Die Schuldlosen
Roman
Nach sechs Jahren Haft kehrt Alex Junggeburt an den Ort des Verbrechens zurück.
Eine tödliche Mischung aus Hass und Angst schlägt ihm entgegen, als er nach Jahren seine Heimat wieder betritt. Und Alex kann es den...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Schuldlosen “
Nach sechs Jahren Haft kehrt Alex Junggeburt an den Ort des Verbrechens zurück.
Eine tödliche Mischung aus Hass und Angst schlägt ihm entgegen, als er nach Jahren seine Heimat wieder betritt. Und Alex kann es den Garsdorfern nicht einmal verdenken - weiß er doch selbst nicht, was damals geschah. An jenem Ostersonntag, als Janice Heckler offensichtlich in der Greve ertränkt wurde. Ist er wirklich der Täter? Oder auch ein Opfer?
"Ich brauche keine Monster - Der Mensch ist Monster genug."
PETRA HAMMESFAHR
Klappentext zu „Die Schuldlosen “
Petra Hammesfahr nimmt die Leser in „Die Schuldlosen" mit in ein Twin Peaks im Rheinland: die Abgründe dieses Dorfes lauern hinter akkurat gestutzten Hecken. Die Kälte der Menschen kriecht einem in die Knochen. Alex Junggeburt, ihre Hauptfigur, weiß das und Hammesfahr beschreibt sein nach Hause kommen als verurteilter Mörder, sein vorsichtiges Tasten und Suchen nach Wahrheit, genau und virtuos.Alex Junggeburt hätte ein Mädchen werden sollen. Seine Mutter ist nach dem Tod der kleinen Schwester so paralysiert, dass sie den Sohn in Mädchenkleider steckt, ihm die Haare wachsen lässt ... und das Unheil nimmt seinen Lauf. Zu Hause ist Alex fürsorglich und kümmert sich, in der Schule weiß der Junge sich gegen die Hänseleien und den Spott nicht anders zu wehren als zuzuschlagen. Schnell zuzuschlagen und brutal. Sein Ruf als „Psycho" steht für die Leute im Dorf fest. „Der lächelt Sie an, und wenn Sie ihm den Rücken zukehren, haben Sie ein Messer im Kreuz."
Das Dorf gegen Alex: Er, der Schläger, muss es getan haben
Als die 18-jährige Janice Heckler tot in der Greve liegt, ermordet, steht für alle fest: das kann nur einer getan haben. Zwar war die junge Frau nicht wählerisch, was ihre Liebschaften anging und galt als „Dorfflittchen", doch Alex Junggeburt geh für die Tat ins Gefängnis. Nach sechs Jahren Haft kommt er wegen guter Führung frei und kehrt in sein Heimatdorf zurück - mit ihm die Angst. Wird er sich, wie im Gericht angedroht, an Heike rächen? Seiner damaligen Freundin, die vor Gericht gegen ihn ausgesagt hatte, ist jedenfalls angst und bange in ihrem Büdchen, in dem sie Kaffee, belegte Brötchen und Zeitungen verkauft. Hier könnte er ihr frühmorgens auflauern und keiner würde ihre Hilfeschreie hören. Und da ist auch noch Saskia, ihre gemeinsame Tochter ...
Was ist
... mehr
damals in der Mordnacht eigentlich passiert?
Doch Alex Junggeburt hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Finanziell geht es ihm, dem Sohn aus wohlhabendem Hause, gut. Er genießt die Freiheit und richtet sich nach und nach ein in einem neuen Leben - wenn nur die Dorfbewohner nicht wären. So fühlt er sich allein am wohlsten, muss sich dazu zwingen, auch raus zu gehen, alte Bekanntschaften wieder aufzufrischen. Zu seiner Tochter Saskia sucht er heimlich Kontakt, fährt sie zur Schule, holt sie ab, nimmt sie mit nach Hause. Niemand darf das wissen.
Und da wäre noch eine Sache, die Alex Junggeburt zu klären hätte: Was damals, in der Mordnacht, eigentlich passiert ist. Denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Sein bester Freund Lothar hatte ihn damals neben der Leiche gefunden. Kann er ihm helfen, die Wahrheit herauszufinden?
Was tun Menschen anderen Menschen an, wenn sie ihnen keine Chance lassen? Was ist damals mit dem kleinen Alex passiert? War er das Monster, das alle in ihm sahen? Und was geht in Alex heute vor, der als verurteilter Mörder selbst nicht weiß, ob er schuldig ist, sich den Mord aber zutraut, weil die Leute das alle von ihm denken... Hammesfahr geht all diesen Fragen in ihrem fein austarierten Kriminalroman nach und hat mit „Die Schuldlosen" ein Buch vorgelegt, das, ganz leise und still, böse unter die Haut geht.
Doch Alex Junggeburt hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Finanziell geht es ihm, dem Sohn aus wohlhabendem Hause, gut. Er genießt die Freiheit und richtet sich nach und nach ein in einem neuen Leben - wenn nur die Dorfbewohner nicht wären. So fühlt er sich allein am wohlsten, muss sich dazu zwingen, auch raus zu gehen, alte Bekanntschaften wieder aufzufrischen. Zu seiner Tochter Saskia sucht er heimlich Kontakt, fährt sie zur Schule, holt sie ab, nimmt sie mit nach Hause. Niemand darf das wissen.
Und da wäre noch eine Sache, die Alex Junggeburt zu klären hätte: Was damals, in der Mordnacht, eigentlich passiert ist. Denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Sein bester Freund Lothar hatte ihn damals neben der Leiche gefunden. Kann er ihm helfen, die Wahrheit herauszufinden?
Was tun Menschen anderen Menschen an, wenn sie ihnen keine Chance lassen? Was ist damals mit dem kleinen Alex passiert? War er das Monster, das alle in ihm sahen? Und was geht in Alex heute vor, der als verurteilter Mörder selbst nicht weiß, ob er schuldig ist, sich den Mord aber zutraut, weil die Leute das alle von ihm denken... Hammesfahr geht all diesen Fragen in ihrem fein austarierten Kriminalroman nach und hat mit „Die Schuldlosen" ein Buch vorgelegt, das, ganz leise und still, böse unter die Haut geht.
... weniger
Lese-Probe zu „Die Schuldlosen “
Die Schuldlosen von Petra HammesfahrGrevingen-Garsdorf, im Dezember 1982
... mehr
Es war ein Anblick, den Franziska Welter zeit ihres Lebens nicht vergessen sollte. Einerseits so beklemmend, dass es ihr die Luft abschnürte, andererseits so zauberhaft schön, dass man ihn in Märchenbücher hätte zeichnen mögen.
Frühmorgens hatte dichter Nebel das Dorf eingehüllt und der Frost jeden Schritt ins Freie zu einem riskanten Unternehmen gemacht. Im Laufe des Vormittags war es aufgeklart und überall gestreut worden. Die Mittagssonne löste den Nebel endgültig auf, hatte jedoch nicht die Kraft, ihn völlig zu vertreiben. Sieben Grad minus bannten die weißen Schwaden und verwandelten sie in filigrane Gebilde.
Überall Raureif. Es war kein Vergleich mit dem Schnee, der auch Straßen und Hausdächer bedeckte, aber nur obenauf lag. Die dünne Eisschicht dagegen umschloss sogar das kahle Geäst der Baumkronen vollständig. Jeder Grashalm, jeder noch so kümmerliche Zweig an den Sträuchern und jedes Pflänzchen auf den Gräbern war von einer Kristallkruste überzogen. Überall glitzerte und funkelte es im blendend grellen Sonnenlicht, als habe der Himmel den Friedhof mit Diamantensplittern bestreut.
