz finden. Morgen, unter dem Schnee, würde es
ganz und gar unmöglich sein.
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Projektleitung: Bettina Spangler
Lektorat: Jürgen Bolz
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Bridgeman Berlin, Shutterstock
Satz: Sabine Müller
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-623-0
2013 2012 2011 2010
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
»Mir ... mir ist so kalt, als stünde der Tod schon im Zimmer
«, flüsterte die junge Burgherrin und wand sich in einer
Wehe.
»Pscht, pscht«, machte die Hebamme und betastete den
Leib der Kreißenden mit sorgenvollem Ausdruck. Dann
schlug sie ihr die Röcke nach oben, spreizte die Schenkel
und ließ die Hände in ihrem Schoß verschwinden. Die junge
Frau wimmerte.
»Das Kind«, murmelte die Hebamme. »Ihr habt recht, es
liegt falsch. Eine Arschgeburt wird es wohl werden.«
Die Magd schrie auf und schlug sich die Hand vor den
Mund.»Eine Arschgeburt?«,murmelte sie und riss die Augen
weit auf.
»Ja. Das Kind, so es lebt, wird mit dem Hintern zuerst in
die Welt gucken. Du, schrei nicht, sondern geh und hole
Branntwein. Wird genug davon in diesem Hause geben, wie
ich den Herrn kenne. Die junge Frau kann's brauchen.«
Die Kreißende starrte wild auf die Magd. »Sag dem Burgherrn
nichts von der Arschgeburt«, bat sie. »Halt den Mund!
Er wird das Kind sonst verstoßen, noch bevor die Welt untergegangen
ist.«
Die Hebamme stemmte die Hände in die Hüften.
»Jetzt hört mit dem Geschwätz auf, Herrin, Ihr werdet
Eure Kräfte noch brauchen. Wenn Gott im Himmel wirklich
zum Jüngsten Gericht blasen sollte, werden wir es noch früh
genug erfahren.«
Sie hätte gern weiter geschimpft, doch im selben Augenblick
schlug draußen die Glocke des Kirchturms ein Mal, dann ein
zweites Mal. Die Hebamme stand stumm und bekreuzigte
sich.
»Gleich Mitternacht«, flüsterte die Kreißende und sah die
Hebamme flehend an. »Macht, dass das Kind jetzt kommt.
Sofort! Ihr wisst, dass es zum Unglück bestimmt ist, wenn ich
es beim zwölften Glockenschlag zur Welt bringe. Und noch
dazu eine Arschgeburt!«
Drei Mal, vier Mal schlug die Glocke. Die Tür flog auf und
der Burgherr kam, gefolgt von der Magd, mit der Branntweinflasche
herein. »Eine Arschgeburt«, schrie er. »Hebamme,
ich werde dich der Inquisition ausliefern, wenn du das
Balg verhext hast.« Er nahm einen langen Schluck vom
Branntwein.
Fünfter, sechster, siebter Glockenschlag. Die junge Frau
schrie in den Wehen, krallte ihre Hände in die Lehnen des
Gebärstuhls, während die Hebamme, die Arme bis zu den
Ellbogen im Schoß der Frau, versuchte, das Kind in die richtige
Lage zu bringen.
»Ich kann es nicht drehen, es geht nicht!«
»Tu endlich was!«, brüllte der Burgherr. »Sonst bist du des
Teufels!«
Der Hebamme lief der Schweiß in Strömen über das
Gesicht, während sie zugleich vor Kälte zitterte. Acht, neun
Schläge. Sie riss dem Burgherrn den Branntwein aus den
Händen, nahm einen kräftigen Schluck, goss wenig feinfühlig
auch der Kreißenden davon in den offenen Mund.
Zehn Mal, elf Mal tönte die Kirchenglocke. Die junge
Burgherrin schrie in schrillen Tönen, die Magd betete laut
das Vaterunser.
Die Hebamme kniete zwischen den Schenkeln der Kreißenden.