Das war der Rahmen, vielmehr der Hintergrund für die beiden Gestalten, die Franziska Welters Aufmerksamkeit erregten, ihr die Brust eng und den eigenen Herzschlag so dramatisch bewusstmachten.
Franziska stand gebückt vor dem ältesten der sieben Gräber in der sogenannten Kinderecke, in der die Kleinen beigesetzt wurden. Keine der Grabstätten war länger als ein Meter zwanzig. Größere Kinder wurden seit Jahr und Tag bei den Erwachsenen bestattet. Aber das war, solange Franziska zurückdenken konnte, erst zweimal notwendig gewesen. Wenn die Kinder eine bestimmte Größe erreicht hatten, konnten sie dem Tod offenbar besser die Stirn bieten, liefen nur noch Gefahr, durch Unfälle oder sonst wie gewaltsam ums Leben zu kommen.
In der Nacht hatte der Wind irgendwo zwei verdorrte Blätter vom Herbstlaub aufgespürt und herübergeweht. Franziska zupfte sie aus einem Büschel winterharter Erika und äugte über die kniehohe Buchsbaumhecke, die das Karree von den anderen Grabreihen abgrenzte, zur letzten Ruhestätte der Familie Schopf hinüber.
Vor dem mit Granit eingefassten Eckgrab mit dem pompösen Stein am Kopfende standen Helene Junggeburt - sie war eine geborene Schopf - und ihr jüngstes Kind, beide wie in ein stilles Gebet versunken. Für Helene mochte das zutreffen. Sie trug Schwarz: Schuhe, Hose, Mantel, Handschuhe und einen Hut mit Schleier, der ihr Gesicht verbarg, sodass Franziska nicht sehen konnte, ob sich ihre Lippen in einem inbrünstigen Zwiegespräch mit Gott oder den Lieben in der Erde bewegten. Oder ob sie nur so dastand und die Namen auf dem Stein anstarrte.
Das Kind hatte eine rosafarbene Plüschmütze über Kopf und Ohren gezogen, unter der im Nacken ein dunkler Zopf hervorquoll. Am Ende wurde er von einer Spange in Schmetterlingsform zusammengehalten. Vor der Brust baumelten die dicken Bommel der Bänder, mit denen die Mütze unter dem Kinn gebunden war. Eine Jacke aus demselben Plüschmaterial schützte den Oberkörper vor der Kälte. Die kleinen Hände steckten in lustig bunten Fäustlingen, die Füße in weißen, pelzbesetzten Stiefelchen, die sicherlich dick gefüttert waren. An den Beinchen dagegen trug das Kind nur weiße Strickstrumpfhosen und darüber ein kurzes Röckchen aus weißer Wolle mit einer gezackten, rosafarbenen Borte am Saum.
Franziska fragte sich flüchtig, ob die Strumpfhosen wohl warm genug hielten. Ihr entging nicht, wie das Kind ständig sein Gewicht verlagerte, von einem Füßchen aufs andere trat. Vielleicht fror es beim Stillstehen. Vielleicht wurde ihm aber auch nur langweilig. Sein Verhalten sprach für Letzteres.
Es war ein ausnehmend hübsches Geschöpf, dessen Gesicht als Vorlage für die Bilderbuchzeichnung einer kleinen Prinzessin hätte dienen können. Allein diese Augen. Als das Kind verstohlen zu ihr hinüberblickte und sie anlächelte, überlief Franziska ein kalter Schauer. Große Augen, wie alle kleinen Kinder sie haben. Doch diese waren von einem so intensiven Blau, wie Franziska es bisher nur bei zwei Menschen gesehen hatte, bei Helenes älterem Bruder und bei Helenes Tochter. Es waren Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen, weil die Iris von unzähligen hauchfeinen hellgrauen, strahlenförmig angeordneten Linien durchbrochen war.
Als Franziska das Lächeln erwiderte, wandte das Kind sich wieder dem Grab zu und begann mit seinem Atem zu spielen. Es ließ ihn kontrolliert in wohldosierten Wölkchen davonschweben, versuchte offenbar, bestimmte Formen wie Rauchringe zu schaffen. Als ihm das nicht gelang, ließen die aneinandergelegten Händchen die vor der Brust baumelnden Bommel der Mützenbänder hin und her schwingen.
Und so weit war es mit Helenes Versunkenheit dann doch nicht, dass ihr das entgangen wäre. «Lass das, Alexa», hörte Franziska sie tadeln.
«Wann darf ich denn das Licht anmachen, Mami?», erkundigte sich daraufhin die helle Kinderstimme.
«Sofort», erbarmte sich Helene, zog dem Kind die Fäustlinge aus und ein Grablicht nebst einer Schachtel Zündhölzer aus ihrer Manteltasche. Das Licht hielt sie fest, die Schachtel reichte sie dem Kind, das sich mit wahrem Feuereifer daranmachte, Zündhölzer anzureißen und an den Docht zu halten.
Sein engelsgleiches Gesicht war angespannt vor Konzentration. Bei jedem neuen Zündholz, das die kleinen Finger über die Reibefläche führten, erschien kurz eine winzige Zungenspitze zwischen den prallen Lippen. Es war windstill, trotzdem erloschen die ersten vier Flammen, ehe sie den Docht erreichten.
«Nicht so hastig, Schatz», mahnte Helene und bot dann an: «Soll ich es machen?»
Das Kind nickte, überließ seiner Mutter die Schachtel, hockte sich neben die graue Grabeinfassung und öffnete das Türchen einer Grableuchte. Dabei rutschte der dicke Zopf vom Rücken auf die Brust. Das Kind warf ihn mit einer raschen Handbewegung wieder nach hinten. Die Bommel der langen Mützenbänder flogen mit. Und das Strickröckchen bauschte sich um die weiß bestrumpften Beine.
Wirklich ein zauberhafter Anblick.
Einerseits.
Andererseits so erschreckend, dass sich Franziska das Gefühl aufdrängte, sie müsse etwas unternehmen. Sofort! Auf der Stelle! Um drohendes Unheil zu verhindern. Aber sie konnte sich nicht aufraffen.
1. Teil
Schuldzuweisungen
Grevingen-Garsdorf, im Frühjahr 2004
Es ging am Ostersonntag wie ein Lauffeuer durchs Dorf, dass der halbnackte Körper von Janice Heckler in der Greve entdeckt worden war. Ausgerechnet von ihrer eigenen Mutter. Die hatte ihre Tochter noch gar nicht vermisst, war am vergangenen Abend mit ihrem Mann bei Bekannten im Dorf gewesen und erst spät in der Nacht zurückgekommen.
Gegen neun Uhr morgens zog Frau Heckler den Rollladen vor dem Schlafzimmerfenster hoch, damit auch ihr Mann aufwachte. Wie immer ließ sie den Blick über den Garten und das dahinter verlaufende Flüsschen wandern. Janice lag nur dreißig Meter von ihrem Elternhaus entfernt mit dem Gesicht nach unten im Wasser.
Dass Frau Heckler sofort wusste, um wen es sich handelte, darf bezweifelt werden. Es wurde später viel darüber geredet und spekuliert, und jeder dichtete noch etwas dazu. Zum Beispiel, dass die arme Frau schreiend am Fenster zusammengebrochen sei. Oder dass die Polizei schon um die Mittagszeit einen bestimmten Verdacht hatte und den Täter kurz darauf zum ersten Mal verhörte. Letzteres entsprach definitiv nicht den Tatsachen.
Um die Mittagszeit stand noch nicht einmal fest, dass man es mit einem Tötungsdelikt zu tun hatte. Der erste Arzt, der die Leiche begutachtete, hatte keine Erfahrungen auf dem Gebiet der Forensik. Im Auftrag der Polizei entnahm er normalerweise nur Blutproben. Er stellte lediglich fest, dass Janice seit etlichen Stunden tot war und eine Prellung am Hinterkopf hatte - höchstwahrscheinlich hervorgerufen durch einen Stein aus dem Flussbett.