»Es kommt! Jetzt kommt es!«
Mit dem mitternächtlichen Glockenschlag ertönte das
erste zaghafte Schreien des Säuglings in dieser Welt. Seine
Mutter wandte sich ab, bedeckte die Augen und begann zu
schluchzen.
Sein Vater aber starrte auf das schreiende Bündel und sagte
dumpf: »Eine Arschgeburt um Mitternacht und zwischen
zwei Jahrhunderten! Tötet das Kind, damit es kein Unglück
über uns bringt.«
1
Rhein-Taunus, im Jahre 1508
Die Bauern holten das Korn von den Feldern, und die
Sonne zeigte erste Anzeichen von Schwäche, als der Junge
sah, wie ein paar Männer in den Burghof ritten, der Burgherr
und der Rossknecht ihre Pferde bestiegen und alle
gemeinsam durch das Tor und hinüber in den Wald ritten, der
bis zur großen Straße reichte. Der Junge war neugierig
geworden. Schon oft waren die Männer so weggeritten und
spät am Abend erschöpft und lärmend mit staubigen
Umhängen und verdreckten Stiefeln zurückgekommen.
Und immer hatten sie volle Satteltaschen gehabt, die sie
nachts mit stolzer Brust in die Vorratskammern schleppten.
Der Junge wäre so gern mit den Männern geritten, aber er
durfte dem Burgherrn nicht unter die Augen kommen.
Gleich nach seiner Geburt hatte der Taunusritter Wolf von
Sauerthal ihn töten wollen, aber die Frauen hatten es verhindert,
hatte ihm die Magd Burga erzählt. Jetzt musste er dafür
sorgen, dass er unsichtbar blieb, sonst warf ihn der Herr doch
noch in den Burggraben und den Raben zum Fraß vor.
Schon oft hatte sich der Junge vorgestellt, wie es wäre, mit
den Männern gemeinsam durch den Wald zu reiten, die
Hunde voran, und ein Wildschwein zu schießen oder eine
Hirschkuh. Heute aber hatten sie keine Hunde dabei, und
der Junge ahnte, dass sie zur Straße ritten. Er hatte keine Ah-
nung, was sie da taten, doch oft hatte er gehört, dass sich die
»Straße gelohnt hatte«.
So lief er den Männern wenigstens hinterher und in den
Wald, aber schon bald hatte er sie aus den Augen verloren. Er
war allein. Seit seiner Geburt war er das. Die Burga gab ihm
zu essen und zu trinken, wusch im Frühling und im Herbst
seinen Kittel, schnitt ihm an Karfreitag und zu Erntedank das
Haar. Die Nacht verbrachte er im Stall, den Tag auf den Wiesen
und Feldern, am Bach oder im Wald.
Er war jetzt an eine Stelle gekommen, an der sich der Weg
gabelte. Unter seinen Füßen raschelte frisch gefallenes Laub,
es roch nach Eicheln, Erde, feuchtem Moos und Pilzen. Ein
paar blasse Sonnenstrahlen spielten mit dem letzten Grün der
Blätter, malten helle Streifen auf den trockenen Waldboden.
Unschlüssig sah der Junge in alle vier Richtungen, suchte
vergebens auf dem Boden nach Hufabdrücken. Den kleinen
Weg, breit genug für seine Füße, aber zu schmal für Pferd und
Reiter, hatte er schon im Frühling entdeckt.
Der Pfad führte durch den Wald bis zur Straße. Vielleicht
würde der Junge heute vor den Männern da sein. Er streifte
zwischen Bäumen und Gesträuch, erschrak vor einem
Eichelhäher, aß ein paar späte Blaubeeren, trank aus dem
Bach und hatte endlich den Waldrand erreicht. Eine Mannshöhe
unter ihm zog sich in einem weiten Bogen die Straße
entlang. Sie kam von Rüdesheim, führte am anderen Ufer
des Flusses an Mainz vorbei und endete in Frankfurt, der großen
Stadt, in der die Könige gekrönt wurden. Über den
abgeernteten Feldern neben der Straße kreisten die Raben.