Das hätte bei einem Sturz passiert sein können, wenn Janice auf dem schmalen Uferstreifen abgerutscht und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen wäre. Allerdings drängten sich bei dieser These die Fragen auf, warum sie mit nacktem Unterleib und ohne Schuhe auf dem schmalen Uferstreifen herumgelaufen und wie sie mit dem Gesicht ins Wasser geraten sein sollte, wenn sie mit dem Hinterkopf aufgeschlagen wäre.
Erst dienstags entdeckte ein erfahrener Rechtsmediziner bei der Obduktion neben ein paar Schrammen an den Beinen, die sowohl von Steinen als auch von Fingernägeln stammen konnten, Quetschungen im Nacken, die zweifelsfrei von einer Hand verursacht worden waren.
Zu dem Zeitpunkt gab es auch einen Verdächtigen, den Spross einer einflussreichen Familie, einen Sohn von Helene Junggeburt. Er war durch Zeugen in den Fokus der Ermittlungen geraten und hatte bereits ein Leben auf dem Gewissen, wofür er jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden war, was in diesem Zusammenhang allerdings keine Rolle spielte. Es hieß allgemein, das sei ein Unfall gewesen.
Ihm im Fall Heckler einen Mord oder zumindest Totschlag nachzuweisen wurde für die Polizei ein hartes Stück Arbeit. Weil der Körper stundenlang im Wasser gelegen hatte, wurden keine verwertbaren DNA-Spuren gefunden. Mit anderen Sachbeweisen sah es genauso düster aus. Es gab zwar belastende Zeugenaussagen, doch unmittelbare Tatzeugen schien es nicht zu geben. Und von einem Geständnis war der mutmaßliche Täter meilenweit entfernt. Er erklärte in jedem Verhör stereotyp, er sei betrunken gewesen und könne sich an nichts mehr erinnern.
Seine Familie hatte ihm umgehend eine Rechtsanwältin beschafft, Frau Doktor Greta Brand, der ein besonderes Faible für attraktive, aber total verkorkste Typen nachgesagt wurde, was auf den Verdächtigen zweifellos beides zutraf. Darüber hinaus galt Greta Brand als Koryphäe auf dem Gebiet der Strafverteidigung, und diesem Ruf machte sie alle Ehre. Egal, was Polizei und Staatsanwalt an Zeugenaussagen aufboten, um ihre Theorie zu untermauern, Greta Brand pflückte es auseinander. Es fehlte nicht viel, dann wäre es gar nicht erst zur Anklageerhebung gekommen.
Aber dann, sozusagen auf den letzten Drücker, korrigierte eine Person ihre zuvor gemachte Aussage zur fraglichen Nacht. Und so kam es doch noch zu einem Prozess - und zu einer Verurteilung: lächerliche neun Jahre! Weil Greta Brand die Volltrunkenheit ihres Mandanten nun als mildernden Umstand anführte und damit durchkam.
Viele Garsdorfer empfanden das als Schande für das Rechtssystem und einen Schlag ins Gesicht der Familie Heckler. Die meisten vertraten sogar die Ansicht, man hätte Helene Junggeburt, wäre die nicht kurz nach der Festnahme ihres Sohnes verstorben, neben ihn auf die Anklagebank setzen und zur Rechenschaft ziehen müssen. Wer hatte ihn denn zu dem gemacht, was er war? Helene, diese durchgeknallte Person, die man eigentlich unmittelbar nach seiner Geburt in die Klapsmühle hätte stecken müssen.
Die Toten früherer Jahre
So einfach wie für den Großteil der Garsdorfer Bevölkerung war es für Franziska Welter nie gewesen. Und das nicht nur, weil sie Helene von klein auf gekannt und mit den Schicksalsschlägen, die das Leben dieser Frau zugemutet hatte, ebenso vertraut war wie mit denen, die sie selbst hatte einstecken müssen.
Franziska war Jahrgang 1932 und mit Helene zur Schule gegangen. Helene war drei Jahre älter, aber in der Dorfschule waren bis Mitte der fünfziger Jahre mehrere Jahrgänge gemeinsam in einem Raum unterrichtet worden. Da hatten sie zeitweise sogar nebeneinandergesessen, nur durch den Mittelgang getrennt.
Nach der Schulzeit hatte Franziska dann einige Jahre für Helenes Eltern gearbeitet. Denen gehörte die Brauerei Schopf. Die stand damals am Stadtrand von Grevingen und beschäftigte auch nach Kriegsende notgedrungen noch junge Mädchen und Frauen. Die arbeitsfähigen Männer waren größtenteils gefallen oder in Gefangenschaft geraten wie Helenes älterer Bruder, an dem sie mit ganzem Herzen hing.
Als die Überlebenden zurück in die Heimat kamen, wurde die Belegschaft der Brauerei nach und nach ausgetauscht. Die Frauen mussten sehen, dass sie anderswo Arbeit fanden, oder sich zurück an den Herd scheuchen lassen. Franziska war davon nicht betroffen, weil sie im Haushalt der Schopfs beschäftigt war. Die Villa Schopf stand etwas außerhalb; am Ende der Breitegasse am südlichen Ortsrand von Garsdorf Ein sehr schönes Anwesen mit einem riesigen Garten, hinter dem die Greve vorbeifloss.
Während Helene Deckchen und Kissen bestickte, Klavier spielte und lange Briefe an ihren Bruder schrieb, schrubbte Franziska Fußböden und machte die Wäsche. Die wurde zu der Zeit noch geknetet, gewalkt und gebürstet. Anschließend wurden die großen Teile zum Trocknen auf der sogenannten Bleiche ausgebreitet.
Auf dieser Rasenfläche hinter dem Haus wendete Franziska im August 1949 mit Hilfe der Kochfrau Laken und Bettbezüge, als Heinrich Junggeburt die Nachricht überbrachte, Helenes Bruder sei schon kurz nach Kriegsende in russischer Gefangenschaft verstorben. Das wusste Heinrich so genau, weil er im selben sibirischen Lager gewesen war.
Helenes Schreie klangen Franziska noch lange danach in den Ohren. Wäre sie selbst im Haus gewesen, als Helene völlig von Sinnen ins Freie gerannt kam, hätte die sich wohl in die Greve gestürzt, was ein böses Ende hätte nehmen können. Auch wenn man das Flüsschen die meiste Zeit im Jahr durchwaten konnte und oft genug nicht mal nasse Knie bekam, war die Greve wegen der Steine im Flussbett tückisch. Franziska fing Helene auf, wiegte sie in den Armen und murmelte unsinnige Trostworte, die von den ebenso sinnlosen Schreien übertönt wurden.
Heinrich Junggeburt blieb, erst einmal auf Einladung des alten Schopfs. Der hatte eine praktische Ader und blickte den Tatsachen ins Auge. Irgendwer musste schließlich in der Lage sein, die Brauerei weiterzuführen, wenn er selbst das nicht mehr tun konnte. Und wo nun der Sohn nicht mehr unter den Lebenden weilte ... Helene konnte wunderschön sticken und Klavier spielen. Sie hatte auch eine lyrische Ader. Die Briefe, die sie ihrem Bruder während der vergangenen Jahre geschickt hatte - Heinrich brachte einige mit zurück - , waren überwiegend in Reimform verfasst. Von Hopfen und Malz dagegen hatte Helene keine Ahnung.