Weit hinten konnte der Junge dichte graubraune Staubwolken
erkennen. Das hieß, dass sich eine Kolonne oder ein
Trupp Reiter näherte. Es konnten die Leute von der Burg
sein, die da kamen. Und wenn nicht, so würde er die Wagenkolonne,
die Wandermönche, die Gauklertruppe, entflohene
Söldner, fahrende Schüler, einzelne Reiter oder wenigstens
einen Bauern mit einem voll beladenen Karren beobachten.
Er setzte sich mit dem Rücken gegen einen Baum, verschmolz
in seinem grauen Kittel beinahe mit dem Stamm,
legte die Arme um die Knie, stützte das Kinn darauf und wartete.
Schon hörte er das Rumpeln der schweren Fuhrwerke,
roch den Staub und Pferdeschweiß, schon konnte er Schutzleute
erkennen, die den Kaufmannszug begleiteten.
Der Junge liebte den Anblick der Wachmänner. Groß
schienen sie ihm, stark in ihren schwarzen Umhängen, den
schwarzen Baretten und den Dolchen, die sie am Gürtel hängen
hatten. Fast so groß und stark wie der Burgherr und seine
Leute.
Zwei von ihnen ritten der Kolonne voran, zwei folgten ihr.
Die Fuhrmänner scherzten mit ihnen, nur der, der die
Pferde einer Kutsche lenkte, schaute ernst und aufmerksam
auf den Weg.
Der Junge wollte gerade aufstehen und den Leuten ein
»Gelobt sei Jesus Christus« mit auf die Reise geben, als er sah,
dass sich von hinten im Galopp mehrere Reiter näherten, die
Kapuzen mit Sehschlitzen über den Köpfen trugen. Er
erschrak und verbarg sich hinter dem Baumstamm.
Auch die Wachleute hatten die Kapuzenmänner entdeckt.
Sie brüllten einander Befehle zu, lösten ihre Dolche vom
Gürtel, zogen die Schwerter aus der Scheide.
Der Fuhrmann der Kutsche holte eine Hakenbüchse unter
seinem Sitz hervor, eine Frau schimpfte.
Alles ging so schnell, dass der Junge nicht richtig sah, was
genau geschah. Er duckte sich hinter den Baum, riss einige
Zweige von Sträuchern und hielt sie sich vor das Gesicht, in
der Hoffnung, unkenntlich zu sein.
Schon sanken die Wachmänner vom Pferd, schon kamen
die Reiter, rissen den Kutscher vom Bock und schlugen ihm
die Hakenbüchse über den Schädel, sodass er reglos liegenblieb.
Die anderen Fuhrmänner hatten ihre Wagen gestoppt und
standen mit erhobenen Händen.
»Verschont uns. Um des Herrgotts willen, lasst uns am
Leben«, riefen sie, schlugen das Kreuz und warfen ihre Dolche
zum Zeichen der Unterwerfung in den Staub.
»Los!«, schrie einer der Kapuzenmänner. »Bindet sie an
den Baum. Ich kümmere mich um die Wachleute.«
Wieder ging alles rasend schnell, Männer gingen zu
Boden, Wut- und Schmerzensschreie ertönten, Metall schlug
auf Metall, Holz krachte, Knochen splitterten. Ein einziges
Keuchen und Stöhnen, Schreien und Wüten war zu hören.
Der Junge sah, wie zwei andere Kapuzenmänner Kisten
und Fässer, Truhen und Ballen von den Fuhrwerken luden
und sie zu einem Gefährt schafften, das plötzlich aus einem
Seitenweg aufgetaucht war.
Dann hörte er eine Weiberstimme aufschreien und wagte
sich ein Stück nach vorn. Er sah eine Frau, die älter als die
Magd Burga, aber jünger als die dicke Köchin mit dem grauen
Haar war. Ein Kapuzenmann stand vor ihr und hielt ihr
einen Dolch an die Kehle.