Und so groß war die Auswahl an ledigen jungen Männern nicht mehr. Man musste nehmen, was kam. Auch wenn zu vermuten war, dass der Betreffende ein paar Macken hatte, weil er eine schwere Zeit nur knapp überlebt hatte, eine unmenschliche Zeit, um genau zu sein. Aber so war es vielen ergangen, und kein Mensch sprach von Traumata oder Psychosen. Wer so was hatte, musste sehen, wie er damit fertigwurde.
Rein äußerlich war Heinrich ein Typ, an den junge Frauen schnell ihr Herz verloren. Er war groß und schlank, nicht etwa hager, ausgezehrt und hohläugig wie viele andere, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Seine gute Figur behielt er übrigens auch, als die Portionen auf den Tellern wieder größer und fettiger wurden. Da nannte Helene ihn längst «den eisernen Heinrich».
Er war gerade gewachsen, körperlich unversehrt, seine Gesichtszüge konnte man als klassisch bezeichnen. Und wenn er Helene anschaute mit diesem nachdenklich verträumt wirkenden Blick, das sah immer aus, als stelle er sich vor, sie ganz langsam auszuziehen und unanständige Dinge mit ihr zu tun. Deshalb verwunderte es nicht, dass er Helene bald zu der Annahme verleitete, er könne sie glücklich machen. Allein auf die Verkupplungsbemühungen ihres Vaters war das nicht zurückzuführen.
Im September 1951, gute zwei Jahre nachdem Heinrich Junggeburt als Todesbote in die Villa Schopf gekommen war, fand die Hochzeit statt.
Zu der Zeit war auch Franziska schon in festen Händen. Beim Schützenfest im Frühjahr hatte sie Gottfried Welter kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war dreiundzwanzig, sie neunzehn. Schon beim zweiten Rendezvous erklärte er, er würde gerne Tisch und Bett mit ihr teilen, auf eine Heirat brauche sie allerdings nicht zu spekulieren, gewiss nicht auf Kranz und Schleier. Obwohl eine wilde Ehe nicht unbedingt das war, was Franziska für ihre Zukunft vorschwebte, musste sie nicht lange über sein - für die damalige Zeit ungeheuerliches - Ansinnen nachdenken.
Sie war die Älteste von vier Töchtern, zwölf Jahre älter als die Jüngste. Ihre Mutter war noch nie ein Putzteufel gewesen und am Herd auch nicht sonderlich begabt. Ihr Vater war nach dem Verlust seines rechten Unterarms beim Polenfeldzug zum Tyrannen geworden und trug seine Kriegsversehrtenrente lieber in die Kneipe, statt sein Scherflein zum Haushalt beizusteuern. Franziska hatte daheim nicht nur ihren gesamten Lohn abzugeben. Wenn sie bei Schopfs Feierabend hatte, wartete auch noch ein Berg Arbeit auf sie. Weil sie eben diejenige war, die es bei feinen Leuten gelernt hatte und somit am besten waschen, putzen, bügeln und kochen konnte.
Da war es bei Gottfrieds Eltern angenehmer und bequemer für sie. Die hatten auch nichts dagegen, dass Gottfried sich «sein Mädchen» ins Haus holte. Aber wenn sie Einwände erhoben hätten, weil damals die Gefahr bestand, wegen Kuppelei angezeigt und bestraft zu werden, Gottfried hätte sich kaum darum gekümmert.
Er ließ sich von keinem mehr etwas sagen, der ein paar Jahre älter war als er. Es waren schließlich die Älteren gewesen, die lautstark ja gebrüllt und gejubelt hatten, als ihnen der totale Krieg in Aussicht gestellt worden war. Seiner Meinung nach waren sie entweder zu dämlich oder zu autoritätshörig gewesen, um dem Wahnsinn die Stirn zu bieten, also hatten sie ihr Recht verwirkt, jetzt das Maul aufzureißen. Gottfried war ein Rebell und Franziska sehr glücklich mit ihm. Noch glücklicher wäre sie nur mit einem Trauring am Finger gewesen.
Bei Helenes Hochzeit schrubbte sie Töpfe und Pfannen und zweigte ein Stückchen Schweinebraten und ein Stück von der Hochzeitstorte für Gottfried ab, klammheimlich, versteht sich. Genauso heimlich musste er die Köstlichkeiten spätnachts im gemeinsamen Schlafzimmer hinunterschlingen. Franziska hatte sich zwar vorgestellt, ihm zum Fleisch ein paar Kartoffeln und etwas Möhrengemüse zu kochen. Aber in der Nacht wäre es dafür viel zu spät gewesen, und am nächsten Abend hätten seine Eltern doch Stielaugen bekommen, sich wahrscheinlich verschluckt an dem Wasser, das ihnen im Mund zusammengelaufen wäre, hätte Gottfried sich das Festmahl in der Küche einverleibt.
Im September 1952, genau ein Jahr nach der Hochzeit, brachte Helene ihren ersten Sohn zur Welt und nannte ihn Albert - nach ihrem verstorbenen Bruder. Im Sommer 1953 wurde sie zum zweiten Mal schwanger, fast zeitgleich mit Franziska.
Die arbeitete immer noch für die Schopfs, bekam nun doch einen schlichten Goldring und eine Trauung auf dem Standesamt, allerdings nicht den Segen der Kirche. Da mochte der Pfarrer noch so oft vorbeikommen und Gottfried Vorträge über die Konsequenzen ihres sündigen Lebens halten.
«Uns gefällt diese Art von Sünde, Hochwürden», antwortete Gottfried jedes Mal. «Dabei kommt wenigstens keiner zu Schaden.» Und das sündige Leben gefiel ihm umso besser, weil er während der Schwangerschaft nicht aufpassen musste.
Für Helene dagegen fand die Liebe nach Feststellung der zweiten Schwangerschaft ein abruptes Ende. Der eiserne Heinrich zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und nie wieder ein. Zuerst hieß es, er wolle seine ruhebedürftige Gattin nicht stören. Er neigte zu lebhaften Träumen, redete und schrie häufig im Schlaf.
Nach der Geburt einer Tochter war es dann umgekehrt. Da wollte Heinrich nicht um seine Nachtruhe gebracht werden, wenn Helene zum Stillen und Windelnwechseln aufstand. Den kleinen Albert und das Töchterchen, das auf den Namen Alexandra getauft und Alexa gerufen wurde, versorgte sie selbst, sonst hatte sie nichts zu tun.
Für die Brauerei war Heinrich bares Geld, als Ehemann konnte man ihn in der Pfeife rauchen. Er ging höflich und zuvorkommend mit Helene um, führte sie einmal im Monat groß aus, half ihr bei der Gelegenheit in den Mantel, hielt ihr die Autotür auf und reichte ihr Feuer, wenn sie ihr Zigarettenetui zückte. Es gab nie ein lautes Wort, allerdings auch kein zärtliches mehr. Heinrich glaubte wohl, mit zwei Kindern seine eheliche Pflicht voll und ganz erfüllt zu haben. Immerhin hatte er der Brauerei einen männlichen Erben und seiner Gattin einen Trost und eine Ablenkung für einsame Stunden geschenkt.
Alexa war ein liebes Mädchen. Das sagten noch ein halbes Jahrhundert später alle, die sie gekannt hatten. Dass Albert als kleines Kind genauso lieb gewesen war wie seine Schwester, hatten die meisten längst vergessen. Er wurde auch zu schnell das Ebenbild seines Vaters, nicht nur äußerlich.
«Wo wir ein Herz haben, Franziska», sagte Helene einmal, «hat mein Sohn einen Rechenschieber. Er ist genau wie Heinrich.»
Alexa dagegen kam ganz nach ihrer Mutter. Schon mit zehn Jahren spielte sie recht passabel Klavier, schrieb mit vierzehn ein Gedicht, das in der Wochenendbeilage der regionalen Tageszeitung abgedruckt wurde. Das Mädchen war Helenes Ein und Alles.
Leider infizierte Alexa sich kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag mit Meningokokken, Pneumokokken, Streptokokken oder Staphylokokken, so genau brachte Franziska das nie in Erfahrung, irgendwelche Kokken eben. Alexa bekam eine Hirnhautentzündung und starb binnen weniger Tage.
Für Helene war das ein Schlag, über den sie nie hinwegkam. Der Tod ihrer Tochter traf sie umso härter, weil sie im Vorjahr kurz hintereinander ihre Eltern verloren und das noch nicht überwunden hatte. Zwei Tage nachdem Alexa im Familiengrab bei den Großeltern zur letzten Ruhe gebettet worden war, schluckte Helene eine Überdosis Schlaftabletten. Die Haushälterin Frau Schmitz fand sie gerade noch rechtzeitig. Es sei ein Versehen gewesen, behauptete Helene, als Franziska sie im Krankenhaus besuchte. Zu der Zeit arbeitete sie längst nicht mehr für die Familie.
Einen knappen Monat später fiel Helene aus Versehen so unglücklich mit dem linken Arm in das Rasiermesser ihres Vaters, dass sie sich die Pulsader der Länge nach aufschlitzte. Weil Frau Schmitz auch diesmal schneller war als der Tod, probierte Helene es beim dritten Mal mit ihrem Auto. Sie zog sich schwerste Verletzungen zu und musste mit dem Hubschrauber in eine große Kölner Klinik geflogen werden, weil das Grevinger Krankenhaus auf solch einen Notfall nicht eingerichtet war.
Helene überlebte auch ihren Unfall, wurde danach aber lange Zeit nicht mehr im Dorf gesehen, was zu wüsten Spekulationen führte. Mal hieß es, sie sei so stark entstellt, dass sie sich nicht mehr unter Leute traue. Mal war sie angeblich gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Mal hatte sie ihr Augenlicht und beide Beine verloren. Man wusste gar nicht, was man glauben sollte.
Wenn Franziska Helene besuchen wollte, wurde sie entweder von einer Krankenpflegerin oder von Frau Schmitz mit unterschiedlichen Sprüchen an der Haustür abgewimmelt. Die Krankenpflegerin erklärte meist, die gnädige Frau habe sich gerade hingelegt und möchte nicht gestört werden. Wenn Frau Schmitz an die Tür kam, befand Helene sich stets auf Reisen. Sie war tatsächlich mehrfach für einige Monate in einem Sanatorium. Und manchmal war sie einfach nicht in der Verfassung, eine frühere Magd zu empfangen. Bei aller Verbundenheit, viel mehr als eine Magd war Franziska doch letztlich nie gewesen. Da mochte sie noch so gut aus eigenem Erleben wissen, durch welche Hölle man nach dem Tod einer über alles geliebten Tochter ging.
...
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Es war ein Anblick, den Franziska Welter zeit ihres Lebens nicht vergessen sollte. Einerseits so beklemmend, dass es ihr die Luft abschnürte, andererseits so zauberhaft schön, dass man ihn in Märchenbücher hätte zeichnen mögen.
Frühmorgens hatte dichter Nebel das Dorf eingehüllt und der Frost jeden Schritt ins Freie zu einem riskanten Unternehmen gemacht. Im Laufe des Vormittags war es aufgeklart und überall gestreut worden. Die Mittagssonne löste den Nebel endgültig auf, hatte jedoch nicht die Kraft, ihn völlig zu vertreiben. Sieben Grad minus bannten die weißen Schwaden und verwandelten sie in filigrane Gebilde.
Überall Raureif. Es war kein Vergleich mit dem Schnee, der auch Straßen und Hausdächer bedeckte, aber nur obenauf lag. Die dünne Eisschicht dagegen umschloss sogar das kahle Geäst der Baumkronen vollständig. Jeder Grashalm, jeder noch so kümmerliche Zweig an den Sträuchern und jedes Pflänzchen auf den Gräbern war von einer Kristallkruste überzogen. Überall glitzerte und funkelte es im blendend grellen Sonnenlicht, als habe der Himmel den Friedhof mit Diamantensplittern bestreut.
Das war der Rahmen, vielmehr der Hintergrund für die beiden Gestalten, die Franziska Welters Aufmerksamkeit erregten, ihr die Brust eng und den eigenen Herzschlag so dramatisch bewusstmachten.
Franziska stand gebückt vor dem ältesten der sieben Gräber in der sogenannten Kinderecke, in der die Kleinen beigesetzt wurden. Keine der Grabstätten war länger als ein Meter zwanzig. Größere Kinder wurden seit Jahr und Tag bei den Erwachsenen bestattet. Aber das war, solange Franziska zurückdenken konnte, erst zweimal notwendig gewesen. Wenn die Kinder eine bestimmte Größe erreicht hatten, konnten sie dem Tod offenbar besser die Stirn bieten, liefen nur noch Gefahr, durch Unfälle oder sonst wie gewaltsam ums Leben zu kommen.
In der Nacht hatte der Wind irgendwo zwei verdorrte Blätter vom Herbstlaub aufgespürt und herübergeweht. Franziska zupfte sie aus einem Büschel winterharter Erika und äugte über die kniehohe Buchsbaumhecke, die das Karree von den anderen Grabreihen abgrenzte, zur letzten Ruhestätte der Familie Schopf hinüber.
Vor dem mit Granit eingefassten Eckgrab mit dem pompösen Stein am Kopfende standen Helene Junggeburt - sie war eine geborene Schopf - und ihr jüngstes Kind, beide wie in ein stilles Gebet versunken. Für Helene mochte das zutreffen. Sie trug Schwarz: Schuhe, Hose, Mantel, Handschuhe und einen Hut mit Schleier, der ihr Gesicht verbarg, sodass Franziska nicht sehen konnte, ob sich ihre Lippen in einem inbrünstigen Zwiegespräch mit Gott oder den Lieben in der Erde bewegten. Oder ob sie nur so dastand und die Namen auf dem Stein anstarrte.
Das Kind hatte eine rosafarbene Plüschmütze über Kopf und Ohren gezogen, unter der im Nacken ein dunkler Zopf hervorquoll. Am Ende wurde er von einer Spange in Schmetterlingsform zusammengehalten. Vor der Brust baumelten die dicken Bommel der Bänder, mit denen die Mütze unter dem Kinn gebunden war. Eine Jacke aus demselben Plüschmaterial schützte den Oberkörper vor der Kälte. Die kleinen Hände steckten in lustig bunten Fäustlingen, die Füße in weißen, pelzbesetzten Stiefelchen, die sicherlich dick gefüttert waren. An den Beinchen dagegen trug das Kind nur weiße Strickstrumpfhosen und darüber ein kurzes Röckchen aus weißer Wolle mit einer gezackten, rosafarbenen Borte am Saum.
Franziska fragte sich flüchtig, ob die Strumpfhosen wohl warm genug hielten. Ihr entging nicht, wie das Kind ständig sein Gewicht verlagerte, von einem Füßchen aufs andere trat. Vielleicht fror es beim Stillstehen. Vielleicht wurde ihm aber auch nur langweilig. Sein Verhalten sprach für Letzteres.
Es war ein ausnehmend hübsches Geschöpf, dessen Gesicht als Vorlage für die Bilderbuchzeichnung einer kleinen Prinzessin hätte dienen können. Allein diese Augen. Als das Kind verstohlen zu ihr hinüberblickte und sie anlächelte, überlief Franziska ein kalter Schauer. Große Augen, wie alle kleinen Kinder sie haben. Doch diese waren von einem so intensiven Blau, wie Franziska es bisher nur bei zwei Menschen gesehen hatte, bei Helenes älterem Bruder und bei Helenes Tochter. Es waren Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen, weil die Iris von unzähligen hauchfeinen hellgrauen, strahlenförmig angeordneten Linien durchbrochen war.