»Sing, Vögelchen! Los, sing!«, befahl der Mann und lachte.
Der Junge erstarrte. Die Stimme! Er kannte sie! Unzählige
Male hatte er sie fluchen hören. Es war die Stimme des
Burgherrn, Wolf von Sauerthal.
Der Junge sah, wie der maskierte Burgherr den Dolch beinahe
zärtlich gegen den Hals der Frau drückte. Ein einzelner
Blutstropfen rollte herunter und verschwand zwischen den
Brüsten der Frau, die am ganzen Leib zitterte.
»Lasst mich am Leben«, bat sie. »Ich habe Kinder!«
»Dann sing für mich, mein Vögelchen«, wiederholte der
Burgherr.
Er lachte dröhnend. In diesem Augenblick wurde das
Gesicht der Frau grau wie Herdasche. Sie hob die Hand und
riss an der Kapuze. Der Junge konnte für einen Lidschlag
lang das Gesicht des Burgherrn erkennen, die wilden Augen,
den schmalen, zusammengekniffenen Mund. Er begann zu
zittern, war nur knapp eine Mannshöhe über ihm und hatte
Angst, sein hastiger Atem würde ihn verraten.
Schon schob sich der Mann die Kapuze zurecht, hob die
Hand, gab einen tierischen Laut von sich - und stach der
Frau seinen Dolch in die Brust! Niemand hatte das gesehen.
Nur der Junge.
Er sah, wie ihre Augen zu rollen begannen, dann sank sie
nach vorn, tiefer in den Dolch hinein. Mit einem heftigen
Aufschrei stieß der Ritter die Frau von sich, sodass sie hintenüber
in den Straßenstaub fiel. Der Junge sah den blutroten
Fleck, der sich unter ihrem Mieder ausbreitete. Der Kapuzenmann
starrte auf die Frau, deren Leib sich noch einmal
aufbäumte, ehe er erlosch, dann auf den Dolch, schleuderte
ihn auf die Wiese neben der Straße.
Im selben Augenblick riefen die, die das Gefährt beladen
hatten: »Wir sind fertig, Herr.«
Auch diesmal hatte der Junge eine Stimme erkannt; es war
die Stimme von Andres, dem Pferdeknecht.
»Lasst uns verschwinden.« Der Burgherr blickte noch ein
mal auf die Frau, die sich nicht mehr rührte, dann rannte er
zu seinen Kumpanen, sprang auf sein Pferd und verschwand
hinter einer riesigen Staubwolke.
Am Abend dauerte die Messe in der Burgkapelle länger als
gewöhnlich. Der Junge stand in einer Ecke, von einem Pfeiler
verborgen, und starrte auf den Ritter.
Der Burgherr war auf die Knie gesunken, hatte vor der
Statue der Heiligen Mutter Maria mit Inbrunst gebetet.
Zuerst das Sündenbekenntnis, dann den Rosenkranz, zum
Schluss das Vaterunser. Sogar eine dicke Wachskerze hatte er
angezündet, die es sonst nur an Weihnachten oder Ostern
gab, und war schließlich, den Priester vor sich her stoßend, in
den Beichtstuhl geschritten. Der Junge hatte gewartet, ob die
Statue der Jungfrau Maria, die neben dem Beichtstuhl stand,
hölzerne Tränen vergießen würde, doch nichts war passiert.
Auch später, als der Burgherr längst in der Halle feierte, das
größte Stück Braten in der Hand und die Burga auf dem
Schoß, war der Zorn Gottes zum großen Erstaunen des Jungen
nicht über ihn gekommen.
Am nächsten Tag lief der Junge wieder durch den Wald bis
hin zur Straße. Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck
hinunter an die Stelle, an der gestern der Überfall stattgefunden
hatte. Dann atmete er auf. Die Frau war weg, die Fuhrleute,
Wachmänner und die Wagen ebenfalls. Nur Holzsplitter,
Sackfetzen, niedergetretenes Gras und ein dunkler Fleck,
genau dort, wo die Frau gelegen hatte, waren noch zu sehen.