Als Franziska das Lächeln erwiderte, wandte das Kind sich wieder dem Grab zu und begann mit seinem Atem zu spielen. Es ließ ihn kontrolliert in wohldosierten Wölkchen davonschweben, versuchte offenbar, bestimmte Formen wie Rauchringe zu schaffen. Als ihm das nicht gelang, ließen die aneinandergelegten Händchen die vor der Brust baumelnden Bommel der Mützenbänder hin und her schwingen.
Und so weit war es mit Helenes Versunkenheit dann doch nicht, dass ihr das entgangen wäre. «Lass das, Alexa», hörte Franziska sie tadeln.
«Wann darf ich denn das Licht anmachen, Mami?», erkundigte sich daraufhin die helle Kinderstimme.
«Sofort», erbarmte sich Helene, zog dem Kind die Fäustlinge aus und ein Grablicht nebst einer Schachtel Zündhölzer aus ihrer Manteltasche. Das Licht hielt sie fest, die Schachtel reichte sie dem Kind, das sich mit wahrem Feuereifer daranmachte, Zündhölzer anzureißen und an den Docht zu halten.
Sein engelsgleiches Gesicht war angespannt vor Konzentration. Bei jedem neuen Zündholz, das die kleinen Finger über die Reibefläche führten, erschien kurz eine winzige Zungenspitze zwischen den prallen Lippen. Es war windstill, trotzdem erloschen die ersten vier Flammen, ehe sie den Docht erreichten.
«Nicht so hastig, Schatz», mahnte Helene und bot dann an: «Soll ich es machen?»
Das Kind nickte, überließ seiner Mutter die Schachtel, hockte sich neben die graue Grabeinfassung und öffnete das Türchen einer Grableuchte. Dabei rutschte der dicke Zopf vom Rücken auf die Brust. Das Kind warf ihn mit einer raschen Handbewegung wieder nach hinten. Die Bommel der langen Mützenbänder flogen mit. Und das Strickröckchen bauschte sich um die weiß bestrumpften Beine.
Wirklich ein zauberhafter Anblick.
Einerseits.
Andererseits so erschreckend, dass sich Franziska das Gefühl aufdrängte, sie müsse etwas unternehmen. Sofort! Auf der Stelle! Um drohendes Unheil zu verhindern. Aber sie konnte sich nicht aufraffen.
1. Teil
Schuldzuweisungen
Grevingen-Garsdorf, im Frühjahr 2004
Es ging am Ostersonntag wie ein Lauffeuer durchs Dorf, dass der halbnackte Körper von Janice Heckler in der Greve entdeckt worden war. Ausgerechnet von ihrer eigenen Mutter. Die hatte ihre Tochter noch gar nicht vermisst, war am vergangenen Abend mit ihrem Mann bei Bekannten im Dorf gewesen und erst spät in der Nacht zurückgekommen.
Gegen neun Uhr morgens zog Frau Heckler den Rollladen vor dem Schlafzimmerfenster hoch, damit auch ihr Mann aufwachte. Wie immer ließ sie den Blick über den Garten und das dahinter verlaufende Flüsschen wandern. Janice lag nur dreißig Meter von ihrem Elternhaus entfernt mit dem Gesicht nach unten im Wasser.
Dass Frau Heckler sofort wusste, um wen es sich handelte, darf bezweifelt werden. Es wurde später viel darüber geredet und spekuliert, und jeder dichtete noch etwas dazu. Zum Beispiel, dass die arme Frau schreiend am Fenster zusammengebrochen sei. Oder dass die Polizei schon um die Mittagszeit einen bestimmten Verdacht hatte und den Täter kurz darauf zum ersten Mal verhörte. Letzteres entsprach definitiv nicht den Tatsachen.
Um die Mittagszeit stand noch nicht einmal fest, dass man es mit einem Tötungsdelikt zu tun hatte. Der erste Arzt, der die Leiche begutachtete, hatte keine Erfahrungen auf dem Gebiet der Forensik. Im Auftrag der Polizei entnahm er normalerweise nur Blutproben. Er stellte lediglich fest, dass Janice seit etlichen Stunden tot war und eine Prellung am Hinterkopf hatte - höchstwahrscheinlich hervorgerufen durch einen Stein aus dem Flussbett.
Das hätte bei einem Sturz passiert sein können, wenn Janice auf dem schmalen Uferstreifen abgerutscht und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen wäre. Allerdings drängten sich bei dieser These die Fragen auf, warum sie mit nacktem Unterleib und ohne Schuhe auf dem schmalen Uferstreifen herumgelaufen und wie sie mit dem Gesicht ins Wasser geraten sein sollte, wenn sie mit dem Hinterkopf aufgeschlagen wäre.
Erst dienstags entdeckte ein erfahrener Rechtsmediziner bei der Obduktion neben ein paar Schrammen an den Beinen, die sowohl von Steinen als auch von Fingernägeln stammen konnten, Quetschungen im Nacken, die zweifelsfrei von einer Hand verursacht worden waren.
Zu dem Zeitpunkt gab es auch einen Verdächtigen, den Spross einer einflussreichen Familie, einen Sohn von Helene Junggeburt. Er war durch Zeugen in den Fokus der Ermittlungen geraten und hatte bereits ein Leben auf dem Gewissen, wofür er jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden war, was in diesem Zusammenhang allerdings keine Rolle spielte. Es hieß allgemein, das sei ein Unfall gewesen.
Ihm im Fall Heckler einen Mord oder zumindest Totschlag nachzuweisen wurde für die Polizei ein hartes Stück Arbeit. Weil der Körper stundenlang im Wasser gelegen hatte, wurden keine verwertbaren DNA-Spuren gefunden. Mit anderen Sachbeweisen sah es genauso düster aus. Es gab zwar belastende Zeugenaussagen, doch unmittelbare Tatzeugen schien es nicht zu geben. Und von einem Geständnis war der mutmaßliche Täter meilenweit entfernt. Er erklärte in jedem Verhör stereotyp, er sei betrunken gewesen und könne sich an nichts mehr erinnern.
Seine Familie hatte ihm umgehend eine Rechtsanwältin beschafft, Frau Doktor Greta Brand, der ein besonderes Faible für attraktive, aber total verkorkste Typen nachgesagt wurde, was auf den Verdächtigen zweifellos beides zutraf. Darüber hinaus galt Greta Brand als Koryphäe auf dem Gebiet der Strafverteidigung, und diesem Ruf machte sie alle Ehre. Egal, was Polizei und Staatsanwalt an Zeugenaussagen aufboten, um ihre Theorie zu untermauern, Greta Brand pflückte es auseinander. Es fehlte nicht viel, dann wäre es gar nicht erst zur Anklageerhebung gekommen.
Aber dann, sozusagen auf den letzten Drücker, korrigierte eine Person ihre zuvor gemachte Aussage zur fraglichen Nacht. Und so kam es doch noch zu einem Prozess - und zu einer Verurteilung: lächerliche neun Jahre! Weil Greta Brand die Volltrunkenheit ihres Mandanten nun als mildernden Umstand anführte und damit durchkam.
Viele Garsdorfer empfanden das als Schande für das Rechtssystem und einen Schlag ins Gesicht der Familie Heckler. Die meisten vertraten sogar die Ansicht, man hätte Helene Junggeburt, wäre die nicht kurz nach der Festnahme ihres Sohnes verstorben, neben ihn auf die Anklagebank setzen und zur Rechenschaft ziehen müssen. Wer hatte ihn denn zu dem gemacht, was er war? Helene, diese durchgeknallte Person, die man eigentlich unmittelbar nach seiner Geburt in die Klapsmühle hätte stecken müssen.
Die Toten früherer Jahre
So einfach wie für den Großteil der Garsdorfer Bevölkerung war es für Franziska Welter nie gewesen. Und das nicht nur, weil sie Helene von klein auf gekannt und mit den Schicksalsschlägen, die das Leben dieser Frau zugemutet hatte, ebenso vertraut war wie mit denen, die sie selbst hatte einstecken müssen.
Franziska war Jahrgang 1932 und mit Helene zur Schule gegangen. Helene war drei Jahre älter, aber in der Dorfschule waren bis Mitte der fünfziger Jahre mehrere Jahrgänge gemeinsam in einem Raum unterrichtet worden. Da hatten sie zeitweise sogar nebeneinandergesessen, nur durch den Mittelgang getrennt.
Nach der Schulzeit hatte Franziska dann einige Jahre für Helenes Eltern gearbeitet. Denen gehörte die Brauerei Schopf. Die stand damals am Stadtrand von Grevingen und beschäftigte auch nach Kriegsende notgedrungen noch junge Mädchen und Frauen. Die arbeitsfähigen Männer waren größtenteils gefallen oder in Gefangenschaft geraten wie Helenes älterer Bruder, an dem sie mit ganzem Herzen hing.
Als die Überlebenden zurück in die Heimat kamen, wurde die Belegschaft der Brauerei nach und nach ausgetauscht. Die Frauen mussten sehen, dass sie anderswo Arbeit fanden, oder sich zurück an den Herd scheuchen lassen. Franziska war davon nicht betroffen, weil sie im Haushalt der Schopfs beschäftigt war. Die Villa Schopf stand etwas außerhalb; am Ende der Breitegasse am südlichen Ortsrand von Garsdorf Ein sehr schönes Anwesen mit einem riesigen Garten, hinter dem die Greve vorbeifloss.
Während Helene Deckchen und Kissen bestickte, Klavier spielte und lange Briefe an ihren Bruder schrieb, schrubbte Franziska Fußböden und machte die Wäsche. Die wurde zu der Zeit noch geknetet, gewalkt und gebürstet. Anschließend wurden die großen Teile zum Trocknen auf der sogenannten Bleiche ausgebreitet.
Auf dieser Rasenfläche hinter dem Haus wendete Franziska im August 1949 mit Hilfe der Kochfrau Laken und Bettbezüge, als Heinrich Junggeburt die Nachricht überbrachte, Helenes Bruder sei schon kurz nach Kriegsende in russischer Gefangenschaft verstorben. Das wusste Heinrich so genau, weil er im selben sibirischen Lager gewesen war.
Helenes Schreie klangen Franziska noch lange danach in den Ohren. Wäre sie selbst im Haus gewesen, als Helene völlig von Sinnen ins Freie gerannt kam, hätte die sich wohl in die Greve gestürzt, was ein böses Ende hätte nehmen können. Auch wenn man das Flüsschen die meiste Zeit im Jahr durchwaten konnte und oft genug nicht mal nasse Knie bekam, war die Greve wegen der Steine im Flussbett tückisch. Franziska fing Helene auf, wiegte sie in den Armen und murmelte unsinnige Trostworte, die von den ebenso sinnlosen Schreien übertönt wurden.
Heinrich Junggeburt blieb, erst einmal auf Einladung des alten Schopfs. Der hatte eine praktische Ader und blickte den Tatsachen ins Auge. Irgendwer musste schließlich in der Lage sein, die Brauerei weiterzuführen, wenn er selbst das nicht mehr tun konnte. Und wo nun der Sohn nicht mehr unter den Lebenden weilte ... Helene konnte wunderschön sticken und Klavier spielen. Sie hatte auch eine lyrische Ader. Die Briefe, die sie ihrem Bruder während der vergangenen Jahre geschickt hatte - Heinrich brachte einige mit zurück - , waren überwiegend in Reimform verfasst. Von Hopfen und Malz dagegen hatte Helene keine Ahnung.
Und so groß war die Auswahl an ledigen jungen Männern nicht mehr. Man musste nehmen, was kam. Auch wenn zu vermuten war, dass der Betreffende ein paar Macken hatte, weil er eine schwere Zeit nur knapp überlebt hatte, eine unmenschliche Zeit, um genau zu sein. Aber so war es vielen ergangen, und kein Mensch sprach von Traumata oder Psychosen. Wer so was hatte, musste sehen, wie er damit fertigwurde.
Rein äußerlich war Heinrich ein Typ, an den junge Frauen schnell ihr Herz verloren. Er war groß und schlank, nicht etwa hager, ausgezehrt und hohläugig wie viele andere, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Seine gute Figur behielt er übrigens auch, als die Portionen auf den Tellern wieder größer und fettiger wurden. Da nannte Helene ihn längst «den eisernen Heinrich».
Er war gerade gewachsen, körperlich unversehrt, seine Gesichtszüge konnte man als klassisch bezeichnen. Und wenn er Helene anschaute mit diesem nachdenklich verträumt wirkenden Blick, das sah immer aus, als stelle er sich vor, sie ganz langsam auszuziehen und unanständige Dinge mit ihr zu tun. Deshalb verwunderte es nicht, dass er Helene bald zu der Annahme verleitete, er könne sie glücklich machen. Allein auf die Verkupplungsbemühungen ihres Vaters war das nicht zurückzuführen.
Im September 1951, gute zwei Jahre nachdem Heinrich Junggeburt als Todesbote in die Villa Schopf gekommen war, fand die Hochzeit statt.
Zu der Zeit war auch Franziska schon in festen Händen. Beim Schützenfest im Frühjahr hatte sie Gottfried Welter kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war dreiundzwanzig, sie neunzehn. Schon beim zweiten Rendezvous erklärte er, er würde gerne Tisch und Bett mit ihr teilen, auf eine Heirat brauche sie allerdings nicht zu spekulieren, gewiss nicht auf Kranz und Schleier. Obwohl eine wilde Ehe nicht unbedingt das war, was Franziska für ihre Zukunft vorschwebte, musste sie nicht lange über sein - für die damalige Zeit ungeheuerliches - Ansinnen nachdenken.
Sie war die Älteste von vier Töchtern, zwölf Jahre älter als die Jüngste. Ihre Mutter war noch nie ein Putzteufel gewesen und am Herd auch nicht sonderlich begabt. Ihr Vater war nach dem Verlust seines rechten Unterarms beim Polenfeldzug zum Tyrannen geworden und trug seine Kriegsversehrtenrente lieber in die Kneipe, statt sein Scherflein zum Haushalt beizusteuern. Franziska hatte daheim nicht nur ihren gesamten Lohn abzugeben. Wenn sie bei Schopfs Feierabend hatte, wartete auch noch ein Berg Arbeit auf sie. Weil sie eben diejenige war, die es bei feinen Leuten gelernt hatte und somit am besten waschen, putzen, bügeln und kochen konnte.
Da war es bei Gottfrieds Eltern angenehmer und bequemer für sie. Die hatten auch nichts dagegen, dass Gottfried sich «sein Mädchen» ins Haus holte. Aber wenn sie Einwände erhoben hätten, weil damals die Gefahr bestand, wegen Kuppelei angezeigt und bestraft zu werden, Gottfried hätte sich kaum darum gekümmert.