Der Junge starrte auf den Fleck, bekreuzigte sich, sah sich
nach allen Seiten um. Als er sicher war, dass die Gegend ruhig
lag und kein Reiter, kein Bauer, keine Kolonne sich näherte,
stieg er den Abhang hinab und lief auf die Wiese. Er musste
nicht lange suchen. Der Dolch des Burgherrn blitzte in der
Sonne. Vorsichtig hob der Junge ihn auf und wischte das
Blut, das noch daran klebte, am feuchten Gras ab, betrachtete
den schön gearbeiteten Griff mit dem Wappen des Burgherrn.
Er sah sich um, dann steckte er das Messer vorsichtig
unter seinen Kittel.
Der Winter hatte gerade begonnen, als die Magd Burga aufhörte,
dem Jungen zu essen und zu trinken zu bringen, ihm
das Haar nicht mehr schnitt und den Kittel nicht wusch. Er
hatte rasch begriffen, dass die Burga ihn schon noch versorgen
würde, wenn er ihr etwas dafür gab. Für ihre Arbeit auf
der Burg bekam sie Lohn; für einen Platz auf ihrer Bettstatt
gaben ihr der Burgherr und der Pferdeknecht bunte Bänder,
Spangen, ein Stück Tuch oder Naschwerk. Jetzt, so schien es
dem Jungen, war auch er dran, der Burga etwas zu bezahlen.
Er hatte Hunger. Sein Haar hing ihm ins Gesicht, und im
Kittel hausten die Wanzen. Aber er hatte weder Naschwerk
noch Bänder oder Spangen.
Er kratzte sich, dann ging er hinüber in den Wald. Er
schlang die Arme um den Körper, setzte seine nackten Füße
ganz vorsichtig auf, denn der Boden war gefroren. Die ganze
Nacht hatte er zitternd wach gelegen, immer neue Hände
voll Heu über sich gepackt, doch ihm war nicht warm
geworden. Selbst seine Knochen schienen vereist zu sein,
bereit, bei jedem falschen Schritt zu splittern. Er lief im Wald
umher auf der Suche nach ein wenig Holz. Der Burga wollte
er es bringen, damit sie das Kohlebecken heizen konnte
und ihn aus Dankbarkeit für eine Nacht bei sich in der Kammer
schlafen ließ. In das letzte Eckchen würde er sich quetschen,
kein Wort sagen, kaum atmen würde er, wenn sie ihn
nur bleiben ließe. Schon jetzt schimmerte seine Haut bläulich.
Der Kittel war dünn, der Wind zerrte daran, und der
Junge klapperte mit den Zähnen. Den Dolch, den er in den
Wiesen gefunden hatte, trug er an einem Strick um den bloßen
Leib. Er hätte ihn eintauschen können, doch aus einem
Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, behielt er
ihn.
Eine Weile schritt er auf seinem Pfad entlang, doch er fand
keinen Ast, kein bisschen Reisig. Die Leute aus dem Dorf
hatten schon alles abgegrast, hatten jeden Tannenzapfen, jedes
Zweiglein und sogar trockenes Laub weggesammelt. Die
Kälte war viel zu früh gekommen. Selbst Kühe, hatte die
Burgköchin erzählt, waren schon draußen auf den Weiden
erfroren. Der Junge schaute nach oben in die Bäume und sah,
dass die unteren Äste abgehackt waren. Er schnüffelte in der
Luft herum und roch, dass es bald schneien würde. Jetzt
musste er Holz finden. Morgen, unter dem Schnee, würde es
ganz und gar unmöglich sein.
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Projektleitung: Bettina Spangler
Lektorat: Jürgen Bolz
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Bridgeman Berlin, Shutterstock
Satz: Sabine Müller
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-623-0
2013 2012 2011 2010
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ines Thorn
- 2010, 1, 447 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006230
- ISBN-13: 9783868006230
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