Er ließ sich von keinem mehr etwas sagen, der ein paar Jahre älter war als er. Es waren schließlich die Älteren gewesen, die lautstark ja gebrüllt und gejubelt hatten, als ihnen der totale Krieg in Aussicht gestellt worden war. Seiner Meinung nach waren sie entweder zu dämlich oder zu autoritätshörig gewesen, um dem Wahnsinn die Stirn zu bieten, also hatten sie ihr Recht verwirkt, jetzt das Maul aufzureißen. Gottfried war ein Rebell und Franziska sehr glücklich mit ihm. Noch glücklicher wäre sie nur mit einem Trauring am Finger gewesen.
Bei Helenes Hochzeit schrubbte sie Töpfe und Pfannen und zweigte ein Stückchen Schweinebraten und ein Stück von der Hochzeitstorte für Gottfried ab, klammheimlich, versteht sich. Genauso heimlich musste er die Köstlichkeiten spätnachts im gemeinsamen Schlafzimmer hinunterschlingen. Franziska hatte sich zwar vorgestellt, ihm zum Fleisch ein paar Kartoffeln und etwas Möhrengemüse zu kochen. Aber in der Nacht wäre es dafür viel zu spät gewesen, und am nächsten Abend hätten seine Eltern doch Stielaugen bekommen, sich wahrscheinlich verschluckt an dem Wasser, das ihnen im Mund zusammengelaufen wäre, hätte Gottfried sich das Festmahl in der Küche einverleibt.
Im September 1952, genau ein Jahr nach der Hochzeit, brachte Helene ihren ersten Sohn zur Welt und nannte ihn Albert - nach ihrem verstorbenen Bruder. Im Sommer 1953 wurde sie zum zweiten Mal schwanger, fast zeitgleich mit Franziska.
Die arbeitete immer noch für die Schopfs, bekam nun doch einen schlichten Goldring und eine Trauung auf dem Standesamt, allerdings nicht den Segen der Kirche. Da mochte der Pfarrer noch so oft vorbeikommen und Gottfried Vorträge über die Konsequenzen ihres sündigen Lebens halten.
«Uns gefällt diese Art von Sünde, Hochwürden», antwortete Gottfried jedes Mal. «Dabei kommt wenigstens keiner zu Schaden.» Und das sündige Leben gefiel ihm umso besser, weil er während der Schwangerschaft nicht aufpassen musste.
Für Helene dagegen fand die Liebe nach Feststellung der zweiten Schwangerschaft ein abruptes Ende. Der eiserne Heinrich zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und nie wieder ein. Zuerst hieß es, er wolle seine ruhebedürftige Gattin nicht stören. Er neigte zu lebhaften Träumen, redete und schrie häufig im Schlaf.
Nach der Geburt einer Tochter war es dann umgekehrt. Da wollte Heinrich nicht um seine Nachtruhe gebracht werden, wenn Helene zum Stillen und Windelnwechseln aufstand. Den kleinen Albert und das Töchterchen, das auf den Namen Alexandra getauft und Alexa gerufen wurde, versorgte sie selbst, sonst hatte sie nichts zu tun.
Für die Brauerei war Heinrich bares Geld, als Ehemann konnte man ihn in der Pfeife rauchen. Er ging höflich und zuvorkommend mit Helene um, führte sie einmal im Monat groß aus, half ihr bei der Gelegenheit in den Mantel, hielt ihr die Autotür auf und reichte ihr Feuer, wenn sie ihr Zigarettenetui zückte. Es gab nie ein lautes Wort, allerdings auch kein zärtliches mehr. Heinrich glaubte wohl, mit zwei Kindern seine eheliche Pflicht voll und ganz erfüllt zu haben. Immerhin hatte er der Brauerei einen männlichen Erben und seiner Gattin einen Trost und eine Ablenkung für einsame Stunden geschenkt.
Alexa war ein liebes Mädchen. Das sagten noch ein halbes Jahrhundert später alle, die sie gekannt hatten. Dass Albert als kleines Kind genauso lieb gewesen war wie seine Schwester, hatten die meisten längst vergessen. Er wurde auch zu schnell das Ebenbild seines Vaters, nicht nur äußerlich.
«Wo wir ein Herz haben, Franziska», sagte Helene einmal, «hat mein Sohn einen Rechenschieber. Er ist genau wie Heinrich.»
Alexa dagegen kam ganz nach ihrer Mutter. Schon mit zehn Jahren spielte sie recht passabel Klavier, schrieb mit vierzehn ein Gedicht, das in der Wochenendbeilage der regionalen Tageszeitung abgedruckt wurde. Das Mädchen war Helenes Ein und Alles.
Leider infizierte Alexa sich kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag mit Meningokokken, Pneumokokken, Streptokokken oder Staphylokokken, so genau brachte Franziska das nie in Erfahrung, irgendwelche Kokken eben. Alexa bekam eine Hirnhautentzündung und starb binnen weniger Tage.
Für Helene war das ein Schlag, über den sie nie hinwegkam. Der Tod ihrer Tochter traf sie umso härter, weil sie im Vorjahr kurz hintereinander ihre Eltern verloren und das noch nicht überwunden hatte. Zwei Tage nachdem Alexa im Familiengrab bei den Großeltern zur letzten Ruhe gebettet worden war, schluckte Helene eine Überdosis Schlaftabletten. Die Haushälterin Frau Schmitz fand sie gerade noch rechtzeitig. Es sei ein Versehen gewesen, behauptete Helene, als Franziska sie im Krankenhaus besuchte. Zu der Zeit arbeitete sie längst nicht mehr für die Familie.
Einen knappen Monat später fiel Helene aus Versehen so unglücklich mit dem linken Arm in das Rasiermesser ihres Vaters, dass sie sich die Pulsader der Länge nach aufschlitzte. Weil Frau Schmitz auch diesmal schneller war als der Tod, probierte Helene es beim dritten Mal mit ihrem Auto. Sie zog sich schwerste Verletzungen zu und musste mit dem Hubschrauber in eine große Kölner Klinik geflogen werden, weil das Grevinger Krankenhaus auf solch einen Notfall nicht eingerichtet war.
Helene überlebte auch ihren Unfall, wurde danach aber lange Zeit nicht mehr im Dorf gesehen, was zu wüsten Spekulationen führte. Mal hieß es, sie sei so stark entstellt, dass sie sich nicht mehr unter Leute traue. Mal war sie angeblich gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Mal hatte sie ihr Augenlicht und beide Beine verloren. Man wusste gar nicht, was man glauben sollte.
Wenn Franziska Helene besuchen wollte, wurde sie entweder von einer Krankenpflegerin oder von Frau Schmitz mit unterschiedlichen Sprüchen an der Haustür abgewimmelt. Die Krankenpflegerin erklärte meist, die gnädige Frau habe sich gerade hingelegt und möchte nicht gestört werden. Wenn Frau Schmitz an die Tür kam, befand Helene sich stets auf Reisen. Sie war tatsächlich mehrfach für einige Monate in einem Sanatorium. Und manchmal war sie einfach nicht in der Verfassung, eine frühere Magd zu empfangen. Bei aller Verbundenheit, viel mehr als eine Magd war Franziska doch letztlich nie gewesen. Da mochte sie noch so gut aus eigenem Erleben wissen, durch welche Hölle man nach dem Tod einer über alles geliebten Tochter ging.
...
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
... weniger
Autoren-Porträt von Petra Hammesfahr
Petra Hammesfahr schrieb mit 17 ihren ersten Roman. Mit ihrem Buch "Der stille Herr Genardy" kam der große Erfolg. Seitdem schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen, u.a. "Die Sünderin", "Die Mutter" und "Erinnerungen an einen Mörder". Die Autorin lebt in der Nähe von Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Hammesfahr
- 2012, 1. Auflage., 448 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250398
- ISBN-13: 9783805250399
Kommentare zu "Die Schuldlosen"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 6Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Schuldlosen".
Kommentar verfassen